Digitale Heuschrecken In Pakistan wurden im Jahr 2017 Menschenrechtsverteidiger_innen digital angegriffen, um ihre Arbeit zu überwachen und ihnen zu schaden. Amnesty dokumentierte den Fall in einem Bericht. Ist er auch Stoff für einen Krimi? Allerdings. Wir haben einen Krimiautor gebeten, sich der Sache anzunehmen. Von Ralf Oberndörfer
Wie sich ein Virus über die Hardware ausbreitet, zeigt dieses Foto. Wie es dorthin gelangen kann, erzählt unser Kurzkrimi. Foto: imago images / UIG
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tellen Sie sich vor, Sie sitzen an Ihrem Schreibtisch und sehen aus dem Fenster. Aber die Welt, die Sie sehen, ist nicht mehr die Welt, wie sie zuvor war. Jemand hat Ihr Fenster manipuliert. Es ist jetzt ein Bildschirm, auf dem Sie nur noch das zu sehen bekommen, was man Ihnen zeigen will. Stellen Sie sich vor, Sie laden abends Freund_innen ein, um über Ihre politische Arbeit zu reden: Schwierige Themen, riskante Themen. Und da sitzt ein Gast auf dem Sofa, der fragt sie aus und macht sich heimlich Notizen. Dieser Gast trägt eine Maske. Nicht so ein billiges Ding, das man sich mit einem Gummiband einfach überzieht. Die Maske ist ein nahtlos angepasstes zweites Gesicht. Es ist für Sie geformt worden. Sie und niemand sonst sollen mit dieser Person reden und Fragen beantworten. Sie kaufen im Supermarkt ein Paket Reis, ein Sonderangebot von Ihrem Lieblingsreis, über das Sie sich freuen. Aber wenn Sie nach Hause kommen und das Paket öffnen, befällt Ungeziefer Ihre Küche, setzt sich in jede Ritze, in jedes Gefäß. Der Reis im Supermarkt war ein Angebot speziell für Sie: Ihre ganz persönliche Falle. Klingt das gruselig? Das soll es auch sein. Es soll Ihnen Angst machen. Eines
22 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Tages sitzen Sie wie immer vor Ihrem Bildschirm. Sie versuchen gerade, die Welt zu retten. Sie wollen ein Lebenszeichen von einem Mann finden, der zu denselben politischen Themen arbeitet wie Sie, aber seit Monaten verschwunden ist. Obwohl Sie beschäftigt sind, merken Sie, dass Sie nicht allein sind. Hinter Ihnen stehen zwei Monster und legen Ihnen ihre Klauen auf die Schulter: Misstrauen und Angst. Mit jedem maskierten Gast, der versucht, sich in Ihre vier Wände einzuschleichen, werden die Monster ein wenig größer. Sie wissen nicht mehr, ob Sie dem Blick aus dem Fenster noch trauen können. Sie beriechen und betasten jedes Paket im Supermarkt, bevor Sie es in den Korb legen. Sie haben keinen Appetit mehr. Wir reden hier über das Internet, über Online-Netzwerke, nicht über Partys, über gefälschte Profile, nicht über Masken. Nicht über Lebensmittel, sondern über Links, hinter denen sich Datenpakete verbergen, die in der Lage sind, Ihre gesamte Arbeitsinfrastruktur zu vertilgen wie eine Horde Heuschrecken. Es geht um
Die Programme heißen wie Superschurken im Comicstrip: Crimson oder TheOneSpy.
Spionagesoftware, die die Kontrolle über Ihr Handy oder Ihren Computer übernimmt. Die Programme haben Namen wie Superschurken in einem Comicstrip: Crimson oder TheOneSpy. Irgendwo sitzt jemand, der diese Programme schreibt. Irgendwo züchtet jemand Heuschrecken für Ihre Küche.
Vollständige Kontrolle mit Fehlern Online-Netzwerke werben mit interessanten Kontakten, kostenlosen Informationen und unendlicher Freiheit. Heute markieren sie die Stellen, an denen sich die Gitterstäbe jenes goldenen Käfigs kreuzen, den wir uns gebaut haben. Herrliche Zeiten für alle, die von vollständiger Kontrolle träumen. Mittlerweile kann man für jede_n Nutzer_in im Internet einen individuellen goldenen Käfig errichten. Aber manchmal passieren dabei Fehler. Der Gast mit der Maske im Wohnzimmer hat sich direkt neben die Heizung gesetzt. Die Maske schmilzt, und die Konturen des echten Gesichts werden sichtbar. Auf der manipulierten Fensterscheibe taucht ein Fingerabdruck auf, so klar und deutlich wie der Dienststempel einer Militärbehörde. Ein Computer ist eine Maschine, die Dateien herstellt. Manche Dateien schreiben Sie selbst, andere schreibt der Computer automatisch. Die Verlaufsprotokolle Ihrer Internetnutzung erstellt der Compu-