MAPUCHE IN CHILE
»Indigene Rechte und viel mehr« Die chilenische Regierung hat über den Süden des Landes, wo viele Angehörige der Mapuche leben, den Ausnahmezustand verhängt. Für Besserung könnte eine neue Verfassung sorgen, an deren Entstehung die Menschenrechtsaktivistin Natividad Llanquileo Pilquimán beteiligt ist. Ein Gespräch über zu wenig Land, zu viel Polizei und eine große Hoffnung. Interview: Elias Dehnen
Im Oktober verhängte der chilenische Präsident Sebastián Piñera über vier südliche Provinzen den Ausnahmezustand. Welche Folgen hat das für die vielen indigenen Mapuche-Gemeinden? Wir sehen uns schon länger mit einer erhöhten Präsenz von Sondereinheiten der Polizei konfrontiert. Neben schwer bewaffneter Polizei ist nun auch das Militär im Süden präsent. Im November wurden zwei Mapuche-Aktivist_innen getötet. Es ist kein Zufall, dass dies in den Gebieten passiert ist, in denen wir Land zurückfordern. Piñera verteidigt die Interessen der Holzindustrie. Einige der Forstunternehmen gehören den reichsten Familien Chiles. Ihre Expansionspläne zu fördern, scheint wichtiger zu sein, als die Menschenrechte zu schützen. Gerade für Kinder und Jugendliche hat die erhöhte Polizei- und Militärpräsenz traumatische Folgen. Viele Eltern berichten, dass ihre Kinder unter Schlafstörungen leiden. Immer wieder kommt es zu willkürlichen Personenkontrollen und Festnahmen. Derzeit befinden sich mehr als 40 indigene Menschenrechtsaktivist_innen in Haft. Menschenrechtsorganisationen haben festgestellt, dass Angehörige der Mapuche unverhältnismäßig lange in Untersuchungshaft gehalten werden. Wie konnte der Konflikt derart eskalieren? Es ist der chilenische Staat, der den Konflikt mit den Mapuche sucht. Als zuerst
34 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Spanien – ohne Erfolg – und später Chile unser Gebiet kolonisieren wollte, sprach man von einer »Befriedung« oder »Zivilisierung« der südlichen Gebiete. Dieses Narrativ geistert noch immer durch die Köpfe vieler Chilen_innen. Doch das Gegenteil war der Fall: Stück für Stück wurde uns Land weggenommen. Viele Angehörige indigener Bevölkerungen wurden dadurch systematisch in die Armut gedrängt. Die politische Elite hat Chile immer als einheitlichen Staat dargestellt, es hieß: »Hier gibt es keine indigenen Völker.« Die Mapuche wurden als Relikt der Vergangenheit betrachtet, in der Schule besprach man höchstens unsere Folklore – Kleidung, Spiele und Musikinstrumente. Chile wollte sich als moderner Staat präsentieren, und wir waren dabei ein Hindernis. Bis heute hat die chilenische Gesellschaft ihren Rassismus gegenüber den Indigenen nicht überwunden. Weshalb sind alle politischen Versuche, den Konflikt beizulegen, bisher gescheitert? Es gab viele Treffen zwischen Angehörigen der Mapuche und Vertreter_innen der jeweiligen Regierungen. Doch Abkommen wurden immer wieder missachtet. Dabei verfügt die Regierung über alle Ressourcen, um die Forderungen der Indigenen nach Landrückgabe zu erfüllen. Was fehlt, ist politischer Wille. Die staatliche Institution Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (CONADI) ist dafür zuständig, ursprüngliche Territorien der Mapuche zu kaufen und den indigenen Gemeinschaften zurückzugeben. Das ist eine gute Idee, doch im Jahr 2020 ließ die CONADI öffentliche Gelder ungenutzt,
weil es der Institution wegen der CoronaEinschränkungen nicht gelang, ihrem Mandat nachzukommen. Gemeinsam mit 155 anderen gewählten Repräsentant_innen erarbeiten Sie derzeit einen Entwurf für eine neue chilenische Verfassung. Ein Grund zur Hoffnung? Wir sind optimistisch, müssen aber auch realistisch bleiben. Um einen Prozess der Teilhabe zu garantieren, sind die fünf bis acht Monate, die uns noch bleiben, sehr kurz. Wir wollen das Beste daraus machen. Chile hat 2008 das Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker (ILO 169) ratifiziert. Dort ist ein Menschenrechtskatalog aufgeführt, auf den wir uns berufen können, etwa wenn es um Land- und Eigentumsansprüche geht. Wir starten also nicht bei Null. Viele Politiker_innen wollten bisher nichts davon wissen, das könnte sich mit der neuen Verfassung ändern. Wir wollen unsere Rechte jetzt auch effektiv geltend machen. Dafür muss definiert werden, welche Mechanismen und Gerichte die Einhaltung unserer Selbstbestimmungsrechte zukünftig sicherstellen. Welche Erfahrungen haben Sie bisher in der Verfassunggebenden Versammlung gemacht? Es ist ein harter Prozess. Zehn indigene Gruppen mit insgesamt 17 Vertreter_in-
»Chile hat seinen Rassismus gegenüber Indigenen nicht überwunden.«