FOTOPROJEKT ZU HIV
Bilder, die von einer Last befreien Die vielfach ausgezeichnete Fotografin Nazik Armenakyan widmet einen Großteil ihrer Arbeit den Frauen in Armenien. Viele werden von ihren Partnern mit HIV infiziert – und von der patriarchalen Gesellschaft des Landes ausgeschlossen. Von Tigran Petrosyan
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m März 2021 registrierte das Nationale Zentrum für ansteckende Krankheiten in Armenien 4.217 Fälle von HIV-Infektionen, davon 1.292 bei Frauen. In den meisten Fällen waren sie von ihren Ehemännern infiziert worden. Viele armenische Männer sind Arbeitsmigranten, die ihr Geld vor allem in der Russischen Föderation verdienen. Ihre Zahl wird auf bis zu 250.000 jährlich geschätzt. Vor allem kleine Städte und Dörfer, in denen Frauen, Kinder und Alte mehrere Monate im Jahr unter sich sind, leben von den Überweisungen der Ehemänner, Väter oder Kinder aus dem Ausland. Allerdings kommt mit dem Geld oftmals auch eine HIV-Infektion: Die Gastarbeiter stecken sich während ihres Arbeitsaufenthalts im Ausland an und infizieren dann in der Heimat ihre Partnerinnen. Die Fotografin Nazik Armenakyan trifft seit mehreren Jahren Frauen, die von ihren Männern mit HIV infiziert worden sind. Sie lässt sich ihre Geschichten erzählen und fotografiert sie. Die Ergebnisse dieser Arbeit fließen in ihre fortlaufende Serie »Rot – Schwarz – Weiß« ein. Die Dokumentarfotografin will durch ihre Aufnahmen Frauen in Armenien stärken und Tabuthemen in der patriarchalischen Gesellschaft aufbrechen. HIV ist eines davon.
Gottesmutter Armenakyan traf Frauen, die schon während der Schwangerschaft erkrankt waren, jedoch nichts davon wussten. Sie brachten ihre Kinder zur Welt, stillten sie und erfuhren erst nach zwei oder drei Jahren durch ärztliche Untersuchungen von ihrer HIVInfektion und dass sie ihre Kinder angesteckt hatten. »Unwissenheit verbindet sich mit Traditionen der christlich-patriarchalischen Gesellschaft.« Über 92 Prozent der Menschen in der Südkaukasusrepublik gehören offiziell der Armenisch-Apostolischen Kirche an; das Christentum ist ein wesentlicher Teil der Identität des Landes. Die Armenier_innen sind stolz darauf, dass ihr Land als weltweit erstes bereits im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion einführte. Auf diese Tradition baut Armenakyan ihre Inszenierung auf, wenn sie Frauen nach dem Vorbild der Gottesmutter darstellt. So fotografierte sie Mutter und Kind bedeckt mit weißen Laken. Der Junge berührt mit dem Mund die Brust seiner Mutter, wie auf den Darstellungen von Jesus und Maria.
62 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Nazik Armenakyan, 44 Jahre, arbeitet seit 2002 als Fotografin für Nachrichtenagenturen, Magazine und Zeitungen, darunter The New York Times, lens blog, The Guardian, Reuters und ArmeniaNow.com. Sie ist für ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden und war unter anderem Stipendiatin der Magnum Foundation. Mit einer Porträtreihe von Überlebenden des armenischen Genozids gewann sie 2009 den Grand Prix des Karl Bulla International Photo Contest. In ihren Langzeitprojekten hat Armenakyan sich auch mit der Lebenssituation von homo-, trans- und intersexuellen Menschen in Armenien beschäftigt. Nazik Armenakyan ist Mitbegründerin des nicht-kommerziellen 4 Plus Documentary Photography Center, das Frauen in Armenien mit Hilfe der Fotografie stärken will. Die Bilder sind zu sehen unter: www.4plus.org/red-black-white Foto: lusadaran.org