TÜRKISCH-ISRAELISCHER POP
Ein Tropfen Glück Arabesk wird in der Türkei ebenso wie in Israel gehört. Was den Fans in beiden Ländern nicht bewusst sein dürfte: Die Künstler_innen der orientalisch anmutenden Popmusik beeinflussen sich gegenseitig – über politische und kulturelle Differenzen hinweg. Von Ulrich Gutmair
64 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Musiktransfer zwischen der Türkei und Israel befasst, den Titel »A Drop of Luck«. Die Anthropologin zeigt, wie die Musik Orte und Gesellschaften miteinander verbindet, deren Regierungen seit Jahrzehnten ein überwiegend krisenhaftes Verhältnis zueinander haben. Vor diesem Hintergrund ist Binicewicz’ mit Mitteln aus dem israelischen Kulturetat gesponsertes Projekt zugleich ein Versuch der kulturellen Diplomatie: Es will Gemeinsamkeiten aufzeigen, wo sonst Trennendes im Vordergrund steht. Binicewicz, die seit 2015 in Istanbul lebt, präsentiert auf ihrer Website ladiesonrecords.com die Ergebnisse ihrer langjährigen Tätigkeit als Sammlerin und Forscherin auf Englisch, Türkisch und Hebräisch. Auch ein Podcast zum Thema und eine Kompilation mit Adaptionen von türkischen und israelischen Sängerinnen kann man dort hören.
Distanz zu den arabischen Traditionen Der Austausch der beiden Musikkulturen ging in beide Richtungen: 1987 etwa wurde Ofra Hazas »Im Nin’alu« zu einem weltweiten Hit. Der Liedtext basiert auf einem liturgischen Gedicht jemenitischer Juden. Ein Jahr später veröffentlichte Zer-
rin Özer eine türkische Version des Stücks unter dem Titel »Hani Yeminin?«, zu dem nun auch junge Türk_innen tanzten. Den Hörer_innen der Adaptionen war oft weder bewusst, woher die Lieder stammten, noch dass Arabesk und die Musik der Misrachim ein ähnliches Schicksal teilten: Es war die Musik von Bevölkerungsgruppen, die lange Zeit aus der offiziellen Kultur ausgeschlossen waren. Binicewicz weist darauf hin, dass es weitere verblüffende Ähnlichkeiten zwischen türkischer und israelischer Popmusik gibt. Sie wird hier wie dort vor allem in Nachtclubs, Tavernen und Casinos gespielt, wo man isst, Musik hört und Bauchtänzerinnen zuschaut. Ähnlich ist auch die Intention, die seit den 1960er Jahren hinter dieser populären Musik steht: »Seit der Gründung beider Staaten war Musik ein Werkzeug, um eine Idee der Nation zu schaffen, zu verteidigen und das Land zu einen.« In beiden Ländern versuchte man, gemäß der Vorstellungen der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und David BenGurion, eine jeweils neue nationale Musik zu propagieren: Musik sollte den Geist des Landes ausdrücken und seinen Charakter formen. Beide Länder verstanden sich als
Artwork: Itamar Makover
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ndlich durfte Orhan Gencebay im türkischen Fernsehen singen. Fans in der ganzen Türkei waren 1979 begeistert, eine neue Ära hatte begonnen. Zwar waren seine Schallplatten in der Türkei seit den frühen 1970er Jahren sehr erfolgreich. Aber den Beamten der staatlichen Zensurbehörden und den Verantwortlichen in Radio und Fernsehen war die Musik des hervorragend ausgebildeten Spielers der Langhalslaute Bağlama bis dahin suspekt gewesen. Er wurde der Arabesk-Szene zugeordnet. Dieser Genre-Mix aus arabischer Musik, türkischer Folklore und westlichem Pop, der vor allem in den Armenvierteln der großen Städte gehört wurde, war offiziell verpönt. 1984 veröffentlichte Gencebay das Album »Dil Yarası«, das millionenfach verkauft wurde. Auch die vielen Händler_innen im zentralen Busbahnhof von Tel Aviv im armen Süden der Stadt, wo viele jüdische Einwander_innen aus arabischen Ländern lebten, hatten die Kassette von Gencebay im Angebot. Ähnlich wie die Arabesk Gencebays wurde die Musik der Misrachim, wie die orientalischen Jüdinnen und Juden von der Mehrheitsgesellschaft genannt werden, im israelischen Rundfunk nicht gespielt. Man hörte sie auf Hochzeiten, Familienfesten und in Tanzclubs. Gencebays Lied »Dil Yarası« wurde bald darauf von einer israelischen Interpretin adaptiert. Die junge, aus einer marokkanischen Familie stammende Sängerin Zehava Ben nahm das Stück mit einem neuen hebräischen Text auf und nannte es »Tipat Mazal« (Ein Tropfen Glück). In Anlehnung daran gab die polnische Plattensammlerin und Kuratorin Kornelia Binicewicz ihrem im Internet dokumentierten Projekt, das sich mit dem