GESCHICHTSBILD DER COLONIA DIGNIDAD
Zwei Blicke zurück Eine Dokumentation auf Netflix und eine wissenschaftliche Publikation beschäftigen sich mit den Menschenrechtsverletzungen in der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile. Ihre Herangehensweise könnte unterschiedlicher nicht sein. Von Ute Löhning
Z
wei große Veröffentlichungen über die Geschichte der Colonia Dignidad sind im Oktober erschienen – eine NetflixDokuserie und eine wissenschaftliche Arbeit. Beide greifen auf umfangreiches historisches Material zurück. Beide versuchen, die Geschichte jener auslandsdeutschen Siedlung in Chile zu erklären, in der Gehirnwäsche, Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt zum Alltag gehörten und wo politische Gefangene während der Pinochet-Diktatur gefoltert und ermordet wurden. Und doch unterscheidet sich nicht nur das
66 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Medium, sondern auch die Perspektive deutlich. In Chile hielt sich die Dokumentation »Colonia Dignidad. Eine deutsche Sekte in Chile« drei Wochen lang in den Top Ten von Netflix. In sechs Folgen wird die Geschichte der sogenannten »Kolonie der Würde« chronologisch erzählt: Von den Anfängen im Westdeutschland der 1950er Jahre über die Gründung der deutschen Siedlung in Chile im Jahr 1961 und die Kooperation mit der chilenischen Diktatur von 1973 bis 1990 bis zur Verhaftung des Sektenchefs Paul Schäfer in Argentinien 2005 und seinem Tod 2010. Die Regisseur_innen Annette Baumeister und Wilfried Huismann kombinierten spannende Interviews mit wichti-
gen Protagonist_innen und exklusiven Originalaufnahmen: Zur Verfügung standen ihnen 400 Stunden Filme und Videos, 100 Stunden Audios, rund 9.000 Fotos, aufgenommen von Angehörigen der Colonia Dignidad selbst – als Propagandamaterial, das ein positives Bild der Kolonie zeichnen sollte. Vielfach verwendet im deutschen und chilenischen Fernsehen, habe dieses Material unser aller Bild von der Colonia Dignidad geprägt, erklären die Regisseur_innen. Es gab wohl weitere Aufnahmen. Doch die sollen wegen ihres kompromittierenden Inhalts auf dem Siedlungsgelände verbrannt worden sein, sagt Rechtsanwalt Winfried Hempel, der selbst in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist.