Kino als Ort der Freiheit Ein Meisterwerk aus Afghanistan: »Kabul Kinderheim« von Shahrbanoo Sadat erzählt von einer Jugend zwischen Mudschaheddin und Sowjetunion. Von Jürgen Kiontke
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in Film, der passt wie kein anderer: »Kabul Kinderheim« heißt das Werk von Shahrbanoo Sadat, das jetzt den Weg in die deutschen Kinos findet. Es erzählt, wie ein guter Weg für Afghanistans Jugend aussehen könnte, würde das Land nicht ein ums andere Mal in Bürgerkrieg und Diktatur versinken. Die Geschichte spielt im Jahr 1989: Das Bildungssystem steht unter dem Einfluss der Sowjetunion, deren Auflösungserscheinungen sich auch in Afghanistan zeigen. Die Mudschaheddin stehen vor den Toren Kabuls, bereit, die Macht zu übernehmen und dem Land die Zivilisation auszutreiben. Qodrat ist 15 Jahre alt und lebt von kleinen Geschäften auf der Straße. So kauft er zum Beispiel billig Kinokarten, um sie kurz vor einer ausverkauften Vorstellung meistbietend zu verhökern. Denn wie viele andere liebt auch er das indische Bollywood-Kino: Die Säle sind voll, wenn die aufrechten Jungs die Bösen vermöbeln. Und wenn es knallt, träumt sich Qodrat in die Titelrolle. Ja,
auch er wird mit den Schurken kurzen Prozess machen! Das Kino ist ein Möglichkeitsort des Guten, der Freiheit, der individuellen Stärke. Auch ganz real hagelt es Backpfeifen, allerdings von Gleichaltrigen auf der Straße. Qodrat wird geschnappt und in ein Kinderheim für Jungen gebracht, wo der Direktor – zum Glück – ein striktes Regiment führt und die Jungs, die sich untereinander fast umbringen, morgens mit der Trompete aus dem Bett pustet. In der Schule gibt es einiges zu lernen – von der unverschleierten Lehrerin aus der Sowjetunion. Sogar ein Ausflug zum Lenin-Mausoleum nach Moskau steht auf dem Programm. Es sind Szenen der Unbeschwertheit, die den drohenden Krieg jedoch nur für kurze Zeit in den Hintergrund drängen. Denn immer wieder gibt es Meldungen über vorrückende Mudschaheddin, die dem normalen Leben ein Ende setzen werden. »Kabul Kinderheim« basiert auf realen Erlebnissen eines Freundes von
Shahrbanoo Sadat und bewegt sich kunstvoll auf der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation. Bereits 2016 drehte die Regisseurin »Wolf and Sheep«. Der dritte und vierte Film ihrer Afghanistan-Reihe sind bereits in Arbeit. Sie sei erst mit 20 Jahren das erste Mal in einem richtigen Filmtheater gewesen, erzählt Sadat: »Das Kino kam erst spät in mein Leben.« Die 1990 in Teheran geborene Regisseurin lebte bis zum erneuten Einmarsch der Taliban im Sommer 2021 in Kabul und studierte dort Film. Erst vor einigen Wochen ist sie nach Hamburg geflohen. »Kabul Kinderheim« ist ein toller Film über das Erwachsenwerden und darüber, welch entscheidende Rolle Bildung spielt: Sind die Lehrkräfte engagiert, schaffen sie es auch in einem sehr armen Land, Jugendliche zu begeistern und von der Straße zu holen, so die frohe Botschaft. Kunstvoll verbindet die Regisseurin Szenen, in denen die Schüler schauspielern, mit Bollywood-Sequenzen. Sadat arbeitet mit einfachen Mitteln und hat ein ausgeprägtes Gespür für Popkultur. Selbst, als der Krieg in die Schule einbricht, gewinnt die Fantasie ihrer Protagonisten noch die Oberhand. Ein interessantes, politisches und wunderschönes Kino. ◆ »Kabul Kinderheim«. AFG u. a. 2019. Regie: Shahrbanoo Sadat. Darsteller: Qodratollah Qadiri, Sediqa Rasuli. In den Kinos
Qodrat flieht in seinen Träumen aus der afghanischen Realität in ein Heldenleben à la Bollywood. Foto: Virginie Surdej
70 AMNESTY JOURNAL | 01/2022