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Rahaf Mohammed floh vor ihrer Familie
»Auch als Frau will ich frei sein«
Der Hilferuf #SaveRahaf ging 2019 auf Twitter um die Welt. Er stammte von einer jungen Frau aus einem Hotelzimmer in Bangkok: Rahaf Mohammed war auf der Flucht vor ihrer Familie und der Gesellschaft in Saudi-Arabien. Von Cornelia Wegerhoff
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Sie hatte sich im Zimmer des Flughafenhotels eingeschlossen und die Sicherheitskette eingehängt. Aber das war Rahaf Mohammed noch nicht sicher genug. Die schmale, junge Frau schleppte einen Tisch vor die Tür, beschwerte ihn mit einem Stuhl, zerlegte dann kurzerhand das Doppelbett, wuchtete einen der beiden Bettkästen vor die Tür und schob noch eine Matratze hochkant hinterher. Ein Handy-Video von damals zeigt die 18Jährige mit Panik im Gesicht und völlig erschöpft.
Seit ihrer Ankunft in Bangkok am 5. Januar 2019 hatte Rahaf Mohammed kein Auge zugetan. Die junge Frau aus SaudiArabien nutzte einen Familienurlaub in Kuwait, um Richtung Australien zu fliegen, ohne ihre Angehörigen zu informieren. Das nötige Visum besaß sie. Rahaf Mohammed hatte jahrelang geplant, wie sie den Misshandlungen durch ihre Familie und der Unterdrückung in ihrem Land entkommen könnte. Sie wollte endlich selbstbestimmt und in Freiheit leben. Doch beim Zwischenstopp in Thailand nahm ihre Flucht ein jähes Ende. Ihre Familie hatte die saudische Botschaft in Bangkok kontaktiert. Die thailändischen Behörden drohten, sie in ihr Heimatland abzuschieben. Immer wieder klopfte jemand an ihre Tür, versuchte sie herauszuFaustschläge, Tritte und Ohrfeigen, erzählt Rahaf Mohammed. Über diese Misshandlungen, ihren Alltag in Saudi-Arabien und ihre spektakuläre Flucht veröffentlichte sie im März ein Buch mit dem Titel »Rebellin«. »Auch als Frau will ich frei sein«, sagt die Autorin. Dafür habe sie ihr Leben riskiert. Denn nach einer Abschiebung wäre sie umgebracht worden, ist sie sich sicher. Von anderen saudischen Frauen, denen die Flucht leider nicht gelungen sei, habe man nie wieder etwas gehört.
locken. Der Arm des repressiven saudischen Systems ist lang.
Irgendwann schrieb Rahaf Mohammed folgende Twitter-Nachricht: »Ich bin das Mädchen, das von Kuwait nach Thailand geflohen ist. Mein Leben steht auf dem Spiel. Wenn ich gezwungen werde, nach Saudi-Arabien zurückzukehren, schwebe ich in ernsthafter Gefahr.« Der dramatische Tweet machte weltweit Schlagzeilen und sorgte für internationale Solidarität. Der Hashtag #SaveRahaf rief sogar das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge auf den Plan. Erst als dessen Vertreter*innen vor ihrer Hoteltür standen, traute sich Rahaf Mohammed, zu öffnen. Sie erhielt den Flüchtlingsstatus und am 11. Januar 2019 ein Asylangebot aus Kanada. Einen Tag später landete sie in Toronto. »Flucht war die einzige Möglichkeit, um mein Leben zu leben«, sagt Rahaf Mohammed, die inzwischen 22 Jahre alt ist. Sie sitzt in ihrem kanadischen Zuhause in einem sonnengelben Shirt vor dem Laptop. Zu Beginn des Videocalls streicht sie sich die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. In Saudi-Arabien hätte sie sich Fremden niemals so zeigen dürfen. Schon als Neunjährige musste sie ihren Körper mit einer Abaya verhüllen, einem weiten schwarzen Gewand. Mit zwölf Jahren kam der Niqab dazu, der nur noch einen schmalen Schlitz für die Augen freilässt. Wenn herauskam, dass sie ihn nicht getragen hatte, verpassten ihre Brüder ihr Strafen für Frauenrechtler*innen
Rahaf Mohammed stammt aus Hail, einer Region im sittenstrengen Nordwes ten Saudi-Arabiens, der konservativsten Gegend des islamischen Königreichs, wie sie im Buch beschreibt. Ihr Vater ist Gouverneur der Region, einflussreich und wohlhabend. Die Familie lebt in einem luxuriösen Haus mit neun Schlafzimmern, beschäftigt einen Koch, einen Chauffeur und eine Haushälterin. Sechs Autos parken vor der Tür. Doch es gibt keinen Balkon, und die Fenster bleiben stets verschlossen, damit niemand die Frauen im Haus sehen kann. Der Wahhabismus, die rigide Auslegung des sunnitischen Islam, sei in Wahrheit ein »Lalabismus«, bemerkt Rahaf Mohammed ironisch. Das arabische »La« bedeutet »Nein«. Wie eine Frau zu sprechen oder zu sitzen habe, für alles gebe es in Saudi-Arabien Regeln und Verbote. »Ich durfte nicht mal die Knie
Erhält bis heute Todesdrohungen: Rahaf Mohammed, nach ihrer Ankunft 2019 in Kanada.
Foto: Annie Sakkab/The New York Times/Redux/laif
übereinanderschlagen«, erzählt sie. Auch was sie eines Tages studiert hätte oder wen sie einmal hätte heiraten sollen, wäre von den Männern ihrer Familie bestimmt worden. Ihre Bekanntschaften seien deshalb überwacht worden. Als sie sich als Teenagerin einmal in ihrem Zimmer eingesperrt habe, weil sie ihrem Bruder nicht ihr Handy aushändigen wollte, habe dieser die Tür mit einer Axt eingeschlagen. Eine verriegelte Tür allein sei kein Schutz, wenn Mädchen und Frauen einer Gesellschaft nichts wert seien.
In Saudi-Arabien gilt immer noch das Vormundschaftssystem mit seinen patriarchalischen Gesetzen und Traditionen, die das Leben von Frauen rechtlich und gesellschaftlich einschränken. Jede Frau untersteht einem männlichen Vormund, der nicht von ihr selbst bestimmt werden kann. Frauen sind damit »Bürgerinnen zweiter Klasse« und bleiben »ewige Mündel«, beklagt Regina Spöttl, Sprecherin der Koordinationsgruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten von Amnesty Deutschland. So könne selbst ein zehnjähriger Sohn zum Vormund seiner geschiedenen Mutter werden.
Zwar wurden inzwischen einige Reformen eingeführt. Kürzlich gab ein saudisches Gericht einer jungen unverheirateten Frau recht, die von ihrer Familie verklagt worden war, weil sie allein in einer Wohnung leben wollte. »Das sind wenigs tens kleine Schritte in die richtige Richtung«, sagt die Amnesty-Aktivistin. Es gibt jetzt Kinos und Konzerte, die von Frauen besucht werden können, saudische Mädchen dürfen Fußball spielen, und das Land hat sogar ein Frauenfußballnationalteam. Im Juni 2018 wurde das Frauenfahrverbot aufgehoben. Doch während der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman sich mit dieser Neuerung als fortschrittlicher Reformer präsentierte, saßen die Frauen, die jahrelang mutig gegen das Fahrverbot gekämpft hätten, noch weitere Jahre im Gefängnis. Der Kronprinz habe sich nicht die Schau stehlen lassen wollen. »Unter der Oberfläche sind die alten Strukturen eben immer noch da«, stellt Spöttl fest.
Inwieweit die Reformen Frauen neue Freiheiten erlauben, lasse sich nur schwer beurteilen, sagt der Nahostexperte von Amnesty International Hashem Hashem. Amnesty hat keinen Zugang zum Land. Solange jedoch Aktivist*innen sowie Menschenrechtsverteidiger*innen, die für Frauenrechte kämpfen, immer noch überwacht, bestraft und teils mit mehrjährigen Reiseverboten belegt werden, falle es schwer zu glauben, dass dies echte Reformen seien, stellt Hashem fest. Das Vormundschaftsprinzip wirke sich trotz »chirurgischer« Veränderungen immer noch sehr negativ auf das Leben der saudischen Frauen aus. Das Land müsse das System komplett abschaffen, die vollständige Gleichstellung umsetzen und den Schutz von Frauen gemäß internationaler Menschenrechtsstandards garantieren.
Das wünscht sich auch Rahaf Mohammed. Vielleicht änderten sich manche Dinge in Saudi-Arabien, sagt sie, aber wenn eine Frau Autofahren wolle und ihr Vater, Ehemann oder Bruder »Nein« sage, werde eben nichts daraus. Mit ihrem Buch will Rahaf Mohammed auf das Unrecht an den Frauen in ihrer alten Heimat aufmerksam machen. Von ihren Eltern und Geschwistern wurde sie nach ihrer Flucht aus Saudi-Arabien offiziell verstoßen. In Kanada hat sie jetzt ihre eigene Familie: einen Partner und eine kleine Tochter. Aber wirklich sicher fühlt sich Rahaf Mohammed bis heute nicht. Seitdem ihr Buch erschienen ist, erhält sie wieder Todesdrohungen. ◆
Rahaf Mohammed
Rahaf Mohammed: Rebellin. Meine Flucht aus Saudi-Arabien oder Wie ein Hashtag mein Leben rettete. Aus dem Englischen von Katharina Martl. C. Bertelsmann Verlag, München 2022, 256 Seiten, 18 Euro