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Buch: Leonardo Paduras neuer Roman über Kuba

Leonardo Padura schreibt von Havanna aus Weltliteratur.

Foto: Francesco Gattoni/opale.photo/laif

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Hymne auf die Freundschaft

Seit den 1990er Jahren haben unzählige Menschen Kuba verlassen, auf der Flucht vor Mangel, Korruption und Repression. Um ihre Erfahrungen kreist Leonardo Paduras neuer Roman. Von Wera Reusch

Bekannt wurde der derzeit wohl berühmteste Schriftsteller Kubas mit sozialkritischen Romanen, in denen der Polizist Mario Conde in Havanna ermittelt. Leonardo Padura als Krimiautor zu bezeichnen, wurde ihm jedoch noch nie gerecht. Er nutzte das Genre vielmehr, um die kubanische Wirklichkeit darzustellen. Nachdem er Conde in Pension geschickt hatte, veröffentlichte er viele weitere Romane. Und spätestens sein neues Werk »Wie Staub im Wind« macht klar, dass der 1955 geborene Schriftsteller Weltliteratur schreibt.

Paduras jüngstes Vorhaben ist gewagt: Um die Erfahrungen seiner Generation zu schildern, macht er einen gesamten Freundeskreis zum Protagonisten. Der »Clan«, wie er sich nennt, umfasst rund ein Dutzend Personen, die sich in den 1980er Jahren in einem Haus am Stadtrand von Havanna treffen, um ausgelassene Feste zu feiern. Diese »romantische und opferbereite Generation«, wie es an einer Stelle heißt, hat nur das revolutionäre Kuba kennengelernt, ist gut ausgebildet und will ihren Beitrag leisten »zum endgültigen Sieg«. Doch dann folgt der Zusammenbruch des Ostblocks mit seinen fatalen Folgen für Kuba: Die folgenden Jahrzehnte sind von Mangelwirtschaft, Korruption und Repression geprägt. Unzählige Menschen verlassen das Land – so auch der Großteil des Clans.

In »Wie Staub im Wind« entfaltet der Autor auf gut 500 Seiten die Lebensläufe der Clanmitglieder und verwebt die verschiedenen Schauplätze auf kongeniale Weise: Schließlich erstreckt sich das Netz des Freundeskreises von Kuba über Argentinien und die USA bis nach Spanien und Frankreich. Einfühlsam schildert Padura, der selbst in Havanna lebt, die Motive der Exilierten und derjenigen, die bleiben, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Kämpfe und Widersprüche, vor allem aber ihre Verbundenheit – über alle Distanzen und Wirren hinweg. Bemerkenswert ist nicht zuletzt seine differenzierte Darstellung der Frauenfiguren und der homosexuellen Protagonisten.

Der Roman zeugt nicht nur von enormer Lebensklugheit, sondern weist Padura auch als handwerklich enorm versiert aus: So verschiebt er gekonnt den Schwerpunkt von einer Figur auf die nächste und managt souverän die verschiedenen Zeitebenen. Dank seiner Krimierfahrung schafft er es zudem, Spannung aufzubauen – ein Todesfall und eine Vaterschaft sind rätselhaft … Schließlich nimmt der Schriftsteller auch noch die nächste Generation in den Blick und lotet eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung aus. »Wie Staub im Wind« ist ein großer Kubaroman und eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema Exil, vor allem aber eine universal gültige Hymne auf die Freundschaft. ◆

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2022, 528 Seiten, 26 Euro

BÜCHER

Für’s Frausein bestraft

Afghanistan. Ein Mädchen überredet ihren kleinen Bruder, sie zu einem abgelegenen Felsen zu begleiten, damit sie dort singen kann. Er soll ihr auch von der Schule erzählen, die sie selbst nicht mehr besuchen darf. Bosnien. Eine Mutter verbrennt sich selbst, nachdem ihre zwölfjährige Tochter vor ihren Augen von Soldaten zu Tode vergewaltigt wurde. USA. Eine junge Frau nimmt an einem GangBang-»Wettbewerb« teil. Bricht sie den Rekord von 919 Samenergüssen in 24 Stunden, bekommt sie ein Preisgeld und kann denen entkommen, die sie seit ihrer Teenagerzeit sexuell ausbeuten. Tibet. Eine Feldarbeiterin schätzt sich glücklich, dass ihr chinesischer Vorgesetzter sie nicht sterilisieren lässt, sondern ihr nach Jahren die Erlaubnis zum Heiraten gibt.

Die französische Theaterautorin Emanuelle Delle Piane macht in ihrer Sammlung kurzer Bühnenstücke auf die fundamentale Verletzung von Frauenrechten in aller Welt aufmerksam. »Stille Stimmen« heißt der Zyklus von 17 Monologen, in Anlehnung an die 17 Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet wurden, und an die »Variations sérieuses für Klavier« von Felix Mendelssohn. Den Variationen der Erwachsenen sind zehn Monologe aus dem Blick von Kindern beigestellt. Angelehnt an die UN-Kinderrechtskonvention lenken die Geschichten aus dem Alltag von Pablito, Nefertari, Nora und anderen den Blick auf Verbrechen wie Organhandel oder Rekrutierung von Kindersol dat*in nen. Die individuellen Geschichten machen strukturelle Hintergründe der Entrechtung deutlich, klammern aber auch die Mitverantwortung von Frauen nicht aus, die Praktiken wie Beschneidung mittragen. »Stille Stimmen« ist eine dichte, erschütternde Lektüre, die aber Raum für Hoffnung lässt. Etwa, wenn die Diploma tentochter heimlich der Haussklavin den Pass und die Freiheit zurückgibt.

Emanuelle Delle Piane: Stille Stimmen/Voix silencieuses. Aus dem Französischen von Samuel Machto. edition spoken script, Luzern 2022, 192 Seiten, 12 Euro

Fehlbare Held*innen

Der Rechtsanwalt Benjamin Derin und der Polizeiwissenschaftler Tobias Singelnstein haben eine kritische, wissenschaftlich fundierte und prägnante Bestandsaufnahme der deutschen Polizei in Buchform vorgelegt. Im Fokus stehen insbesondere (Polizei)Gewalt, Rassismus sowie eine mangelnde Fehlerkultur. Neben positiven Entwicklungen leiten die Autoren demokratietheoretisch bedenkliche und diskussionswürdige Verselbständigungsprozesse wie die Ausweitung polizeilicher Eingriffsbefugnisse nachvollziehbar ab und diskutieren mögliche Alternativen. Damit legen sie den Finger in die Wunde einer Organisation, die sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis eher als Superheldin denn als Schurkin wahrnimmt.

Dabei widmen sich die Autoren insbesondere der Rolle der Polizei innerhalb der Gesellschaft. Sie zeigen auf, dass die Polizei eine ambivalente Organisation ist, die als Sicherungsinstanz der sozialen Ordnung dient und mit einer exklusiven Gewaltlizenz ausgestattet ist. Diese Zwiespältigkeit begreifen sie als »tief verwurzeltes Resultat der polizeilichen Aufgaben und Funktionen«, die in den gesellschaftlichen sowie rechtlichen Rahmenbedingungen selbst angelegt ist.

Die öffentliche, emotional aufgeladene Debatte über »die« Polizei folgt häufig einer binären Schwarz-Weiß-Logik, seitens einiger polizeilicher Vertreter*innen rangiert sie zwischen »Beschwichtigungsritual und Generalverdachtsrhetorik«. Dieses Buch macht die Grauschattierungen dazwischen auf verständliche Weise sichtbar. Innerhalb der Polizei kann es einen wertvollen Beitrag zum selbstkritischen Umgang leisten, indem der dem Heldenhabitus entsprechenden Losung »aus großer Macht folgt große Verantwortung« auch die Gleichung »Polizist = Mensch = fehlbar« zur Seite gestellt wird. Eine dringende Leseempfehlung für alle, die das #Polizeiproblem etwas angeht.

Benjamin Derin, Tobias Singelnstein: Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Econ, Berlin 2022, 437 Seiten, 24,99 Euro

Feminismus für alle

Die ursprünglich live als TED-Talk auf einer Konferenz vorgetragene Rede von Chimamanda Ngozi Adichie »We Should All Be Feminists« aus dem Jahr 2012 hat bis heute weder an Aktualität noch an gesellschaftspolitischer Relevanz verloren. Die für ihre neue Publikation adaptierte und von Nursima Nas, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des rassismusund machtkritischen Vereins MOSAIQ, illustrierte Ausgabe macht die wegweisenden Ausführungen der Autorin nun unter dem Titel »Warum ich Feministin bin« auch einem jungen Publikum zugänglich. Die pastellig-bunten Illustrationen wie auch die typografische Gestaltung, mit der einzelne Textpassagen hervorgehoben werden, kombinieren aktuelle gestalterische Trends mit traditionellen afrikanischen Stoffmustern. Derart visuell eingebettet präsentieren sich die Überlegungen der renommierten Autorin als persönlicher Erfahrungsbericht und als Appell, tradierte Geschlechterrollen zu korrigieren: »Wir alle, Frauen und Männer, müssen unseren Teil dazu beitragen, um es besser zu machen.«

Adichie spürt dem nach, was Feminismus für sie bedeutet, sie begegnet Vorurteilen, mit denen sich Feministinnen konfrontiert sehen, schreibt über Wut, Angst, Erziehung, soziale Normen, Kultur und zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Diskurses über Geschlechterrollen unmissverständlich auf. »Feminismus ist ein Teil der Menschenrechte, aber wenn wir den Begriff ›Menschenrechte‹ benutzen, verleugnen wir die besonderen und spezifischen Probleme, die Geschlechterrollen mit sich bringen.« Dabei ist es der anekdotische und persönliche Charakter des Textes, der ihn einerseits verständlich und nachvollziehbar macht und der andererseits mit seinen humorvoll-pointierten und reflektierten Beobachtungen auf eine sozial, politisch und ökonomisch gleichberechtigte Zukunft hoffen lässt.

Chimamanda Ngozi Adichie, Nursima Nas (Ill.): Warum ich Feministin bin. Übersetzt von Alexandra Ernst. Fischer Sauerländer, Frankfurt/M. 2022, 64 S., ab 10 Jahren

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