10 minute read

Amnesty-Medienpreis: Sonia Mikich im Gespräch

»Seid nicht zu nett«

Sonia Mikich war Auslandskorrespondentin in Moskau und Chefredakteurin des WDR. Sie ist Schirmherrin des diesjährigen Marler Medienpreises von Amnesty International. Ein Gespräch über Zeitenwenden in Russland, investigative Geschichten und leise Rebellion.

Advertisement

Interview: Anton Landgraf

Vermissen Sie Moskau?

Ich wäre gerne in Moskau, aber ich wüsste nicht, wie gut ich verdrängen kann, dass dort ein Kriegspräsident das Sagen hat. Ich habe Moskau geliebt, es war für mich magisch. Warum? Weil es damals, in den 1990er Jahren, ebenfalls eine Zeitenwende gab. Die Jelzin-Ära war für Journalisten eine aufregende Zeit. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, Freiheiten waren möglich, die Menschen waren demokratiefähig. Ich habe natürlich auch die Bilder von den Massendemonstrationen 2011 im Kopf. Hunderttausende waren auf den Straßen und schrien: »Putin muss weg!« Meine russischen Freunde sind auch heute keine Putin-Anhänger, sie verabscheuen und verdammen den Krieg. Aber sie sagen das nicht mehr laut, sondern lassen die Schultern hängen. Sie warten und hoffen, dass es irgendwann vorbei ist mit diesem Präsidenten.

Warum haben so viele Putin falsch eingeschätzt?

Putin war von Anfang an ein Machtmensch, der Russland wieder groß machen wollte. Viele Menschen, die zu den Verlierern der Wirtschaftsreformen gehörten, waren froh, dass nach Boris Jelzin ein starker junger Mann antrat, der das Land wieder nach vorne bringen wollte. Darin bestand Putins Popularität. Gleichzeitig hat er vom ersten Tag an die russische Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auf sich zugeschnitten. Er hat jegliche Konkurrenz beiseite geschafft, und zwar ziemlich schnell. Er hat die Gouverneure entmachtet und die Parteienvielfalt durch massive Wahlmanipulationen zerstört. Anschließend hat er die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, auf Linie gebracht. Im Westen dachten viele: Vielleicht braucht Russland einen starken Politiker. Eine autoritäre Regierung ist immer noch besser als ein Machtvakuum oder Unruhen. Die Wirtschaftsbeziehungen sollten nicht gefährdet werden. Viele westliche Politiker sind erst aufgeschreckt, als Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 plötzlich Drohungen aussprach. Aber die Empörung versickerte schnell. Selbst nach der Annexion der Krim gab es noch ein gewisses Verständnis.

Nach Ihrer Zeit in Russland waren Sie für WDR-Sendungen wie »Monitor« und »Die Story« verantwortlich. Für

Ihre Arbeit erhielten Sie mehrfach den Marler Medienpreis, unter anderem für einen Beitrag über den Tod von Oury Jalloh in einer Polizeiwache in Dessau.

Der Fall von Oury Jalloh hat mich damals zutiefst gepackt, denn ich hatte eine simple Frage und eine einfache Motivation: Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch in einer Polizeizelle in Deutschland einfach so verbrennt. Warum wird das nicht aufgeklärt? Wir haben diesen Fall bei »Monitor«, aber auch in der Reihe »Die Story« immer wieder aufgegriffen. Bei

»Wer, wenn nicht wir, Amnesty oder Journalisten, soll sich um Aufklärung kümmern?«

mir hat das starke Zweifel am Rechtsstaat ausgelöst.

Ist es nicht frustrierend zu sehen, dass sich wie im Fall von Oury Jalloh auch 15 Jahre später nicht viel geändert hat?

Natürlich könnte man resignieren und sagen: Aufklärung nützt nichts, es passiert immer wieder dasselbe, die Menschen lernen nicht dazu. Da, wo ein Licht auf ein Verbrechen oder eine Menschenrechtsverletzung fiel, wurde es ziemlich schnell auch wieder zappenduster. Aber wer, wenn nicht wir, soll sich um Aufklärung kümmern? Also NGOs wie Amnesty, aber natürlich auch kritische Journalisten. Wenn man nur eine einzelne Geschichte aufdeckt, wenn man eine einzelne Person rettet, wenn man einen einzelnen Umstand verbessert, dann hat sich schon viel gelohnt.

Inzwischen sind TV-Formate von Joko und Klaas oder Jan Böhmermann populär, die Unterhaltung und investigative und politische Beiträge miteinander verbinden. Sind solche Sendungen eine Konkurrenz für die klassischen Polit-Magazine?

Ich finde Jan Böhmermann fabelhaft. Er macht immer mehr investigative Geschichten. Ich war besonders angetan von seiner Sendung über das Schwarzfahren. Wer kein Geld hat, um die Strafe zu bezahlen, kommt irgendwann ins Gefängnis –was absurd ist, weil man dort erst recht nichts bezahlen kann. Und diese Strafe kostet den Staat täglich sehr viel mehr Geld, als er durch das verhängte Bußgeld eingenommen hätte. Böhmermann hat diese Fälle aus allen Winkeln betrachtet –aus wirtschaftlicher, juristischer und historischer Perspektive. Offensichtlich

Sonia Seymour Mikich wurde 1951 in Großbritannien geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie arbeitete ab 1992 als Korrespondentin in Moskau und leitete später das ARD-Studio in Paris. Ab 2002 moderierte sie das Polit-Magazin »Monitor«. Von 2014 bis 2018 war sie Chef redakteurin Fernsehen beim Westdeutschen Rundfunk (WDR). Sie lebt in Köln. Der Marler Medienpreis von Amnesty International wird am 24.September 2022 zum zwölften Mal vergeben. Der Preis würdigt Beiträge, die in außergewöhnlicher Weise das Thema Menschenrechte behandeln. Die Jurys bestehen aus Mitgliedern von Amnesty International. Weitere Informationen unter

https://m3.amnesty.de

Foto: Annika Fußwinkel/WDR

stammt das entsprechende Gesetz noch aus der Nazizeit. Am Ende ging es sehr praktisch darum, Geld zu sammeln, um Leute aus dem Gefängnis zu holen. Das war für mich absolut rund und fantastisch. Ist das eine Konkurrenz für »Monitor«? Nein. Ich hätte vielleicht das Thema mit einem Beitrag erweitert, hätte Politiker gefragt: Warum tut ihr nichts dagegen, warum gibt es zum Beispiel keinen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr?

Beim Marler Medienpreis vergeben in diesem Jahr erstmals auch Amnesty-

Jugendgruppen eine Auszeichnung, also Menschen, die zumeist kein lineares Fernsehen mehr schauen…

Ich glaube auch nicht, dass sich viele Jugendliche am Donnerstagabend vor den Fernseher setzen, um »Monitor« anzusehen. Aber dafür gibt es ja Mediatheken. Und wir müssen gleichzeitig auf vielen Plattformen präsent sein. Das ist für Ältere oft schwieriger, für die Jüngeren hingegen eine Selbstverständlichkeit. Sie haben vielleicht kein so großes Interesse am Fernsehen, aber dann ploppt irgendeine

ben. Vermissen Sie solche Rebell*innen heute?

Die heutigen Rebellen sind in der Tat nicht laut. Sie rotzen ihre Wut nicht mehr so heraus wie in meiner Generation. Braucht man das? Ich finde ja. Ich finde Regelverstöße fruchtbar, auch im Individuellen. Natürlich ist es schwierig, etwas zu bewegen und gleichzeitig das System, das bewegt werden soll, völlig infrage zu stellen. Das ist eine etwas schizophrene Situation. Aber ich persönlich neige eher dazu, zu sagen: Seid nicht zu nett! Seid nicht zu höflich! Versucht, Verständnis zu gewinnen, und ab einem bestimmten Punkt, wenn es gar nicht klappt, seid radikal. ◆

»Monitor«-Recherche auf den üblichen Plattformen auf. Und siehe da, sie nehmen es wahr, finden es gut und erzählen es weiter. Was will man mehr?

Was zeichnet eine gelungene Dokumentation oder einen Magazinbeitrag aus?

Hatte der Beitrag eine Wirkung? Ist irgendjemand aufgeschreckt? Ein Unrecht wurde deswegen vielleicht nicht sofort abgeschafft, aber wurde darüber diskutiert? Flossen die Erkenntnisse in eine Bundestagsdebatte ein? Wurde jemand dadurch aus einem Gefängnis geholt? Hat der Beitrag motiviert, sodass Aktivisten oder Journalisten sehen, dass ihre Arbeit wahrgenommen wird? Wir haben Werte, die immer wieder verteidigt und umgesetzt werden müssen. Und Medienschaffende sind dafür da, dass die Demokratie immer wieder Sauerstoff bekommt und nicht eines Tages völlig ausgehöhlt und schwach ist.

Sie haben zu Beginn Ihrer journalistischen Karriere über Punk oder Musikerinnen wie Patti Smith geschrie-

Der 12. Marler Medienpreis Menschenrechte findet am 24.September um 15 Uhr im GrimmeInstitut, Eduard-Weitsch-Weg 25, 45768 Marl, statt. Alle Leser*innen sind herzlich zum Besuch der Preisverleihung eingeladen, die auch online übertragen wird.

NAH AN DER NATUR

Vandria Borari kämpft gegen Umweltzerstörung im brasilianischen Amazonasgebiet – auch mit Hilfe ihrer Keramikkunst. Bereits als Teenagerin setzte sie sich für bessere Lebensumstände in ihrem Dorf ein. Von Luciana Ferrando

Sie trägt nicht nur den Namen ihrer Bevölkerungsgruppe, der Borari aus dem brasilianischen Bundesstaat Pará, mitten im Amazonasgebiet. Vandria Borari wurde auch zu deren Anführerin und Sprecherin, kämpft für deren Rechte und führt deren Tradition in der Keramikkunst fort. Schon mit 16 Jahren engagierte sie sich als Aktivistin, heute setzt sich die 38Jährige als Juristin für die Borari ein. Um »hilfreicher« für ihre Leute zu sein, studierte sie Rechtswissenschaften und schloss 2019 als erste indigene Frau ihrer Region das Studium ab. »Wir Menschen sind eins mit der Natur. Wenn wir sie zerstören, zerstören wir uns selbst.« Mit dieser Gewissheit wuchs Borari im Dorf Alter do Chão am Ufer des Rio Tapajós auf. Schon als Kind konnte sie beobachten, wie der Regenwald abgeholzt wurde und sich ihre Umgebung schnell veränderte. Als Jugendliche fing Borari an, sich in ihrer Gemeinde zu engagieren. Sie kam mit anderen Teenager*innen aus der Region zusammen, die wie sie davon träumten, ihre Lebensumstände zu verbessern. Sie beschäftigten sich vor allem mit Umweltbildung, aber auch mit den allgemeinen Belangen der Dorfbewohner*innen. 2006 nahm Borari an einem großen Protest von Greenpeace gegen den Konzern Cargill teil. Im Hafen der Stadt Santarém verschiffte Cargill Soja aus dem Amazonasgebiet nach Europa. Damals gelang es den Aktivist*innen, den Hafen lahmzulegen. »Diese Aktion war wesentlich in meinem Leben. Sie zeigte mir, dass wir gemeinsam mehr erreichen können, aber auch, dass jede von uns wichtig ist«, sagt Borari. »Seitdem habe ich nie mehr aufgehört, für die Erhaltung unseres Territoriums sowie gegen die Vernichtung des Regenwalds zu kämpfen.« Deshalb sei sie zur Universität gegangen. »Rechtskenntnisse sind ein wertvolles Werkzeug, wenn es darum geht, unsere Rechte zu verteidigen und zu garantieren«, sagt sie.

Als Teil eines amazonischen Anwaltskollektivs trat Borari Anfang November 2021 bei einem Panel der UN-Klimakonferenz in Glasgow auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie in Europa ihre Stimme erhob. Borari kooperiert mit internationalen Umweltorganisationen und hält regelmäßig Vorträge über die Situation im Amazonasgebiet. Sie hofft auf internationale Solidarität, um politischen Druck auf Jair Bolsonaros Regierung und die Agrarkonzerne auszuüben, die im Amazonas Soja anbauen. Deren Felder werden durch Brand und Abholzung immer weiter vergrößert. Dabei werden Existenzen von Kleinbäuer*innen zerstört und Agrochemikalien benutzt, die Gewässer und Tiere vergiften und die Gesundheit der Bewohner*innen gefährden. »Ich wünsche mir, dass den Menschen in Europa unser Leid bewusst wird und sie uns unterstützen, zum Beispiel, indem sie keine Produkte von Firmen kaufen, die die Existenz unseres Landes bedrohen«, sagt Borari.

Nicht nur als Aktivistin wird sie oft nach Europa eingeladen, sondern auch als Keramikkünstlerin. Sie versucht diese Kunstform, die sie von ihrer Großmutter und anderen älteren Frauen im Dorf lernte, mit ihrer politischen Arbeit zu verknüpfen. Als sie 2021 eine Zeit lang in Basel war, wiederholte sie bei jeder Gelegenheit eine Botschaft, die ihr besonders am Herzen liegt: »Ohne den Amazonas hat die Welt keine Zukunft, ohne ihn gibt es kein Leben.« ◆

ANTISEMITISMUS AUF DER DOCUMENTA

Die Diskussion über antisemitische Werke und Positionen auf der Kasseler Kunstschau documenta fifteen geht weiter. Nachdem das umstrittene Wandbild »People’s Justice« des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi abgehängt worden war, entschuldigte sich das Kuratorenteam ruangrupa öffentlich. Die Organisator*innen der Ausstellung kündigten an, alle weiteren Werke auf antisemitische Inhalte zu prüfen. künstlerischen Leitung und des Beirats. Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann legte Mitte Juli ihr Amt nieder.

Die Ausstellung soll grundlegend reformiert werden, seit August begleitet ein aus sieben Wissenschaftler*innen bestehendes Gremium die Ausstellung. Sie endet am 25. September.

Doch auch an der Aufarbeitung gibt es Kritik. Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, hat sich inzwischen von seiner Beratungsfunktion zurückgezogen. Auch die deutsche Künstlerin Hito Steyerl entfernte ihre Arbeiten aus der Ausstellung. Inzwischen wurde bekannt, dass mindestens 84 Teilnehmer*innen der documenta Aufrufe zu einem Israel-Boykott unterschrieben hatten, darunter auch Mitglieder der

(»Zusammen in der Reisscheune«, Amnesty Journal 04/2022).

POLEN ERFASST SCHWANGERSCHAFTEN

Der polnische Gesundheitsminister Adam Niedzielski unterzeichnete Anfang Juni eine Verordnung, die Ärzt*innen verpflichtet, die Schwangerschaft einer Patientin zu erfassen. Abtreibung ist in Polen praktisch verboten – seit 2021 auch, wenn der Fötus stark geschädigt ist. Ausnahmen sieht das Gesetz nur vor, wenn eine Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, Folge von Inzest oder einer Vergewaltigung ist. Menschenrechtsaktivist*innen und Jurist*innen fürchten nun, dass Ermittler*innen die Daten nutzen könnten, um Schwangerschaftsabbrüche zu verfolgen oder Schwangere unter Druck zu setzen. Die polnische Regierung betont, mit der Verordnung nur eine EU-Richtlinie zur Registrierung von Patientendaten umzusetzen.

Wer gegen das Abtreibungsverbot verstößt, muss mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Mitte Oktober wird die Frauenrechtsaktivistin Justyna Wydrzyńska in Polen vor Gericht stehen, die sich für einen Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Sie hatte einer schwangeren Frau zu Abtreibungspillen verholfen. Amnesty Interna-

Für Selbstbestimmung, gegen Verbote. Protest in Warschau, November 2021.

Foto: Grzegorz Żukowski

tional fordert, dass die Klage gegen sie und andere Aktivist*innen fallen gelassen sowie der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vollständig entkriminalisiert wird. Erst im Juni wehrte die nationalkonservative Regierung einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts ab. Seit der Verschärfung der Rechtslage treiben betroffene Polinnen zunehmend illegal oder im Ausland ab.

(»Furchtlos füreinander da«, Amnesty Journal online, November 2020)

RECHTSWIDRIGE ABSCHIEBUNGEN IN BULGARIEN

Geflüchtete, die in Bulgarien Schutz und Sicherheit gesucht haben, wurden ohne Zugang zu fairen Asylverfahren gewaltsam abgeschoben. Die unabhängige Menschenrechtsorganisationen Center for legal aid – Voice und die Nichtregierungs organisation Mission Wings haben Ende Juni 2022 Interviews mit Geflüchteten auf YouTube veröffentlicht. geschlagen, bedroht und in Nachbarländer abgeschoben worden. Damit habe Bulgarien gegen geltendes europäisches Recht verstoßen.

Sie dokumentieren Menschenrechtsverstöße gegen Schutzsuchende in Bulgarien. Betroffene, insbesondere unbegleitete Minderjährige und Frauen mit Kindern, berichten, nach ihrer Ankunft in Flüchtlingsunterkünften von Polizeibeamten abgeholt worden zu sein. Diese hätten sie in Gefängnisse gebracht und dort festgehalten. Im Anschluss seien sie

(»Entschiedener auftreten!«, Amnesty Journal 01/2021)

This article is from: