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Russische Exillyrik: Auf der Suche nach Wärme
Auf der Suche nach Wärme
Zuerst tanzte sie auf dem Eis, dann schrieb sie Gedichte und wurde zur politisch Unbequemen: Die Lyrikerin Anzhelina Polonskaya musste Russland verlassen. In ihrer Arbeit thematisiert sie Gefühle der Traurigkeit und Leere. Von Elisabeth Wellershaus
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Aus der Ferne schillert ihr Leben. Schon als ganz junge Frau war Anzhelina Polonskaya als Eiskunstläuferin erfolgreich. Die spätere Karriere als Lyrikerin, Autorin und Librettistin hat ihr internationales Renommee verschafft. Sie stand auf der Shortlist verschiedener großer Lyrikpreise, ihre Gedichte sind in viele Sprachen übersetzt worden. Und doch erzählen ihre Texte von einer zerrissenen Seele.
Als wir im Juni dieses Jahres zoomen, wirkt Anzhelina Polonskaya erschöpft. Seit 2015 lebt sie mit kurzen Unterbrechungen im deutschen Exil. In Russland war es immer schwerer geworden, Texte zu veröffentlichen, in denen Kritik am System durchschien. Als die Repressionen gegenüber regimekritischen Kulturschaffenden vor einigen Jahren weiter zunahmen, war auch sie betroffen. Hass-Mails und Einbrüche in ihre Wohnung standen am Beginn einer Zeit, in der die Machthabenden in Moskau sie einzuschüchtern versuchten. Es folgten Beschlagnahmungen von Computern und Textmaterial.
Die Ermordung des oppositionellen Politikers Boris Nemzow war schließlich der Weckruf, erzählt sie – Polonskaya wurde klar, dass kritische Autorinnen wie sie in akuter Gefahr schwebten. Dass sie den lyrischen und politischen Widerstand, den sie leistete, vor Ort nicht fortsetzen konnte.
Wahrscheinlich wurde ihr Widerstand bereits in Kindertagen angelegt. 1969 wurde Polonskaya in Malakhova, wenige Kilometer von Moskau entfernt, geboren und wuchs in einem ausgesprochen liberalen Haushalt auf. Die kritische Haltung ihrer Eltern gegenüber dem Sowjetregime ging nach dessen Auflösung bald in die Enttäuschung nicht eingelöster demokratischer Versprechen über. Während das Land sich Mitte der 1990er Jahre in einer ökonomischen Abwärtsspirale befand, packte sie ihre Koffer, verließ Russland und ging mit einer Eiskunstshow nach Lateinamerika. Ihre Mutter war Trainerin gewesen, und so hatte auch die Tochter früh den Weg aufs Eis gefunden.
Doch die andere Leidenschaft, die sie seit Kindertagen verfolgte, war das Schreiben. Irgendwo zwischen Kolumbien und Costa Rica entschied Polonskaya sich für das literarische Verarbeiten ihres bereits bewegten Lebens. 1997 hängte sie die Schlittschuhe an den Nagel und kehrte Ende des Jahrtausends als Lyrikerin zurück nach Moskau.
In den vergangenen 20 Jahren sind zahlreiche Gedichtbände entstanden, in denen Anzhelina Polonskaya vor allem die Verluste in ihrem Leben betrauert. Mal in stiller, mal in brutaler, mal in lauter und oft in leiser Melancholie schreibt die Dichterin über all die Abschiede, die sie seit Jahren erlebt. Sie schreibt über Menschen und Orte, die sie verloren hat, über die Leere des Verlusts und die Ungewissheit, die das Leben im Exil mit sich bringt.
Du, Traurigkeit, allmächtige, irdische Maske alter Leier, kein Schlaf wird sein in deinen Nächten bis zu der letzten, jener einen…
Eine Strophe aus ihrem Gedicht »Unvollendete Musik« macht deutlich, wie sehr die Schwermut ihr von außen besehen abenteuerliches Leben umhüllt. »Ich schreibe keine fröhlichen Gedichte«, sagt sie im Gespräch und bekräftigt das Offensichtliche. Denn die Schwere zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Oeuvre. Sie rahmt die Auseinandersetzung mit privaten Verlusten und mit politischen Tragödien, die ihr Land immer wieder heimsuchen. Als Polonskaya um die Jahrtausendwende aus Lateinamerika nach Russland zurückkehrte, fand sie eine Literaturszene vor, die sie als zerstört beschreibt, ein zerrissenes Land.
Die Erschöpfung begleitet sie ins Exil
Im August 2000 sank das Atom-U-Boot K-141 Kursk, und riss 118 Menschen mit sich in den Tod. Nach einer Explosion ging das Schiff in der Barentsee unter, etliche Menschen an Bord waren zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Doch Rettungsversuche scheiterten, internationale Hilfs angebote wurden viel zu spät angenommen, und so starben sie.
In dem zehnteiligen Gedichtzyklus »Kursk« setzt Polonskaya sich mit dem tragischen Vorfall auseinander. Ohne je direkt darauf einzugehen, beschreibt sie in ihrem Text die Angst, die Klaustrophobie, die an Bord geherrscht haben könnte, das hilflose Gefühl, den Elementen ausgesetzt zu sein. Der australische Komponist David Chisholm hat das Werk 2011 mit dem viel beachteten Libretto »Oratorio Requiem Kursk« vertont. Auch zur Musik wirken ihre Beschreibungen über die drückende Last des Wassers berührend.
In anderen Kontexten zieht das Meer sie durchaus an, in gefrorener Form aber ist Wasser ihr Alptraum. »Ich hasse Schnee«, ruft sie eindringlich ins Computermikro, und ihre Werke bestätigen das. »Der Schnee singt alle tot und fort«, heißt es an einer Stelle in »Unvollendete Musik«. Zwar zeigt Polonskaya in ihrem Kurzprosaband »Grönland« zögerliches Interesse an eisigen Regionen. Doch
»Ich schreibe keine fröhlichen Gedichte.«
bleibt das Fremdeln mit dem »weißen Tod«, wie sie den Schnee nennt, mit der verschwiegenen Kälte, die vor allem große Teile Russlands über weite Strecken des Jahres bedeckt.
Nur wenn sie an die beiden Jahre in Lateinamerika zurückdenkt, beginnt ihr Gesicht zu leuchten. In warmen Regionen fühle sie sich zu Hause, sagt sie. Weit weg von ihrem Geburtsland, zu dem sie bis heute eine gewisse Distanz pflegt. Ohnehin deutet ihre Herkunft ins Internationale: familiäre Verbindungen gibt es nach Schweden, Deutschland, Polen.
Auch ihre Arbeit ist der russischen Literaturszene schon vor geraumer Zeit entwachsen. Je schwerer das Publizieren in Russland für sie wurde, desto mehr wandte sie sich Verlagen im Ausland zu. Seither scheint sie in der Zusammenarbeit mit Übersetzerinnen und Übersetzern auf: die Verbindung zu all den Ländern, die Polonskaya in vergangenen Jahrzehnten bereist hat und die ihre lyrische und politische Stimme verstärkt haben.
Doch die Erschöpfung hat sie ins Exil begleitet. Sie gehört zu ihrem deutschen Leben, wo sie zwar in Sicherheit ist, aber auch getrennt von geliebten Menschen. Ihre Mutter lebt noch immer in Malakhova. Seit Jahren haben die beiden einander nicht mehr gesehen; sie telefonieren täglich, um die Verbindung aufrechtzuhalten. »Zu Hause ist dort, wo sie ist«, sagt die Lyrikerin. Und vielleicht meint sie damit auch den Ort, an dem ihre politische Stimme sich entwickelte – das Elternhaus. »Meine Mutter zurückzulassen, war eine der schwersten Entscheidungen, die ich im Leben getroffen habe«, sagt sie. »Aber sie ist zu alt, um noch einmal neu anzufangen.« »Keine Fragen über den Krieg«, hatte Polonskaya vor unserem Gespräch deutlich gesagt. Sie will nicht den wichtigsten Menschen in Gefahr bringen, über den sie Verbindung zum alten Leben hält. Doch in ihren Gedichten deutet sie an, wie sehr Krisen und Verwerfungen uns alle global verbinden. Ihr erster Lyrikband, der ins Englische übersetzt wurde, trägt den Titel »The Voice«. Denn Stille ist auch keine Option. ◆