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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL
HUMAN RIGHTS MATTER DIE USA VOR DER WAHL
75 JAHRE UNO Gegenwart und Zukunft der Vereinten Nationen
BELGIENS KOLONIALGRÄUEL Denkmalkritik und politische Entschuldigungen
MIXTAPE DER MIGRATION Junge Flüchtlinge in Italien machen Musik
05 2020
SEPTEMBER / OKTOBER
INHALT
Schwarze Wut und rote Linien. Seit Wochen gehen in den USA Zehntausende auf die Straße und protestieren gegen Polizeigewalt und systematischen Rassismus.
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TITEL: DIE USA VOR DER WAHL »Black Lives Matter«. Proteste gegen Polizeigewalt
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Reform der Polizei. Geschichte wiederholt sich
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Kommentar. Gleichheit an Würde und Rechten gesucht
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Todesstrafe. Rassismus in Reinkultur
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Schriftsteller Dave Eggers. »Empörung motiviert mich«
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Grenze zu Mexiko. Flüchtlinge in Ciudad Juárez
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Die USA und der amerikanische Kontinent. Welche Folgen eine Wiederwahl Trumps hätte
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POLITIK & GESELLSCHAFT Kommentar UN-Menschenrechtsrat. Besser als sein Ruf
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75 Jahre UNO. Ein Gespräch über die Arbeit der UN im Stillen und die Zukunft der Vereinten Nationen
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Graphic Report Syrien. Nirgendwo sicher
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Sudan. Das Erbe der Protestbewegung
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Weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland. In den Ferien beschnitten
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Philippinen. Journalistin Maria Ressa muss in Haft
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Türkei. Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen
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Belgien. Postkoloniale Debatte um Kongo-Gräuel
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Usbekistan. Zwangsarbeit auf Baumwollfeldern
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KULTUR Mixtape der Migration. HipHop-Workshops für junge afrikanische Flüchtlinge in Neapel
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Indien. Feministische Verlegerin über Frauen und Corona
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Kolonialismusfilm in Kamerun. Sylvie sucht
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Theater und Covid-19. Mittelmeer-Monologe am Telefon
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Nicaragua. Der Schriftsteller Sergio Ramírez
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Buch: »Barracoon«. Der letzte amerikanische Sklave
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Film: »Yalda«. Eine Satire über die Todesstrafe im Iran
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RUBRIKEN
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»Empörung motiviert mich.« Der Schriftsteller Dave Eggers über die antirassistische Bewegung in den USA, Polizeiarbeit und seine Erwartungen an den nächsten Präsidenten.
Happy Birthday, UNO! Die Vereinten Nationen feiern im Oktober ihr 75-jähriges Bestehen. Ein Kommentar zum UN-Menschenrechtsrat und ein Gespräch über die Herausforderungen und die Zukunft der UN.
Mixtape der Migration. Seit mehreren Jahren gibt es in Neapel HipHop-Workshops für junge afrikanische Flüchtlinge, die in den Migrationszentren der Stadt leben. Der Fotograf Gaetano Massa hat mehrere Sessions begleitet.
56 Mit emotionaler Wucht. Mit den Asyl- und NSU-Monologen ist der Theaterregisseur Michael Ruf bekannt geworden. Wegen der Corona-Beschränkungen sind seine MittelmeerMonologe nun über das Telefon zu hören.
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Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Corona und Digitales 07 Spotlight: Halle-Prozess 08 Interview: Ronen Steinke 09 Was tun 44 Porträt: Anwar AlBunni 48 Dranbleiben: Türkei, Ukraine, Iran 49 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 70 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75
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AMNESTY JOURNAL | 05/2020
28 PRÄZISION
Mexiko als Mauer. Restriktive Migrationspolitik, Handelsbeschränkungen, rechtsextreme Ideologie: Was eine Wiederwahl Donald Trumps für die Mitte und den Süden des amerikanischen Kontinents bedeuten könnte.
Keshas Erbe. Abdelsalam Kesha träumte von einem demokratischen Sudan. Dafür ging er auf die Straße. Am 3. Juni 2019 wurde er bei einer Demonstration erschossen. Inzwischen ist er für viele Menschen eine Ikone. Aber seine Familie, Freundinnen und Freunde fragen: Wofür starb Kesha?
Unhold Leopold. Denkmalkritik und politische Entschuldigungen: Nach Jahrzehnten der Ignoranz nimmt die Debatte um die Folgen der belgischen Kolonialzeit an Fahrt auf.
Sylvie sucht. Die Künstlerin Sylvie Njobati aus Kamerun setzt sich mit den Folgen des Kolonialismus auseinander. Die Gottheit ihrer Vorfahren wurde von deutschen Kolonisatoren geraubt und lagert nun im Fundus des Berliner Humboldt-Forums.
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Fotos oben: Yalonda M. James / San Francisco Chronicle / Polaris / laif | Francesca Mantovani / Opale / Leemage / laif Cate Dingley / Bloomberg via Getty Images | Jens Bonnke | Helena Lea Manhartsberger | Virginia Mayo / AP / pa
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EDITORIAL
Eine Menge Präzision ist immer in den journalistischen Arbeiten der freien Afrika-Korrespondentin Bettina Rühl zu finden, auch wenn sie fürs Amnesty Journal geschrieben hat wie zuletzt im Februar 2020 (Libyen: Flucht ins Gefängnis). Völlig zu Recht ist sie nun für ihre AfrikaBerichterstattung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Wir freuen uns sehr und gratulieren herzlich.
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Titelbild: Protest der »Black Lives Matter«Bewegung gegen Polizeigewalt, Doylestown, Pennsylvania, 2. August 2020. Foto: Mark Peterson / Redux / laif
Gaetano Massa | Javla Wilfred | Benjamin Jenak
Und, wie wir im Amnesty Journal nun hinzufügen können, behaupte nicht, ein Boot werde entladen, wenn es beladen wird. Unser Leser Robert Rausch hat die Ausgabe 4/20 besonders aufmerksam studiert und auf Seite 54/55 einen Fehler in der Bildunterschrift entdeckt. Im Bild ist zu sehen, wie Mitglieder der kolumbianischen Guerilla FARC eine Menschenkette von einem Boot zum Strand bilden. Oder ist es umgekehrt und die Kette reicht vom Strand zum Boot? An einer im Foto festgehaltenen Armstellung lässt sich diese zweite Interpretation belegen. Und eine Nachrecherche erbringt schließlich den Beweis: eine Schule wird evakuiert, das Boot wird also beladen. Die Bildunterschrift aber behauptet, das Boot werde entladen. Wir bedauern diesen Fehler und bedanken uns bei Herrn Rausch für seinen Hinweis und seinen präzisen Blick.
Das Amnesty Journal gibt es nicht nur gedruckt, als E-Paper oder online (amnesty.de/journal). Man kann es auch anhören. Das KOM-IN-Netzwerk vertont Teile der jeweils aktuellen Ausgabe für Sehbehinderte und Blinde, und der auf Hörbücher spezialisierte Mono Verlag lässt wiederum andere Artikel einsprechen und vertont sie in unserer App. Wenn Sie mehr erfahren wollen, finden Sie auf Seite 74 einen Überblick dieser Angebote.
Foto: Gordon Welters
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INHALT
gehört genauso zum Journalismus wie Planung, Recherche, Arbeit an Text und Bild und die gedruckte und digitale Veröffentlichung. Schreib nicht Werkzeug, wenn du Hammer schreiben kannst, lautet eine Grundregel für Journalistinnen und Journalisten. Oder: Sag nicht irgendwo in Westafrika, wenn Nigeria gemeint ist.
In immer noch viralen Zeiten wünschen wir Ihnen Schutz und gegenseitige Unterstützung. Oder, um es präzise zu sagen: Bleiben Sie gesund! Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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PANORAMA
Foto: Jesus Merida / SOPA Images / ZUMA Wire / pa
FLUCHT ÜBERS MITTELMEER: WEITERE 45 TODESOPFER Das Foto auf dieser Seite ist ein seltenes Bild. Es zeigt, dass Migrantinnen und Migranten Europa auf dem Weg über das Mittelmeer tatsächlich erreicht haben. In diesem Fall handelt es sich um Menschen aus dem Maghreb, die am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, im Hafen von Málaga (Spanien) an Land gehen. Die Abschreckungspolitik der EU zeigt Wirkung. Mitte Juli beschlossen die EU-Innenminister, die Zusammenarbeit mit der Polizei in den nordafrikanischen Transitländern zu verstärken. Migrantinnen und Migranten sollen dort vermehrt aufgehalten werden. Gleichzeitig wirken die Lockdown-Beschränkungen in den Ländern Nordafrikas und hindern Ausreisewillige an der Flucht. Außerdem häufen sich die Unglücke im Mittelmeer. Zuletzt sank Mitte August ein Flüchtlingsschiff vor der libyschen Küste, 45 Menschen kamen dabei zu Tode. 37 Menschen wurden von Fischern gerettet und nach Libyen zurückgebracht. Dort wurden sie umgehend festgenommen. Das UNHCR und die Internationale Organisation für Migration registrierten in diesem Jahr insgesamt 302 Todesopfer bei der Mittelmeer-Passage zwischen Libyen und Staaten der EU (Stand: Mitte August). Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte weitaus höher liegen.
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AMNESTY JOURNAL | 05/2020
BELARUS: ZWISCHEN AUFSTAND UND REPRESSION Vieles ist klar dieser Tage in Belarus, und doch bleibt vollkommen unklar, wie es in dem osteuropäischen Land weitergehen wird. Klar ist: Präsident Alexander Lukaschenko wurde nach der Wahl am 9. August mit 80 Prozent der Stimmen zum Sieger ausgerufen. Zahlreiche Wahlmanipulationen konnten nachgewiesen werden, bereits vor der Wahl waren namhafte Gegenkandidaten festgenommen worden. Seither protestieren Hunderttausende gegen den seit 1993 regierenden Präsidenten. Sondereinsatzkräfte gingen immer wieder gezielt gegen Protestierende vor, Tausende wurden verhaftet und in der Haft teils schwer misshandelt oder gefoltert. Die Proteste wurden um Streiks erweitert, Lukaschenko zeigte sich bewaffnet und in Kampfuniform im Staats-TV. Er hofft auf Unterstützung aus Russland. »Was gerade in Belarus geschieht, ist eine menschenrechtliche Katastrophe, und die Welt muss dringend einschreiten«, fordert Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International. Foto: Sergei Grits / AP / pa
PANORAMA
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EINSATZ MIT ERFOLG
MALTA Am 7. Juni lieĂ&#x;en die BehĂśrden 425 Asylsuchende an Land gehen, die sie zuvor auf vier Fährschiffen in maltesischen Gewässern festgehalten hatten. Die Asylsuchenden waren nach ihrer Rettung im zentralen Mittelmeer Ende April und Anfang Mai auf die von Malta gecharterten Schiffe gebracht worden. Dort saĂ&#x;en sie auf unbestimmte Zeit und ohne Kontakt zu Rechtsbeiständen willkĂźrlich fest. Seit April 2020 nutzte Malta die Corona-Pandemie, um die Ausschiffung von im Mittelmeer geretteten Menschen zu untersagen. Auf diese Weise sollten andere EU-Mitgliedsstaaten gezwungen werden, GeflĂźchtete aufzunehmen. Anfang Juni wurde die unerträgliche Situation der Asylsuchenden an Bord schlieĂ&#x;lich beendet. í˘ą
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
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KUBA Wie erst im Juli bekannt wurde, ist der kubanische Oppositionelle JosĂŠ Daniel Ferrer GarcĂa am 20. April nach fast sieben Monaten Haft in den Hausarrest entlassen worden. Er war zuvor in einem unfairen Gerichtsverfahren zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Die internationale Presse war bei dem Verfahren nicht zugelassen. Der Vorsitzende der informellen Oppositionsgruppe UniĂłn PatriĂłtica de Cuba war am 1. Oktober 2019 festgenommen worden. In einer Anklage wurde er nicht näher bestimmter ÂťVerletzungenÂŤ (lesiones) bezichtigt. Nach seiner Freilassung dankte JosĂŠ Daniel Ferrer GarcĂa Amnesty International fĂźr die UnterstĂźtzung. Amnesty International wird seine Situation auch im Hausarrest weiterhin genau beobachten.
KOLUMBIEN Die Staatsanwaltschaft in Villavicencio hat am 27. Mai damit begonnen, Drohungen gegen die indigene Gemeinschaft der Aseinpome zu untersuchen. Nach Beginn des Covid-19-Lockdowns in Kolumbien, hatten sich bei den Aseinpome zwei bedrohliche Vorfälle ereignet. Am 24. April setzte ein Unbekannter dort ein Haus in Brand. Zwei Wochen zuvor waren zwei Unbekannte auf Motorrädern in der Gemeinde gesehen worden. Nach Druck aus dem In- und Ausland leitete die Staatsanwaltschaft Schritte ein, um die Angreifer zu identifizieren und sie von weiteren Drohungen abzuhalten. Amnesty International wird mit der Gemeinschaft in Kontakt bleiben und umgehend reagieren, wenn es zu einem neuen Vorfall kommen sollte.
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SĂœDSUDAN Der 18-jährige SĂźdsudanese Magai Matiop Ngong kann aufatmen. Am 14. Juli hob ein Berufungsgericht das Todesurteil gegen ihn auf, weil er zum Tatzeitpunkt minderjährig war. Am 29. Juli wurde er aus dem Todestrakt verlegt. Nun soll das Hohe Gericht des Landes eine neue Strafe verhängen. Magai Matiop Ngong war 2017 im Alter von 15 Jahren zum Tode verurteilt worden, weil sich bei einer Auseinandersetzung ein Schuss aus seinem Gewehr gelĂśst und seinen Cousin tĂśdlich getroffen hatte. Vor Gericht beteuerte er, es sei ein Unfall gewesen. Das Gericht verhängte die Todesstrafe, obwohl Todesurteile gegen Minderjährige sowohl dem sĂźdsudanesischen Recht als auch der UN-Kinderrechtskonvention widersprechen. Amnesty International hatte sich fĂźr Magai Matiop Ngong eingesetzt und weltweit Hunderttausende Briefe, Appelle und Petitionsunterschriften gesammelt.
AMNESTY JOURNAL | 05/2020
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CHINA Die Arbeitsrechtlerin und Feministin Li Qiaochu wurde am 19. Juni 2020 gegen Kaution freigelassen und ist bei guter Gesundheit nach Hause zurĂźckgekehrt. Sie befand sich seit dem 16. Februar ohne Kontakt zur AuĂ&#x;enwelt in Haft. Nach Ansicht von Amnesty International wurde sie festgenommen, weil sie sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt engagiert und ihr Partner Xu Zhiyong im Dezember 2019 in Xiamen an einem informellen Treffen von Anwälten und Aktivisten teilgenommen hat. Die Freilassung der Menschenrechtlerin bedeutet nicht, dass die BehĂśrden auch die gegen sie erhobenen Anklagen fallen gelassen haben. Aus der Haft entlassene Menschenrechtler stehen in China weiter unter Beobachtung. Amnesty International wird den Fall von Li Qiaochu weiterhin aufmerksam verfolgen.
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO ĂœBER
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
IRAK Am 31. Mai wurde der Aktivist Badal Abdulbaqi Aba Bakr Barwari gegen Kaution aus der Haft in Dohuk in der irakischen Region Kurdistan entlassen. Er war am 16. Mai festgenommen und wegen Protests ohne Genehmigung angeklagt worden. Am 12. Mai hatten er und weitere Personen bei den BehÜrden eine Genehmigung fßr eine Protestveranstaltung beantragt. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Laut Gesetz gelten bei Nichtbeantwortung Genehmigungen als erteilt, wenn die Anfrage rechtzeitig vor der Veranstaltung eingeht. Die gegen Badal Abdulbaqi Aba Bakr Barwari erhobene Anklage ist nach wie vor anhängig, ein Gerichtstermin steht wegen Covid-19 noch aus. Barwaris Rechtsbeistand hält es fßr wahrscheinlich, dass die Anklage fallen gelassen oder lediglich eine Geldstrafe verhängt wird.
CORONA UND DEN DIGITALEN SCHUB ÂťTĂśtet die Kakerlaken nicht mit einer Kugel. Hackt sie in StĂźcke.ÂŤ Mit diesen Worten forderte der ruandische Radiosender ÂťRTLMÂŤ 1994 seine HĂśrer auf, AngehĂśrige der Tutsi – ob Männer, Frauen oder Kinder – zu massakrieren. Innerhalb von 100 Tagen wurden bis zu eine Million Menschen auf grausame Weise ermordet, unter den Augen der Weltgemeinschaft, die nicht eingriff, was den damaligen UNGeneralsekretär Kofi Annan Zeit seines Lebens nicht mehr loslieĂ&#x;. Die Hetze des ruandischen VĂślkermordes und die Hasspropaganda der Nazis sind uns heute Mahnung beim Blick auf alltägliche Hetze und Drohungen in vielen Ländern – egal ob sie sich gegen die offene und vielfältige Gesellschaft richten, gegen bestimmte BevĂślkerungsgruppen oder gezielt gegen Einzelpersonen. Selbst Ăźberzeugten Social-Media-JĂźngern im Silicon Valley dämmert inzwischen, dass sich etwas ändern muss, wenn Âťsoziale NetzwerkeÂŤ unser Ăśffentlich-digitaler Marktplatz sein sollen, dass Rechtsprinzipien auch im digitalen Raum verbindlich sein mĂźssen. Die Beteiligung zahlreicher Unternehmen an der ÂťStop Hate for ProfitÂŤ-Kampagne kann vielleicht das Bewusstsein befĂśrdern. Sie wollen keine Anzeigen mehr auf Facebook schalten, so lange das OnlineNetzwerk ÂťHate SpeechÂŤ duldet. Corona ist ein guter Anlass, um die Gestaltung der digitalen ÜffentlichenÂŤ Räume in die Hand zu nehmen. Die Pandemie hat die Digitalisierung auf vielfältige Weise beschleunigt. Videokonferenzen, Streamingdienste und andere digitale Angebote sind fĂźr viele von uns inzwischen Teil des neuen, mĂśglichst kontaktlosen Pandemie-Alltags geworden. Mit dem bitteren Beigeschmack, dass wir uns bei diesen Diensten nicht auf Transparenz, rechtstaatliche Kontrolle und PersĂśnlichkeitsschutz verlassen kĂśnnen. Dies gilt oftmals auch fĂźr staatliche Initiativen in zahlreichen Ländern – von Corona-Apps bis hin zu Systemen, die mithilfe von Google, Palantir und anderen Tech-Konzernen in die Gesundheitsvorsorge (und deren Datenpool) vordringen wollen. Wir tun gut daran, grundlegende Prinzipien wie Transparenz und unabhängige Kontrolle sowie einen verbindlichen rechtlichen Rahmen fĂźr diesen digitalen Innovationsschub einzufordern. Wir brauchen eine digitale Infrastruktur, die nicht allein wirtschaftlichen Interessen folgt. Wir brauchen eine Regulierung neuer Technologien wie KĂźnstlicher Intelligenz oder Gesichtserkennung in kritischen Anwendungsgebieten – Amnesty fordert beispielsweise ein Verbot von sogenannten Killer-Robotern. Wir sollten die Corona-Konjunkturprogramme als Gelegenheit begreifen, Menschen und Gesellschaften weltweit digitale Angebote zu machen, mit denen sie sich weder dem Ausverkauf ihrer Daten an Google & Co. noch repressiven staatlichen Kontrollsystemen ausliefern mĂźssen. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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SPOTLIGHT
Foto: Jan Woitas / dpa / pa
ATTENTAT IN HALLE: KEINE REUE VOR GERICHT
Auf der Anklagebank. Stephan B. beim Prozess in Magdeburg.
In Magdeburg hat am 21. Juli der Prozess gegen den 28-jährigen Stephan B. begonnen. Er hatte am 9. Oktober 2019 während des Gottesdienstes zum jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, in die Synagoge in Halle einzudringen, um dort Gläubige zu töten. B. warf Sprengsätze und schoss auf die Holztür am Eingang des Gotteshauses. Die Synagoge wurde am höchsten jüdischen Feiertag nicht von Polizisten bewacht. Die Tür war der einzige Schutz für die Menschen, die sich in der Synagoge aufhielten. Als der Täter nicht in die Synagoge vordringen konnte, erschoss er auf der Straße eine Passantin und in einem nahegelegenen Dönerimbiss einen Mann.
B. hatte sein Vorhaben zuvor in einem Internetforum angekündigt und filmte seine Tat mit einer Helmkamera, um sie live im Internet zu übertragen. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wirft B. zweifachen Mord und versuchten Mord in 68 Fällen vor. Ihm werden außerdem fahrlässige und gefährliche Körperverletzung, versuchte räuberische Erpressung mit Todesfolge, schwere räuberische Erpressung sowie Volksverhetzung nach Paragraf 130 des Strafgesetzbuches (StGB) zur Last gelegt. In der Anklageschrift heißt es, B. habe »aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus einen Mordanschlag auf Mitbürgerinnen
881 Foto: Hendrik Schmidt / dpa / pa
ANTISEMITISCHE VORFÄLLE IM JAHR 2019 ZÄHLTE DIE RECHERCHE- UND INFORMATIONSSTELLE ANTISEMITISMUS BERLIN.
und Mitbürger jüdischen Glaubens« geplant. Medienberichten zufolge lachte der Angeklagte im Gerichtsaal und zeigte sich amüsiert, während Überlebende, die zur Verhandlung gekommen waren, den Terror noch einmal durchleben mussten. Auch vor Gericht trat sein rechtsextremes Weltbild zutage. B. äußerte sich bei der Verhandlung mehrfach antisemitisch und rassistisch. Reue zeigte er kaum – eher Bedauern darüber, dass ihm das Eindringen in die Synagoge und der Mord an Jüdinnen und Juden während des Gottesdienstes nicht gelungen waren. Dem Angeklagten droht eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
MEHR ALS
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MENSCHEN WURDEN NACH ANGABEN DER AMADEU ANTONIO STIFTUNG IN DEUTSCHLAND SEIT 1990 DURCH RECHTSEXTREME GEWALT GETÖTET.
Hat nun eine neue Tür. Synagoge in Halle.
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AMNESTY JOURNAL | 05/2020
INTERVIEW
RONEN STEINKE
»MEHR JURISTISCHE KLARHEIT« Foto: Regina Schmeken
In seinem Buch »Terror gegen Juden« schreibt der Jurist und Journalist Ronen Steinke über die Gefährdung jüdischer Gemeinden in Deutschland und den mangelhaften Schutz durch die Polizei. Er übt scharfe Kritik an den deutschen Sicherheitsbehörden. Interview: Till Schmidt
Bis zum Attentat im Oktober 2019 erhielt die Synagoge von Halle keinen dauerhaften staatlichen Schutz. Nur die über eine private Spende finanziere Holztür konnte den Rechtsradikalen Stephan B. davon abhalten, Gottesdienstbesucher zu ermorden. Was sagt das über deutsche Sicherheitsbehörden aus? Gefahrenabwehr wird in die Hände der Gemeinden gelegt. Das darf in einem Rechtsstaat, in dem der Schutz von Leib und Leben Aufgabe der Polizei ist, nicht so sein. An vielen Orten tut der Staat nicht alles, um vor antisemitischer Bedrohung zu schützen, oder agiert bisweilen, wie in Halle, sogar sträflich fahrlässig. Selbst am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ließ die Polizei an der Synagoge von Halle nur ab und zu eine Streife vorbeifahren, und als der Attentäter bereits auf die Tür feuerte, schickte die Polizei nur einen Streifenwagen, dessen zwei Beamte ohne Schutzausrüstung und gezückte Waffen ankamen. Ist die damalige Situation in Halle repräsentativ für ganz Deutschland? Diese Sicherheitsmaßnahmen an Synagogen gibt es nicht, weil sich die Juden separieren wollen oder ein teures Geschenk vom Staat erhalten. Die Maßnahmen resultieren vielmehr aus den Gefährdungsanalysen der Landeskriminalämter. Gleichzeitig sieht sich der Staat nicht automatisch in der Pflicht, die erkannte Gefahr auch zu bannen. Die Gemeinden müssen erst darum bitten. Vielerorts ringen sie um jeden Cent Unterstützung oder müssen die Schutzmaßnahmen teils auch selbst bezahlen – sofern sie es sich überhaupt leisten können. Wie reagieren die in Deutschland lebenden Juden auf die Bedrohung von Rechten, Linken und Islamisten, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
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INTERVIEW
Eine Option ist die Auswanderung. Doch ich finde, wir sollten den Tätern nicht den Triumph unserer Vertreibung gönnen. Zugenommen hat der Rückzug in die Unsichtbarkeit. Immer mehr Juden verzichten auf das Tragen einer Davidstern-Halskette oder verstecken ihre Kippa, sofern sie eine tragen, unter einer Mütze. Inzwischen verschicken viele Gemeinden ihre Zeitungen nur noch in einem neutralen, blickdichten Umschlag. Die antisemitische Bedrohung war zwar nie weg, hat in der Summe aber zugenommen. Nur jede vierte bis fünfte antisemitische Straftat wird angezeigt. Wie schätzen Sie den Umgang der Justiz mit antisemitischen Gewalttaten ein? In der Justiz gibt es eine Zurückhaltung, das Wort Antisemitismus auszusprechen. Das hängt auch mit einer »Man-wird-jawohl-Israel-noch-kritisieren-dürfen«-Haltung zusammen. Stellen Sie sich vor, jemand würde in Deutschland einen Anschlag auf eine Moschee begehen und sich vor Gericht darauf herausreden, dass er doch eine sehr legitime Kritik an der Politik des türkischen Präsidenten Erdoğan üben wollte und dass so eine Kritik natürlich erlaubt sein müsse. Kein Gericht würde dies als Argument gelten lassen! Wenn es um Synagogen und andere jüdische Ziele geht, erleben wir aber genau das immer wieder. Was bräuchte es stattdessen im juristischen Umgang mit antisemitischen Gewalttaten? Mehr Haltung und juristische Klarheit. Antisemitische Gewalt ist in der Geschichte immer mit hochtrabenden Begründungen einhergegangen. Wo sich die Justiz davon beeindrucken lässt, da geht sie den Tätern auf den Leim und lässt die Opfer doppelt verletzt zurück.
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TITEL
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AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Die USA vor der Wahl
Der Tod George Floyds hat in den USA zu antirassistischen Protesten gegen Polizeigewalt geführt. Gleichzeitig trifft Covid-19 die Vereinigten Staaten wie kaum einen anderen Staat. Millionen Menschen sind ohne Krankenversicherung. Wenn das Land im November wählt, stehen nicht nur zwei Präsidentschaftskandidaten im Fokus, sondern auch Solidarität, Migration und Menschenrechte – und zwar auf dem gesamten amerikanischen Kontinent.
Etwas muss sich ändern. »Black Lives Matter«-Protest am 21. Juli 2020 in Washington D.C. Foto: Michael Brochstein / ZUMA Wire / pa
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Geschützte Gesichter des Protests (I). Semaje und Nee in Oakland.
Von Farbe getroffenes Gesicht. Statue Abraham Lincolns in Oakland.
Schwarze Wut und rote Linien Der gewaltsame Tod von George Floyd in Minneapolis war nur der Auslöser. Seit Wochen gehen in den USA Zehntausende auf die Straße und protestieren gegen Polizeigewalt und systematischen Rassismus. Aus Oakland berichtet Arndt Peltner
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AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Fotos: Yalonda M. James / San Francisco Chronicle / Polaris / laif, Carlos Avila Gonzalez / San Francisco Chronicle / Polaris / laif, Yalonda M. James / San Francisco Chronicle via Getty Images
Geschütztes Gesicht des Protests (II). Amir vor einem Wandgemälde George Floyds.
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ie Bilder von George Floyd gingen um die Welt. Erst das Video, auf dem zu sehen war, wie ein Polizist fast neun Minuten lang auf dem Hals des am Boden liegenden 46-Jährigen kniete. Auch dann noch, als dessen Hilferufe schon verstummt waren. Dann das Wandbild von Floyd, das an die Mauer des kleinen Ladens gemalt wurde, vor dem er starb. Seitdem gehen die USA auf die Straße. Der Ruf »I can’t breathe« steht nicht nur für Floyds Todeskampf. Er wurde zum Symbol gegen den tief verwurzelten Rassismus in den USA. Die USA erleben derzeit eine gewaltige Protestwelle, wie es sie seit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren nicht mehr gab. »Black Lives Matter« (BLM) ist der deutliche und laute Ruf dieses Jahres. Und das tagtäglich. Die Gewerkschaft der »International Longshore and Warehouse«-Arbeiter solidarisierte sich Mitte Juni und machte alle Häfen an der Westküste dicht. Unternehmen schließen sich dem Protest an, schauen auf ihre Firmengeschichte, ändern Namen von Produkten. Im Zuge der BLM-Bewegung entfernte zuerst der Sportartikelhersteller Nike alle Merchandising-Produkte des American-Football-Teams Washington Redskins. Der ehemaligen Redskins ist hinzuzufügen, denn der Club hat sich mittlerweile in Washington Football Team umbenannt. Langfristig soll ein komplett neuer Name gesucht werden. Schon lange hatten Vertreterinnen und Vertreter
DIE USA VOR DER WAHL
der Native Americans verlangt, diesen rassistischen Namen zu entfernen. Denkmäler von Generälen der Südstaaten, von ehemaligen Sklavenhaltern, aber auch von Christoph Kolumbus und anderen werden gestürzt. In den Vereinigten Staaten von Amerika erhebt sich eine breite Front, die ein Umdenken und eine tiefgehende Reform des gesellschaftlichen Lebens einfordert. Die Proteste kommen zu einer Zeit, in der bereits eine grundlegende Diskussion über Rassismus in den USA entfacht wurde, denn auch die Infektions- und Sterberaten der Corona-Pandemie treffen vor allem Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Der Grund dafür liegt auch in der Geschichte der USA.
In den USA erhebt sich eine breite Front, die ein Umdenken und Reformen einfordert. 13
Das Redlining Als ich vor ein paar Jahren über das Redlining in den USA berichtete, wusste kaum jemand etwas mit diesem Begriff anzufangen. Doch dieses Vorgehen hat die USA im 20. Jahrhundert geprägt – die weißen Vorstädte wie die innerstädtischen Problemviertel. Redlining war ein imaginärer Stacheldraht in den US-amerikanischen Städten und Gemeinden. Die US-Regierung hatte 1934 mit dem sogenannten National Housing Act Nachbarschaften in vier Klassen unterteilt: A, B, C und D. Die höchste davon, A, wurde auf Karten grün eingefärbt und bezeichnete die »besten« Gebiete: rein weiße Nachbarschaften, erstrebenswert für die Mittelklasse. Schon eine einzige nicht weiße Familie in der Gegend drückte die Einstufung auf B, die Farbe wechselte auf blau und die Bezeichnung auf »immer noch begehrenswert«. C-Nachbarschaften, in gelber Farbe, wurden als »eindeutig im Niedergang« bezeichnet. Rote D-Gebiete wurden als »gefährlich« eingestuft. Praktisch jede US-Stadt hatte solch eine Klassifizierung. Offiziell festgehalten wurde sie auf Karten, die von der »Home Owners’ Loan Corporation« erstellt wurden, einer staatlichen Agentur zur finanziellen Unterstützung von Hauseigentümerinnen und Hauseigentümern. Die Zoneneinteilung hatte Folgen, die bis heute nachwirken. Nicht nur, dass eine A-Straße »weiß« sein sollte, also ausschließlich von Weißen bewohnt – die Stadtteile unterhalb von A wurden auch gezielt benachteiligt. Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner erhielten für den Häuserkauf in A- oder B-Gegenden keine staatlich geförderten Hypotheken und konnten für Häuser keine Versicherungen abschließen. Sie wurden somit in Coder D-Stadtteile gedrängt: Gebiete, umrahmt von einer gelben oder roten Linie, in denen weniger städtebauliche Investitionen getätigt wurden und wo sich kaum Geschäfte ansiedelten. Bis in die 1970er Jahre blieb diese Form der geografischen Diskriminierung gängige Praxis. Redlining beförderte jahrzehntelang die Ghettoisierung in US-Großstädten und traf vor allem Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Viele Weiße zogen nach dem Zweiten Weltkrieg mithilfe der GI Bill, einer Fördermaßnahme für rückkehrende Soldaten, aus den Zentren in die Vorstädte. Die Regelung galt nur für weiße Armeeangehörige.
Willkommen in East Oakland East Oakland ist ein Stadtteil von Oakland, der drittgrößten Stadt in der San Francisco Bay Area in Kalifornien. Das Viertel reicht vom Lake Merritt in Downtown bis zur südlichen Stadtgrenze, wo San Leandro beginnt. Im Westen liegt der Flughafen, zwei Autobahnen durchschneiden das Gebiet. Dort ist das Oakland Coliseum, in dem lange Jahre die Golden State Warriors Basketball und die Raiders Football spielten. Unweit davon, an der Fruitvale Station, prangt das Wandbild von Oscar Grant, der in der Neujahrsnacht 2009 von einem Polizisten des Verkehrsunternehmens Bay Area Rapid Transit erschossen wurde. Grant lag auf dem Bauch, Polizisten hielten ihn fest, einer zog eine Waffe und schoss den unbewaffneten Schwarzen in den Rücken. Downtown Oakland wurde in den folgenden Nächten von einer Protestwelle überrollt. Müllcontainer und Autos brannten, Läden wurden geplündert, es gab Straßenschlachten mit der Polizei. Oscar Grants Bild erinnert an die Polizeigewalt. Genau dort hat die Ärztin Noha Aboelata 2008 die Roots Clinic gegründet – am International Boulevard, zwischen der 99. und der 100. Avenue. An der Ecke ein Fast-Food-Restaurant, gegenüber ein Bestattungsinstitut, ein Tätowierer, daneben ein
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Corner-Store, in dem man von Chips bis Alkohol alles kaufen kann. Dr. Noha, wie sie hier alle nennen, wartet am Rande des Parkplatzes, der in diesen Tagen für »Walk-up«-Corona-Tests genutzt wird. Anfangs richteten die Stadt und der Bezirk Alameda Testmöglichkeiten für Autofahrerinnen und Autofahrer ein, man konnte im Wagen bleiben, bekam dort einen Abstrich. Doch die Ärztin merkte schnell, dass sie damit ihre Klientel nicht erreicht. Denn in East Oakland haben viele keinen Wagen, weil ihnen dafür das Geld fehlt, sie konnten sich deshalb nicht testen lassen. Also reagierte die Roots Clinic und stellte Zelte auf dem Parkplatz auf, nun kann man zu Fuß zum Test kommen. Das Ergebnis war schockierend. »Wir haben bis Mitte Juni 1.400 Menschen getestet, und davon waren zwölf Prozent positiv. Das ist viel höher, als wir erwartet haben, denn wir testen jeden, egal ob er Symptome hat oder einer Risikogruppe angehört. Im gesamten Bezirk Alameda liegt die Infektionsrate bei fünf Prozent, und zumeist werden nur Leute mit Symptomen getestet. Das zeigt uns, dass wir überproportional betroffen sind.« »Wir«, das sind die Menschen in East Oakland, einer Gegend, in der die Folgen des historischen Redlining noch deutlich zu sehen und zu spüren sind. 25 Prozent der Corona-Todesfälle im Bezirk Alameda betreffen Schwarze. Die Gesundheitsprobleme in East Oakland seien groß, erzählt Noha Aboelata: Viele Bewohnerinnen und Bewohner litten unter Bluthochdruck, Diabetes, Herzerkrankungen, Asthma und chronischen Lungenkrankheiten. Ideale Bedingungen also für das Corona-Virus. »Die Bedingungen, die durch das Redlining geschaffen wurden, sind genau die gleichen Bedingungen, die für die Armut verantwortlich sind und die dazu führten, dass unsere Community anfälliger ist. Und wenn man eine ansteckende Krankheit hat, die durch die Luft verbreitet wird, dann wird das in nie dagewesenem Maße verstärkt.« »I can’t breathe«, der Hilferuf von George Floyd, hat in Gegenden wie der, in der die Roots Clinic steht, nicht nur eine metaphorische Bedeutung. Die Luftbelastung ist viel größer als in den weißen Nachbarschaften, die nur wenige Kilometer entfernt liegen. Seit Generationen wachsen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner in diesen Stadtteilen auf. Und die CoronaStatistik bringt die Folgen des strukturellen Rassismus zum Ausdruck, meint der Soziologe Howard Pinderhughes von der University of California in San Francisco. »All das ergibt sich aus dem Redlining: die unverhältnismäßig hohen Zahlen von Covid19-Infektionen und Covid-19-Toten in der schwarzen und LatinoBevölkerung in Alameda County.« Eine afroamerikanische Person, die als Kind in West- oder East Oakland aufwächst, hat eine um 15 Jahre kürzere Lebenserwartung als eine weiße Person, die nur wenige Kilometer entfernt in den Oakland Hills groß wird. Forscher der University of California in San Francisco und Berkeley haben auch einen direkten Zusammenhang zwischen den ehemaligen Redlining-
Redlining, Polizeigewalt, Covid-19 – immer mehr Menschen sehen, was in den USA nicht stimmt. AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Foto: Jessica Christian / San Francisco Chronicle / Polaris / laif
Viele können sich die Behandlung nicht leisten. Medizinische Versorgung vor der Terra-Nova-Klinik in Oakland.
Zonen und einer erhöhten Anzahl an Asthma-Erkrankungen nachgewiesen. Redlining, Covid-19, Polizeigewalt – immer mehr Menschen in den USA erkennen, dass etwas nicht stimmt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem die Hautfarbe darüber entscheidet, wer wie aufwächst, welche Chancen ihm oder ihr geboten werden.
Schwarz und männlich? Verdächtig! Howard Pinderhughes ist nicht nur Professor an der University of California in San Francisco, er ist auch Afroamerikaner und lebt im kalifornischen Berkeley. Er hat selbst mehrfach erlebt, wie er auf dem Nachhauseweg ohne ersichtlichen Grund von der Polizei kontrolliert wurde. Einmal musste er sich nur wenige Meter von seinem Haus entfernt auf den Bürgersteig legen: »Wenn du schwarz und männlich bist, dann bist du verdächtig«, sagt er. »Interessant wird es, wenn sie einen 1,90 Meter großen Schwarzen suchen und einen 1,70 Meter großen Mann wie mich stoppen. Statt »interessant« könnte der Wissenschaftler auch sagen: rassistisch. Auch im Jahr 2020 fühlen sich viele Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner als Menschen zweiter Klasse, wenn Polizistinnen und Polizisten nach wie vor das »Racial Profiling« anwenden, Kontrollen, die nur auf der Grundlage der Hautfarbe beruhen. Auch wenn sie offiziell abgeschafft wurde, ist diese Praxis nach wie vor alltäglich, sagt Pinderhughes. »Und es gehört in der afroamerikanischen Community zum Alltagswissen, dass man mit seinem Sohn, wenn er etwa acht Jahre alt ist, ein Gespräch führt. Darin bespricht man, wie man am Leben bleibt, wenn sich Polizisten nähern und man von ihnen festgehalten wird.« In den afroamerikanischen Communities im ganzen Land wird nun ein »New Black Deal« gefordert, in Anlehnung
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an den »New Deal« von Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren. Jamaal Smith ist der Koordinator für Gewaltprävention im Gesundheitsamt von Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin. Auch dort im Mittleren Westen hat Covid-19 die schwarze Bevölkerung hart getroffen. Er sieht einen engen Zusammenhang zwischen Redlining, Polizeigewalt und hohen Corona-Zahlen in seiner Community: Der Rassismus sei nie weg gewesen – trotz des Civil Rights Act von 1964, des Wahlgesetzes von 1965 oder den Wohngesetzen, die Ende der 1960er und in den 1970er Jahren verabschiedet wurden. »Das alles bedeutet nicht, dass der Rassismus auf einmal verschwunden und ausgemerzt worden wäre. Ich glaube, es braucht nun so etwas wie eine Wahrheitsund Versöhnungskommission, wie sie 1994 am Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika eingerichtet wurde.« Eine Chance für solch eine tiefgehende und schmerzhafte nationale Debatte über Polizeigewalt und die Folgen des systemischen Rassismus sieht er derzeit aber nicht. Denn es gebe noch immer zu viele Menschen, die diesen Zusammenhang bestritten. Die tiefen Spuren, Narben und Wunden in der US-Gesellschaft sind mehr als offensichtlich. Es wären gravierende Veränderungen nötig, um dem strukturellen Rassismus entgegenzutreten. Und das alles in einem Wahljahr, in dem der Präsident unablässig wiederholt: »Make America Great Again«. Von welchem Amerika, von welcher Zeit er dabei spricht, ist unklar, denn eine gerechte und faire USA für alle hat es noch nie gegeben. Auf die Vereinigten Staaten kommen schwierige Wochen zu, die am 3. November, dem Wahltag, noch lange nicht enden. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Zuhören könnte helfen. Polizeieinsatz in New York City am 1. Juli 2020.
Geschichte wiederholt sich Immer wieder werden in den USA Menschen durch exzessive Polizeigewalt verletzt oder getötet. Seit Jahren gibt es Versuche, den Polizeiapparat zu reformieren. Aber ist die US-Polizei überhaupt reformierbar? Von Tobias Oellig
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wölf Kugeln schießt der Polizist Darren Wilson im Sommer 2014 auf den unbewaffneten Teenager Mike Brown. Mindestens sechs davon treffen den 18-Jährigen, der zuvor Zigarillos in einem Laden gestohlen hatte. Er stirbt noch auf der Straße. Wochenlange Proteste und weitere Polizeigewalt erschüttern Ferguson/Missouri, die Behörden verhängen nächtliche Ausgangssperren und entsenden die Nationalgarde. Sechs Jahre später kniet am 25. Mai 2020 der Polizist Derek Chauvin auf dem Nacken von George Floyd, der immer wieder um Luft fleht, bevor er das Bewusstsein verliert. Drei weitere Polizisten sehen ihrem Kollegen dabei zu. Floyd hatte zuvor in
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einem Laden mit einer falschen Zwanzigdollarnote bezahlt. Wenig später wird er im Krankenhaus für tot erklärt. Wieder sind das Entsetzen und die Wut groß. Diesmal weltweit. Das Video von George Floyds Tod, Zeugnis rassistischer Polizeigewalt, treibt die Menschen auf die Straßen. Und wieder wird die Nationalgarde entsandt, wieder reagiert die US-Polizei auf die Proteste gegen Polizeigewalt mit – Polizeigewalt.
Menschenrechtsverletzungen durch US-Polizei Bereits 2014 forderte Amnesty International die Behörden auf, die Menschen- und Grundrechte zu wahren. Der damalige UN-
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Foto: Andrew Kelly / Reuters
Generalsekretär Ban Ki-moon verlangte, die internationalen Standards für den Umgang mit Demonstranten zu befolgen. Die Ereignisse setzten in den USA eine Debatte über Polizeigewalt in Gang, aus den Protesten ging die Bürgerrechtsorganisation »Black Lives Matter« hervor. Damals schien es so, als ob Reformen der Obama-Administration – Einführung von Körperkameras, bessere Ausbildung und mehr Transparenz – helfen würden, das Problem schrittweise zu lösen. Aber die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Auch 2020 kommt es in den USA bei Demonstrationen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte. Im Mai und Juni 2020 setzten sie nach Angaben von Amnesty ohne Not körperliche Gewalt, Schlagstöcke, Tränengas und Pfefferspray sowie Gummigeschosse ein, um friedliche Proteste aufzulösen. Amnesty in den USA zählt in einem Bericht zahlreiche Beispiele auf, die »unverhältnismäßige und oft exzessive Gewalt« gegen Menschen in 40 US-Bundesstaaten und der Hauptstadt Washington (D.C.) belegen. Amnesty USA fordert ein härteres Vorgehen gegen gewalttätige Polizeikräfte und deren Vorgesetzte. Die Vorgänge müssten unabhängig untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem fordert die Organisation Wiedergutmachungen für die Opfer und Überlebenden. »Das Recht auf Meinungsfreiheit mit körperlicher Gewalt, Tränengas und Pfefferspray zu verweigern, ist ein Zeichen von Unterdrückung«, sagt Brian Griffey von Amnesty USA. »Auf allen Ebenen sind tatsächliche, systematische und dauerhafte Polizeireformen erforderlich. Menschen im ganzen Land sollten sich sicher fühlen, auf die Straße zu gehen und ihre Meinung frei und friedlich zu äußern.«
Reformresistenter Polizeiapparat? Doch davon scheinen die USA derzeit weit entfernt. Der Tod George Floyds, die Menschenrechtsverletzungen bei den Demonstrationen, weitere von der Polizei niedergeschossene Bürgerinnen und Bürger und die Tatsache, dass jährlich nach wie vor mehr als 1.000 Menschen durch Polizeigewalt sterben, zeigen, dass viele Reformversuche gescheitert sind. Und es drängt sich die Frage auf, ob die US-Polizei überhaupt reformierbar ist. »Defund the police!« (»Streicht der Polizei das Geld!«), lautet eine Forderung der »Black Lives Matter«-Proteste. Dahinter verbirgt sich die Idee einer modernen Sozialarbeit. Für einen Großteil der Aufgaben, mit denen die US-Polizei betraut ist, seien die Beamten weder ausgebildet, noch erforderten sie Waffeneinsatz, so das Argument. Oder wie es einer der führenden akademischen Verfechter der Abschaffung der Polizei ausdrückt: »Das Problem ist ihr Auftrag.« Der Soziologe Alex S. Vitale leitet am Brooklyn College der City University of New York das Policing and Social Justice Project und forscht seit 25 Jahren zu Polizeithemen. 2017 erschien sein Buch »The End of Policing«. Vitale unterstützt die Idee des »defunding«. Statt die Polizei loszuschicken, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, die die Polizei gar nicht lösen könne, müssten andere Wege gefunden werden. Man müsse den von der Regierung ausgerufenen »Krieg gegen Drogen« beenden, hochwertige Dienste für psychische Gesundheit und Drogenberatung bereitstellen, Nachhilfe und außerschulische Aktivitäten anbieten, in Arbeitsplätze und Jugenddienste investieren und gemeinschaftsbasierte Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt ins Leben rufen. Vor allem in jenen Stadtteilen, in denen es häufig zu Kleinkriminalität und vielen Polizeieinsätzen kommt. »Während wir diese gezielten Interven-
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Und wieder reagiert die Polizei auf Proteste gegen Polizeigewalt mit Polizeigewalt. tionen durchführen, müssen wir uns auch mit den größeren strukturellen Problemen befassen, die die systematische Ungleichheit in den USA reproduzieren, einschließlich der Wiedergutmachung«, sagt Vitale.
Militarisierung fördert Gewalt In vielen US-Städten übersteigen die Ausgaben für die Polizei die Mittel für andere kommunale Dienstleistungen bei Weitem. Allein der Jahresetat der größten Polizeidirektion des Landes, des New York Police Department, beträgt sechs Milliarden USDollar. Viele »Defunding«-Befürworter halten die US-Polizei für überausgestattet. Auch deren Militarisierung steht immer wieder im Zentrum der Kritik. Durch das Programm 1033 des Verteidigungsministeriums wird die Polizei mit ehemaliger Militärausrüstung aus Afghanistan und dem Irak versorgt. Nach Ansicht der American Civil Liberties Union trägt das zur Eskalation bei, Amnesty USA fordert starke Kürzungen oder eine Einstellung des Programms. Neu ist die Idee des »defunding« nicht. Historisch wurzelt sie in der Bewegung der Sklavereigegner. In manchen Südstaaten erwuchs die Polizei aus Patrouillen, die geflohene Sklaven finden und gefangen nehmen sollten. Bislang war die Forderung eher am politischen Rand angesiedelt. Der Tod George Floyds hat sie in den gesellschaftlichen Mainstream katapultiert. Aber auch wenn die Mehrheit der US-Bevölkerung »Black Lives Matter« unterstützt, lehnt die Öffentlichkeit laut einer Umfrage der Washington Post/ABC News generell Aufrufe ab, einen Teil der Polizeifinanzierung auf soziale Dienste zu verlagern. 84 Prozent der Republikaner seien gegen eine Verlagerung der Mittel, während 59 Prozent der Demokraten sie unterstützten. Experten wie Maria Haberfeld sehen die Defunding-Strategie kritisch. Die Professorin vom John Jay College of Criminal Justice in New York, einer der renommiertesten Akademien für Polizeioffiziere, erkennt als größtes Problem eine dezentrale Organisation. »Eine Reform muss einheitliche Standards sowie eine zentrale Regulierung schaffen, beispielsweise die Hoheit der Polizei auf die Einzelstaaten übertragen.« Etwa 18.000 unabhängige Polizeiabteilungen gibt es derzeit in den USA. Solange sich das nicht ändere, werde keine Reform wirksam sein, sagte Haberfeld in einem Interview. Alex S. Vitale hält solche Reformansätze für verfehlt: »Polizei und Gefängnisse sind Instrumente, um mit jenen umzugehen, die auf der Verliererseite ausbeuterischer Systeme gelandet sind. Und deshalb sind sie weitgehend immun gegen Reformen.« Was die USA stattdessen brauchen, sei »ein neues Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, das nicht auf Bestrafung und Rache gründet, sondern versucht, Beziehungen wiederherzustellen und Menschen und Communities zu stärken.«
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Gleichheit an Würde und Rechten gesucht Welche Auswirkungen hatte die Amtszeit von Donald Trump? Und was bedeutet die Präsidentschaftswahl für die menschenrechtliche Situation in den USA? Ein Kommentar von Katharina Masoud
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or mehr als 400 Jahren sprachen europäische Kolonialmächte den Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ihr Menschsein ab: Sie versklavten diese und brachten sie zwangsweise auf das heutige Gebiet der USA. Die zugrundeliegende Ideologie propagierte die Überlegenheit und Vorherrschaft weißer Menschen. Sie spielt heute noch immer eine bedeutende Rolle – auch im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf. Amtsinhaber Donald Trump verkörpert höchstpersönlich diese Haltung, die der Kernidee der Menschenrechte von Gleichheit an Würde und Rechten widerspricht: »Das sind keine Menschen, das sind Tiere«, sagte der Präsident 2018 über Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel. Ob er wiedergewählt wird oder Joe Biden, der Kandidat der Demokraten, das Rennen macht, ist daher wegweisend. 2016 setzte sich Donald Trump für viele überraschend gegen Hillary Clinton durch, der ersten Kandidatin für das Präsidialamt. Seine sexistischen und rassistischen Aussagen vor der damaligen Wahl riefen viel Kritik hervor – standen seinem Sieg aber offensichtlich nicht im Wege. Nach dem Amtsantritt im Januar 2017 bestätigte die Trump-Regierung die schlimmsten Befürchtungen ihrer Kritikerinnen und Kritiker. Sie zeigte ihre mangelnde Achtung der Menschenrechte auf unterschiedliche Weise. Dabei waren viele Menschenrechtsverletzungen nicht neu, wurden aber ausgebaut und institutionalisiert. Dazu zählen das diskriminierende Einreiseverbot für Staatsangehörige einiger muslimisch geprägter Staaten, die Verlängerung der Einwanderungshaft für Asylsuchende sowie die Trennung geflüchteter Familien. Die US-Regierung ergriff zahlreiche Maßnahmen, die insbesondere die Menschenrechte der Schutzbedürftigsten verletzen. Daran wird sich voraussichtlich wenig ändern, sollte Trump an der Macht bleiben. Der Aufruf der US-Regierung, brutal gegen überwiegend friedlich protestierende Menschen vorzugehen, zeugt ebenfalls vom mangelnden Respekt des Präsidenten für Menschenrechte. Die Demonstrierenden waren gegen institutionellen Rassismus
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sowie exzessive Polizeigewalt gegen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner auf die Straße gegangen. Der gewaltsame Tod von George Floyd durch die Polizei hatte die Forderungen der seit 2013 bestehenden »Black Lives Matter«-Bewegung ins Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit gerückt. Auch 2020 scheint die Aussage »Schwarze Leben zählen« leider keine Selbstverständlichkeit zu sein. Denn noch immer ist koloniales Gedankengut weit verbreitet – sowohl in den USA als auch in Deutschland und Europa. Doch gibt es immer mehr Menschen, die dem Ruf nach Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichstellung folgen. Der zivilgesellschaftliche Druck zeigt Wirkung, die antirassistischen Proteste stoßen erste Veränderungen an. Es ist zu hoffen, dass dieses Engagement bestehen bleibt und soziale Bewegungen in der Lage sind, einen nachhaltigen Wandel zu bewirken. »Wie auch immer die bevorstehende US-Wahl ausgeht, wir hoffen, dass die Ergebnisse den Weg weisen für besseren Menschenrechtsschutz«, sagt Alli Jarrar, eine unserer Kolleginnen bei Amnesty in den USA. Möge sie Recht behalten. Katharina Masoud ist Amnesty-Referentin für Nord- und Südamerika.
Nach dem Amtsantritt 2017 bestätigte Trump die schlimmsten Befürchtungen seiner Kritikerinnen und Kritiker. AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Rassismus in Reinkultur Die Todesstrafe war nie farbenblind: Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner machen nur 13 Prozent der US-Bevölkerung aus, stellen aber 34 Prozent der Häftlinge im Todestrakt. Von Sumit Bhattacharyya
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eine Hautfarbe war für Duane Buck wortwörtlich das Todesurteil. In Texas, wo er wegen Mordes vor Gericht stand, ist ein Todesurteil nur dann möglich, wenn der Verurteilte auch in Zukunft eine Gefahr für andere darstellt. Die Entscheidung darüber obliegt den Geschworenen. Ein Sachverständiger bejahte die Frage, ob neben dem Geschlecht auch die Hautfarbe ein Faktor sei, der den Gefangenen weiterhin gefährlich mache. Die Jury war sich einig: Todesurteil. Auch wenn die Hinrichtungszahlen in den USA seit 1999 stark gesunken sind, ist eines konstant geblieben: Für Schwarze ist es weitaus wahrscheinlicher, zum Tode verurteilt zu werden, als für Weiße. So machen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner nur 13 Prozent der Bevölkerung aus, stellen aber 34 Prozent der Häftlinge im Todestrakt. 76 Prozent aller Todesurteile ergingen für einen Mord an einem Weißen, obwohl die Zahl der Tötungsopfer bei Weißen und Schwarzen in etwa vergleichbar ist. Die Todesstrafe war niemals farbenblind. In den Staatsanwaltschaften ist bekannt, dass man bei der Auswahl der Geschworenen auf deren Hautfarbe achten muss. In Schulungsvideos für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gibt es Tipps, wie man eine Jury zusammenstellt, um ein Todesurteil zu bekommen – der Ausschluss schwarzer Geschworener wird explizit empfohlen. Im Cook County in Illinois gab es in den 1970er und 1980er Jahren einen menschenverachtenden Wettbewerb unter Staatsanwältinnen und -anwälten, bei dem es darum ging, wer von ihnen zuerst Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner mit einem Gesamtgewicht von zwei Tonnen in die Todeszelle bringen würde. »Wer Amerikas lange Geschichte von Lynchmorden an Schwarzen kennt, die beschuldigt wurden, Weißen Gewalt angetan zu haben, der versteht, dass die Todesstrafe die moderne Form des rassistischen Lynchens ist«, erklärt Jennie Sheeks von der Organisation »Witness to Innocence«, die sich um ehemalige Häftlinge aus dem Todestrakt kümmert. Sie verweist darauf, dass sich Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner oft keine
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Wahlverteidigung leisten können. Oft sind unerfahrene oder inkompetente Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidiger entscheidend dafür, dass ein Prozess mit der Todesstrafe endet. Tatsächlich sind von den bis heute 170 Menschen, die wegen erwiesener Unschuld freigelassen wurden, 107 Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Kwame Ajamu ist einer von ihnen. Als er 1975 verhaftet wurde, war Rassismus in der Polizeiarbeit Alltag, und Ajamu wurde zum Ziel von rassistischen Beleidigungen seitens der Polizistinnen und Polizisten. Nur ein einziger afroamerikanischer Geschworener saß in der Jury, die ihn zum Tode verurteilte. Heute sagt Ajamu: »Ohne Zweifel ist die Todesstrafe rassistisch und kann niemals reformiert werden. Es ist einfach falsch, dass Menschen andere Menschen im Namen der Opfer töten, denn das ist nur Rache, aber keine Gerechtigkeit.« Der Oberste Gerichtshof setzte im Jahr 1972 die Todesstrafe mit der Begründung aus, Schwarze, Arme, Ungebildete oder geistig Kranke würden eher zum Tode verurteilt als wohlhabende Weiße. Allein dies mache die Strafe willkürlich und grausam. Nachdem die Gesetze zur Todesstrafe in den Bundesstaaten reformiert wurden, erklärte der Oberste Gerichtshof sie 1976 wieder für verfassungsgemäß. Willkürlich und rassistisch ist die Todesstrafe dennoch geblieben. Sumit Bhattacharyya ist Sprecher der Amnesty-Kogruppe USA.
»Ohne Zweifel ist die Todesstrafe rassistisch und kann nie reformiert werden.« Kwame Ajamu 19
»Empörung motiviert mich« Der Schriftsteller Dave Eggers über die antirassistische Bewegung in den USA, Polizeiarbeit, künstlerische Produktivität unter Donald Trump und seine Erwartungen an den nächsten Präsidenten.
Immer im Einsatz für die Menschenrechte. Dave Eggers.
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Interview: Tobias Oellig
Wenn Sie sich anschauen, was in Ihrem Land passiert, was geht da in Ihnen vor? Hinter mir liegen vier Jahre der rasenden Wut, Empörung, Sorge, Depression, Verwirrung und Enttäuschung. Das waren die schlimmsten vier Jahre in der Geschichte unseres Landes. Der einzige Lichtblick in dieser schrecklichen Zeit – in der 170.000 Menschen unnötigerweise gestorben sind – ist, dass sich nun endlich viele Wählerinnen und Wähler von Donald Trump abwenden. Weil sie in dieser doppelten Krise endlich realisieren, wie inkompetent und gefährlich er ist. Sie haben etliche Kundgebungen von Trump journalistisch begleitet und viele seiner Wählerinnen und Wähler kennengelernt … Ja. Zum Beispiel im Dezember 2019 in Pennsylvania, als die Wirtschaft noch boomte. Interessant war, dass alle, mit denen ich sprach, Vorbehalte gegenüber Trump hatten. Aber sie sagten auch, dank seiner Politik hätten sie mehr Geld im Portemonnaie als zuvor, und das sei entscheidend. Nachdem dieser Faktor nun schwindet, wenden sich die Wechselwählerinnen und Wechselwähler wieder ab. Es erscheint kaum nachvollziehbar, dass jemand zuerst Obama und dann Trump wählt. Viele US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner wollen Wandel um seiner selbst willen. Sie fühlen sich von Neuem angezogen, wollen experimentieren. Im Lauf der Zeit hat sich in den USA die Idee entwickelt, dass es zwischen Ruhm und Regierung keinen Unterschied gibt. Selbst progressive Leute sagen: »Wir wollen Oprah Winfrey gegen Trump antreten sehen!« Beliebtheit wird mit der Qualifikation für das Präsidialamt gleichgesetzt. Leute, die regieren, sollten jedoch beständig, vielleicht sogar langweilig sein. Und eben nicht jemand, der in einer Reality-Show auftritt.
Foto: Francesca Mantovani / Opale / Leemage / laif
Klingt fast so, als wäre Angela Merkel eine Idealbesetzung. Wir schauen auf Angela Merkel und sind sehr neidisch. Ich bin seit langer Zeit ein Fan von ihr. Insbesondere, als in Europa die Zäune hochgezogen wurden und sie all die Flüchtlinge willkommen geheißen hat. Das gleiche gilt für die Regierungen in Neuseeland, Norwegen oder Kanada. Wir sehnen uns nach einer radikal anderen Herangehensweise an Politik, die nichts mit Charisma und Berühmtheit zu tun hat. Trotzdem haben fast 63 Millionen Wählerinnen und Wähler für Trump gestimmt und ihm das Wohl des Landes anvertraut. Was nur ein Zustand kompletten kollektiven Wahns sein kann. Aber wir werden das abschütteln und sagen: »Was war das denn?!« Selbst seine treusten Wählerinnen und Wähler werden ihn bald vergessen. Die nationale Aufmerksamkeitsspanne ist nicht sehr groß. Wenn wir zurückblicken, werden wir keine dauerhaften Errungenschaften dieser Regierung sehen. Nur die Ernennung Hunderter Richterinnen und Richter hat Folgen. Glauben Sie, dass aus dem »Black Lives Matter«-Protest eine neue Bewegung hervorgeht, die das Potenzial für Wandel in sich trägt? Was gerade entsteht, gehört zu den inspirierendsten politischen Bewegungen, die ich miterlebt habe. Ein Großteil dieser
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»Wir schauen auf Angela Merkel und sind sehr neidisch.« politischen Energie könnte auch wieder verpuffen. Wenn wir jedoch ein Jahr lang auf das Wesentliche konzentriert bleiben, ist ein nachhaltiger Wandel möglich. Ich hoffe sehr, dass das geschieht. Ihr im Jahr 2011 veröffentlichter Roman »Zeitoun« ist erschreckend aktuell. Der Protagonist Abdulrahman Zeitoun paddelt allein durch das überflutete New Orleans, um zu helfen. Er wird willkürlich festgenommen und für Wochen ins Gefängnis gesteckt, erlebt also »Racial Profiling«. Glauben Sie, dass die antirassistischen Demonstrationen dazu beitragen, das »Racial Profiling« zu überwinden? Es wird schwierig sein, das komplett zu überwinden. Die Art, wie die Polizei rekrutiert und ausbildet, die Vorurteile, mit denen Polizistinnen und Polizisten aufwachsen und die Struktur des Polizeiapparats – all das macht Veränderung sehr schwer. Wir haben ein eigenwilliges Polizeisystem mit nur wenigen Bundesrichtlinien, sodass es in jedem Bundesstaat und jeder Stadt unterschiedliche Strukturen gibt. Aber weil immer mehr Polizistinnen und Polizisten wegen Mordes strafrechtlich verfolgt werden und auch, weil sie nun wissen, dass sie möglicherweise gefilmt werden, wird sich das System allmählich verändern. »From Guardian to Warrior« beschreibt den Wandel der Polizei in den vergangenen 30 Jahren. Polizistinnen und Polizisten waren mal für Schutz zuständig, nun wirken sie wie Kriegerinnen und Krieger. Weniger Mittel für die Militarisierung, weniger hochgerüstete Spezialeinheiten und weniger gepanzerte Fahrzeuge wären ein Schritt in die richtige Richtung. Stattdessen hat man in den vergangenen 30 Jahren lokale Polizeikräfte mit der ausrangierten militärischen Ausrüstung aus dem Irak und aus Afghanistan ausgestattet. Der Effekt gab der Strategie recht: Die Kriminalitätsraten gingen zurück. Aber es entstand auch eine Kluft zwischen Ordnungskräften und Bevölkerung. Die Polizei wird fast schon als Besatzungsmacht empfunden. Polizistinnen und Polizisten erschießen um die tausend Menschen pro Jahr, doch nur etwa ein oder zwei Prozent von ihnen werden strafrechtlich verfolgt. Auch die Bürgerinnen und Bürger decken sich seit Beginn der Corona-Pandemie mit noch mehr Waffen ein. In den USA gibt es, grob geschätzt, 330 Millionen Waffen. Es gab Fälle, in denen Kundinnen und Kunden, die aufgefordert wurden, im Supermarkt eine Maske zu tragen, die Angestellten mit Waffen bedroht haben. Angestellte von Walmart oder Target haben schon gekündigt – aus Angst vor Leuten, die Masken verweigern, zu ihrem Auto gehen und mit einer Waffe zurückkom-
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men. Gleichzeitig gibt es aber auch Tausende von Protestveranstaltungen im ganzen Land, die völlig friedlich verlaufen. Kann die Corona-Krise auch als Katalysator wirken, um Solidarität zu erzeugen und Wandel zu beschleunigen? Die Krise hat viele unserer systematischen Ungleichheiten und Irrationalitäten offengelegt, vor allem hat sie klargemacht, wie dysfunktional unser Gesundheitssystem ist. Wir hätten auf diese Krise bestens vorbereitet sein müssen. Aber wir haben weder eine Führung noch ein funktionierendes System – jeder Bundesstaat und jede Stadt handelt anders. Und mitten in diesem Schlamassel hat Präsident Trump »Obamacare« demontiert, was dazu geführt hat, dass 5,4 Millionen Menschen während der Pandemie ihre Krankenversicherung verloren. Ich hoffe, dass wir unter einem Präsidenten Joe Biden einer allgemeinen Krankenversicherung wieder näher kommen, die eigentlich nur eine Verlängerung dessen ist, was bereits Franklin D. Roosevelt mit der Sozialversicherung auf den Weg gebracht hat. Aber die Republikanische Partei hat zusammen mit der Versicherungsbranche eine erfolgreiche Propagandakampagne gestartet, wonach ein bezahlbarer Zugang zur Gesundheitsversorgung Kommunismus bedeutet. Sie haben eine Trump-Satire geschrieben, »Der größte Kapitän aller Zeiten« Ein clownesker Kapitän steuert sein Schiff an den Abgrund. Taugt der Präsident wenigstens als Inspiration für Ihre schriftstellerische Arbeit? Nein. Trump mag ergiebig sein für Satire, aber ich hätte alles dafür gegeben, das Ergebnis der Wahl von 2016 zu ändern und diese vier Jahre nicht durchmachen zu müssen. Zu viele haben gelitten. Und es schmerzt immer noch, jeden Tag. Freunde sind abgeschoben worden. Eine Familie, die mir nahesteht, lebt seit anderthalb Jahren in einer Kirche in Richmond, Virginia, um ihrer Abschiebung zu entgehen. Andere Freunde, die vom »muslim ban« betroffen waren, wurden von ihren Familien getrennt. Das Leiden ist so weitverbreitet und so entkräftend für die Seele.
niten im Stich gelassen haben, die im Jemen feststeckten. Wir taten nicht, was wir hätten tun sollen, uns um unsere Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die unser moralisches Versagen beleuchtet. In den Romanen »Zeitoun«, »Weit gegangen« und »Der Mönch von Mokka« ging es darum, dass die USA ein sicherer und einladender Ort für Eingewanderte sind, an dem sie jedoch auch unter die Mühlsteine unmenschlicher politischer Richtlinien geraten können. Auch die von ihnen mitgegründete Organisation Voice of Witness will Menschen eine Stimme geben … Es ist immer eine einzelne Geschichte, die aus dem Lärm, der Ablenkung und dem Chaos hervordringt und Dinge verändern kann. Schwarze Männer werden in den USA seit Jahrhunderten von der Polizei getötet, aber dann taucht dieses eine Video vom Mord an George Floyd auf. Es ist die Geschichte eines einzigen Menschen. Ihn leiden und sterben zu sehen, hat endlich das Bewusstsein aller erschüttert und die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf dieses Thema gelenkt. Die Kraft des Individuums, des individuellen Leidens, der individuellen Erfahrung in einem ungerechten System kann Anstoß für Veränderung sein. Mit Voice of Witness wollen wir solche Erzählungen festhalten. Damit sie in unsere Geschichtsschreibung eingehen und diese Menschen nicht vergessen werden.
DER MENSCH Geboren 1970 in Boston und aufgewachsen im Mittleren Westen, wo er Journalismus studierte. Dave Eggers gehört zu den bekanntesten und politisch engagiertesten Autoren in den USA. Er lebt mit seiner Frau, die auch Journalistin und Autorin ist, und seinen zwei Kindern in der San Francisco Bay Area.
DER SCHRIFTSTELLER
Ihre Romane behandeln immer wieder Menschenrechte und andere politische Themen. Was motiviert Sie? Wenn ich Fiktion schreibe, die politische Ereignisse aufgreift, wie in meinem Roman »Weit gegangen«, dann treibt mich oft Empörung an. Empörung motiviert mich. Es dauert lange, ein Buch zu schreiben. Und manchmal braucht es diesen Treibstoff, das Gefühl von Ungerechtigkeit, um mich durch die jahrelange Recherche zu tragen und eine Geschichte zu erzählen, die sonst vergessen wird, eine Person vorzustellen, die in den Strom der Geschichte gerät. Keiner der Menschen, über die ich geschrieben habe, wäre sonst in Erinnerung geblieben. Als ich »Der Mönch von Mokka« geschrieben habe, hat mich empört, dass die USA Tausende US-Jemenitinnen und US-Jeme-
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Dave Eggers gründete die Magazine Might und McSweeney’s und einen Verlag gleichen Namens. Sein erster Roman »Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität« (Droemer Knaur Verlag, München 2001) wurde für den Pulitzer-Preis nominiert. Bekannt wurde er vor allem mit seinem Bestseller »The Circle« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014) über die totale Überwachung, die von einem Internetkonzern ausgeht. Zu seinen weiteren Romanen zählen »Weit gegangen« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008), »Zeitoun« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011), »Der Mönch von Mokka« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018), »Die Parade« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020) sowie die Trump-Satire »Der größte Kapitän aller Zeiten« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020).
VOICE OF WITNESS Die von Eggers mitgegründete gemeinnützige Organisation Voice of Witness verlegt ausgewählte, mündlich überlieferte Erfahrungsberichte von Menschen, die in den USA und auf der ganzen Welt von sozialer Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen betroffen sind. Infos: voiceofwitness.org
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Foto: Saul Loeb / AFP via Getty Images
Neben der Trump-Satire haben Sie fast gleichzeitig ein weiteres Buch veröffentlicht: »Die Parade«, eine Parabel über westliche Entwicklungsarbeit. Die Zeit unter Trump scheint für Sie als Schriftsteller fruchtbar gewesen zu sein. Es ist mir sehr schwer gefallen, zu arbeiten. Auch von anderen Künstlerinnen und Künstlern weiß ich, dass sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren und etwas fertigstellen konnten. Ich will jetzt einfach nur einen Präsidenten, der zu Menschlichkeit und Empathie fähig ist und die Menschenrechte respektiert.
» Ich will jetzt einfach nur einen Präsidenten, der zu Menschlichkeit und Empathie fähig ist.«
Immer im Einsatz für die Mauer. Donald Trump in San Luis, Arizona, Juni 2020.
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Vor der Einreise erst mal Fieber messen. Passantinnen und Passanten werden auf der Grenzbrücke Santa Fe auf Covid-19-Anzeichen geprüft.
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Ausgegrenzt Die Zwillingsstädte El Paso in den USA und Ciudad Juárez in Mexiko sind eng miteinander verbunden. Auf mexikanischer Seite sterben deutlich mehr Menschen an Covid-19. Von Kathrin Zeiske (Text) und Carolina Rosas Heimpel (Fotos)
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anet* fächelt ihrem Neugeborenen Luft zu. In der mexikanischen Grenzstadt flimmert der Asphalt. In den Sommermonaten herrscht in dem Wüstengebiet konstant eine Temperatur von 40 Grad. »Was für eine Hitze«, klagt die junge Frau mit den blondgefärbten Haaren. In ihrer Heimatstadt Havanna auf Kuba macht eine Meeresbrise die Temperatur erträglicher. Doch Yanet hat die Karibikinsel vor einigen Jahren verlassen, um gemeinsam mit ihrem Freund ein neues Leben in den Vereinigten Staaten zu beginnen. Die Flucht war abenteuerlich, doch nach ein paar Wochen waren sie hierher gelangt und konnten die rostbraunen Stahlstreben an der Südgrenze der USA sehen. »Eigentlich genau hier«, bemerkt Yanet. Hinter dem Einwohnermeldeamt von Ciudad Juárez liegt der Grenzstreifen: ein Niemandsland mit Zäunen, die mit Natodraht gesichert sind, der Betonkanal eines schmalen Flusses, der hier Río Bravo und jenseits der Grenze Río Grande heißt, und schließlich die Mauer. Diese stellte sich für das Paar als unüberwindbar heraus. Nun sind sie schon so lange hier, dass sie ein Baby in den Armen halten – ihr in Mexiko geborenes Kind, dessen Geburt sie nun registrieren lassen. »Corona hat Trump die Möglichkeit gegeben, das Recht auf Asyl vollkommen auszusetzen«, beklagt Rosa Mani Arias, die das »Hotel Flamingo« leitet, eine Quarantänestation für Geflüchtete. Schon im Januar 2019 zwang die US-Regierung Mexiko all jene vorübergehend aufzunehmen, die in den USA einen Asylantrag gestellt haben. Zivilgesellschaftliche Initiativen stampften daraufhin Herbergen aus dem Boden. »So wurde eine humanitäre Krise an der Grenze verhindert.« Doch dann kam Corona. Am 20. März wurde der Grenzverkehr zwischen den USA und Mexiko weitgehend stillgelegt. Im Mai verschob die Regierung Trump alle Asylangelegenheiten auf die Zeit nach Corona. Seit 1948 ist das Asylrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert, von einer Verschiebung steht dort nichts. Und doch wurden Gerichtstermine für Asylbewerber abgesagt, Neuankömmlinge an der Grenze bekamen erst gar keine. Und immer mehr Menschen, die sich notdürftig im Transit in Ciudad Juárez eingerichtet hatten, verloren durch den Lockdown ihre Jobs und konnten ihre Miete nicht mehr bezahlen. »Wieder war es die Zivilgesellschaft, die reagierte und diese Quarantänestation einrichtete, damit die Menschen nicht auf der Straße stehen«, berichtet Rosa Mani Arias. Das Projekt wird von UN-Organisationen wie der Internationalen Organisation für Migration und Unicef unterstützt.
Quarantäne im Hotel Flamingo Die Sozialarbeiterin aus Puebla hat vieles hinter sich. Sie lebte mit ihrem Mann lange ohne Papiere in den USA, bevor sie nach
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Ciudad Juárez abgeschoben wurde. »Ich habe hier viel Unterstützung erhalten, die ich jetzt zurückgeben möchte.« Anfang Mai hat sie ihre Wohnung gekündigt, den Hund bei einer Freundin untergebracht. Seither lebt und arbeitet sie im Hotel Flamingo. Fast das gesamte Team dort hat Migrations- und Fluchterfahrungen gemacht. Kubanische und venezolanische Ärztinnen behandeln die Gäste nicht nur medizinisch, sondern zeigen auch Solidarität und Verständnis. Weißgetünchte Zimmer gehen von zwei miteinander verbundenen Innenhöfen ab. Vor jeder Tür ist eine kleine Terrasse mit Absperrgittern markiert. Zwei Wochen lang dürfen Kleinfamilien und Bezugspersonen die ihnen zugewiesenen Räume nicht verlassen. Essen wird gereicht, eine psychologische Betreuung gibt es per Zimmertelefon. Das Areal im zweiten Stock ist Covid-19-Infizierten vorbehalten. Die diensthabende Ärztin bleibt den ganzen Tag dort, um sich dann vollständig zu desinfizieren und umzuziehen. Im Astronautenanzug schwebt sie hinter der Brüstung entlang. Bianqui* und ihr kleiner Sohn haben ihre wenigen Habseligkeiten zusammengepackt, um für die kommenden Monate in eine Herberge umzuziehen. Als sie unter Applaus ihr Gesundheitszertifikat bekommt und das Team mit Sicherheitsabstand und Atemmaske ein Foto macht, stehen der jungen Frau aus Guatemala-Stadt Tränen in den Augen. »Eigentlich will ich gar nicht gehen«, sagt sie leise. Nach den anstrengenden Wochen der Reise durch Mexiko, auf der sie in überfüllten Schlafsälen, klandestinen Häusern oder mitten in der Wildnis schlief und Hunger, Angst und Verzweiflung durchstand, erschien ihr das Hotelzimmer wie eine Oase. »Ich konnte endlich zur Ruhe kommen«, erklärt Bianqui. Sie weiß, dass eine Rückkehr nach Guatemala für sie unmöglich ist. Dass sie dort im Bannkreis der Jugendbanden, die die Städte beherrschen, wieder in Lebensgefahr schweben würde. Wie ihr geht es den meisten Geflüchteten. In Herkunftsländern wie Honduras und El Salvador herrschen strikte Ausgangssperren, Polizei und Militär treten auf den Straße nicht als Beschützer, sondern als Aggressoren auf. Doch die Hoffnung auf Asyl in den USA rückt für die rund 6.500 Menschen, die seit Monaten
Im Mai verschob die Regierung Trump alle Asylangelegenheiten auf die Zeit nach Corona. 25
in Ciudad Juárez ausharren, in immer weitere Ferne. Mitte Juli verkündete die US-Regierung, dass die Asylprozesse ausgesetzt blieben.
Auf dem Friedhof San Rafaél Doch die mexikanischen Grenzstädte sind keine sicheren Aufenthaltsorte für Menschen mit Gewalterfahrungen. In Ciudad Juárez schossen die Mordzahlen während der Corona-Pandemie in die Höhe. Grenzschließungen und Störungen im Waren- und Personenverkehr wirkten sich auf den Drogenhandel aus. Eine gewaltsame Neuordnung der Routen und Territorien unter den Kartellen ist zu beobachten. Nach Tijuana belegt Ciudad Juárez nun den zweiten Platz unter den gefährlichsten Städten der Welt. Die Mordrate ist so hoch wie vor einem Jahrzehnt. Damals war die Stadt militärisch be-
Die USA im Blick. Migranten in Ciudad Juárez.
setzt, es gab soziale Säuberungen, Menschen starben oder wurden gewaltsam verschleppt. Gleichzeitig galt El Paso als eine der sichersten Städte der USA. Dorthin zogen sich die Auftragsmörder nachts zurück, Kartellangehörige brachten ihre Familien in wohlhabenden Vororten unter und kauften dort Waffen ein. Mit Covid-19 ist nun auch der Friedhof San Rafaél weit vor den Toren von Ciudad Juárez wieder zu einem viel besuchten Ort geworden. Er liegt zwischen Müllhalde, Hochsicherheitsgefängnis und Schrottplätzen mitten in der Wüste. Die Todesursachen der Bestatteten sind vielfältig. Der Vater des toten 19-Jährigen, der heute als Letzter beerdigt wird, hat den Angestellten ein paar Scheine in die Hand gedrückt, damit sie über die viel zu vielen Personen hinwegsehen, die trotz Corona-Auflagen die Trauerfeier besuchen. Eine Polka-Band spielt neben dem frisch aufgeschütteten Grab. Der Betrauerte ist an einer Überdosis gestorben. In den Gräbern daneben liegen Gleichaltrige, die ermordet wurden. Über 500 Menschen sind seit der Ausrufung des »sanitären Ausnahmezustands« Ende März in der Stadt gewaltsam zu Tode gekommen. Knapp 700 starben hier im gleichen Zeitraum am Corona-Virus; die meisten von ihnen waren in den Montagefabriken an der Grenze tätig. »Diese Toten hätten verhindert werden müssen«, empört sich Susana Prieto. Die millionenschweren Weltmarktunternehmen seien dafür verantwortlich, ihre Belegschaften zu schützen. Die Arbeitsrechtsanwältin mit den dunkelroten Haaren und der durchdringenden Stimme ist tatsächlich die einzige Frau an der gesamten Nordgrenze, die der Macht der Montagefabriken etwas entgegensetzt. Im Juni wurde sie deswegen willkürlich festgenommen und saß drei Wochen unter fadenscheinigen Beschuldigungen in Untersuchungshaft – just als die mexikanische Wirtschaft trotz steigender Infektionszahlen wieder angekurbelt wurde. Allein in Ciudad Juárez sind knapp 300.000 Menschen, ein Viertel der Stadtbevölkerung, in rund 300 sogenannten Maquilas angestellt. Die meisten gehören USUnternehmen, sie stellen Autoelektronik her, Medizin und Robotertechnik. Prietos populäre Facebook-Videos dokumentierten akribisch, welche Betriebe trotz Regierungsdekret niemals die Produktion stoppten. »Nur die Streiks von Arbeitenden haben Unternehmen dazu bewegen können, sie bei hundertprozentiger Lohnfortzahlung nach Hause zu schicken.« Das habe unzähligen Menschen das Leben gerettet. Andere Betriebe wie DB Schenker schlossen die Fabriktore erst nach Covid-Todesfällen.
Krank? Zurück an den Arbeitsplatz!
Im Job gefährdet. Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Weg in eine Maquila.
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Der nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters »wohl schlimmste Ausbruch in einer Fabrik auf dem amerikanischen Kontinent« ereignete sich in der Río Bravo-Produktionsstätte des US-Autozubehörherstellers Lear Corporation. Dort hatte sich Anfang April Covid-19 ra-
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Kontaktarme Versorgung per Eimer (l.), Direktorin Rosa Mani Arias (r.). Im »Hotel Flamingo«, Quarantänestation für Migrantinnen und Migranten.
sant unter den 3.000 Angestellten verbreitet. Kolleginnen und Kollegen der vielen Verstorbenen berichten, dass diese zuvor mit klaren Symptomen zur Gesundheitsstation des Unternehmens gegangen seien, dort Grippemittel erhalten hätten und dann an ihren Arbeitsplatz zurückgeschickt worden seien. Dreimal soll es Adela García so ergangen sein, eine der Arbeiterinnen, die schließlich am Corona-Virus verstarb. Lear Corporation schaltete eine Kondolenzanzeige in der lokalen Tageszeitung; bestätigt wurden 18 tote Mitarbeiter. Andere Quellen sprechen von bis zu 30 Toten. Das Unternehmen spendete eine Million US-Dollar für die Bekämpfung der Pandemie in Ciudad Juárez. Familien der an Covid-19 verstorbenen Arbeiterinnen und Arbeiter wurde eine Entschädigung von jeweils 2.800 Dollar angeboten. Ein neuer Kleinwagen kostet viermal so viel. In den schmalen Vorhöfen der winzigen Reihenhäuser im ausgedehnten Süden der Stadt ist kein Platz für ein Auto vorgesehen. Für die dort wohnende Arbeiterschaft ist ein eigener PKW unerschwinglich. Auch wenn sie täglich die Elektronik für Autobesitzer in anderen Ländern zusammensetzen. Doch die wenigsten lehnen sich auf gegen das Leben in Armut, das sie trotz Arbeit führen müssen. Die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg bleibt. Genauso wie die Hoffnung, dass die dünnen Bäumchen vor den Häusern den extremen Temperaturen der Wüste standhalten und eines Tages Schatten spenden. Doch Corona hat die Arbeiterschaft in Angst versetzt. »Zu Recht«, sagt Susana Prieto. Die Montagefabriken, wo Hunderte
Öffentliche Kliniken haben sich in der CoronaKrise in Sterbehospize verwandelt. DIE USA VOR DER WAHL
von Menschen zu Schichtbeginn zusammenkommen, sind die größten Infektionsherde in der Stadt. »Gleichzeitig haben Fabrikarbeiter nur Zugang zu öffentlichen Kliniken.« Und diese haben sich in der Corona-Krise in Sterbehospize verwandelt. Lange schwankte die Covid-Sterberate in Ciudad Juárez zwischen 20 und 25 Prozent, während die US-Zwillingsstadt El Paso gerade mal zwei Prozent vorwies. Ausschlaggebend sind neben einem ruinösen Gesundheitssystem Wechselwirkungen mit Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht. »Die Geißeln der Arbeiterschicht Mexikos«, seufzt die Juristin, die ihr Studium mit Fabrikarbeit finanzierte. Angesichts einer marginalisierten Bevölkerung, die in Unter- und Fehlernährung lebt und zu wenig Bewegung bekommt, sind diese Krankheiten überproportional und schon im Kindesalter verbreitet. Und so gehört Mexiko mit weit über 60.000 Toten zu den Staaten mit den meisten Covid-Todesopfern weltweit. In Ciudad Juárez hat der Industrieverband Index nun verkündet, dass niemand mehr eingestellt werde, der diese Vorerkrankungen habe. »Wer nicht an Corona stirbt, wird an Hunger sterben.« Prieto schüttelt empört den Kopf. »Das sind diskriminierende Maßnahmen.« Während Trailer an den Grenzbrücken Schlange stehen, um die Erzeugnisse der Maquilas termingerecht in die USA zu bringen, bleibt die Grenze für viele Menschen geschlossen. Dort, wo sich sonst die Autos stauen und Fußgänger vor der Passkontrolle Schlange stehen, desinfizieren Reinigungskräfte den Asphalt. Eine harte Probe für die Bevölkerung der Grenzstädte, in denen in fast jeder Familie große Unterschiede bei Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus und Besuchsvisa vorherrschen. Ende März mussten sich so gut wie alle für eine Seite der Grenze entscheiden und zwischen Job, Familie, Gesundheitsvorsorge und Lebenspartner diesseits und jenseits der rostbraunen Mauer abwägen. Dass sich diese hochmilitarisierte Grenze noch dichter schließen lässt, hätte sich hier vor Corona niemand vorstellen können. *Namen von der Redaktion geändert
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Mexiko als Mauer Restriktive Migrationspolitik, Handelsbeschränkungen, rechtsextreme Ideologie: Was eine Wiederwahl Donald Trumps für die Mitte und den Süden des amerikanischen Kontinents bedeuten könnte. Von Wolf-Dieter Vogel
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ür US-Präsident Donald Trump hätte der Staatsbesuch des Nachbarn nicht besser laufen können. Ehrfurchtsvoll kniete der mexikanische Regierungschef Andrés Manuel López Obrador im Juli vor der Statue Abraham Lincolns nieder, ebenso ergeben zeigte er sich gegenüber seinem Gastgeber: Er danke Trump dafür, »dass Sie unseren mexikanischen Landsleuten mit immer mehr Respekt begegnen«. Niemals habe das US-Staatsoberhaupt Mexiko etwas aufgezwungen, das die Souveränität des Landes verletze, ergänzte der Mexikaner. Er erwähnte weder die Pläne, zwischen den beiden Staaten eine Mauer zu errichten, noch kritisierte er, dass Trump Migrantinnen und Migranten regelmäßig als »Vergewaltiger und Mörder« beschimpft. Selbst so viel Entgegenkommen scheint Trump egal zu sein. Für ihn sind die Verhältnisse in Mexiko und anderen Staaten Lateinamerikas ausschließlich eine Projektionsfläche für innenpolitische Ziele. Ob Mexiko, Kuba, Venezuela oder Mittelamerika – es geht ihm stets darum, vermeintliche Gefahren anzuprangern, die dort lauern: Diktatoren, Geflüchtete, Kriminelle. Die Begriffe, die Trump in diesem Kontext benutze, seien genau auf seine Anhängerschaft ausgerichtet, erklärt Michael Shifter, der Präsident des Think Tanks Interamerican Dialogue in Washington. »Mexiko ist dafür ein gutes Beispiel.« Obwohl Lateinamerika ein Drittel seiner Importe aus den USA bezieht, zeigt Trump demonstratives Desinteresse am Süden des Kontinents. Lateinamerika und Mexiko sind für ihn ein und dasselbe. Seine Mauerpläne sind der konkrete Ausdruck dieser Missachtung. López Obrador kam genau zur rechten Zeit. Vier Monate vor der Präsidentschaftswahl in den USA setzte er Trumps aggressivem Kurs des »America First« nichts entgegen. Kein gutes Zeichen für die Zukunft. Denn Angriffe auf Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete zählen zu Trumps wichtigsten Botschaften, um sich die Unterstützung seiner Anhängerschaft zu sichern.
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Sollte er die Wahl gewinnen, werden Mexiko und Mittelamerika dies besonders zu spüren bekommen. Zwar steht am Rio Bravo bis heute keine Mauer, doch entscheidend ist für Trump, dass er an seinem rassistischen Diskurs festhalten kann. Wenige Tage, bevor er López Obrador traf, reiste er an die Südgrenze und veröffentlichte auf Twitter ein Foto, das Bauteile des Grenzwalls zeigt, mit dem Kommentar: »Ein großer Tag für Arizona.« Doch die Mauer hat längst an Bedeutung verloren, da die mittelamerikanischen Staaten bei seiner Abschottungspolitik kooperieren, nachdem sie unter Druck gesetzt wurden. Trump hatte Guatemala, Honduras und El Salvador Hilfsgelder gestrichen, da sie seiner Ansicht nach Flucht und Migration nicht eindämmten. »Wir geben ihnen verdammt viel Geld, aber das lassen wir jetzt bleiben, weil sie nichts für uns tun«, sagte er im März 2019. Als sich die drei Staaten bereit erklärten, aus den USA abgeschobene Asylsuchende wieder aufzunehmen, floss das Geld wieder. Im Einvernehmen mit den Regierungen erklärte Trump die drei gefährlichsten und ärmsten Länder Lateinamerikas zu »sicheren Drittstaaten«. Wer sie auf der Flucht durchquert hat, kann dorthin abgeschoben werden. Derzeit prüfen US-Gerichte, ob die Maßnahme rechtens ist. Auch López Obrador knickte ein. Nachdem der US-Präsident gedroht hatte, hohe Importzölle auf Waren aus Mexiko zu erhe-
Sollte Trump im Amt bleiben, hätten darunter die sozialen Bewegungen Amerikas zu leiden. AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Gerade Linien in Santa Teresa, New Mexico, USA. Teilstück der Mauer, die Mexiko und die USA mancherorts trennt. Foto: Cate Dingley / Bloomberg via Getty Images
ben, sollte der »Strom« an Migrantinnen und Migranten nicht gestoppt werden, setzte die mexikanische Regierung die aus ehemaligen Militärangehörigen bestehende Nationalgarde gegen Menschen ein, die sich von Mittelamerika aus auf den Weg in die USA gemacht hatten. Zehntausende wurden abgeschoben. »Die Südgrenze Mexikos ist zur ersten Mauer der USA geworden«, erklärt Enrique Vidal vom Menschenrechtszentrum Fray Matías de Córdova im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Zudem werden Personen, die in den Vereinigten Staaten einen Antrag auf Asyl stellen, bis zur Entscheidung über ihr Gesuch wieder nach Mexiko gebracht. Trump wird die »Zollkeule« jederzeit wieder hervorholen, wenn ihm dies nützt. Ob sich sein demokratischer Kontrahent Joe Biden offener zeigt, ist nicht ausgemacht. Er kündigte zwar an, den Migrationsprozess zu »humanisieren« und das Asylrecht zu verteidigen, allerdings unternahm auch Barack Obama, dem er als Vizepräsident diente, mit seinem Programm »Frontera Sur« (Südgrenze) bedeutende Schritte, um die Migration einzuschränken.
Neue Blockadepolitik gegen Kuba Was die Kubapolitik angeht, steht Trumps aggressiver Kurs in scharfem Gegensatz zu seinem Vorgänger. Während sich Obama für eine vorsichtige Öffnung eingesetzt hatte, greift der derzeitige US-Präsident auf die bald 60-jährige Blockadepolitik zurück, die drastische Folgen für die Bevölkerung des sozialistischen Inselstaats hat, weil sie Investitionen, Handel und die Einfuhr lebensnotwendiger Güter behindert. Das Embargo begrenze »Kubas Möglichkeiten, Arznei, medizinisches Material sowie Technologien einzuführen, um potenziell tödliche Krankheiten zu behandeln«, kritisierte Amnesty International bereits 2009. Die US-Regierung begründet die Sanktionen mit fehlender Presse- und Versammlungsfreiheit und anderen Menschenrechtsverletzungen. Angesichts dessen, dass Trump Journalisten
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gängelt, Kinder in Abschiebegefängnissen von ihren Eltern trennt und rassistische Gewalt von Polizisten unterstützt, erscheint dies heuchlerisch. Die Blockade Kubas und das Poltern des US-Präsidenten gegen das linke Regime in Venezuela haben vielmehr paradoxe Folgen: Denn sie liefern den Regierungen in Havanna und Caracas neue Vorwände, um Oppositionelle als »Agenten des Imperialismus« zu verfolgen. Zwar treffen die Sanktionen durchaus Politiker, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, aber eben auch die Zivilbevölkerung. Und die Drohungen des US-Präsidenten, militärisch gegen den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« vorzugehen, stoßen selbst bei Regimekritikern in Kuba und Venezuela auf Unverständnis. Vielmehr haben die beiden Staatsführungen in Trump einen ungewollten Verbündeten, wenn es darum geht, Folter, willkürliche Inhaftierungen und Polizeigewalt gegen Demonstrierende zu legitimieren. Sollte der US-Präsident vier weitere Jahre im Amt bleiben, würden darunter nicht zuletzt die indigenen, sozialen und feministischen Bewegungen im Süden des Kontinents leiden. So lässt etwa der brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro keinen Zweifel daran, dass er den Republikaner als sein Vorbild betrachtet: »Wir wollen Brasilien wieder groß machen, so wie Trump die USA wieder groß machen will«, verkündete er. In seinem Hass auf Schwule und Lesben, seinem Rassismus gegen Indigene und seiner Ignoranz gegenüber dem Klimawandel hat er in Trump einen Mitstreiter gefunden, der seine rechtsextremen Positionen ebenfalls offen zur Schau stellt. Es ist nicht auszuschließen, dass in diesem Fahrwasser weitere rechtsextreme Politiker in Lateinamerika an Bedeutung gewinnen. Ob sie sich durchsetzen können, ist fraglich. Denn die USA und Brasilien haben die CoronaKrise bislang am schlechtesten gemeistert. Nirgendwo sterben mehr Menschen – ein trauriger Beweis dafür, dass die undemokratische Politik der Abschottung, Isolation und Arroganz keine Zukunft hat. Das ist die gute Nachricht im Schlechten.
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NIMM RASSISMUS PERSÖNLICH
BESTELLE DEIN KOSTENLOSES AKTIONSPAKET GEGEN RASSISMUS Rassismus ist ein Angriff auf die Grundidee der Menschenrechte, dass alle Menschen „frei und gleich geboren“ sind. Doch viele Menschen in Deutschland erleben Tag für Tag rassistische Diskriminierung – beim Job, in der Schule, beim Arzt, bei der Wohnungssuche oder im Internet. Manche Politiker_innen und Medien verbreiten rassistische Ansichten. Immer wieder kommt es zu rassistischen Gewalttaten. Mit unserem Aktionspaket kannst du etwas dagegen tun. Mit Buttons, Postkarten und Aufklebern kannst du Stellung beziehen und andere sensibilisieren. Die Materialien bieten Denkanstöße und Einblicke, wie Betroffene Rassismus in Deutschland erleben. Sie enthalten Argumente gegen rassistische oder populistische Äußerungen sowie Tipps zum Umgang mit rassistischen Angriffen amnesty.de/gegen-rassismus
POLITIK & GESELLSCHAFT
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Nicht ablenken! Es gibt viel zu kritisieren am UN-Menschenrechtsrat. Und doch muss man ihn 75 Jahre nach der Gründung der UNO unbedingt verteidigen. Ein Kommentar von Silke Voß-Kyeck Im Oktober wählt die UN-Generalversammlung 15 neue Mitglieder in den Menschenrechtsrat. Während dieses Gremium sonst in den Medien wenig Beachtung findet, wird die öffentliche Empörung dann groß sein. Denn zur Wahl stehen auch China, Russland und Saudi-Arabien, deren Regierungen wohl kaum unterstellt werden kann, sie verfolgten die ehrliche Absicht, für den Schutz der Menschenrechte aller und überall einzutreten. Wie kann es sein, dass Staaten mit einer solch katastrophalen Menschenrechtspraxis in diesem Gremium Platz finden? Das darf nicht sein, fordern Vertreter der reinen Lehre. Sie dürften jedoch große Schwierigkeiten haben, die 47 Sitze des Gremiums mit Staaten zu besetzen, die bei den Menschenrechten eine blütenweiße Weste aufweisen. Das kann nicht sein, schafft den Rat ganz ab, rufen verbittert Enttäuschte, ohne eine Alternative anbieten zu können. Das soll nicht sein, kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty, die mit Kampagnen versuchen, zumindest das Schlimmste zu verhindern. Dass Staaten einerseits kooperieren müssen und andererseits zwangsläufig nationale Interessen verfolgen, ist seit jeher das Dilemma des UN-Menschenrechtsschutzes, und in der Zusammensetzung der UN-Organe wird es besonders sichtbar. Bereits die 1946 eingesetzte Menschenrechtskommission wurde wegen ihres politisierten und selektiven Handelns kritisiert, wofür maßgeblich ihre Mitglieder verantwortlich gemacht wurden. Die Kritik führte dazu, dass die Kommission 2006 durch den Menschenrechtsrat ersetzt wurde. Die formalen Hürden für die Mitgliedschaft wurden angehoben. Laut Gründungsresolution 60/251 müssen die Mitglieder nun höchsten Menschenrechtsansprüchen gerecht werden und mit dem Rat uneingeschränkt zusammenarbeiten. Die Generalversammlung soll bei der Wahl der Mitglieder deren Beitrag zum Menschenrechtsschutz sowie freiwillige Zusagen und Verpflichtungen berücksichtigen. Diese »weichen« Kriterien scheitern in der Praxis größtenteils daran, dass nur genauso viele Kandidaten zur Wahl stehen wie freie Plätze existieren. Vorbehalte können über eine niedrige Zahl von Ja-Stimmen bei der Wahl dokumentiert werden. Auch westliche Staaten verweigern sich oft der Konkurrenz und handeln zuvor intransparent sichere Kandidaturen aus. Dennoch ist es bereits gelungen, Staaten mit einer kritischen Menschenrechtsbilanz von Kandidaturen abzubringen (z. B. Iran) oder durchfallen zu lassen (z. B. Russland), indem andere Staaten zu Gegenkandidaturen ermuntert wurden.
Illustration: Jens Bonnke
Öffentliche Empörung Einzelne Mitglieder des Menschenrechtsrats bieten zweifellos Anlass für öffentliche Empörung, doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Rat ein politisches Gremium ist, dessen Mitglieder entsprechend der auch für die Generalversammlung geltenden regionalen Sitzverteilung gewählt werden. Was demokratische Standards angeht, ist der Menschenrechtsrat beispiels-
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weise dem UN-Sicherheitsrat voraus. Für Resolutionen des Menschenrechtsrates sind politische Mehrheiten erforderlich. Sie werden überwiegend einstimmig angenommen. Nur so besteht eine Chance, dass die unverbindlichen Beschlüsse und Empfehlungen tatsächlich auch umgesetzt werden. Das auf Kooperation ausgerichtete Instrumentarium des Gremiums würde keinen Sinn ergeben, wenn nur die »Guten« im Rat über die »Bösen« außerhalb des Rates richten würden. Ohne den Menschenrechtsrat gäbe es weder die Vertragsausschüsse, in denen Expertinnen und Experten über die Einhaltung der Menschenrechtsverträge wachen, noch die vielen Sonderberichterstatterinnen und Sonderberichterstatter, die ebenfalls unabhängig sind und Menschenrechtsprobleme gegen alle Widerstände aufzeigen. Diese ergänzende Zusammenarbeit macht den Kern des UN-Menschenrechtsschutzes aus. Die Kritik übersieht auch leicht, dass ein Staat gar nicht Mitglied des Menschenrechtsrates sein muss, um Resolutionen einzubringen und Entwicklungen zu beeinflussen. China hat es gerade wieder vorgemacht und eine Initiative vorangetrieben, die Menschenrechte zum Gegenstand freundlicher Staatenkooperation machen will. Der Gegensatz ist eine einklagbare staatliche Verpflichtung. Dieser gefährlichen Resolution hat eine Mehrheit der Ratsmitglieder zugestimmt. Umgekehrt muss ein Mitgliedsstaat nicht groß und mächtig sein, um etwas zu bewirken. So hat das »kleine« Island 2019 mit seiner Hartnäckigkeit für eine Resolution zu Menschenrechtsverletzungen auf den Philippinen gesorgt. Und schließlich bewahrt eine Mitgliedschaft auch nicht davor, vom Rat kritisch beurteilt zu werden, wie es zuletzt die Philippinen erfahren mussten. Zweifellos werden politische Auseinandersetzungen im Menschenrechtsrat härter und die Erfolgsaussichten düsterer, wenn Russland, China und Saudi-Arabien gewählt werden und sich zu Ländern wie Pakistan oder Venezuela gesellen. Doch statt Rückzug ist Engagement das Gebot der Stunde. Wichtig sind Kampagnen von NGOs, die die Menschenrechtsbilanz von Kandidatenstaaten den Kriterien für die Ratsmitgliedschaft schonungslos gegenüberstellen und alle Staaten dazu auffordern, diese Kriterien bei der Wahl ernstzunehmen. Solche Kampagnen brauchen Unterstützung, denn sie erhöhen den öffentlichen Rechtsfertigungsdruck erheblich. Vor allem aber bedarf es der Courage anderer Staaten, sich im Rat hartnäckig und diplomatisch klug für eine konsequente Benennung von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Die Menschenrechtsfeinde im Gremium können dann weniger Schaden anrichten, wenn andere Mitglieder sich den Angriffen auf Menschenrechtsnormen und -instrumente entgegenstellen. Es gibt viel zu kritisieren am Menschenrechtsrat, aber die oberflächliche Diskussion um einzelne Mitglieder diskreditiert ihn unnötig. Sie lenkt ab von den Erfolgen, die er trotz allem erreicht hat und die in Zeiten, in denen der Multilateralismus unter Druck steht, nicht oft genug betont werden können. Silke Voß-Kyeck analysiert für das Forum Menschenrechte die Entwicklungen im UN-Menschenrechtsrat. Sie arbeitet im Deutschen Institut für Menschenrechte zum Thema Verschwindenlassen.
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»Die Macht der Norm wirkt« Die UN werden 75 Jahre alt. Darf man gratulieren? Ja, wenn man sich anschaut, wo die Welt 1945 stand. Damals war es undenkbar, dass sich Staaten vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf erklären oder dass sich alle bei der Generalversammlung in New York treffen und miteinander reden. Insofern ist die Entwicklung beeindruckend. Aber es ist auch klar, dass dieser Geburtstag nicht einer mit Kuchen und Kerze ist, sondern der Diskussion darüber dienen sollte, wie es weitergeht, wie wir die Vereinten Nationen für 2045 fit machen können. Denn die Welt steht vor gigantischen Herausforderungen. Eine davon ist die Corona-Pandemie. Die UN-Institutionen haben keine gute Figur abgegeben … Bei aller berechtigten Kritik: Wir haben gesehen, es ist gut, dass es die Weltgesundheitsorganisation gibt. Ohne die WHO hätte es keinen Austausch, keine Verständigung, keinen Überblick über Zahlen und keine Koordination der Schritte gegeben. Das hat funktioniert. Es war nur nicht so sichtbar. Auch andere UN-Institutionen haben etwas getan: So hat etwa das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen Menschen in Notlagen versorgt, und das Entwicklungsprogramm UNDP hat einen detaillierten Bericht herausgegeben, wo Fortschritte in der Entwicklungszusammenarbeit gefährdet sind. Das ist die Arbeit, die die UN immer tun – oft im Verborgenen, doch sie geschieht. Welche Lehren sollten die UN aus der Pandemie ziehen? Als DGVN haben wird dazu einen eigenen Debattenblog eingerichtet. Darin geht es auch darum, was die WHO besser machen könnte – zum Beispiel schneller oder klarer in der Kommunikation sein. Durch die Pandemie ist auch offensichtlich geworden, dass der Sicherheitsrat in einer sehr schwierigen Situation ist. Er hat den Vorschlag des Generalsekretärs zu einem globalen Waffenstillstand lange nicht aufgenommen. Erst Anfang Juli kam eine Resolution, die alle auffordert, eine Waffenruhe einzuhalten. Das muss schneller gehen. Wieviel ist so eine Resolution denn in der Realität wert? Eine Resolution wird nicht direkt alle dazu bringen, die Waffen niederzulegen. Aber sie kann einen Prozess in Gang bringen, der dazu führt, dass Staaten überzeugt werden, die nächsten Schritte zu tun. Wenn eine gemeinsame Formulierung gefunden ist, können sich alle darauf beziehen und bei Verstößen sagen: »Du hast zugestimmt, also verhalte dich entsprechend.«
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Ein anderes Beispiel, wo die UN machtlos wirken, ist Hongkong, wo China die freiheitliche Gesellschaft unterdrückt. Ich würde mir wünschen, dass der Generalsekretär in Sachen Hongkong ein klares Wort spricht. China ist grundsätzlich ein schwieriger Partner in Bezug auf Menschenrechte – um es freundlich auszudrücken. Das Land arbeitet auf verschiedenen Ebenen gegen die Idee der Menschenrechte als Teil der Vereinten Nationen. Das ist ein Problem, weil Multilateralismus ohne Menschenrechte schlichtweg undenkbar ist. Dem müssen sich der Generalsekretär und alle Mitgliedsstaaten, die den Multilateralismus hochhalten, mit Worten und Taten entgegenstellen, mit Resolutionen, mit Zugängen, die verweigert werden, mit Finanzen, die gestrichen werden. Ist China ein Problem für die UN? China ist auch an vielen Stellen ein aktives Mitglied. Es hat einen festen Platz in der internationalen Ordnung, leistet große finanzielle Beiträge, ist sehr aktiv im Bereich der Friedenssicherung – das ist begrüßenswert. China ist wirtschaftlich in vielen Ländern aktiv, hat also ein großes Interesse daran, dass es eine internationale Ordnung gibt – aber ich fürchte, China stellt sich eine internationale Ordnung ohne Menschenrechte vor. Wie sollte man mit dem Land umgehen? Wir müssen wachsam sein gegenüber den ganz konkreten Schritten, die China unternimmt, um das Menschenrechtssystem zu untergraben. Um das zu beobachten, zu erkennen und dagegenzuhalten, sind Ressourcen erforderlich. Manchmal reicht es auch schon, dafür zu sorgen, dass NGOs zugelassen werden. Es geht nicht nur um China. Wie glaubhaft ist der UN-Menschenrechtsrat, wenn dort turnusgemäß ein Land wie Syrien den Vorsitz übernimmt, dem Menschenrechte wenig bedeuten? Man muss akzeptieren: Es ist die Idee der Vereinten Nationen, dass alle mitmachen. Nur so können weltweite Veränderungen angestoßen werden. Der Menschenrechtsrat ist nicht die Speerspitze des Menschenrechtsschutzes, sondern ein politisches Organ. Für die kritischeren Aspekte sind die unabhängi-
»Man muss akzeptieren: Es ist die Idee der Vereinten Nationen, dass alle mitmachen.« AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Illustration: Jens Bonnke
Die Vereinten Nationen feiern im Oktober ihr 75-jähriges Bestehen. Lisa Heemann, Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), spricht über die Herausforderungen durch Corona, die Arbeit der UNO im Stillen und darüber, wie sie in den nächsten Jahrzehnten eine Zukunft haben kann. Interview: Malte Göbel
gen Vertragsorgane zuständig, also Ausschüsse mit Expertinnen und Experten, die detailliert Menschenrechtsverletzungen verfolgen und das gegenüber den einzelnen Staaten auch nachhalten. Wenn alle Staaten Teil des Prozesses sind, besteht die Chance, dass sie sich als Teil eines gesamten Systems empfinden und Sachen mittragen. Diktaturen und Demokratien sind also gleichberechtigt? Ja. Diese Idee der Gleichberechtigung der Länder führt auch dazu, dass ein großes Land wie China in der Vollversammlung genauso viele Stimmen hat wie die kleine Insel Nauru. Es ist ein staatenbasierter Ansatz – Staaten sind die Subjekte des Völkerrechts. Das hat sich in den vergangenen 75 Jahren allerdings ein bisschen geändert, auch durch die Menschenrechte und das Verständnis, dass Individuen Rechtsträger sind. Es
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gibt zum Beispiel inzwischen Mechanismen wie das Internet Governance Forum, wo sich Vertreterinnen und Vertreter aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft treffen, um über Herausforderungen, Probleme und mögliche Lösungen zu diskutieren. Die Entscheidungen treffen letztlich aber doch die Staaten. Aber es gibt auch andere Ideen, wie zum Beispiel die Weltbürgerinitiative oder eine parlamentarische Versammlung. Also quasi ein Weltparlament? Die Idee eines Parlaments bei den UN als Korrektiv und Ort für Debatten hat Charme. Es gäbe dann die Generalversammlung mit einer Stimme pro Staat und daneben eine nach bestimmten Kriterien zusammengesetzte parlamentarische Versammlung mit Abgeordneten. Knifflig ist nur, wer wie viele Abgeordnete entsenden darf: Hängt das von der Größe des Landes ab, von der Wirtschaftskraft oder davon, ob es sich an die Menschenrechte hält? Aber es lohnt sich, diese Diskussion zu führen.
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Was ist die Weltbürgerinitiative? Die Weltbürgerinitiative will die Vereinten Nationen näher an die Menschen und an die Zivilgesellschaft führen und es ihnen ermöglichen, Themen auf die Tagesordnungen von Generalversammlung oder Sicherheitsrat zu setzen. Das würde widerspiegeln, was ohnehin passiert: An vielen Stellen haben Menschen oder zivilgesellschaftliche Organisationen schon Partizipationsmöglichkeiten gefunden, das wird also in der Praxis schon gelebt. Es scheint viele Vorschläge zu geben, die UN zu ändern. Ja, in der Kampagne Together First haben sich viele zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen, um die Reformdiskussion voranzutreiben. Sie haben zehn Punkte zusammengetragen, die es zu diskutieren lohnt. Gefordert wird etwa eine zentrale Anlaufstelle zu Fragen von zivilgesellschaftlichem Engagement im Rahmen der UN – eine Person, die das koordiniert und bündelt und bei Problemen einschreiten kann. Was sollte noch getan werden? Es scheint trivial, aber es ist unglaublich wichtig, dass die Vereinten Nationen so finanziert sind, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden können. Nötig ist ein höherer Anteil von nicht zweckgebundenen Mitteln, und das Geld muss zuverlässig und pünktlich kommen. Das ist leider nicht immer der Fall. So muss zum Beispiel das Flüchtlingshilfswerk UNHCR oft von Woche zu Woche entscheiden, wie viele Essensrationen es verteilen und wie viele Menschen es versorgen kann. Auch das Menschenrechtssystem ist schlecht finanziert, manchmal können Ausschüsse nicht tagen, weil schlicht das Geld für die Übersetzung fehlt.
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Was ist mit den Strukturen und Gremien? Natürlich sehen wir als DGVN Verbesserungsbedarf, zum Beispiel beim Sicherheitsrat oder beim Thema Klima. Ein Arbeitskreis aus DGVN-Mitgliedern hat zum 75-jährigen Jubiläum Vorschläge entwickelt, welche Reformen möglich sind, ohne die UN-Charta ändern zu müssen, denn das ist unrealistisch. Sollte man das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates abschaffen? Ich fände es sinnvoll, aber die ständigen Mitglieder würden es nicht mitmachen. Es gibt Initiativen, bei Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf das Vetorecht zu verzichten. Frankreich hat das zugesagt, die anderen Vetomächte nicht. Sie arbeiten nur unter der Bedingung mit, dass sie ein Veto einlegen können. Das muss man so hinnehmen: Man muss sicherstellen, dass alle es mittragen, sonst ist die Stimme des Sicherheitsrats nicht mehr relevant. Im Sicherheitsrat sind Staaten aus Afrika oder Südamerika nur als nichtständige Mitglieder vertreten. Ist das nicht überholt? Absolut. Vor ein paar Jahren war die Diskussion schon so weit, dass man den Sicherheitsrat regional repräsentativer macht, die Entscheidungen besser strukturiert und das Vetorecht einrahmt. Aber vor allem die Vetomächte blockieren das, man muss sich also darauf konzentrieren, wie man den Sicherheitsrat in den bestehenden Strukturen effektiver und transparenter macht. Wie könnte das gelingen? Wenn der Sicherheitsrat blockiert ist, kann die Generalversammlung handeln. Zu Syrien hat die Generalversammlung einen Mechanismus eingesetzt, der die Menschenrechtsverlet-
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IDEEN FÜR EINE UNO-REFORM
zungen dokumentiert und die Grundlage für spätere Gerichtsprozesse schafft. Ein weiteres Beispiel ist die Wahl des UN-Generalsekretärs. Bisher hat der Sicherheitsrat diese Personalie unter sich ausgemacht, 2016 gab es erstmals eine öffentliche Diskussion, welche Wünsche an diese Position gerichtet werden.
Zehn Ideen der Kampagne Together First, wie die UN die Welt sicherer, fairer und gerechter machen können: 1. Ein Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft 2. Ein UN-Jugendrat 3. Unabhängiges und prinzipientreues UN-Personal 4. Haftbarmachung von Staaten für globale Schäden 5. Ein Sicherheitsrat, der handelt – oder den Weg zum Handeln frei macht 6. Stärkung der Kommission für Friedenskonsolidierung 7. Friedenssicherung, die sich an den Menschen orientiert 8. Ein integriertes Herangehen an Klimaschutz und Sicherheit 9. Ein Verbot von Killer-Robotern 10. Ein Verbot von Atomwaffen
Weil das System Gutes bewirkt? Weil die Beschlüsse der UN langfristig wirken. Man kann kaum beschreiben, wie viel ein gedruckter Text als Rückenwind für Menschen wert ist, wie sehr er für Leute vor Ort einen Unterschied machen kann. In Südafrika traf ich eine Frau, die immer die dortige Verfassung bei sich trug, um das Recht ihrer Gemeinschaft auf ihr traditionelles Land durchzusetzen. Sie erzählte mir: Wann immer nötig, ziehe sie die Verfassung aus ihrer Handtasche, haue darauf und sage: Wir haben hier eine Verfassung! So wirken auch UN-Dokumente. In Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention einiges ausgelöst, was überfällig war: die Inklusion am Arbeitsplatz, die Auflösung von Sonderschulen und bauliche Maßnahmen wie barrierefreie Zugänge. Inzwischen ist das Pflicht, der Impuls kam von den UN. Das dauert lange. Aber es ist die Macht der Norm, die da wirkt.
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LISA HEEMANN UND DIE DGVN
Foto: DGVN
Illustrationen: Jens Bonnke
Das sind kleine Schritte angesichts der Kritik an den großen Strukturen. So verständlich und offensichtlich die Kritik oft ist: Diese Friedens- und Sicherheitsarchitektur beruht darauf, dass nur der Sicherheitsrat über Gewaltanwendung entscheiden kann, und dass ansonsten ein Gewaltverbot gilt. Es gibt im Augenblick kein besseres System. Ich glaube fest an die UN-Charta.
Dr. Lisa Heemann ist seit 2016 Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Die DGVN informiert die deutsche Öffentlichkeit über Ziele, Institutionen und Aktivitäten der Vereinten Nationen und regt Diskussionen an. Ein Arbeitsschwerpunkt ist die kritische Begleitung der deutschen UN-Politik. Die DGVN ist ein gemeinnütziger Verein und hat knapp 2.000 Mitglieder. Im Internet: dgvn.de.
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Nirgendwo sicher
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Abdelsalam Kesha träumte von einem demokratischen Sudan. Dafür ging er auf die Straße. Am 3. Juni 2019 wurde er bei einer Demonstration erschossen. Inzwischen ist er für viele Menschen eine Ikone. Aber seine Familie, Freundinnen und Freunde fragen sich: Wofür starb Kesha? Von Bartholomäus von Laffert Vorsichtig fährt Iman Osama über die Konturen des Gesichts des jungen Mannes, das an die Wand der Universität Khartum gesprüht worden ist. Das Bild befindet sich dort, wo die Straße Al Imam al Mahdy einen Knick macht und auf die Nilstraße trifft. Vor einem Jahr stand dort eine Barrikade aus Metallstangen und Betonklötzen, um Demonstrierende und Militärs zu trennen, jetzt rauscht ein Militärtruck vorbei. »Wir hätten zusammen sterben sollen«, sagt die junge Frau mit den kurzen, dunklen Locken. Osama hatte Abdelsalam Kesha am 2. Juni 2019 spätabends ein letztes Mal umarmt, bevor sie nach Hause ging. Sieben Stunden später war ihr Freund tot. Ermordet im Alter von 25 Jahren durch zwei Schüsse: einen ins Bein, einen durch die Brust und mitten ins Herz. Er starb am frühen Morgen des 3. Juni in einem Krankenhaus. Im Dezember 2018 begann im Sudan der Aufstand gegen das Regime. Zur Wut über die schlechte ökonomische Situation mischte sich Hass auf das System. Diesmal wollten die Demonstrierenden keine Reformen. Sie wollten den Sturz des Diktators Omar al-Baschir, der das Land seit 30 Jahren beherrschte und gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorlag. Am 6. April 2019 zogen mehr als eine Million Sudanesinnen und Sudanesen vor das Militärhauptquartier in Khartum. Sie forderten Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und immer wieder: »Madaniyye!« (Zivilregierung). Tausende blieben bis in die Nacht. Sie blockierten die Straßen, errichteten Zelte und Pavillons. Es begann ein riesiges friedliches Sit-in, erzählt Iman Osama, so groß, dass man länger als eine Stunde benötigte, um es zu Fuß zu durchqueren. Kesha und Iman saßen in diesen Nächten oft gemeinsam auf den Barrikaden. Am 11. April putschte das Militär und übernahm den Staat, doch die Demonstrierenden blieben. Sie wollten nicht enden wie in Ägypten. Sie wollten keine weitere Militärdiktatur. Sie träumten von »Madaniyye«.
Von der Utopie zum Sudan Amna Bihayr und Abdelsalam Kesha Senior stehen im Zimmer ihres Sohns vor einem kleinen Schrein. Bilder in vergoldeten Rahmen zeigen Kesha als Studenten mit dünnem Schnauzer, als Grundschüler im schwarzen Anzug, als Baby im weißen Strampler. »Kesha konnte Unrecht nicht ausstehen«, sagt die Mutter. Als Kleinkind lauschte er den Gesprächen der kommunistischen Freunde seines Vaters, die von al-Baschir verfolgt wurden. Als Grundschüler protestierte er, weil die Lehrer südsudanesische Mitschüler diskriminierten. Mit 16 wurde er politisch aktiv, sprach vor Schülerversammlungen und wetterte gegen das Regime. Er wurde mehr als 20 Mal festgenommen, aber als Freunde
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des Vaters anboten, ihm ein Visum fürs Ausland zu beschaffen, lachte er sie aus. Mit Anfang 20 brach er sein Physikstudium ab, um Jura zu studieren. Er schwor sich, al-Baschir eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen. »Als Gott die Angst verteilt hat, hat er Kesha vergessen«, sagt sein Vater. Seine Freundinnen und Freunde berichten, Kesha habe davon geträumt, dass die Revolutionärinnen und Revolutionäre der Straße den Sudan beherrschen, angeführt von den Widerstandskomitees, die sich in den Jahren zuvor überall im Land heimlich gebildet hatten. Kesha wollte aus dieser Utopie im Kleinen etwas für den Sudan im Ganzen machen. Hunderte, die seine Reden beim Sit-in oder im Internet verfolgten, pflichteten ihm bei. Keshas Eltern sahen ihn am 1. Juni 2019 zum letzten Mal. Seine Mutter hatte ihn gebeten, nach fast zwei Monaten wieder mal heimzukommen. Es gab sein Lieblingsessen Nemenya, ein Gericht aus Erdnüssen, Joghurt und Reis. Doch Kesha hatte keinen Appetit. Um halb neun sank er erschöpft auf das Metallbett, das noch immer im Vorraum der Küche steht. Und als er zweieinhalb Stunden später erwachte, hatte er es eilig. Er trat durch die Küchentür nach draußen und brüllte so laut »Madaniyye!«, dass sein Vater fluchend erwachte. Dann verschwand Kesha in die Nacht. Am 3. Juni um fünf Uhr früh stürmten Sicherheitskräfte das Sit-in. Manche trugen die Uniformen der Polizei, manche dunkle Camouflage des Militärs, manche das Beige der Rapid Support Forces, jener Miliz al-Baschirs, die einst unter dem Namen »Janjaweed« agierte und für den Genozid in Darfur verantwortlich gemacht wird. Statt wie die meisten Demonstrierenden zu fliehen, rannte Kesha zu den Barrikaden, um seine Utopie zu retten. Dann trafen ihn Schüsse. Die Sicherheitskräfte töteten an diesem Morgen mindestens 128 Menschen. Sie vergewaltigten mindestens 70 Frauen und Männer. Noch heute werden zahlreiche Menschen vermisst.
Foto: Helena Lea Manhartsberger
Keshas Erbe
»Nichts hat sich geändert. Nichts, außer dass unsere Kinder tot sind.« Keshas Mutter AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Ballons als Erinnerung an Kesha und andere. Iman Osama in Bahri in der Nähe von Khartum.
General Hamdan Dagalo an der Macht Seit dem Massaker hat sich der Sudan gewandelt. Über die Veränderungen gibt es verschiedene Erzählungen. Die populärste handelt von der Übergangsregierung aus Experten, Expertinnen und Militärs, die seit mehr als einem Jahr herrscht. Von der Abschaffung einiger Gesetze, die Frauen jahrzehntelang unterdrückten. Vom Verbot der Genitalverstümmelung. Von Pressefreiheit nach 30 Jahren Diktatur. Und von der Ankündigung, alBaschir an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Dann sind da Geschichten, die sich die Revolutionärinnen
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und Revolutionäre erzählen: von progressiven Kräften, die sich bei Verhandlungen vom Militär über den Tisch ziehen ließen. Von einem Land am Geldtropf von Saudi-Arabien und Katar, das seine Kinder nach Libyen schickt, um dort fremder Mächte Krieg auszutragen. Ein Staat, der al-Baschir nicht ausliefern wird, weil dessen enge Vertraute noch in der Regierung sitzen. Und von einem der wichtigsten Männer dieses neuen Staates: General Hamdan Dagalo, genannt Hemetti, Anführer der Rapid Support Forces und Vizepräsident des Sicherheitsrates. Er soll das Massaker am 3. Juni befehligt haben. Hemetti ist nach Ansicht der Revolutionärinnen und Revolutionäre der Grund dafür, warum es immer noch keine Anklage gibt – trotz Tausenden von Beweisvideos und Dutzenden von Zeugenberichten. Das Komitee, das die Regierung im Oktober 2019 berief, um das Massaker aufzuklären, sollte seinen Abschlussbericht im Januar 2020 vorlegen. Aus Januar wurde April und aus April Juni. Inzwischen glaubt kaum jemand mehr daran, dass der Bericht erscheinen wird. »Das Komitee steckt in der Zwickmühle«, sagt der sudanesische Politikwissenschaftler Magdi al Gizouli. »Sie können die Schuldigen nicht benennen, weil die Teil der Regierung sind – und auf andere können sie die Verantwortung nicht abschieben, weil sonst die Bevölkerung wieder auf die Straße geht. Also machen sie nichts.« Keshas Mutter schreibt ein Jahr nach dem Massaker: »Nichts hat sich im Sudan verändert. Nichts, außer, dass unsere Kinder tot sind.« Was von Abdelsalam Kesha geblieben ist, sind Bilder an den Hauswänden. Erinnerungen daran, dass ein anderer Sudan möglich ist. An der Fassade der Universität Khartum prangt sein Gesicht neben anderen, die am 3. Juni ermordet wurden. Auf dem Graffiti hat er den Blick zum Himmel gerichtet, den Mund weit aufgerissen, als würde er schreien. Als würde er den Revolutionärinnen und Revolutionären Mut zurufen und die Mächtigen warnen. »Madaniyye!« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Schon seit vielen Jahren engagiert sie sich gegen Genitalverstümmelung. Jawahir Cumar, Gründerin des Vereins stop mutilation e.V., im Jahr 2009.
In den Ferien beschnitten Weibliche Genitalverstümmelung ist nicht auf afrikanische und asiatische Länder beschränkt. In Deutschland finden Verstümmelungen heimlich statt, oder die Mädchen werden ins Ausland gebracht. Dass dies nach deutschem Recht strafbar ist, wissen viele Familien nicht. Von Patricia Hecht Jawahir Cumar war fünf Jahre alt, als ihre Großmutter sie zu einem Gynäkologen in der somalischen Hauptstadt Mogadischu brachte. »Ich hatte Glück, dass ich bei diesem Arzt war und nicht bei einer traditionellen Beschneiderin«, sagt Cumar heute. Sie
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bekam eine Narkose. Als sie aufwachte, waren ihre Beine von der Hüfte bis zu den Knöcheln zusammengebunden. »Ich hatte höllische Schmerzen.« Cumar hat erlitten, was auch »Pharaonische Beschneidung« genannt wird und die schwerste Form weiblicher Genitalverstümmelung darstellt. Dabei wird die Klitoris herausgeschnitten und die inneren und äußeren Schamlippen entfernt. Nachdem die Wunde zugenäht ist, bleibt nur eine winzige Öffnung, um tröpfchenweise urinieren zu können. Die Mädchen erleiden die Verstümmelung oft bei vollem Bewusstsein. »Wer nicht be-
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Foto: David Ebener / dpa / pa
»Wir wollen Mädchen und junge Frauen schützen und ihnen Hilfe anbieten.« Franziska Giffey schnitten ist, gehört in Somalia nicht zur Gesellschaft und kann nicht verheiratet werden«, sagt Cumar. »Aber über die Praxis an sich herrscht Schweigen.« Mit elf Jahren kam Cumar mit ihrer Familie nach Deutschland und wuchs in Nordrhein-Westfalen auf. Als sie mit 14 ihre Menstruation bekam, wurde sie im Sportunterricht ohnmächtig und musste ins Krankenhaus. »Mir war nicht bewusst, dass mit mir etwas anders war als mit den anderen«, sagt sie. Schließlich wurde klar, dass sich Zysten gebildet hatten und das Menstruationsblut nicht herausfließen konnte. »Seitdem ist weibliche Genitalverstümmelung mein Thema.« 1996 gründete Cumar stop mutilation e. V. in Düsseldorf, einen gemeinnützigen Verein. Und 2009 eröffnete sie eine Beratungsstelle, zunächst für betroffene Frauen und Mädchen, später wurde sie auch Anlaufstelle für Fachkräfte. »Wir arbeiten vor allem in der Prävention«, sagt Cumar. »Betroffene bekommen bei uns Begleitung, Hilfe und Schutz. Außerdem bilden wir Lehrerinnen, Erzieherinnen, Ärztinnen und Hebammen fort.« Mehr als 900 Personen hat der Verein allein 2019 beraten. Denn weibliche Genitalverstümmelung kommt keineswegs nur in afrikanischen oder asiatischen Ländern vor oder im Nahen Osten. »Die schwere Menschenrechtsverletzung ist in unserer Nachbarschaft unmittelbar präsent«, sagt Charlotte Weil von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Die Folgen für Betroffene: Traumata, Infektionsgefahren, Probleme beim Urinieren, Schmerzen beim Sex oder Gebären. Schätzungen zufolge gibt es weltweit mehr als 200 Millionen Betroffene, die Dunkelziffer liegt höher. Für Deutschland geht Terre des Femmes von mindestens 20.000 bedrohten Mädchen und knapp 75.000 betroffenen Frauen aus. Die Zahlen steigen seit Jahren. »Das liegt daran, dass Menschen aus Ländern migrieren, in denen weibliche Genitalverstümmelung stark verbreitet ist«, sagt Weil: Aus Somalia zum Beispiel, Eritrea, Irak oder Nigeria. Seit 1998 veröffentlicht Terre des Femmes jährlich diese sogenannte Dunkelzifferstatistik für Deutschland. Zugrunde gelegt werden die Raten von Betroffenen aus den Herkunftsländern, die zumeist auf Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO oder des Kinderhilfswerks UNICEF basieren. So sind beispielsweise in Eritrea 83 Prozent der im Land lebenden Mädchen und Frauen beschnitten, in Indonesien knapp 90 Prozent. Seit 2013 ist weibliche Genitalverstümmelung ein eigener Straftatbestand in Deutschland, Haftstrafen von bis zu 15 Jahren drohen denen, die sie vornehmen. Doch anders als in Frankreich oder Großbritannien ist hierzulande noch kein Fall vor Gericht gebracht worden. »Die Praxis ist stark tabuisiert und wird meist im Verborgenen durchgeführt«, sagt Charlotte Weil. »Zu viele Fachkräfte im pädagogischen Bereich können außerdem die Zeichen nicht deuten, wenn ein akuter Fall oder eine Bedrohung vor-
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liegen, sodass es nicht zur Anzeige kommt.« Typisch seien etwa »Ferienbeschneidungen«, in denen die Mädchen ins Ausland gebracht und dort verstümmelt werden. »Nach den Ferien kommen die Mädchen dann völlig verstört zurück in den Unterricht«, sagt Weil. »Ein Signal, auf das Lehrkräfte reagieren sollten.«
»Tief verwurzelte Traditionen brechen« Auch Verstümmelungen im Ausland sind nach deutschem Recht strafbar. Viele Familien wüssten das aber gar nicht, sagt Cumar. Wenn zum Beispiel eine junge Frau in ihrer Beratungsstelle anrufe und sage, sie habe mitbekommen, dass ihre kleine Schwester in den Ferien beschnitten werden soll, sei es vor allem wichtig, schnell zu handeln. Für stop mutilation e. V. arbeiten Beraterinnen, die nahezu jede Sprache der Länder sprechen, in denen Verstümmelung praktiziert wird. Die Beraterin ruft in der Familie an und stellt sich als Mitglied der Community vor. Dann geht es darum, Vertrauen aufzubauen, aufzuklären und Hilfe anzubieten. Manchmal komme es vor, dass die Älteren in der Community Druck ausübten, die Eltern aber gar nicht überzeugt seien, ihre Kinder der Prozedur auszusetzen, sagt Cumar. »Wir arbeiten daran, diese tief verwurzelten Traditionen zu brechen.« Auf politischer Ebene rückte das Thema in Deutschland in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus. Mehrere Bundesländer stellten Geld für Präventionsprojekte zur Verfügung. In Berlin gibt es seit Mai eine landesweite Koordinierungsstelle für Aktivitäten gegen weibliche Genitalverstümmelung. 2017 wurde ein Gesetzeszusatz verabschiedet, der besagt, dass Eltern der Pass entzogen werden kann, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass Familien mit einem Kind ausreisen wollen, um es verstümmeln zu lassen. Nach dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen (Istanbul-Konvention) ist die Bundesregierung verpflichtet, gegen die Praxis vorzugehen. »Unser Ziel ist es, dass keine weiblichen Genitalverstümmelungen mehr in Deutschland stattfinden«, hieß es kürzlich in einer Pressemitteilung von Frauenministerin Franziska Giffey (SPD). »Wir wollen Mädchen und junge Frauen davor schützen und ihnen Hilfe anbieten.« Das Ministerium leitet eine BundLänder-Arbeitsgruppe, in der ein »Schutzbrief« als Präventionsinstrument diskutiert wird. Mit Informationen über drohende Strafen sollen Familien, die in ihre Heimatländer reisen, von Verstümmelungen abgehalten werden. »Trotzdem würden wir uns wünschen, dass der Bund aktiver wäre«, sagt Weil. Ein koordinierter Ansatz fehle bislang. Wichtig sei Geld für mehr qualitative Forschung, um genauere Daten zur Situation in Deutschland zu bekommen. »Dann könnten wir unsere Arbeit besser auf die Bedürfnisse von bedrohten oder betroffenen Mädchen und Frauen abstimmen.« Jawahir Cumar wurde für ihr Engagement 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ihr Verein arbeitet nicht nur in Deutschland, sondern auch in Somalia: Voraussichtlich Ende 2020 oder Anfang 2021 will sie dort eine aus Spenden finanzierte Klinik für betroffene Frauen und Mädchen eröffnen. »Medizinische Geräte haben wir von einem Düsseldorfer Krankenhaus bekommen, einen Brunnen müssen wir noch bauen«, sagt sie. Ihre Arbeit in Deutschland sei wichtig. In Somalia aber seien noch immer 98 Prozent aller Mädchen und Frauen beschnitten. Die Klinik soll ein zentraler Ort werden, um medizinische Hilfe und Aufklärungsarbeit zu leisten. »Wir wollen versuchen, das Übel an der Wurzel zu packen.«
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WAS TUN
Denker fragen: Seyla Benhabib Setzt Globalisierung einen Kosmopolitismus denn voraus? Nein. Die Art von Globalisierung, die wir in den vergangenen 40 Jahren erlebt haben, war eine von freien Märkten, eine neoliberale Globalisierung. Die Hoffnung war, dass sie eine verallgemeinerte Menschenrechtskultur mit sich bringen würde. Doch diese Art von Globalisierung hat auch zur Entstehung von nationalistischen Interessen geführt – und damit zu Konkurrenz. In Zeiten von Corona ist von Deglobalisierung die Rede. Leidet der kosmopolitische Gedanke? Ja, das kann man so sehen – jedenfalls auf den ersten Blick. Es wird eine Deglobalisierung geben in dem Sinne, dass nationalistische Maßnahmen zunehmen. Aber nur teilweise, weil die Weltwirtschaft nun mal global ist. Vielleicht werden einige Industriebranchen versuchen, sich abzukoppeln. Eine Deglobalisierung im Sinne eines Rückzugs in die eigenen vier Wände wird es aber nicht geben. Interview: Lea De Gregorio Seyla Benhabib ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Yale und Herausgeberin der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Ihr Buch »Kosmopolitismus ohne Illusion« ist im Suhrkamp Verlag erschienen.
Foto: Rolf Vennenbernd / dpa / pa
Sie vertreten einen »Kosmopolitismus ohne Illusion«. Was meinen Sie damit? Man denkt oft, Kosmopolitismus impliziere eine Weltlage ohne Konflikte, ohne Feindschaft und ohne Konkurrenz. Doch das wäre eine schlechte Utopie. Kosmopolitismus ohne Illusion heißt, dass es keine Politik ohne Konflikte gibt. Auch wenn man sich dauerhaften Frieden wünschen würde. Was heißt das konkret? Für mich sind drei Thesen wichtig. Die erste orientiert sich an der Moralphilosophie: Die Menschenwürde ist universell. Zweitens vertrete ich die These, dass alle Kulturen im Austausch stehen und der Gedanke von einer reinen Kultur eine böse Mythologie ist, die Menschen verführt. Die dritte These hebt auf den rechtlichen Aspekt von Kosmopolitismus ab: Alle Menschen sind als solche rechtswürdig – nicht weil sie eine nationale Staatsbürgerschaft haben, sondern weil sie Menschen sind. Wie lässt sich die Spannung zwischen universellen Rechten und staatlicher Souveränität auflösen? Ich hoffe mehr auf eine kosmopolitische Kultur als auf die Abschaffung staatlicher Ordnungen. Abschaffen lässt sich eine staatliche Souveränität ohnehin nicht. Ich bin außerdem der Meinung, dass eine territoriale Eingrenzung für demokratische Selbstbestimmung notwendig ist.
Das steckt drin: Tränengas Ob Demonstrationen in Hongkong, Venezuela, in den USA oder der Türkei: Amnesty Inte rnational hat in knapp 80 Fällen aus den Jahren 2016 bis 2020 den weltweiten Missbrauch von Tränenga s bei Polizeieinsätzen dokumentiert. Dabei wurd en zahlreiche Menschen verletzt, es kam auch zu Todesfällen. ichnet Amnesty Als Folter oder Misshandlung beze n Räumen, den enge in s enga den Einsatz von Trän Verwendung die , onen Pers von ss chu direkten Bes licher fried ss übermäßiger Mengen, den Beschu n, die sche Men n gege Proteste sowie den Einsatz für die sind r llige anfä oder en könn nicht gut fliehen zum ren u gehö Auswirkungen der Reizstoffe. Daz und Menschen n sche Men re älte er, Kind piel Beis mit Behinderungen.
Tränengas enthält chemische Reizs toffe. Am häufigs ten wird CS-Gas verwendet, 2-Chlor benzylidenmalonsäuredinitril. Erhi tzt reizt es stark und führt zu Husten, Atembeschw erden, tränenden und brennenden Augen sowie zu Ha utirritationen. In den meisten Fällen lassen die Effekte nach zehn bis zwanzig Minuten nach.
ger dauerntionen oder ein län Höhere Konzentra zu schweh oc offe können jed St r de z at ns Ei r de ungen führen: en Beeinträchtig ren gesundheitlich ge und Lunge, ngen der Atemwe Asthma, Verletzu Es kann n und Erblinden. Augenerkrankunge kommen. nd ta rch Atemstills du d To m zu ch au Es gibt so gut wie keine Transparenz, was die Produktion von Tränen gas betrifft. Die Konze ntration des Reizstoffes in den Produkten variier t erheblich, und die Unter nehmen sind nicht ver pflichtet, die Inhaltsst offe offenzulegen.
rollen für soDerzeit prüft die UNO Handelskont andere und fen genannte weniger tödliche Waf er und Folt für sie dass rn, Güter, um zu verhinde Vollzur ie sow g dlun han Miss der andere Formen en. werd et streckung der Todesstrafe verwend ga Research Amnesty International und die Ome s und anenga Trän uf, dara Foundation drängen n in uhe Unr von fung ämp Bek dere Mittel zur en. zieh ube einz men nah Maß geplante
Quellen: Amnesty, Physicians for Human Rights, U.S. Center for Disease Control and Prevention Foto: Amnesty
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Malen nach Zahlen: Corona in Slums Im Juli 2020 haben indische Forscher untersucht, wie sich das neuartige Corona-Virus in der Millionenstadt Mumbai verbreitet. Die Bewohner von Slums und die Bewohner anderer Wohngebietes sind unterschiedlich gefährdet.
57%
Indien Mumbai
der Bewohner von drei Slums in Mumbai haben sich mit dem Corona-Virus infiziert.
Dharavi
Chembur
Matunga
16% waren es in Mumbai außerhalb der Slums.
Mumbai
Quelle: Tata Institute of Fundamental Research
Besser machen: Kinderarbeit Kinder leiden besonders unter der Covid-19-Pandemie. In vielen Ländern waren oder sind Schulen und Freizeiteinrichtungen geschlossen. Wirtschaftliche Folgen sorgen dafür, dass Kinderarbeit, die seit 2000 rückläufig war, wieder zunimmt. D Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeitet fast jedes 10. Kind weltweit unter Bedingungen, die die UN-Kinderrechtskonvention verletzen. Kinderarbeit gefährdet unter anderem die Rechte auf Bildung und Entwicklung. D Fast die Hälfte der weltweit 152 Millionen arbeitenden Kinder, schätzt UNICEF, leidet unter gefährlichen oder ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, etwa in Goldminen, in der Textilbranche oder auf Kakaoplantagen.
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WAS TUN
D Ein generelles Arbeitsverbot würde die Lage der Kinder allerdings nicht verbessern, warnen die Christliche Initiative Romero und UNICEF. Es könnte sogar bewirken, dass noch mehr Kinder in illegale und schwer kontrollierbare Bereiche wie Prostitution geraten oder als Haushaltssklaven missbraucht werden. D Um die Lage der Kinder zu verbessern, müsse die existenzielle Not der Familien gelindert werden. Deshalb fordern viele Initiativen ein Lieferkettengesetz, dass deutsche Firmen verpflichtet, bei der Produktion im Ausland menschenrechtliche Standards zu erfüllen. Bisher zögerte die Bundesregierung, ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Nachdem freiwillige Verpflichtungen scheiterten, will sie jetzt aber handeln.
RASSISTISCHE POLIZEIGEWALT IN DEN USA BEENDEN! Nach der Tötung von George Floyd sind Millionen Menschen auf die Straßen gegangen: Sie fordern Gerechtigkeit und ein Ende der rassistischen Polizeigewalt. Viele Menschen, die sich dafür einsetzen, wurden selbst mit polizeilicher Repression konfrontiert. Fordere die US-Behörden auf, die US-Polizei nachhaltig zu reformieren. Die Menschenrechtsverletzungen und rassistische Polizeigewalt müssen aufhören!
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»Nutzt eure Rechte!« Seit auf den Philippinen Rodrigo Duterte regiert, werden Oppositionelle zu Feinden und Kriminellen gemacht. Kritische Journalistinnen und Journalisten spüren das besonders. Nun hat es Maria Ressa getroffen. Von Felix Lill
Ihr drohen sechs Jahre Haft. Maria Ressa im Jahr 2019.
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»Wenn wir die Macht im Land nicht kontrollieren können, können wir gar nichts mehr tun«, sagte Maria Ressa, eine der prominentesten Journalistinnen der Philippinen, Mitte Juni in Manila. »Die Pressefreiheit ist die Grundlage für jedes einzelne Recht, das wir als philippinische Staatsbürger haben.« Die Frau mit der randlosen Brille und den kurzen Haaren reagierte damit auf die Entscheidung eines Gerichts, das sie wegen »Verleumdung im Internet« verurteilt hatte: »Werden wir die Pressefreiheit verlieren? Wird es ein Tod durch tausend Schnitte sein? Oder werden wir dranbleiben und die Rechte schützen, die unsere Verfassung garantiert?« Maria Ressa drohen bis zu sechs Jahre Haft, weil sie in dem von ihr gegründeten Onlinemagazin Rappler einen Artikel veröffentlicht hatte, der einem Unternehmer und einem Richter Korruption vorwarf. Ressa will das Urteil anfechten, es kann jedoch bereits jetzt als Warnschuss für die gesamte Branche gelten: Unter Präsident Rodrigo Duterte hat sich die Pressefreiheit deutlich verschlechtert. Immer wieder nahmen die Behörden einzelne Medien ins Visier, wie die Zeitung Philippine Daily Inquirer (im Jahr 2017) und die Rechercheverbände Vera Files (2018) und Philippine Center for Investigative Journalism (2019). Dem Fernsehsender ABS-CBN wurde im Frühjahr 2020 die Verlängerung der Sendelizenz verweigert, und Rappler war in den vergangenen zwei Jahren elf Mal von Klagen, Rügen und Untersuchungen betroffen. Präsident Duterte unterstellte dem Onlinemagazin gar, es gehöre ausländischen Geheimdiensten. Das Vorgehen der Behörden folgt einem klaren Muster: Wer kritisch berichtet, wird als Feind des Präsidenten betrachtet und kriminalisiert. Auch wenn, wie im Fall Ressa, die rechtliche Basis äußerst dünn ist. Denn als der kontroverse Text 2012 erstmals erschien, war das Gesetz gegen Cyberkriminalität, auf dessen Grundlage die Journalistin verurteilt wurde, noch gar nicht verabschiedet. Nachdem ein Gericht die Klage deshalb im Jahr 2017 zunächst abgelehnt hatte, wurde sie später doch angenommen.
Foto: Tania / Contrasto / laif
Allgegenwärtige Todesschwadrone Man kann über diese Entwicklung schockiert sein, sie ist jedoch kaum überraschend. Duterte wurde im Frühjahr 2016 zum Präsidenten gewählt, nachdem er in seiner Wahlkampagne versprochen hatte, Drogenabhängige zu erschießen. Zuvor hatte er die Stadt Davao als Bürgermeister 22 Jahre lang mit harter Hand regiert und sie in einen vermeintlich sicheren Ort verwandelt. Mit seiner vulgären Ausdrucksweise distanzierte er sich von seinen Amtsvorgängern, die von der Bevölkerung als abgehoben wahrgenommen wurden. Duterte gerierte sich hingegen als Mann des Volkes. Kurz nach seiner Wahl machte er seine Versprechen wahr. Er rief einen »Anti-Drogen-Krieg« aus, in dem seit 2016 Zehntausende Menschen getötet wurden. Zu Beginn der Corona-Krise drohte der Präsident erneut mit Erschießungen – sollten einzelne Personen die Quarantänevorschriften nicht einhalten. Medien wie Rappler haben immer wieder berichtet, dass es eine Verbindung gibt zwischen Todesschwadronen, die Menschen erschießen, und der Regierung. Zuletzt wurden im August die Menschenrechtlerin Zara Alvarez und der Friedensaktivist Randall Echanis von Unbekannten ermordet. Beide standen zuvor auf einer staatlichen schwarzen Liste. Duterte will die Verbreitung solcher Informationen unterbinden und diejenigen, die sie dennoch verbreiten, müssen dafür einen hohen Preis bezahlen. Man könne durchaus von einer Politisierung der Justiz spre-
PHILIPPINEN
Wer kritisch berichtet, wird als Feind des Präsidenten betrachtet und kriminalisiert. chen, sagt der Journalist Jason Baguia, der an der University of the Philippines in Cebu Medienfreiheit lehrt. »Wenn es um Oppositionelle geht, wird das Recht gebeugt, während die Behörden bei Unwahrheiten, die im Sinne der Regierung online verbreitet werden, nicht so schnell reagieren.« Auch darüber haben die Journalisten von Rappler berichtet – wie die Regierung Trolle und Bots einsetzt, um den Diskurs im Internet zu ihren Gunsten zu lenken. »Das ist ein Grund, warum Duterte so beliebt ist«, urteilte die liberale Politikerin und Duterte-Gegnerin Leila de Lima schon zu Beginn seiner Präsidentschaft. Sie erlebt bereits, was Ressa noch erwartet: Sie sitzt im Gefängnis, nachdem ihr Drogenhandel vorgeworfen worden war. Eine unabhängige Justiz wäre wohl nicht zum diesem Urteil gekommen.
Marcos und Duterte Unter Duterte sind die Philippinen auf dem Weg in den Autoritarismus. Es ist gut möglich, dass es nicht bei der Schwächung von Justiz und Medien bleibt. Seit er und seine politische Gefolgschaft bei der Zwischenwahl zum Senat im Frühjahr 2019 erneut große Erfolge einfuhren, werden auch die Parlamentskammern von ihm kontrolliert. Damit ist Duterte auch seinem Ziel näher gekommen, die Todesstrafe wieder einzuführen. Und er könnte eine Verfassungsrevision in Angriff nehmen, die dem Präsidenten weitere Befugnisse erteilen würde. Duterte hat bislang zwar bestritten, dass er nach den sechs Jahren, die ein Präsident auf den Philippinen regieren darf, im Amt bleiben will. Doch selbst wenn er die Begrenzung auf eine Amtszeit nicht ändern würde, könnte er einflussreich bleiben, denn er hat eine politische Dynastie vorbereitet: Drei seiner Kinder sind bereits in der Politik. Seine Tochter Sara, die ihm im Bürgermeisteramt in Davao nachfolgte, wird als aussichtsreiche Kandidatin für die Präsidentschaft ab 2022 gehandelt. Zudem hat Rodrigo Duterte wiederholt seine Bewunderung für eine andere Politikerfamilie geäußert: die Familie Marcos, angeführt von Ferdinand Marcos, der das Land von 1965 bis 1986 diktatorisch regierte, und dessen politische Nachfahren zu den Unterstützern Dutertes zählen. Tatsächlich ähneln sich Marcos und Duterte. Beide gehen hart gegen Kritiker vor und zeigen an Demokratie und Menschenrechten wenig Interesse. »Vielleicht ist Duterte noch mächtiger als Marcos es war«, urteilte Maria Ressa im vergangenen Jahr. Aber einschüchtern lassen will sich die Journalistin nicht. Bei einer Pressekonferenz am Tag ihrer Verurteilung sagte sie auch noch: »Wenn du deine Rechte nicht nutzt, dann wirst du sie verlieren. Ich appelliere an euch alle, die Journalisten in diesem Raum und die Filipinos, die zuhören: Besteht auf euren Rechten.«
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PORTRÄT
Foto: Alberto Cristofari / Contrasto / laif
Konsequent gegen Folter Der Menschenrechtsanwalt Anwar Al-Bunni verteidigte in Syrien Tausende politische Gefangene. Nun versucht er von Berlin aus, die Verbrecher des syrischen Regimes zur Rechenschaft zu ziehen. Von Hannah El-Hitami Der Zuschauerraum ist voll, als Anwar Al-Bunni im Zeugenstand Platz nimmt. Zahlreiche Mitglieder der syrischen Exil-Opposition sind Anfang Juni nach Koblenz gekommen, um die Aussage des Menschenrechtsanwalts aus Damaskus zu hören. Mehr als 20 Jahre lang hat der 61-Jährige dort politische Gefangene vor Gericht vertreten. Nun ist er selbst als Zeuge geladen: zum ersten Verfahren weltweit, das sich mit staatlicher Folter in Syrien befasst und in dem zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter angeklagt sind. Al-Bunni soll den vier Richterinnen und einem Richter einen Einblick in die unterirdische Gefängniswelt des Assad-Regimes geben. Er kennt sie aus den Berichten Tausender Mandanten und aus eigener Erfahrung. Dass er einst zu den prominentesten Menschenrechtsanwälten seines Landes gehören würde, ahnte Al-Bunni wohl nicht, als er im Alter von 20 Jahren als Ingenieursgehilfe am Bau des Saydnaya-Gefängnisses mitarbeitete. »Wir empfanden das Gebäude damals als human. Nichts war unterirdisch, es gab Kinosäle und Sportplätze, Sonne und frische Luft in allen Zimmern«, erinnert er sich an das Gefängnis, das ein Amnesty-Bericht fast 30 Jahre später als »Schlachthaus für Menschen« bezeichnen sollte. Anfang der 1980er Jahre entschied sich Al-Bunni, an die Universität zurückzukehren, nachdem viele seiner Freunde und Geschwister verhaftet worden waren. »Es verschwanden einfach die ganze Zeit Menschen«, sagt er am ersten Tag seiner Vernehmung in Koblenz. »Ich bin Anwalt geworden, um meine Geschwister und Freunde zu beschützen.« Insgesamt hätten er und die Mitglieder seiner Familie 73 Jahre in syrischen Gefängnissen verbracht. Fünf Jahre davon war Al-Bunni selbst inhaftiert. Im Mai 2006 wurde er vor seinem Haus verschleppt und in eine der
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Geheimdienstzentralen gebracht. Er erzählt vor Gericht, wie er dem Chef der Zentrale vorgeführt wurde, der ihn fragte, was er mit Menschenrechten in Syrien wolle. »Ich sagte ihm, die Menschenrechtslage in Syrien sei exzellent, und die Tatsache, dass ich hier vor ihm stehe, sei der beste Beweis dafür«, sagt Al-Bunni lachend. Er erzählt auch vor Gericht gern mit einem Augenzwinkern, doch wenn es um das Leid seiner Mandanten geht, wird der Anwalt ernst. »Das Regime von Assad hätte ohne Verschwindenlassen und Folter kein Jahr überstanden«, sagt er und fügt hinzu, dass die Haftbedingungen seit 2012 noch unmenschlicher geworden seien. Es gebe Räume, in denen Gefangene nicht sitzen könnten, sondern Stunden und Tage im Stehen verbringen müssten. Es gebe keinerlei medizinische Versorgung, Tote würden oft tagelang in den Gemeinschaftszellen liegen gelassen. »Viele sind zusammengebrochen, gestorben oder haben den Verstand verloren.« Auch nach seiner Flucht nach Deutschland sieht er es als seine Aufgabe an, diesen Menschen beizustehen. Zwar ist er in Deutschland nicht als Anwalt zugelassen, doch ist er sehr gut vernetzt mit syrischen Oppositionellen und ehemaligen Inhaftierten, die in Syrien seine Mandanten waren. Viele Zeuginnen und Zeugen hat er an die deutsche Justiz vermittelt, die schon seit 2011 Beweise zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien sammelt. In Berlin hat Al-Bunni das Zentrum für juristische Studien und Forschung gegründet und bereitet gemeinsam mit dem European Center for Constitutional and Human Rights weitere Klagen gegen Anhänger des syrischen Regimes vor. »Dieser Prozess ist nur ein Schritt auf dem Weg zum Ziel«, sagte er Ende April auf dem Weg zum ersten Verhandlungstag in Koblenz.
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DRANBLEIBEN
Harte Urteile in der Türkei Amnesty-Aktive sind in der Türkei im Juli zu langen Haftstrafen verurteilt worden – eine Entscheidung, die Amnesty International scharf verurteilt. Der Ehrenvorsitzende von Amnesty International in der Türkei, Taner Kılıç, ist wegen angeblicher »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden, die ehemalige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser und die Amnesty-Mitglieder Özlem Dalkıran sowie Günal Kurşun wegen angeblicher »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« zu zwei Jahren und einem Mo-
nat Haft. Ihre Anwältinnen und Anwälte legten Berufung gegen das Urteil ein. Den deutschen Menschenrechtstrainer Peter Steudtner und fünf weitere Angeklagte hat das Gericht freigesprochen. Taner Kılıç war im Juni 2017 festgenommen worden, İdil Eser, Özlem Dalkıran und Günal Kurşun traf es im Juli desselben Jahres. Anfang Oktober 2017 hatte der Prozess gegen sie begonnen. Auch der Journalist Deniz Yücel ist im Juli verurteilt worden – zu zwei Jahren und neun Monaten Haft. Ihm wird Propaganda für die verbotene kurdische Arbei-
terpartei PKK vorgeworfen. Vom Vorwurf der Volksverhetzung und der Propaganda für die Gülen-Bewegung wurde Yücel freigesprochen. Der deutsch-türkische Journalist war rund ein Jahr ohne Anklage im Hochsicherheitsgefängnis Silivri inhaftiert. Er saß monatelang in Einzelhaft. Der Prozess in Istanbul begann im Juni 2018 in seiner Abwesenheit – Yücel war im Februar 2018 freigekommen und nach Deutschland zurückgekehrt. (»Der Präsident lässt säubern« und »Gute Geschichten muss man erzählen«, Amnesty Journal 03/2020)
Kurze Waffenruhe
(»Mörser und Minen als Nachbarn«, Amnesty Journal 04/2020)
Foto: Anatolii Stepanov / AFP via Getty Images
Der Oberkommandierende der ukrainischen Regierungstruppen, Wladimir Krawtschenko, hat Medienberichten zufolge beklagt, dass Separatisten die Ende Juli beschlossene Waffenruhe im ostukrainischen Donbass umgehend gebrochen hätten. Die Waffenruhe hielt nicht einmal 24 Stunden. Kurz nach Inkrafttreten sollen Separatisten Stellungen der ukrainischen Regierungseinheiten mit Maschinengewehren beschossen haben. Diese weisen die Vorwürfe zurück. UN-Schätzungen zufolge sind bei den Kämpfen zwischen ukrainischem Militär und prorussischen Separatisten seit dem Frühjahr 2014 mehr als 13.000 Menschen getötet worden. Rund zwei Dutzend Anläufe für eine vollständige Waffenruhe sind nach kurzer Zeit gescheitert. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist aber eine Voraussetzung für einen Friedensplan, der 2015 mit deutschfranzösischer Vermittlung in Minsk vereinbart wurde. Der Friedensplan sieht nach einem Waffenstillstand Wahlen und eine schrittweise Reintegration der Region in die Ukraine vor. Waffenstillstand ist anderswo. Ukrainische Soldaten an der Frontlinie, Juni 2020.
Hinrichtung nach Protest ausgesetzt Das oberste Gericht des Iran hat die Exekution von Amirhossein Moradi, Mohammad Rajabi und Saeed Tamjidi ausgesetzt. Dies teilten ihre Anwälte im Juli mit. Die drei jungen Männer hatten an einer Demonstration gegen eine von der Regierung angeordnete Erhöhung der Benzinpreise teilgenommen und waren unter
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
anderem im Zusammenhang mit Brandstiftungen im November 2019 zum Tode verurteilt worden. Die Todesurteile hatten auf internationaler Ebene Protest ausgelöst. Sie sollen jetzt überprüft werden. Die Anwälte von Moradi, Rajabi und Tamjidi hoffen auf eine vollständige Annullierung. Im Iran ist ein Todesurteil rechts-
kräftig, wenn es vom obersten Gericht bestätigt wird. Irans religiöser Führer Ajatollah Ali Chamenei kann jedoch laut Verfassung auch rechtskräftige Urteile aufheben. Nach China ist Iran das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit. (»Malen nach Zahlen: Todesstrafe«, Amnesty Journal 03/2020)
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Eine Bilanz des Grauens: In der Türkei häufen sich Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen. Der Staat handelt nicht, Corona verschlimmert die Situation noch. Von Sabine Küper »Wir hätten niemals gedacht, dass Pinar so etwas passieren könnte.« Sıdık Gültekin lebt mit seiner Familie im südostanatolischen Bitlis. Seine Tochter, Pinar Gültekin, studierte in Muğla Wirtschaft. Der Vater war stolz darauf, dass sie einen Studienplatz an einer begehrten Hochschule im Westen der Türkei ergattert hatte, die gemeinhin einen besseren Ruf haben als die Universitäten im Osten. Auf Fotos strahlt die attraktive junge Frau in die Kamera. Kommilitoninnen und Kommilitonen beschreiben sie als erfolgreich und voller Pläne. Als die Studentin Mitte Juli nicht mehr auf Anrufe reagierte, alarmierte die Familie die Polizei. Bei einer Suchaktion stießen die Beamten in einem Müllcontainer an einem Waldrand auf die verkohlte Leiche der 27-Jährigen. Ihr Exfreund, der 40-jährige Familienvater Cemal Metin Avci, hat die Tat mittlerweile gestanden. Im Zuge einer Auseinandersetzung habe er Gültekin bewusstlos geschlagen, erwürgt und dann die Leiche in Brand gesteckt. Der Täter ist nicht vorbestraft und betrieb in Muğla eine Bar. Die Tat deute auf ein gezieltes Vorgehen und Vertuschung hin, unterstreicht der Anwalt von Gültekins Familie, Rezzan Epözdemir. »Wir werden versuchen nachzuweisen, dass es sich um Vorsatz und nicht um Affekt handelte.« Der Jurist übt öffentlich Druck auf die Strafverfolgungsbehörden aus, ihre forensische Arbeit gründlich zu tun. In der Praxis werde oft geschlampt, wenn es um Gewalt gegen Frauen gehe, weil den Opfern eine Mitschuld unterstellt werde, sagt er. In der Justiz sei eine patriarchale Grundhaltung vorherrschend. So schrieb zum Beispiel der Forensiker Mehmet Nuri Aydin 2018 in seinem Bericht über die Vergewaltigung und Ermordung der Studentin Şule Çet in Ankara, dass Frauen, die mit Männern Alkohol trinken würden, damit Bereitschaft zum Sex signalisierten. Der Mord an Pinar Gültekin schockierte die Türkei wegen der grauenvollen Umstände. Er ist aber leider keine Ausnahme. Am 24. Mai erstach der 26-jährige Selim Ahmet Kemaloğlu ebenfalls in der Provinz Muğla seine Freundin in der gemeinsamen Wohnung. Sie hatte sich zwei Wochen zuvor wegen häuslicher Gewalt an die Polizei gewandt, die Anzeige dann aber zurückgezogen. In der Nacht ihres Todes hatte Zeynep Şenpinar ihrem Freund mit Trennung gedroht, als er sie erneut schlug. Der Polizei erzählte er, sich nicht erinnern zu können, wie er das Küchenmesser in die Brust der jungen Frau gestoßen habe.
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»Tut endlich was!«, fordert Nurtaç Canan. Die 49-Jährige überlebte mehrere Schüsse. Ihr Ehemann hatte Anfang Juni versucht, sie zu töten, weil sie sich von ihm trennen wollte. Ihr Sohn fand sie zu Hause schwer verletzt in einer Blutlache, in die sie mit dem Finger geschrieben hatte: »Ragıp war’s. Seid nicht traurig, ich bin jetzt erlöst.« Die mutige Frau berichtete Ende Juni in der Tageszeitung Hürriyet über ihre jahrelange systematische Misshandlung und forderte, ihren Fall stellvertretend für unzählige weitere zu betrachten und politisch gegen Frauenmorde vorzugehen. Frauenverbände beklagen seit Langem, dass Justiz und Politik Gewalttaten an Frauen als Einzelfälle bewerten und den dramatischen Anstieg von Morden an Frauen verharmlosen. »Es gibt klare Muster«, sagt Fidan Ataselim, Generalsekretärin der türkischen Frauenorganisation »Wir werden die Femizide stoppen«. »Frauen werden getötet, wenn sie ein eigenes Leben führen wollen und sich gegen Vorschriften ihrer Partner oder Familien wehren.«
Kluft zwischen Recht und Realität Evrim Inan, Anwältin des Vereins Frauensolidarität Bodrum betont, dass Täter und Gerichte leider oft das Bestreben zeigten, den Opfern Mitverantwortung für die Tat unterzuschieben. Cemal Metin Avci etwa, der des Mordes an Pinar Gültekin angeklagt wird, führte in seiner Aussage zunächst als Motiv an, die junge Frau habe gedroht, sein Familienglück zu zerstören und seiner Frau von der Beziehung zu berichten. Später gab er zu, aus Eifersucht gehandelt zu haben. »Diese Argumentation soll dazu dienen, den starken Affekt zu unterstreichen, dem Männer angeblich unterliegen«, sagt Inan. Die Zahl der Frauenmorde ist zwischen 2015 und 2019 um etwa 60 Prozent gestiegen – von 303 auf 474 Fälle. Und die Corona-Pandemie vergrößere das Problem, warnen Menschenrechtsorganisationen. Allein in Istanbul verzeichnete die Polizei im März einen Anstieg der Gewalttaten an Frauen um 38 Prozent. Im Juni wurden landesweit 20 Frauen von Männern getötet.
Die Zahl der Frauenmorde ist zwischen 2015 und 2019 um etwa 60 Prozent gestiegen. AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Foto: Huseyin Aldemir / Xinhua / pa
Von wegen Einzelfälle
Landesweiter Protest. Teilnehmerinnen einer Demonstration gegen Gewalt an Frauen in Istanbul, August 2020.
»Unser größtes Problem ist die Kluft zwischen juristischer und gesellschaftlicher Realität«, sagt Evrim Inan. Der Verein Frauensolidarität Bodrum bietet Gewaltopfern eine kostenlose juristische Beratung an und versucht vor Gericht immer wieder, die »Istanbul-Konvention« zur Anwendung zu bringen. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 in Istanbul beschlossen. In der Türkei trat es 2014 in Kraft, vier Jahre früher als in Deutschland.
»Rechtspraxis schützt die Täter« Auf die Rechtspraxis habe der Vertrag aber kaum Einfluss, beklagt die Anwältin. So sieht die Konvention zum Beispiel vor, dass Gewaltopfer nur im Beisein von Psychologinnen oder Psychologen in einem geschützten Raum vernommen werden dürfen. Tatsächlich würden die Opfer aber zur Hauptverhandlung vorgeladen und müssten in der Öffentlichkeit und im Beisein des Täters Aussagen machen. »Die Rechtspraxis schützt die Täter, nicht die Opfer. Sie folgt einer patriarchalischen Doktrin, die von Politikern und staatlichen Institutionen vertreten wird«, sagt Inan. Die türkische Regierung droht mittlerweile damit, die Istanbul-Konvention außer Kraft zu setzen. »Das hätte fatale Folgen für die ohnehin frauenfeindliche Rechtspraxis«, meint Evrim Inan. Gleichzeitig wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der Straf-
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freiheit für Vergewaltiger vorsieht, wenn sie ihr Opfer heiraten. Frauenorganisationen machen seit Monaten dagegen mobil. Eine starke und auch gesellschaftlich akzeptierte Frauenbewegung steht dabei einem Machtapparat gegenüber, der sie zwar sporadisch unterstützt, aber auch immer wieder sabotiert. Viele Vorgaben der Istanbul-Konvention wurden niemals umgesetzt, etwa die Verpflichtung des Staates, ausreichend Frauenhäuser zur Verfügung zu stellen. Ali Şeker, Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) kritisierte Ende Juli diesen Missstand und stellte eine offizielle Anfrage an den Präsidentenpalast. Im gesamten Land mit seinen 83 Millionen Menschen gebe es 145 Frauenhäuser, wurde ihm schriftlich mitgeteilt. Die könnten insgesamt 3.428 Hilfesuchende aufnehmen. »Nicht einmal für eine von zehntausend Frauen steht ein Platz zur Verfügung«, sagt Ali Şeker, »die Notunterkünfte für Hilfesuchende müssen sofort aufgestockt werden.« Doch auch seine Partei ist dort, wo sie in Stadtverwaltungen sitzt und regiert, nicht unbedingt ein Vorbild. So hat zum Beispiel Bodrum einen Bürgermeister von der CHP. »Wir haben jahrelang ein Frauenhaus in Bodrum gefordert«, sagt Inan. Die Stadt liegt in der Provinz Muğla, die wegen der Morde an Pinar Gültekin und Zeynep Şenpinar jüngst in die Schlagzeilen geraten ist. »Jetzt wurde es zwar eingerichtet, aber immer noch nicht in Betrieb genommen.«
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Unhold Leopold Denkmalkritik und politische Entschuldigungen: Nach Jahrzehnten der Ignoranz nimmt die Debatte um die Folgen der belgischen Kolonialzeit an Fahrt auf. Von Till Schmidt
»Mörder«, »Entschuldigung« oder schlicht blutrote Farbe – auch in Belgien haben Aktivisten während der jüngsten »Black Lives Matter«-Proteste historische Statuen mit antirassistischen Botschaften gekennzeichnet. In der Brüsseler Innenstadt wurde das berühmte Reiterstandbild von König Leopold II. mit Slogans besprüht. In Antwerpen sah sich die Stadtverwaltung sogar gezwungen, eine stark beschädigte Statue des Monarchen aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Im gesamten Land existieren mehr als 25 Statuen, Büsten und Monumente, die dem ehemaligen belgischen König huldigen. Dazu kommen nach ihm benannte Straßen, Plätze und Parks. Im Zuge der jüngsten Proteste unterzeichneten Zehntausende Menschen Petitionen, in denen die Entfernung einiger oder aller Leopold-II-Statuen gefordert wurde. »Es ist unvorstellbar, dass in Deutschland Statuen von Adolf Hitler stehen oder Plätze nach einem Massenmörder benannt sind«, sagt MireilleTsheusi Robert von der antirassistischen NGO Bamko-Cran. Die belgische Kolonialherrschaft im Kongo begann 1885 – als Privatunternehmen von Leopold II., der nie einen Fuß auf afrikanischen Boden setzte, sich aber als Philanthrop gerierte mit dem Ziel, Afrika zu »zivilisieren«. In Wirklichkeit ließ er die kongolesische Bevölkerung brutal ausbeuten. Die Zahl der Todesopfer während seiner Regentschaft wird auf bis zu zehn Millionen geschätzt, was beinahe der Hälfte der damaligen Bevölkerung entspräche. Die Chicotte, eine Peitsche aus Nilpferdleder, sowie
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verstümmelte Gliedmaßen wurden zu Symbolbildern dieser Zeit. Die Ausbeutung des Kongo führte in Belgien insbesondere während des Kautschukbooms zu einem wirtschaftlichen Aufstieg. Angesichts internationaler Proteste gegen die »KongoGräuel« sah sich Leopold II. allerdings gezwungen, seine Privatkolonie an den belgischen Staat zu übergeben. In BelgischKongo, wie das Land ab 1908 hieß, gingen die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen und die Zwangsarbeit weiter. Auch der Rassismus blieb. »Von offizieller Seite gab es in Belgien bisher keine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte«, sagt Julien Bobineau vom Afrikazentrum der Universität Würzburg. Der Historiker Pedro Monaville spricht sogar von einer »kollektiven Amnesie«, die bis in die 1990er Jahre vorgeherrscht habe. Dass sich das inzwischen geändert hat, führt er auf die zahlreichen Filme, Bücher und Kunstprojekte der vergangenen Jahre zurück. Vor allem aber hebt er die unermüdliche Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen hervor. Eine dieser Organisationen ist das Collectif Mémoire Coloniale et Luttes contre les Discriminations (CMCLD), das sich ehrenamtlich für eine Dekolonisierung des öffentlichen Raumes einsetzt. »Vor allem in Brüssel bieten wir postkoloniale Stadtführungen an, die der vorherrschenden Geschichtsschreibung etwas entgegensetzen«, erzählt Projektmanagerin Nabila
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Habbida. Derzeit steige die Nachfrage nach den mehrmals monatlich stattfindenden Touren. Geschichtsinteressierte, Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie vermehrt auch politisch Verantwortliche nehmen daran teil.
Der Druck steigt Viele Touren des CMCLD starten am Place Royal in der Brüsseler Innenstadt. »Hier nahm das koloniale Projekt seinen Ausgang, denn an dieser Stelle befand sich die Kolonialbehörde«, erklärt Habbida. 2018 gelang es einer lokalen Initiative unter Beteiligung des CMCLD, einen nahegelegenen Platz nach Patrice Lumumba zu benennen, dem ersten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit des Kongo. Er wurde 1961 mit Unterstützung belgischer Geheimdienste ermordet. König Baudouin und Teile der Regierung kannten die Pläne zur Tötung Lumumbas. Bei der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes ist für das CMCLD die Beteiligung von Gruppen und Einzelpersonen aus der afrikanischen und kongolesischen Diaspora zentral. »Es darf nicht sein, dass wieder einmal ohne uns entschieden wird«, sagt Habbida. Das CMCLD unterstützt die Forderung, die Hauptverkehrsachse Boulevard Leopold II in Brüssel umzubenennen. Kürzlich plädierte die Bürgermeisterin der Gemeinde Molenbeek, Catherine Moureau, für ein entsprechendes Referendum in der gesamten Region Brüssel. Neben der Arbeit im öffentlichen Raum hat sich das CMCLD
BELGIEN
Foto: Virginia Mayo / AP / pa
Als Kolonialverbrecher markiert. Statue von Leopold II. in Brüssel, Juni 2020.
auf eigene Angebote und politische Beratung im Bildungsbereich spezialisiert. Das liegt auch daran, dass das Thema belgische Kolonialgeschichte nicht zum verpflichtenden Teil der Lehrpläne in weiterführenden Schulen gehört. Auch an den Universitäten gab es lange Zeit große Defizite, erzählt der Historiker Romain Landmeters von der Universität Saint-Louis in Brüssel: »Man musste sich bereits stark für das Thema interessieren, um Wege zu finden, sich damit auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen.« Landmeters zufolge haben die »Black Lives Matter«Proteste den Druck verstärkt, sich der Kolonialvergangenheit zu stellen. Er begrüßt es, dass das Parlament der Region Brüssel beschlossen hat, ein Komitee zur Dekolonisierung des öffentlichen Raums einzusetzen, und dass Abgeordnete die Kolonialgeschichte stärker in den Schullehrplänen verankern wollen. »Königshaus und Regierung äußerten sich in Bezug auf die koloniale Vergangenheit bisher sehr zaghaft«, erklärt Julien Bobineau. Im Jahr 2000 gestand der damalige Ministerpräsident Guy Verhofstadt zwar ein, man habe dem Genozid in Ruanda 1994 tatenlos zugesehen. Unbeachtet blieben dabei jedoch die Auswirkungen der eigenen Kolonialherrschaft in Ruanda-Urundi von 1918 bis 1961. In dieser Zeit wurden dort Gruppenidentitäten der »Hutu« und »Tutsi« extrem verstärkt und rassistisch fixiert. Daraus entstand eine ideologische Grundlage für den späteren Genozid. Aufsehenerregende Buchveröffentlichungen wie Adam Hochschilds »King Leopold’s Ghost« (1998) oder Ludo de Wittes Enthüllungen über die belgischen Verstrickungen in den Mord an Lumumba (2001) erhöhten Bobineau zufolge den Druck auf das Königshaus und die Regierung, sich konkreter zur eigenen kolonialen Vergangenheit zu äußern. 2002 entschuldigte sich der damalige Außenminister Louis Michel für die Verwicklung belgischer Amtsträger in den Mord an Lumumba. 2019 folgte eine offizielle Entschuldigung dafür, dass 20.000 Kinder weißer belgischer Väter und kongolesischer Mütter am Ende der Kolonialzeit entführt worden waren. Anlässlich des 60. Jahrestages der Unabhängigkeit des Kongo im Juli dieses Jahres äußerte König Philippe in einem Brief an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein »tiefes Bedauern« über die »Akte der Gewalt und Grausamkeit« unter Leopold II. Diese »Wunden der Vergangenheit« brachte Philippe zudem in Zusammenhang mit dem Rassismus im heutigen Belgien. »Für das Königshaus ist das ein sehr großer Schritt, für uns aber nur ein kleiner«, kommentiert Mireille-Theusi Robert. Allein durch die Äußerungen des Königs dürfte sich die Lebenssituation der etwa 250.000 in Belgien lebenden Menschen mit familiärem Hintergrund in der Demokratischen Republik Kongo, in Ruanda und Burundi kaum verbessern. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, schlechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung und rassistische Polizeigewalt sind für People of Color auch in Belgien alltäglich.
Belgische Kolonialgeschichte gehört nicht zum Pflichtteil der Lehrpläne in Schulen. 53
Arbeit gegen Zwangsarbeit Usbekistan will die staatlich organisierte Zwangsarbeit beenden. Auf den Baumwollfeldern arbeiteten seit zwei Jahren nur noch Freiwillige, beteuert die Regierung. Nur: Das stimmt nicht ganz. Ein Bericht aus einem Land im Übergang. Von Felix Lill
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Umida Niyazova kann den Groll nicht unterdrücken, den sie bei Äußerungen von Regierungsvertretern ihres Heimatlandes verspürt. Auch nach mehr als zehn Jahren nicht. »Meine Gefühle sind wild gemischt, wenn ich das lese, was die in letzter Zeit versprechen.« Die 45-jährige Menschenrechtsaktivistin aus Taschkent würde all dem gern glauben, kann es aber nur bedingt. Denn wäre das Land heute wirklich so liberal, wie behauptet, warum verweigern die Behörden ihr dann die Ausstellung eines neuen Reisepasses? Und warum werden ausländische NGOs noch immer abgewiesen, sobald sie sich in Usbekistan registrieren wollen? Noch entscheidender ist aber die Frage nach der Zwangsarbeit. »Die Regierung behauptet, es würde keine Zwangsarbeit mehr geben«, sagt Niyazova in gereiztem Ton am Telefon. »Und das ist schön. Denn immerhin hat sie damit zugegeben, dass es sie in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl gab. Das wurde nämlich lange genug geleugnet.« Nachdem die Journalistin unter anderem über dieses Thema berichtet hatte, wurde sie 2007 inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt. Weil sich Deutschland, das zum damaligen Zeitpunkt die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, für ihre Freilassung einsetzte, landete Niyazova 2008 in Berlin, wo sie seitdem lebt. In Usbekistan gilt sie jedoch noch immer als Staatsfeindin. Denn das von ihr in Berlin gegründete Usbekische Forum für Menschenrechte beweist anhand geleakter Dokumente sowie mithilfe von Befragungen vor Ort jedes Jahr aufs Neue: »Zwangsarbeit in der Baumwollernte findet in Usbekistan
Gilt in Usbekistan noch immer als Staatsfeindin. Umida Niyazova.
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weiterhin statt.« Anders als früher waren es bei der Ernte im Herbst 2019 nicht mehr Schulkinder ab elf Jahren, die auf die Felder geschickt wurden. »Aber Angestellte des öffentlichen Dienstes waren weiterhin betroffen. Wir wissen von rund 100.000 Fällen, gehen aber von deutlich mehr aus.« Umida Niyazova wird wütend, wenn behauptet wird, die Zwangsarbeit gehöre der Vergangenheit an. Und doch erkennt sie an: »Die Dinge werden besser.« Denn Usbekistan, das mit 32 Millionen Einwohnern größte Land Zentralasiens, bemüht sich seit rund vier Jahren um einen Kurswechsel. Jahrzehntelang war die Agrarnation international isoliert. Der seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 regierende Diktator Islam Karimov hatte eine strikte Abschottungspolitik betrieben. Seit Shavkat Mirziyoyev nach Karimovs Tod im Herbst 2016 die Präsidentschaft übernahm, wurden politische und ökonomische Reformen in Gang gesetzt. Die Ministerposten besetzte Mirziyoyev teilweise mit jüngerem Personal, das kaum Verbindungen zum alten Regime aufweist und dem Land neues Leben einhauchen soll. Die Grenzen zu den Nachbarländern wurden geöffnet. Die Medien sollen unabhängiger und die Wirtschaft liberalisiert werden. Doch kaum etwas schadet dem internationalen Ansehen Usbekistans mehr als die tief verwurzelte Zwangsarbeit. Es gehört zu den unangenehmen Fakten der usbekischen Geschichte, dass diese gravierende Verletzung von Menschenund Arbeitsrechten erst im letzten Vierteljahrhundert eine Renaissance erlebte. Usbekistan ist der achtgrößte Produzent und fünftgrößte Exporteur von Baumwolle weltweit. Nachdem das Land, das bereits zu Zeiten der Sowjetunion ein wichtiger Agrarproduzent war, 1991 unabhängig wurde, fehlten bald intakte Maschinen für eine breitflächige Bearbeitung der Felder. So war wieder vermehrt Handarbeit notwendig, um die vom Staat gesetzten Produktionsziele zu erreichen. Für die erste Ernterunde im September ließen sich noch motivierte Pflücker finden, die bei Löhnen von zuletzt umgerechnet sechs Cent pro Kilo rund sechs Euro am Tag verdienen konnten. Doch gegen Ende der Erntezeit, wenn die Pflanzen nur noch ein Zehntel an Ertrag hergeben, mochte sich kaum noch jemand beteiligen. Also zwangen die lokalen Behörden vor allem staatliche Institutionen wie Krankenhäuser und Universitäten, Personal zur Ernte abzustellen. Bis heute arbeiten jedes Jahr insgesamt 2,6 Millionen Menschen in der Baumwollernte, längst nicht alle freiwillig. Dabei hat sich das Land mit der Zwangsarbeit international diskreditiert. Selbst in der sonst eher pragmatischen Textilindustrie gibt es etwa 300 Unternehmen, von Adidas über H & M bis Zara, die
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Damals gab es auf den Baumwollfeldern auch noch Kinderarbeit. Jizzax, Usbekistan, im Jahr 2010.
erklärt haben, keine usbekische Baumwolle zu verwenden, solange dort Menschen zur Arbeit auf den Feldern gezwungen werden. Usbekistans Exportchancen sind daher beschränkt, dabei könnte das Land mit diesem Produkt die höchsten Einnahmezuwächse erzielen. Mitverantwortlich für den Boykott usbekischer Baumwolle, der unter dem Banner »Cotton Campaign« läuft, ist Umida Niyazova. »Wir verlangen, dass es überhaupt keine Zwangsarbeit mehr gibt«, sagt sie. »Dann werde ich auch gerne alle verantwortungsvollen Unternehmen dazu ermutigen, für ihre Produkte usbekische Baumwolle zu verwenden.« Dabei ist Niyazovas Forum bei weitem nicht die einzige Organisation, die das Fortbestehen von Zwangsarbeit bestätigt. Ein Mitarbeiter einer ausländischen NGO, die in Taschkent ein Büro hat, erklärt, dass man von der Zwangsarbeit wisse. »Wir haben es selbst gesehen.« Er möchte aus naheliegenden Gründen anonym bleiben. Es sieht so aus, als könnte das harte Mittel des Boykotts nun endlich Erfolg haben, auch wenn dafür zur handelspolitischen Isolation noch eine zweite Krise kommen musste. Denn auch Usbekistan ist gesundheitlich wie ökonomisch stark vom Corona-Virus betroffen. Inmitten der steigenden Arbeitslosigkeit schrieb Arbeitsminister Nozim Khusanov im April einen Brief an die »Cotton Campaign«. Darin bat er um eine sofortige Auf-
USBEKISTAN
hebung des Boykotts und versprach, man tue »weiterhin alles Mögliche, um alle Formen von Zwangsarbeit zu beenden«. »Jetzt wollen sie mit uns kooperieren«, sagt Niyazova. Das bereite ihr Genugtuung. Allerdings hat die Aktivistin, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, auch noch eine private Forderung an ihr Heimatland: »Ich will meine usbekische Staatsbürgerschaft zurück, in Form eines gültigen usbekischen Passes.« Dies wäre eine Voraussetzung, um wieder in das Land einreisen können. »Wenn das möglich wäre, hätte das Land einen großen Schritt gemacht.« Umida Niyazova befürchtet aber, dass die Liberalisierung noch nicht so weit fortgeschritten ist.
Jedes Jahr arbeiten 2,6 Millionen Menschen in der Baumwollernte, längst nicht alle freiwillig. 55
KULTUR
Mixtape der Migration
HipHop macht selbstbewusst. Lina Simons ist eine Größe der neapolitanischen Afrobeat-Szene »Teranga«. Die italienisch-nigerianische Rapperin lebt inzwischen
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Neapel hat eine lebendige Afrobeat-Szene. Seit mehreren Jahren geben lokale Stars HipHop-Workshops für junge afrikanische Flüchtlinge, die in den Migrationszentren der Stadt leben. Der Fotograf Gaetano Massa hat mehrere Sessions begleitet. Der Musiker und Soziologe Mauro Marsu, der gemeinsam mit dem Rapper Oyoshe die Workshops leitet, erläutert das Projekt.
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ie an den Workshops der Youthink Association und AICS beteiligten jungen Leute kommen hauptsächlich aus Nigeria, Senegal und Gambia. HipHop ist eine Möglichkeit, das Bedürfnis nach Kommunikation auszuleben, eine ausdrucksstarke Methode, die für eine Art persönliche Revolution sorgt: Alle setzen sich permanent dafür ein, andere und sich selbst zu verbessern. Mit Hilfe der Jungs richtete ich in einem der Aufnahmezentren ein Homestudio ein, um einen Raum zu haben, in dem wir uns mit Ruhe und Aufmerksamkeit unseren Tracks widmen konnten. Am Ende der Arbeit veröffentlichten wir ein Mixtape mit dem Titel »It’s never too late«. Das Album besteht aus 20 Tracks, einem Mix aus Geschichten in verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Wolof-Senegalesisch, Arabisch, Italienisch und Neapolitanisch. Ein paar Tracks mit Poetry Slam sind auch dabei. Es gab einige Jugendliche, die bereits Erfahrung im musikalischen Bereich hatten, und andere, die sich zum ersten Mal dem Beat und dem Schreiben eines Songs näherten. Auch diejenigen, die bei Null begannen, konnten sich in wenigen Monaten in einem Studio anmelden. Nachdem wir mit den Jugendlichen einige Stücke vorbereitet hatten, traten wir in fünf Konzerten live auf. Ihre Texte erzählen von dem harten Weg, der sie nach Italien führte, von den schrecklichen Schwierigkeiten der Reise, von den Problemen ihres Heimatlandes. Aber sie handeln auch von Erlösung, von Liebe und von dem Wunsch, zu feiern und Spaß zu haben. Es sind Geschichten von Zugehörigkeit, von erzwungener Migration und von dem Traum, etwas Neues aufzubauen. Das passt gut zur Kulturgeschichte Neapels und Kampaniens, die unter dem Einfluss unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und verschiedener musikalischer und kultureller Impulse entstanden ist. Das Mixtape »It’s never too late« ist hörbar auf dem SoundCloud-Profil »Youthink Association«
in London. Sie veröffentlichte mehrere Singles sowie das Album »Hope«.
HIPHOP
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Nigga-Thieuf (links) ist ein senegalesischer Künstler und Produzent mit einer Leidenschaft für den Rap. 2007 wurde er bei einem Wettbewerb für den Fernsehsender 2STV entdeckt. Es folgte sein erstes Album »Wassila«. Er arbeitet eng mit neapolitanischen Künstlern und Musikern zusammen. Sein neues Album mit dem Titel »Senegalité« wird demnächst veröffentlicht. DJ Sass Man (rechts) wurde im Senegal geboren und wuchs in Gambia auf, wo er studierte. Er ist einer der wichtigsten DJs der »Teranga«-Szene Neapels.
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Nachwuchs an de
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n Hooks. Im Bild unten links arbeitet Mauro Marsu (2.v.l.) mit den jungen Musikern an ihren Texten. Unten rechts berät Rapper Oyoshe (re.) einen Teilnehmer.
HIPHOP
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Foto: David Talukdar / ZUMA Wire / pa
Die Stimme der Frauen In Indien ist die Corona-Pandemie außer Kontrolle geraten. Am härtesten trifft sie die Ärmsten der Gesellschaft und die Frauen. Sie könnten mühsam erkämpfte Rechte in der Corona-Isolation wieder verlieren, warnt die Verlegerin Urvashi Butalia, deren feministisches Verlagshaus in Neu-Delhi ebenfalls unter der Krise leidet.
A
m 22. März, um acht Uhr abends, kündigte der indische Premierminister als Reaktion auf die Ausbreitung des Corona-Virus einen ausgedehnten Lockdown an. Die Ausgangssperre werde in vier Stunden beginnen. Die Mitteilung verbreitete Panik. Die Menschen stürzten los, um Vorräte zu kaufen und vergaßen dabei alle Abstandsregeln. Aber es war später Abend, die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen. Am nächsten Morgen sah sich Indiens gewaltige informelle Arbeiterschaft ausgesperrt – mehr als 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Millionen Menschen, die meisten von ihnen Migranten aus ländlichen Gegenden, durften nicht mehr an ihre Arbeitsplätze und hatten keinerlei Information, was ihre Jobs und ihre Löhne betraf. Bald schon hatten sie kein Geld mehr. Die Vermieter warfen sie hinaus. Ihre Ersparnisse waren aufgebraucht. Zunächst schliefen sie auf den Straßen, noch in der Hoffnung, die Regierung würde sie versorgen. Als dies nicht geschah, beschlossen sie, in ihre Heimatorte zu fahren. Aber es gab keine Verkehrsmittel mehr. Millionen Menschen begannen, zu Fuß zu gehen, Tausende von Kilometern, ohne Nahrung und Wasser. Viele starben. In unserem kleinen, unabhängigen feministischen Verlagshaus in Neu-Delhi hatten wir bereits vor der offiziellen Ausgangssperre beschlossen, von zu Hause aus zu arbeiten. Wir hatten gedacht, wir könnten die Zeit nutzen, um vieles nachzuholen, und dann wieder zur Arbeit zurückkehren. Doch der Lockdown wurde verlängert und verlängert, und unsere Lage
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verschlechterte sich zusehends. Denn wie die meisten kleinen Unternehmen haben wir keine Ersparnisse und keinen Puffer. Wie würden wir überleben? Wie alle Industrieunternehmen wurden auch die Druckereien geschlossen. In »normalen« Zeiten nehmen wir so vieles als selbstverständlich hin. Eine Krise zeigt uns aber, wie stark die unterschiedlichen Bereiche unseres Alltags miteinander verbunden sind. Wenn nur ein Glied in der Kette fehlt, kollabiert alles. Neu-Delhi ist zwar Indiens Verlagshauptstadt. Die meisten Druckereien befinden sich jedoch ringsum in den benachbarten Bundesstaaten. Sind die Bücher gedruckt, müssen sie Grenzen überqueren, um in die Lager des Vertriebs zu gelangen. Doch weil die Grenzen geschlossen waren, kamen die Buchlieferungen zum Stillstand. Buchhandlungen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen wurden geschlossen. Unsere Lebensader, der Bücherverkauf, war durchtrennt. In Ländern, in denen es nur wenige Buchläden gibt, haben sich viele Verlegerinnen und Verleger dem Onlinehandel zugewandt. Doch sogar der wurde jetzt eingeschränkt. Onlineshops durften nur »essenzielle«, also lebensnotwendige Artikel anbieten und Kurierdienste nur solche Produkte ausliefern. Das warf für uns eine Reihe von Fragen auf. Sind auch Bücher »essenziell«? Was ist wichtiger – Nahrung für den Magen oder Nahrung für den Geist? Zeigten unsere Sorgen um den bevorstehenden Zusammenbruch des Verlagswesens vielleicht den Klassenunterschied, ignorierten wir die Krise auf unseren Straßen? Eines Tages rief ein Freund aus Italien an. Er war froh, denn sein Land hatte begonnen, sich wieder zu öffnen. Aber der
»Was ist wichtiger – Nahrung für den Magen oder Nahrung für den Geist?« AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Mundtot. Frauen finden wegen der Isolation in der Corona-Krise kaum noch Gehör. Straßenszenen aus Guwahati im nordöstlichen Bundesstaat Assam.
FEMINISMUS
genannt, daraus ist eine Serie fortlaufender Fotoaustellungen entstanden. Plötzlich eröffnete sich uns eine ganz neue Welt. Uns wurde klar, dass unsere Aufgabe als Produzentinnen und Kuratorinnen von Wissen darin besteht, den feministischen Stimmen in diesen Zeiten Gehör zu verschaffen. Und damit das Wissen zu dokumentieren, das die betroffenen Frauen vor Ort generieren. Rund um die Uhr in beengte Wohnungen gesperrt, sahen sich Frauen in zunehmendem Maß mit häuslicher Gewalt konfrontiert. Die gesundheitliche Notfallsituation hat dazu geführt, dass andere notwendige medizinische Dienste, die sich zum Beispiel mit Familienplanung und sexueller Gesundheit befassen, zu kurz kommen. Notruf-Angebote der Gemeinden und der Polizei wurden eingestellt. Die Lebensgrundlage von Frauen wurde zerstört. Besonders verwundbar sind unsere Pflegekräfte, von denen mehr als 75 Prozent Frauen sind. Über all diese Dinge muss gesprochen werden. Und als wir damit anfingen, stellten wir fest, wie bereit die Frauen waren, für sich selbst zu sprechen. Das hat uns wiederum veranlasst, über die Schaffung eines Archivs für die Stimmen der Frauen nachzudenken. Werden daraus Bücher? Wir wissen es nicht. Werden wir überhaupt wieder Bücher verlegen können? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen ist: Als Produzentinnen feministischen Wissens im Süden werden wir alles tun, um dieses Wissen lebendig und reich zu erhalten.
Foto: Maik Schuck / Weimarfoto
Freund war auch wütend. »Stell Dir vor«, sagte er. »Sie haben die Buchläden geöffnet! Können die damit nicht warten? Bücher sind doch nun wirklich nicht lebensnotwendig.« Das zwang uns zum Nachdenken: Wo in der Hierarchie der Bedürfnisse platziert man Wissen? Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Wir hatten das Gefühl, wir können uns das auch nur deshalb fragen, weil wir privilegiert sind und uns keine Sorgen um unser Essen machen müssen. Für diejenigen auf den Straßen, die von Hunger verfolgt waren, würde sich diese Frage gar nicht erst stellen. Warum, so fragten wir uns, machen wir uns solche Sorgen um unser Überleben? Interessierte das wirklich jemanden? Diese Fragen ließen uns verzweifeln. Ohnehin schon in Nöten erschien uns das Verlegen und Verkaufen von Büchern jetzt als Luxus. Waren wir überflüssig? Sollten wir unseren Verlag schließen? Und zu diesen existenziellen Fragen kamen die praktischen noch hinzu. Denn durch den Lockdown hatten wir seit Mitte März kein einziges Buch verkauft. Zugleich zahlten wir unseren Mitarbeiterinnen volle Gehälter. Anders als die Unternehmen, die sofort ihre Gehälter senkten, fühlten wir uns vor allem unserem Team verpflichtet. Doch das Geld würde schnell zu Ende gehen. Wie lange könnten wir durchhalten? Es dauerte eine Weile, aber dann setzte sich das Gefühl durch, doch eine Perspektive zu haben. Schließlich sind wir politische Verlegerinnen. Das Herzstück dessen, was wir tun, ist Feminismus. Bei unseren Veröffentlichungen geht es nicht um Gewinne – obwohl Gewinn hilft –, sondern es geht darum, feministischen Stimmen Gehör zu verschaffen, und insbesondere die Stimmen zu verstärken, die an den Rändern der Gesellschaft vernehmbar sind. Also begannen wir das zu tun, was Feministinnen tun: kreativ denken. Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf die digitale Welt, aber nicht im Sinne von Social-Media-Kampagnen oder Twitter oder Instagram. Die nutzen wir sowieso. Sondern wir nutzten das Digitale, um das Sprechen über Feminismus auszuweiten. Wir beobachteten die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Frauen und konnten dazu eine Reihe von Diskussionen anstoßen. Wir beschlossen, uns unter anderem auf die acht Bundesstaaten im Nordosten zu konzentrieren, die traditionell als vernachlässigt gelten. Wir baten Frauen, die wegen der Pandemie in ihren Häusern eingesperrt sind, ihre Handys einzusetzen und mit Fotos und Berichten zu dokumentieren, wie sich der Lockdown auf ihr Leben auswirkt. Wir haben dieses Projekt »Reframing the Domestic« (https://zubaanprojects.org/reframingthedomestic/)
URVASHI BUTALIA Die 1952 im indischen Ambala geborene Urvashi Butalia ist Schriftstellerin, Historikerin und Verlegerin und engagiert sich seit mehr als 40 Jahren für Frauenrechte. Die Aktivistin war 1984 Mitbegründerin von »Kali for Women«, dem ersten feministischen Verlagshaus in Indien, aus dem 2003 »Zubaan« (zu Deutsch: Zunge, Sprache, Stimme) entstand. Der Verlag mit Sitz in Neu-Delhi publiziert Bücher von und über Frauen, um deren Stimme am Rande des globalen Südens zu stärken. Die Verlegerin erhielt zahlreiche nationale und internationale Preise. Das deutsche Goethe-Institut zeichnete Urvashi Butalia 2017 mit der Goethe-Medaille aus. Mehr Informationen: www.zubaanbooks.com
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Die Künstlerin Sylvie Njobati aus Kamerun setzt sich mit den Folgen des Kolonialismus auseinander. Die Gottheit ihrer Vorfahren wurde von deutschen Kolonisatoren geraubt und lagert nun im Fundus des Berliner Humboldt-Forums. Von Elisabeth Wellershaus
I
m Schein des Feuers sitzt Sylvie Njobatis Großvater vor seinem Haus. Für ihn hat sie eine abenteuerliche Reise auf sich genommen. Über holprige Schotterpisten durch die Wälder der Region Nord-West-Kamerun, vorbei an verfallenen Häusern, teils verlassenen Ortschaften, ist sie mit ihrem zweiköpfigen Filmteam bis in sein kleines Dorf gefahren. Sie auf dem Rücksitz des einen Mopeds, die Filmausrüstung auf dem Sozius des anderen. Zwischen seinem Dorf, Mbveh, und Bamenda, wo Njobati heute lebt, liegen etwa 100 Kilometer. Die Distanz, die sie mit ihrem Dokumentarfilm zu überbrücken versucht, ist ungleich größer. »The Twist of Return Ngonnso«, der auf Festivals in Afrika und Europa zu sehen war, erzählt die Geschichte ihrer Familie. Davon, wie Großvater Faimbarang vor Jahrzehnten beschloss, sich den Missionaren anzuschließen. Und davon, dass er dafür die spirituelle Führung der Nso-Bevölkerung im ehemaligen Familiendorf aufgab. »Ich konnte unmöglich Diener zweier Herren sein«, sagt er seiner Enkelin im Film mit brüchiger Stimme. Einer 28-jährigen Filmemacherin, die aufgebrochen ist, um die Widersprüche zwischen christlicher Erziehung und fast vergessener Tradition aufzuzeigen. Njobatis Interesse an ihrer Heimatregion kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Genau in dem Jahr, als die Krise im anglophonen Teil Kameruns sich zuspitzte, trieb es sie zurück ins Reich der Nso, die in Nord-West-Kamerun leben. Zuvor hatte sie Jahre in der Hauptstadt Yaoundé verbracht und dabei das Gefühl der Entwurzelung nie ganz abschütteln können. Während des Studiums erlebte sie dort oft, dass ihre Herkunft sie einschränkte. Dass es wegen ihres Akzents reihenweise Absagen für Praktika und Jobs hagelte. Dass sie wegen sprachlicher Missverständnisse im Krankenhaus mehrfach falsch behandelt wurde. Als sie schwanger wurde, beschloss Njobati, dass es an der Zeit sei, in die Heimat zurückzukehren. Für ihren Film und um die eigene Identität zwischen frankophoner Mehrheitskultur und anglophoner Prägung zu erkunden. Als sie 2017 bei ihren Eltern im Bamenda-Hochland ankam, kämpften dort bereits gewalttätige Separatisten gegen Angehörige der Sicherheitskräfte. Längst waren die anfangs friedlichen Proteste, bei denen Teile der englischsprachigen Bevölkerung
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mehr Gerechtigkeit von der Zentralregierung forderten, in einen erbitterten Kampf um die Unabhängigkeit der Region umgeschlagen. Sicherheitskräfte verübten grausame Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und zerstörten ganze Dörfer, während Separatisten Soldaten töteten und Schulen niederbrannten. Inmitten des politischen Chaos begann Njobati mit den Dreharbeiten – und baute ein Kulturzentrum in Bamenda auf. Im Sysy House of Fame inszeniert sie politisches Schattentheater, zeigt Filme, organisiert Fashion-Shows für junge Modemacher der Region und spielt im Theater der Alliance Française vor teils 400 Zuschauern. Meist geht es in ihren eigenen Produktionen darum, die gegenwärtigen Probleme der Region mit Ereignissen aus kolonialen Zeiten in Bezug zu setzen. Zu Beginn ihres Films etwa fährt die Kamera über das verlassene Familiengrundstück in ihrem alten Dorf. Die Szenen, die Njobati aus Kindertagen erinnert – Hochzeiten, Begräbnisse, Familienfeste – scheinen bei diesem Anblick geradezu surreal. Und so lässt ihr Großvater sich auf die Frage ein, wie es wohl heute im Dorf aussähe, wenn er geblieben wäre. Wenn er die Religion, die von den Kolonisatoren überbracht wurde, nicht zu seiner eigenen erklärt hätte. Und wie es wäre, wenn die heiligste Figur der Nso – Ngonnso – nicht in einem Berliner Schaukasten auf die Eröffnung des HumboldtForums warten würde. Unaufgeregt streift der Film die Frage der Rückgabe von Kulturgütern vor dem Hintergrund der familiären Selbstfindung. Wichtiger scheint Njobati die persönliche Aufarbeitung. Nach langen Gesprächen hat ihr Großvater sich entschieden, das Dorf der Familie noch einmal zu besuchen. Mit 72 Jahren ist er bereit, dort ein kleines Festival auszurichten, bei dem die traditionelle Kultur im Mittelpunkt stehen soll. Dass er es bislang nicht geschafft hat, liegt an der Omnipräsenz von Sicherheitskräften und Separatisten, die ein Durchkommen fast unmöglich machen. Bereits zu Beginn der Filmarbeiten wurde Njobati entführt und einen halben Tag lang von Milizionären festgehalten. »Sie hatten mich mit meiner Ausrüstung für eine Regierungsspionin gehalten und dachten, ich würde den Behörden in Yaoundé zuarbeiten«, erzählt sie. Erst als ihr
Njobati kämpft für einen Raum, in dem komplexe Identitäten wie ihre ein Zuhause finden. AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Fotos: Javla Wilfred
Sylvie sucht
Emanzipation im Fokus. Sylvie Njobati verknüpft die Probleme der anglophonen Minderheit in Kamerun mit der kolonialen Vergangenheit des Landes.
Großvater, der in der Gegend bekannt ist, das Filmprojekt am Telefon bestätigt, ließen sie Njobati frei. Sie fuhren sie an ihren nächsten Drehort und halfen dort sogar bei den Aufnahmen. Seitdem »Twist of Return Ngonnso« im Kasten ist, plant Njobati eine längere Filmversion zum Thema. Doch wochenlang hinderte sie nun die Corona-Pandemie an der Umsetzung. »Mein wichtigster Protagonist für den erweiterten Film ist ein knapp 80-jähriger Historiker aus Yaoundé«, erzählt sie. Sie mache sich täglich Sorgen um ihn. Die Hauptstadt ist besonders vom Virus betroffen. Bereits vor Corona war Kameruns Gesundheitssystem überlastet, erzählt Njobati. »Jetzt ist es katastrophal.« So saß sie in den vergangenen Wochen oft allein im Büro, hielt ihre Mitstreiter auf Abstand, während Theater-, Film- und Diskussionsveranstaltungen bis auf Weiteres abgesagt wurden. »Der öffentliche Austausch über politische und gesellschaftliche Themen stagniert«, sagt sie. »Theater und andere Orte der Begegnung stehen noch immer ziemlich leer.« Mit Corona hat sich eine trügerische Stille über Bamenda gelegt, meint Njobati. Die öffentlichen Beschränkungen führten vielleicht zu weniger Übergriffen. Doch die Bevölkerung lebe in dem Irrglauben, dass die politische Krise bald überwunden sei.
KOLONIALISMUS
Njobati hat in den vergangenen Jahren zu viel erlebt, um sich schon in Sicherheit zu wiegen. Ihre Eltern haben die Region vor Monaten verlassen, sie leben heute in der Küstenstadt Douala. »Für meine Mutter, die Lehrerin ist, war es hier zu gefährlich«, erzählt sie. »Lehrpersonal wurde immer wieder angegriffen.« Seit geraumer Zeit leiden Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten unter Lehrermangel, zerstörten oder geschlossenen Schulen, der stetig neu aufbrechenden Gewalt. Auch Njobati hat mehrmals ihren Master in Filmwissenschaften an der Universität von Bamenda begonnen und wieder abgebrochen. »Immer dann, wenn wieder besonders viele Kommilitoninnen und Kommilitonen verschwanden oder ermordet wurden, habe ich aufgehört«, sagt sie. Vor Monaten keimte Hoffnung auf bessere Zustände auf: Kinder der staatlichen Schulen hatten endlich wieder Aussicht auf regelmäßigen Unterricht. Doch dann kam Corona. In dieser Gemengelage verhandelt Njobati das Thema Unabhängigkeit auf sämtlichen Ebenen. Sie spricht über koloniales Erbe, Gewaltkonflikte, den Zentralstaat und seine Minderheitenpolitik. Doch vor allem kämpft sie für sie einen Raum, in dem komplexe Identitäten wie ihre ein Zuhause finden.
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Mit emotionaler
Monologe des Gewissens. Alle Produktionen des Theaterregisseurs Michael Ruf leben vom Kopfkino.
Mit den Asyl- und NSU-Monologen ist der Theaterregisseur Michael Ruf bekannt geworden. Wegen der Corona-Beschränkungen sind seine MittelmeerMonologe nun vorübergehend über das Telefon zu hören. Von Georg Kasch
W
as geht in jemandem vor, der in einem kleinen Boot auf dem Meer treibt, inmitten von Wasser und Dunkelheit? Wer sich in Deutschland durch die Nachrichten zappt, kann schnell vergessen, dass sich hinter Begriffen wie Frontex und Abschottung Schicksale von Menschen verbergen: Migrantinnen und Migranten, die um ihr Leben kämpfen. Doch plötzlich, am Telefon, ist man ziemlich nah dran. Da erzählt Selma, eine Freiwillige, die für die Hilfsorganisation Watch the Med Alarmphone arbeitet, wie es ist, auf dem Mittelmeer in Seenot geratene Menschen via Handy zu einem größeren Schiff oder ans rettende Ufer zu lotsen. Sie berichtet davon, wie Yassin anruft, dessen Boot die Orientierung verloren hat. Sollen sie weiter nach Norden fahren, in Richtung italienischer
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Küste? Aber was, wenn der Akku versagt und sie auf dem Weg dahin verloren gehen? Oder in Richtung Süden, zum Schiff der italienischen Küstenwache? Aber wird es Yassin und die anderen nach Italien bringen? Oder direkt an die libysche Küstenwache ausliefern? Die Telefonstimme gehört der Schauspielerin Meri Koivisto, ihr Text ist Teil der »Mittelmeer-Monologe« von Regisseur Michael Ruf. Seit 2019 finden die »Mittelmeer-Monologe« auf der Bühne statt – in Theatern, Stadthallen oder Räumen von Initiativen. Wegen der Corona-Beschränkungen mussten Ruf und sein Team allerdings umdenken. Deshalb haben sie die Telefonversion erfunden, in der die Zuhörer etwa 20 Minuten lang mit einer Geschichte, einer Perspektive vertraut gemacht werden. Das funktioniert hervorragend. Schon deshalb, weil alle von Rufs bisherigen Produktionen – die »Asyl-Monologe«, die »AsylDialoge« sowie die »NSU-Monologe« – auch auf der Bühne vom Kopfkino lebten: Während die Schauspieler an der Rampe stehen, oft mit dem Textbuch vor sich, entfaltet sich die Wirkung der Beschreibungen in den Vorstellungswelten des Publikums. Der Reiz der Mono- und Dialoge besteht darin, dass sie konsequent die Perspektive der Betroffenen widerspiegeln und ausschließlich aus ihren Worten bestehen. Ruf führt lange Interviews und verdichtet sie dann zur endgültigen Form, behält
AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Wucht
Foto: Benjamin Jenak
»Beim Verbreiten wenig gehörter Perspektiven darf es nicht bleiben. Die Leute sollen aktiv werden.« Michael Ruf
aber Wortwahl und Sprechduktus bei. Es sind Erfahrungen und Gefühle aus erster Hand, die entsprechend berühren. Man kann sich kaum wehren gegen die Genauigkeit und emotionale Wucht der Erzählungen. Nur mit der Live-Musik übertreibt es Ruf zuweilen.
»Wort und Herzschlag« Der Erfolg gibt ihm Recht: Die vier in den vergangenen zehn Jahren entstandenen Theaterstücke kommen auf insgesamt mehr als 800 Vorstellungen. Das geht nur, weil er sich auf ein Netzwerk von rund 600 Schauspielern und Musikern stützt. So muss nicht eine Besetzung quer durchs Land reisen. Praktisch ist zudem, dass Rufs sparsame Inszenierungen, die nur mit ein paar Mikrofonen vor neutralem Hintergrund auskommen, auch problemlos Abstand ermöglichen, also Corona-tauglich sind. Deshalb kann er jetzt auch schon wieder die ersten Termine zusagen, während man die Telefon-Performances weiterhin über die Website buchen kann. Außerdem expandieren die Produktionen. Im November 2019 brachte Ruf die »Mittelmeer-Monologe« mit US-Schauspielerinnen und -Schauspielern in Washington D.C. und New York auf die Bühne; demnächst wird das Netzwerk auch Richtung Österreich, Schweiz und Ungarn erweitert. Zugleich arbeitet Ruf
THEATER
schon an der nächsten Inszenierung, die »Klima-Monologe«, die 2021 vom Hauptstadtkulturfonds gefördert werden – nicht nur finanziell ein Ritterschlag. Lange produzierte Ruf seine Arbeiten für die Bühne für Menschenrechte, die er 2011 nach Vorbild der britischen Actors for Human Rights gründete. Nun arbeitet er unter dem Label »Wort und Herzschlag«. Das Projekt sei so stark gewachsen, dass er die gemeinnützige Unternehmergesellschaft gründete, um leichter Förderanträge stellen zu können, sagt er. Gut möglich, dass auch interne Konflikte eine Rolle spielten – die Bühne für Menschenrechte existiert weiter, allerdings ohne Rufs Inszenierungen. Diese Inszenierungen, die ein breites Presseecho erfahren und mehrfach ausgezeichnet wurden, sind aber – zusammen mit dem Künstlernetzwerk – das Tafelsilber der Unternehmung. Ihre Besonderheit: Anders als beim Dokumentartheater, das normalerweise im Stadttheater und in der Freien Szene entsteht, wollen Ruf und seine Kooperationspartner ihr Publikum nicht nur bewegen und aufklären, sondern auch zum Handeln verführen. »Beim Verbreiten von wenig gehörten Perspektiven darf es nicht bleiben«, sagt Ruf: »Die Leute sollen aktiv werden!« Deshalb gibt es nach den Vorstellungen immer ein Publikumsgespräch, meist mit Leuten vor Ort, die sich zum Thema des Abends engagieren. Von einigen Organisationen sind regelmäßig Vertreter dabei. Im Fall der Mittelmeer-Monologe etwa SeaWatch, Watch the Med Alarmphone und Women in Exile. Bewirkt das etwas? Um das herauszufinden, telefoniert Ruf etliche Wochen nach einem Gastspiel mit den Gastgebern, um zu fragen, was sich vor Ort geändert hat. Sind Menschen aktiv geworden? Hat die Aufführung Kreise gezogen? Nachgespräche gibt es jetzt übrigens auch bei der Coronabedingten Telefonversion der »Mittelmeer-Monologe«. Gut 40 Minuten nach Selmas Monolog ruft Mohamad Naanaa von der NGO Eed be Eed an. Er erzählt, dass er gerade in Griechenland ist, um vor Ort den geflüchteten Menschen in den Camps zu helfen. Er selbst stammt aus Syrien und konnte mit einem Visum der deutschen Botschaft in der Türkei legal nach Deutschland fliegen. Seitdem setzt er sich für flüchtende Menschen ein, die es weitaus härter getroffen hat. Wie? »Ich will die Menschen über die katastrophalen Umstände hier informieren«, sagt er, »Artikel schreiben, Organisationen vor Ort helfen«. Wer nicht hinreisen könne, solle spenden. Noch während des Gesprächs will man sofort zum Onlinebanking klicken. Denn nach der düster grundierten Erzählung von der Handy-Seenotrettung strahlt einem Mohamads mitreißende Energie und fröhliche Menschlichkeit aus dem Telefon entgegen. Auf die Frage, wie man helfen könne, verspricht er, eine Liste mit Organisationen zusammenzustellen. Eine Woche später ist die Mail da. So realitätsverändernd ist Theater selten.
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Wenn der Doktor schreibt V
erboten, zu Hause zu bleiben«, lautet der Titel einer der jüngsten Kolumnen von Sergio Ramírez. In Nicaragua ticken die Uhren in Zeiten der Corona-Pandemie anders als in den Nachbarländern. Statt Ausgangssperre, Quarantäne und Sicherheitsabstand standen in Nicaragua auch nach dem 11. März noch politische Versammlungen, Boxkämpfe und Fußballspiele auf dem Programm – ohne jede Vorsichtsmaßnahme. Die Grenzen des Landes seien gepanzert durch göttlichen Schutz, und Covid-19 sei eine Krankheit der übergewichtigen Reichen, zitiert der Schriftsteller Regierungspropaganda in seinem Kommentar für das Online-Magazin El Faro aus El Salvador. Angesichts voller Krankenhäuser ist die offizielle Propaganda mittlerweile weitgehend verstummt, doch der 77-jährige Schriftsteller nicht. Er scheut sich nicht, diejenigen zu benennen, die für die Desinformation und Politik verantwortlich sind, die viele Leben kostet: Präsident Daniel Ortega und seine Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Wie sie sich hartnäckig an die Macht klammern, weckt bei dem preisgekrönten Schriftsteller und vielzitierten Analysten traumatische Erinnerungen.
Einst Sandinist Im Juli 1959, als Ramírez gerade sein Jurastudium begonnen hatte, eröffneten Soldaten der Armee von Diktator Anastasio Somoza das Feuer auf protestierende Studenten der Universität León. Vier Tote und mehr als 60 Verletzte lautete die Bilanz. »Dieses Erlebnis hat mein Leben geprägt. Heute denke ich oft daran zurück, denn die Studenten, die heute den Widerstand gegen Daniel Ortega anführen, werden ebenfalls brutal unterdrückt – allerdings unter sandinistischer Flagge«, sagt Ramírez. Unter dieser hatte der Schriftsteller einst auch gekämpft, nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit Worten, Texten, Analysen. Er wurde damit zu einer prägenden Figur der »Zwölf« – einer Gruppe von Intellektuellen, die die Sandinistische Befreiungsbewegung in den 1970er Jahren unterstützte. Die Gruppe wirkte über lange Zeit aus dem Exil in Costa Rica. Ramírez leitete dort einen Verlag, war literarisch und publizistisch aktiv und verlieh dem Widerstand gegen Somoza eine Stimme. Das brachte ihm in der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) den Spitznamen »El Doctor« ein.
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Heute heißt der Mann, der das mittelamerikanische Land unterdrückt, nicht mehr Somoza, sondern Ortega. Die rotschwarze Flagge der Sandinistischen Befreiungsbewegung steht nunmehr für Repression und Unterdrückung, die blau-weiße Nationalflagge für Freiheit und die Rückkehr zur Demokratie. Eine bittere Randnotiz der jüngeren Geschichte, die Ramírez fast beiläufig erwähnt, denn für Sentimentalitäten ist kein Platz: »Damals musste man etwas gegen die Diktatur unternehmen, und das ist heute nicht anders. Ich unterstütze die Proteste für ein demokratisches Nicaragua, wo ich kann«, sagt er.
Heute Unterstützer der Protestbewegung Vom Rednerpult, in Interviews oder vom Schreibtisch aus kritisiert er das nicaraguanische Präsidentenpaar, das sich in Managua – von rund 400 Leibwächtern geschützt – eingeigelt hat. »Das ist meine Rolle. Den Protest auf der Straße überlasse ich den Jüngeren«, sagt »El Doctor«. Nicht nur wegen der schmerzenden Hüfte, sondern vor allem weil er der jüngeren Generation nicht im Weg stehen will. Er gibt Interviews zur Situation des Landes in der Pandemie, schreibt kritische Essays, aber auch Romane. Für sein Gesamtwerk verlieh ihm die spanische Universität Alcalá 2018 den Cervantes-Preis, der als wichtigste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt gilt. Ramírez widmete den Preis den getöteten jugendlichen Demonstranten in Nicaragua und warb offen um Unterstützung für die Proteste: »Daniel Ortega und Rosario Murillo repräsentieren die Macht in Nicaragua, sie versuchen eine Dynastie aufzubauen, haben die demokratischen Spielregeln ausgehebelt«, kritisierte er. Doch er ist zuversichtlich, dass es einen Wechsel geben wird. »Die Menschen sind aufgewacht, lassen sich nicht mundtot machen«, meint Ramírez, der wie ein Seismograf die Erosionsprozesse innerhalb des Ortega-Lagers aufzeichnet. Die ökonomische Krise, unter der die Bevölkerung leidet, untergräbt zunehmend die finanzielle Basis des Regimes und befördert diese Erosion ebenso wie die katholische Kirche, die
»Ortega und Murillo repräsentieren die Macht in Nicaragua, sie versuchen, eine Dynastie aufzubauen.« Sergio Ramírez AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Foto: Inti Ocon / AFP via Getty Images
Der Schriftsteller Sergio Ramírez ist eine der wichtigsten literarischen und politischen Stimmen Mittelamerikas. Er übt scharfe Kritik am nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und dessen Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Von Knut Henkel
Analyse und Kritik. Sergio Ramírez verlieh dem Widerstand gegen Somoza eine Stimme. Das brachte ihm den Spitznamen »El Doctor« ein.
aktiv auf der Seite der Zivilgesellschaft steht. »Es war ein elementarer Fehler Daniel Ortegas, sich die katholische Kirche zum Feind zu machen – wer kann schon von sich behaupten, in den vergangenen 2000 Jahren gegen die Kirche gewonnen zu haben?«, fragt Ramírez voller Ironie.
Gesellschaftskritischer Krimi-Autor Ironie und schwarzer Humor prägen auch sein literarisches Werk, in dem sich ungewöhnliche Figuren tummeln, wie der beinamputierte Privatdetektiv Dolores Morales. Der Protagonist seiner Krimi-Trilogie ist unverkennbar ein Alter Ego von Ramírez. Im vergangenen Herbst erschien der zweite Band »Um mich weint niemand mehr«. Darin stößt Dolores Morales auf einen Missbrauchsfall in einer Familie des Establishments. Das Familienoberhaupt hat sich an seiner Stieftochter vergangen, die daraufhin in den Untergrund Managuas floh. Im Wettlauf mit dem Geheimdienst der »himmlischen Mächte« – einem Synonym für das Paar im Präsidentenpalast – versucht der humpelnde Detektiv, das Missbrauchsopfer aus dem Sumpf von Korruption und Klientelismus zu befreien. Sexuelle Gewalt in der Familie ist in ganz Mittelamerika weit
SERGIO RAMÍREZ
verbreitet, nicht nur in Nicaragua. Doch dort gibt es einen besonders prominenten Fall: Daniel Ortegas Stieftochter Zoilamérica Ortega Murillo reichte 1998 Klage beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen den damaligen Oppositionspolitiker und heutigen Präsidenten ein. Die 50 Seiten umfassende Anklageschrift legt dar, wie Zoilamérica Ortega Murillo seit ihrem 11. Lebensjahr von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Doch zu einem Urteil kam es nie, denn die junge Frau zog 2008 ihre Klage aus Angst vor dem wachsenden Einfluss Ortegas zurück und ging später ins Exil nach Costa Rica. Für den überzeugten Menschenrechtsaktivisten Ramírez ist der Fall einer unter vielen, die ihn motivierten, das Thema literarisch zu verarbeiten. Dabei liefert er einen detaillierten Einblick in die Machtstrukturen Nicaraguas, die er wie kaum ein anderer kennt, benennt und kritisiert. »El Doctor« ist sich treu geblieben. Das gilt nur für wenige aus dem Führungszirkel der sandinistischen Revolution von 1979. Sergio Ramírez: Um mich weint niemand mehr. Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Edition 8, Zürich 2019. 344 Seiten, 23,20 Euro
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Foto: Erik Overbey Collection, The Doy Leale McCall Rare Book and Manuscript Library, University of South Alabama
Hurston besuchte Kossola, als er 86 Jahre alt war. Sie gewann sein Vertrauen, hörte ihm zu und fand eine geniale Form, um seine bewegende Lebensgeschichte für die Nachwelt zu dokumentieren: Sie schildert die Gesprächssituation und hält seine Erinnerungen in seinen eigenen Worten und in seinem Südstaatendialekt fest. »Barracoon. Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven« setzt nicht nur einem wichtigen Zeitzeugen ein Denkmal, das Buch beweist auch, dass es sich lohnt, Hurston als Wissenschaftlerin und Schriftstellerin wiederzuentdecken. 1891 im tiefen Süden der USA geboren, war sie die erste Afroamerikanerin, die am New Yorker Barnard College aufgenommen wurde. Und sie war die erste Wissenschaftlerin, die sich systematisch mit afroamerikanischer Kultur beschäftigte. Unermüdlich reiste die Ethnologin in den 1930er Jahren durch die Südstaaten, um Geschichten und Lieder zu sammeln, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei zuwandte. Sie entwickelte eine Meisterschaft darin, den Rhythmus und Humor, die Poesie und Weisheit dieser Überlieferungen literarisch zu verarbeiten. Aus heutiger Perspektive könnte man sagen, Hurston stand als eine der ersten für die Maxime: »Black Culture Matters«. Die Autorin veröffentlichte in den 1930er und 1940er Jahren vier Romane, eine Autobiografie, zwei Bände über schwarze Folklore und zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Mit ihrem unDer letzte Sklave. Cudjo Lewis wurde 1860 aus Westafrika in die USA verschleppt. gebrochenen schwarzen Stolz war Zora Neale Hurston ihrer Zeit jedoch zu weit voraus. Ab Ende der 1940er Jahre lag sozialer Realismus im Es dauerte fast ein Jahrhundert, bis ein zentrales Werk Trend. Und Hurston geriet auf dramatische Weise ins Abseits. der afroamerikanischen Schriftstellerin Zora Neale Die letzten Jahre bis zu ihrem Tod schlug sie sich als Dienstmädchen und Aushilfe durch. 1960 starb sie verarmt in einem WohlHurston veröffentlicht wurde. »Barracoon« erzählt fahrtsheim in Florida. die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven. Inzwischen gilt Hurston als eine der großen afroamerikaniVon Wera Reusch schen Autorinnen des 20. Jahrhunderts – als Vorläuferin von Toni Morrison, Alice Walker oder Yaa Gyasi. Und man mag kaum glauben, dass sie für »Barracoon« nach der Fertigstellung 1931 keinen Verlag fand. Das Buch erschien erstmals 2018 in den USA ora Neale Hurston war eine junge Ethnologin, als sie 1927 in Alabama einen ganz besonderen alten Mann aus- – also fast ein Jahrhundert, nachdem Hurston Kossola interviewt hatte. Die deutsche Übersetzung hat leider keine überzeufindig machte: Cudjo Lewis galt als der letzte bekannte gende Lösung gefunden, um den Dialekt wiederzugeben, denSklave, den man aus Westafrika in die USA verschleppt noch sei das sorgfältig editierte Buch allen ans Herz gelegt, die hatte. Als 19-Jähriger war er im heutigen Benin gefangen gesich für US-Geschichte und -Literatur interessieren: Es ist zweinommen, in einem Verlies (Barracoon) an der Küste eingesperrt fellos ein Meilenstein. und 1860 mit einem Sklavenschiff nach Alabama gebracht worden. Die transatlantische Überfahrt war illegal, denn Menschenhandel war damals bereits verboten, Sklaverei allerdings nicht. Zora Neale Hurston: Barracoon. Die Geschichte des letzten In den USA angekommen, musste Oluale Kossola – so sein afriamerikanischen Sklaven. Aus dem Amerikanischen von kanischer Name – für den Schiffseigner schuften, bis die SklaveHans-Ulrich Möhring, Penguin Verlag, München 2020, rei 1865 abgeschafft wurde. 224 Seiten, 20 Euro
Schwarze Kultur zählt
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Vom Bildschirm zur Tat
Das Erbe der Angst
Anlass für dieses Buch war der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019, als ein Rechtsextremist zwei Menschen tötete und zwei weitere schwer verletzte. Der Täter zählt zu einem neuen Typ von Rechtsterroristen weltweit, die nicht nur eine rassistische, antisemitische und antifeministische Ideologie verbindet, sondern auch die gezielte Nutzung des Internets: Dort werden die Terrorakte vorbereitet und verbreitet, dort bestätigen die Täter sich gegenseitig in ihrem Hass und stacheln sich zu Attentaten an. Die neun Autorinnen und Autoren von »Rechte Egoshooter« – die sich alle intensiv mit Rechtsextremismus beschäftigt haben – zeichnen den Weg nach von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Sie schildern unter anderem die Inhalte rechter Internetforen und Imageboards, beleuchten das Verhältnis von Gaming zu Terror und analysieren den Frauenhass der sogenannten Incel-Szene. Zu den untersuchten Beispielen zählen neben dem Anschlag in Halle weitere Terrorakte in Deutschland und anderen Ländern. Die von den Autorinnen und Autoren vermittelten Einblicke in die Szene sind erschreckend. Mindestens genauso beunruhigend ist, dass Andrea Röpke »politische Ignoranz« gegenüber dem Rechtsterrorismus und Simone Rafael eine »Hilflosigkeit der Gegenstrategien« konstatieren.
Deutschlands historische Beziehungen zu Togo sind unrühmlich und weitgehend unterbelichtet. Das westafrikanische Land war nicht nur eine deutsche »Musterkolonie«, sondern wurde von 1967 bis 2005 von Diktator Gnassingbé Eyadéma beherrscht, einem Duzfreund von Franz-Josef Strauß. Ein neuer Roman des in Kanada lebenden togoischen Autors Edem Avumey gewährt verstörende Einblicke in diese jahrzehntelange Gewaltherrschaft. »Nächtliche Erklärungen« erzählt die Geschichte des theaterbegeisterten Studenten Ito Baraka, der sich zu Beginn der 1990er Jahre an Protesten beteiligt und in einem Straflager landet, in dem Folter alltäglich ist. Er freundet sich dort mit einem alten Lehrer an, der gezwungen wurde, so lange in die Sonne zu starren, bis er erblindete. Beide stützen sich gegenseitig, verbunden durch ihre Leidenschaft für Literatur. Während sein Freund im Lager stirbt, gelingt es Ito Baraka, zu entkommen und nach Kanada auszuwandern. Doch die traumatischen Erfahrungen verfolgen ihn – alkoholabhängig und krebskrank bemüht sich der 45-Jährige, ein Buch zu schreiben, um »das Erbe der Angst« zu verarbeiten. Edem Awumey hat für diese Lebensbeichte eine schonungslose, zuweilen schmutzige Sprache gewählt und einen rhythmischen, fast atemlosen Stil. Keine leichte Lektüre, sondern ein ambitionierter Versuch, Repression, Folter und »die Scham des Überlebenden« in literarischer Form darzustellen.
Jean-Philipp Baeck & Andreas Speit (Hg): Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat, Ch. Links Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 18 Euro
Erschütternde Protokolle Wie beschreibt man einen Krieg, der offenbar keinen interessiert? Wie macht man auf Kriegsverbrechen aufmerksam, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wird? Die jemenitische Journalistin und Schriftstellerin Bushra al-Maktari stellte sich diesen Fragen und beschloss, der geschundenen Zivilbevölkerung Gehör zu verschaffen. Sie reiste unter Lebensgefahr durch ihr Land und befragte Überlebende, deren Kinder, Eltern oder andere Angehörige getötet wurden. Von den 400 Protokollen, die sie erstellte, veröffentlichte sie 43 in einem Buch. Dabei wechseln sich die Opfer der einen und der anderen Seite ab, denn al-Maktari möchte nicht politisch instrumentalisiert werden. »Jedes Haus in dieser Stadt birgt eine Geschichte, die ruhen will, die nicht aufgerührt werden will«, sagt ihr eine Mutter, deren Kinder im Alter von acht, sechs und zwei Jahren von einer Granate zerfetzt wurden, als sie vor dem Haus spielten. Es ist nur eine von zahlreichen erschütternden Geschichten, die al-Maktari aufgezeichnet hat. Vielen Menschen fällt es spürbar schwer, die Ereignisse zu schildern, manche sind ganz offensichtlich traumatisiert. Die Protokolle stellen eine Nähe zu den Gräueln her, die kaum auszuhalten ist. Sie zeugen vom Irrsinn dieses Krieges und reichen in ihrer Bedeutung weit über den Jemen hinaus. Bushra al-Maktari: Was hast Du hinter Dir gelassen? Stimmen aus dem vergessenen Krieg im Jemen. Hrsg. v. Constantin Schreiber. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Econ Verlag, Berlin 2020. 320 Seiten, 24,99 Euro
Edem Awumey: Nächtliche Erklärungen. Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2020. 208 Seiten, 22 Euro
Kanadische Umerziehung »To kill the Indian in the child« – so lautete der staatliche Auftrag der Residential Schools in Kanada. Erst 1996 schloss das letzte dieser kirchlich geführten Internate, von denen Grit Poppe in ihrem Kinderroman erzählt. Die Geschichte der neunjährigen Alice Littlebird und ihrem älterem Bruder Terry Jumping Elk steht dabei stellvertretend für das Schicksal zahlloser Kinder der indigenen Gesellschaften Kanadas, die in diesen Einrichtungen zu »zivilisierten Menschen« erzogen werden sollten. Auch Alice Littlebird wird ihren Eltern weggenommen und kommt – wie zwei Jahre zuvor ihr Bruder – auf die Black Lake Residential School. Dort nehmen ihr die Nonnen ihre Kleidung ab, schneiden ihr die Haare kurz und zwingen sie, ihre Muttersprache und Identität aufzugeben. Das Mädchen aus der First Nation der Cree ist nun Nummer 47. Die »Rabenfrauen«, wie Alice die Nonnen nennt, sind streng und brutal. Schnell reift in ihr der Plan, gemeinsam mit ihrem Bruder zu fliehen. Geschwistern ist jedoch grundsätzlich jeder Kontakt untersagt. Dennoch gelingt es den beiden Kindern, sich heimlich zu treffen und sogar vom Schulgelände zu entkommen. Doch Terry wird aufgegriffen, und so ist Alice mit einem Mal auf sich allein gestellt. Die Geschichte ihrer Flucht ist ebenso spannend wie ergreifend. Grit Poppe: Alice Littlebird. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2020. 240 Seiten. 15 Euro. Ab 11 Jahren
Bücher: Wera Reusch, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Mädchen im Lager
Psychedelischer Aufbruch
»Ich bin im Flüchtlingscamp geboren«, sagt die 13-jährige Sarita, die Heldin des gleichnamigen Films, und setzt hinzu: »Ist das nicht wunderbar? Alle meine Freunde sind hier!« Ihr Camp, das ist eine ganze Stadt, sie heißt Khudunabari und liegt in Nepal. Rund 10.000 Flüchtlinge aus Bhutan leben dort. Ab 1990 waren rund 100.000 Bhutaner, deren Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Nepal eingewandert waren, aus dem Land gedrängt worden, weil sie mehr Rechte eingefordert hatten – ein Sechstel der bhutanischen Bevölkerung. Es war zu gewaltsamen Protesten gekommen. Sie landeten im Niemandsland der Lager, denn auch Nepal wollte sie nicht ansiedeln. Regisseur Sergio Basso hat zehn Jahre lang das Schicksal der Flüchtlinge begleitet. Seine sehr gelungene Dokufiction ist bunt, facettenreich und voller verschiedener Geschichten und Stilelemente. Sarita führt die Zuschauer durch das Camp, durch ihr Leben dort. Die Handlung wird von Musicalszenen und Bollywood-Tanzeinlagen unterbrochen. »Wir leben wie im Mittelalter«, singen Sarita und ihre Freunde, »haben kein fließendes Wasser und keinen Strom«. Flüchtling sein bedeutet hier Dauerstatus – und Flucht ist Lebensinhalt. »Selbst Nepalesen wollen weg aus Nepal«, sagt Saritas Großmutter und hofft auf einen Umzug nach Kanada oder in die USA.
Die marokkanisch-französische Band Bab L’Bluz sprengt die Grenzen zwischen afrikanischen, maghrebinischen und westlichen Musikstilen. Ihr Name bedeutet so viel wie »Tor zum Blues«. Dessen afrikanische Ursprünge haben es dem Quartett angetan: die Trance-Musik der Gnawa, der Nachfahren ehemaliger Sklaven, die aus Gebieten südlich der Sahara nach Nordafrika verschleppt wurden, sowie die Poesie mauretanischer Frauen. Diese mischen sie mit psychedelischem Rock und Funk. »Nayda«, der Titel ihres Debütalbums, bedeutet so viel wie Party. Es steht aber auch für einen intellektuellen Aufbruch, der mit dem Wechsel im marokkanischen Königshaus zur Jahrtausendwende verbunden wird, und mit der musikalischen Jugendbewegung jener Zeit. Yousra Mansour, die Frontfrau von Bab L’Bluz, wuchs damals in einer Kleinstadt an Marokkos Atlantikküste auf. Sie brachte sich selbst das Spiel der Gimbri, der dreisaitigen Laute der Gnawa bei. Mit Brice Bottin, einem französischen Produzenten, gründete sie Bab L’Bluz. Gesellschaftskritik findet sich eher zwischen den Zeilen. In »Africa Manayo« prangern sie die Despoten an, die den Reichtum des Kontinents ausbeuten, und klagen über Korruption und Gier. Und in »Ila Mata« heißt es: »Unser Geist ist eingesperrt, unsere Unterschiede sind zu einem Verbrechen geworden.« Gesungen in klassischem Arabisch, von einem repetitiven Tabla-Loop getragen und vom Rauschen der Atlantikwellen umweht, fragen sie: »Wie lange noch wird Ungerechtigkeit herrschen? Wie lange noch wird Gewalt verherrlicht?«
»Sarita«. IT/D 2019. Regie: Sergio Basso. Der Film ist auf www.kino-on-demand.com/movies/sarita zu sehen, das Streaming-Entgelt kommt einem Kino der eigenen Wahl zugute.
Bab L’Bluz: Nayda! (Real World)
Ein interessantes Experiment Regisseurin Jana Kaesdorf hat die DDR nur als Kind erlebt. Jetzt will sie wissen, wie sich ein sozialistischer Staat anfühlt und fährt samt Kamerateam nach Kuba. Das Land versucht sich an einer leichten Liberalisierung: Wurde eigenständiges Handeln abseits der Bürokratie bisher unterdrückt, ist dieser Kurs aus wirtschaftlichen Gründen heute nicht mehr durchzuhalten. Außerdem geht Kuba oft rüde mit öffentlicher Kritik und Menschenrechten um: Das einzige Land auf dem amerikanischen Kontinent, das Vertretern von Amnesty International die Einreise verweigert, kann sich auch diesen rigiden Kurs schlicht nicht länger leisten. Mit Reformen, den »Lineamientos«, bemüht sich die Regierung um eine gewisse wirtschaftliche Öffnung. Kaesdorf bekommt richtig gute und kluge Leute vor die Kamera, etwa den Ökonomen Omar Villanueva, aber auch Landwirte, die sich mit ihren Interessen und Eigeninitiativen nun wahrgenommen fühlen. Allen gemeinsam ist, dass sie in Bezug auf Mängel des Systems kein Blatt vor den Mund nehmen, dass sie in ihrem Land aber auch keinesfalls wieder eine ausbeuterische Oberschicht haben wollen, wie es sie vor der Revolution 1959 gab. Kaesdorfs Film bietet einen tollen Einblick in ein Land, das dem Kapitalismus trotzt – direkt vor der Haustür der USA, die Kuba seit 1961 mit einer Wirtschaftsblockade das Leben schwer machen. Ein sehenswerter und schöner Dokumentarfilm. »Experiment Sozialismus – Rückkehr nach Kuba«. D 2019. Regie: Jana Kaesdorf. Derzeit in den Kinos
Trost der Zeit Aynur ist zweifellos die derzeit prominenteste kurdische Sängerin aus der Türkei. Seit dem Erscheinen ihres Debütalbums 2002 hat sie international Karriere gemacht. Sie erhielt Preise etwa des renommierten Berklee Mediterranean Music Institute und wurde zum Vorbild für andere Frauen in der Region. In ihrem Heimatland aber hat sie es schwer, Gehör zu finden. Auf ihrem siebten Album »Hedûr« gibt Aynur ihrer beeindruckenden Stimme viel Raum und entfaltet ihre eigene musikalische Vision. Es ist das erste Album, das sie praktisch allein arrangiert und produziert hat, alle Kompositionen stammen von ihr. Mit virtuoser Leichtigkeit verbindet sie das kurdische Erbe mit Jazz und anderen zeitgenössischen Elementen und erfindet damit kurdische Folk-Traditionen neu. Bei den Aufnahmen stand ihr der deutsche Jazzpianist Franz von Chossy zur Seite. Der Titel »Hedûr« bedeutet so viel wie »Trost zu finden im Laufe der Zeit«. Und Trost wird dringend benötigt angesichts der Brutalität der türkischen Politik, insbesondere gegenüber der kurdischen Minderheit. Das Album ist eine Einladung, im Klang der lange verfemten Muttersprache inneren Frieden zu finden. Leider fiel die Veröffentlichung von »Hedûr« mit dem Beginn der Corona-Krise zusammen. Geplante Konzerte mussten abgesagt werden. Das Album harrt deshalb noch der Entdeckung. Aynur: Hedûr – Solace of Time (Dreyer Gaido)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70
AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Foto: Little Dream Pictures
The Show must go on. In »Yalda« wird die Todesstrafe zum Quotenknüller.
Voting für den Tod Die Filmsatire »Yalda« reflektiert auf sehr eigensinnige Weise das Thema Todesstrafe im Iran. Von Jürgen Kiontke
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reude des Vergebens« heißt eine äußerst abgründige iranische Fernsehshow in Massoud Bakhshis Filmsatire »Yalda«, denn nach iranischem Recht ist es möglich, dass Angehörige eines Opfers dem Täter oder der Täterin verzeihen, was Auswirkungen auf die Bestrafung hat. Ausgestrahlt wird die Sendung in der Nacht der Wintersonnenwende, die auf Persisch »Yalda« heißt. Das Interesse an Fällen, in denen es um die Todesstrafe geht, ist in der Show besonders groß. Die zum Tode verurteilte Maryam (Sadaf Asgari) hat bereits zwei Jahre im Gefängnis verbracht, weil sie ihren Liebhaber und Gönner – sagen wir ruhig: Herren – Zia umgebracht hat, in dessen Haus sie als 17-Jährige lebte. Und jetzt ist es soweit: Sie wird in der Fernsehshow Mona (Behnaz Jafari) gegenübertreten, der Tochter ihres ehemaligen »Ehemanns auf Zeit« – eine religionskonforme Umschreibung für Prostitution. Wenn Mona ihr die Tat vergibt, muss Maryam noch drei bis sechs weitere Jahre in Haft – wird jedoch nicht hingerichtet. Maryam ist zwar angeschlagen vom Gefängnis, allzu große Sorgen macht sie sich zu Beginn des Abends aber nicht. Denn die beiden Frauen waren befreundet. Mona sah sich früher als »große Schwester« des Nachbarmädchens aus armen Verhältnissen. Und die Kommentatoren der Show sind sich sicher, dass die Tat nur ein Unfall und unüberlegtes Handeln war – ein Schubs, und der Kopf schlug an die Tischkante … Dass Mona Maryam vergeben wird, steht nicht groß zur Debatte. Wer hier auftritt, ist sorgfältig ausgewählt, denn es geht um Einschaltquoten und um Geld – »Freude des Vergebens« ist
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als Lotterie konzipiert. Wer auf den richtigen Ausgang des Abends tippt, kann per SMS-Voting eine hohe Summe gewinnen: »Verdient Maryam Komijani Vergebung? Senden Sie 1 für Ja, 2 für Nein.« Das eigene Leben so der öffentlichen Meinung ausgesetzt zu sehen, ist für Maryam allerdings eine Nummer zu viel: Sie verliert die Beherrschung, schimpft und zetert und teilt dem Millionenpublikum mit, wie schlecht sie in der Familie behandelt wurde. Mona zieht sich daraufhin zurück und deutet an, dass dies hier kein leichtes Spiel werde. Ab jetzt kann es für die Verurteilte auch richtig schief gehen. Als die Pflegeeltern jenes Kindes aufkreuzen, das Maryam mit Zia hatte und das Mona direkt nach der Geburt aus dem Haus schaffte, gewinnt der Fall zusehends an Eigendynamik. Und die TV-Macher – »Maryam, du kannst gern dein Leben ruinieren, aber nicht die Show« – geraten ihrerseits in die Defensive. Massoud Bakhshis Satire »Yalda« wartet mit rasanten Wendungen auf, ist sehr gut und vor allem sehr abgründig gespielt – und nichts für schwache Nerven. Die extreme Aussichtslosigkeit und die Alternative Gefängnis oder Tod für die junge Frau lässt einen nicht kalt. Der geschickt strukturierte Film zeigt, was es bedeutet, wenn Reichtum auf Armut trifft. »Yalda« schneidet zutiefst existenzielle Fragen an, indem er die Entscheidung über Leben und Tod in das alberne Setting einer Fernsehshow mit all den Verrücktheiten des Medienbetriebs einbettet. »Manchmal«, sinniert der gestresste Moderator, »kommt die Vergebung ja auch erst kurz vor der Exekution«. Ein sehr sehenswerter Film, der einen doppelt mitnimmt: wegen seiner Spannung und wegen seiner Düsternis. »Yalda«. FR u. a. 2019. Regie: Massoud Bakhshi, Darstellerinnen: Sadaf Asgari, Behnaz Jafari. Derzeit in den Kinos
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
Foto: Moritz Richter
ACHTUNG! Aufgrund der Verbreitung des CoronaVirus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appellschreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.
ITALIEN IUVENTA10
Foto: Paul Lovis Wagner
Am 2. August 2017 beschlagnahmten die italienischen Behörden das private Seenotrettungsschiff Iuventa, das der deutschen NGO Jugend Rettet gehört. Anschließend leiteten sie Ermittlungen gegen zehn Crew-Mitglieder aus mehreren europäischen Ländern ein, die als »Iuventa10« bekannt wurden. Pia Sascha, Dariush, Zoe, Laura, Ulrich, Hen-
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drik und drei weitere Crewmitglieder werden beschuldigt, »die illegale Einreise von Geflüchteten und Migrant_innen ermöglicht zu haben«, weil sie bei drei verschiedenen Rettungseinsätzen im Mittelmeer in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt 14.000 Menschen an Bord nahmen. Seit fast drei Jahren liegt die Iuventa nun im Hafen von Trapani und die Iuventa10 warten auf das Ermittlungsergebnis der dortigen Staatsanwaltschaft. Bei einem Schuldspruch drohen ihnen fünf bis 20 Jahre Haft und 15.000 Euro Geldstrafe je geretteter Person. Eine unabhängige Untersuchung der Rechercheorganisation Forensic Architecture aus dem Jahr 2018 hat die Vorwürfe gegen die Crew der Iuventa eindeutig widerlegt. Die Staatsanwaltschaft in Trapani sollte das Verfahren daher umgehend einstellen. Die Iuventa10 sind die diesjährigen Träger_innen des Menschenrechtspreises von Amnesty International Deutschland und stehen im Mittelpunkt unserer Kampagne »Retten verboten« (amnesty.de/retten-verboten). Wir setzen uns zudem mit einer Onlineaktion an Bundeskanzlerin Angela Merkel für die Iuventa10 ein.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Staatsanwältin in Trapani und fordern Sie sie auf, die Ermittlungen gegen die Iuventa10 einzustellen. Schreiben Sie in gutem Italienisch, Englisch oder auf Deutsch an: Dott.ssa Brunella Sardoni Sostituto Procuratore Procura della Repubblica presso il Tribunale di Trapani Via XXX gennaio 91010 Trapani (TP) ITALIEN (Anrede: Dear Prosecutor / Sehr geehrte Frau Staatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Italienischen Republik S. E. Herrn Luigi Mattiolo Hiroshimastraße 1, 10785 Berlin Fax: 030 - 25 44 01 16 E-Mail: segreteria.berlino@esteri.it (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY JOURNAL | 05/2020
Foto: privat
IRAN ARSALAN KHODKAM Der iranische Kurde Arsalan Khodkam könnte jederzeit hingerichtet werden. Er wurde 2018 zum Tode verurteilt, nachdem man ihn schuldig gesprochen hatte, für die bewaffnete Oppositionsgruppe Kurdische Demokratische Partei des Iran (KDPI) »spioniert« zu haben. Der 47-Jährige weist den Vorwurf zurück. Die Anklage sei erfolgt, nachdem die iranischen Behör-
den erfahren hatten, dass er über Instagram mit einem Verwandten seiner Frau in Kontakt stand, der Mitglied der KDPI war. Arsalan Khodkam gibt an, in Haft gefoltert und misshandelt worden zu sein. Als sein Anwalt im Februar 2020 versuchte, die Gerichtsakten einzusehen, um ein Gnadengesuch einzureichen, teilten ihm die Behörden mit, dass er Arsalan Khodkam nicht vertreten könne und ein Gnadengesuch aus dem Gefängnis bereits abgelehnt worden sei. Im Mai 2020 wurden seine Familienangehörigen gewarnt, er könne jederzeit hingerichtet werden Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Iran und bitten Sie ihn, Arsalan Khodkam nicht hinzurichten, seinen Schuldspruch aufzuheben und ihm ein faires Neuverfahren ohne Rückgriff auf die Todesstrafe und unter Folter erzwungene »Geständ-
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
GUATEMALA BERNARDO CAAL XOL Bernardo Caal ist ein Lehrer, Gewerkschafter und Menschenrechtsverteidiger, der seit mehr als zwei Jahren aufgrund konstruierter Anklagen in Haft sitzt. Er setzt sich für die Rechte der indigenen Mayan Q’eqchi im Departmento Alta Verapaz im Norden Guatemalas ein, die von Wasserkraftprojekten am Fluss Cahabón betroffen sind, der ihnen als heilig gilt. Seit 2015 wehrt sich Bernardo Caal friedlich gegen die Wasserkraftwerke Oxec I und II. Die indigenen Gemeinschaften in Santa María Cahabón haben ihn und weitere Personen damit beauftragt, rechtlich gegen Unregelmäßigkeiten bei den Projekten vorzugehen. So wurde unter anderem das Recht der betroffenen Gemeinschaften auf freie, vorherige und informierte Konsultation verletzt. Nach Verleumdungskampagnen in mehreren Medien nahmen die Behörden Bernardo Caal am 30. Januar 2018 in Untersuchungshaft. Obwohl es keine Be-
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
nisse« zu ermöglichen. Fordern Sie, dass er seinen Rechtsbeistand frei wählen kann und umgehend eine Untersuchung seiner Folter- und Misshandlungsvorwürfe eingeleitet wird, um die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Schreiben Sie in gutem Farsi, Englisch oder auf Deutsch an: Head of Judiciary Ebrahim Raisi c/o Permanent Mission of Iran to the UN Chemin du Petit-Saconnex 28 1209 Geneva, SCHWEIZ (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 83 222 91 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
weise gibt, um die Anschuldigungen gegen ihn zu erhärten, verurteilte ihn das Gericht in Cobán am 9. November 2018 zu sieben Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen schweren Diebstahls und rechtswidriger Festsetzung von Personen. Am 30. November 2018 legten seine Rechtsbeistände Rechtsmittel ein, die noch immer anhängig sind. Bereits fünf Anhörungen wurden abgesagt. Amnesty International betrachtet Bernardo Caal als gewaltlosen politischen Gefangenen. Zudem besteht die Gefahr, dass er sich im Gefängnis mit dem Corona-Virus infiziert. Seine Familie darf ihn ebenfalls nicht mehr regelmäßig besuchen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Generalstaatsanwältin von Guatemala und fordern Sie sie auf, die Gerichtsakte von Bernardo Caal intern prüfen zu lassen. Da kein belastendes Beweismaterial vorliegt, möge Sie dafür sorgen, dass er umgehend freigelassen wird und alle Anklagen gegen ihn fallengelassen werden. Zudem muss seine strafrechtliche Verfolgung unverzüglich
umfassend und unparteiisch untersucht werden, und die Verantwortlichen für die haltlosen Vorwürfe müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Attorney General Consuelo Porras 15 Avenida A 15-16, Ciudad. de Guatemala, GUATEMALA Twitter: @MPguatemala Facebook: @mpguatemala E-Mail: carrecis@mp.gob.gt Anrede: Dear Attorney General / Sehr geehrte Frau Generalstaatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guatemala Frau Crista Pricila Villatoro Delgado, Geschäftsträgerin Kaiserdamm 20, 14057 Berlin Fax: 030 - 20 64 36 59 E-Mail: sekretariat@botschaft-guatemala.de (Standardbrief: 0,80 €)
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Foto: Irene Miller / shutterstock
AKTIV FÜR AMNESTY
Wenn Aktivistinnen und Aktivisten mal passiv werden. Journal-Artikel werden vorgelesen.
AUGEN ZU, OHREN AUF! Das Amnesty Journal lässt sich nicht nur lesen, man kann es auch anhören: Mit dem Mono-Verlag und dem KOM-IN-Netzwerk teilen sich zwei Anbieter die Vertonung. Oft genug ist das Amnesty Journal spät dran, wenn es ums Digitale geht: Social Media, Online, mobile Website, App-Entwicklung – es gibt Bereiche, da brauchen wir manchmal einfach länger. Umso schöner, wenn das Journal digital mal etwas macht, lange bevor viele andere darauf kommen. So ist es zum Beispiel bei der Vertonung von Beiträgen aus dem Journal. Denn man kann uns nicht nur lesen, sondern auch anhören. Und zwar schon lange. Das derzeit omnipräsente Wort Podcast kannte jedenfalls kaum jemand, als sich das Netzwerk KOM-IN bereits in den neunziger Jahren daran machte, Artikel aus dem Journal für Sehbehinderte und Blinde aufzubereiten. »Teilhabe, Inklusion, barrierefreier Zugang zu Informationen, das ist auch heute für Menschen mit Behinderungen noch nicht selbstverständlich«, meint nun, Jahrzehnte später, Jörg Sorge, Vorstand des KOMIN-Netzwerks. KOM-IN steht für Kommunikation und Information und stellt Beiträge für blinde Menschen barrierefrei zur Verfügung. Besonders wichtig ist dabei der »Themenbereich Christentum und Gesellschaft«, wie es auf der Webseite heißt. Doch auch das Amnesty Journal wird Ausgabe für Ausgabe vertont. Es erscheint als Blindenhörzeitschrift im sogenannten Daisy-Format, einem digitalen Standard für akustische Hörbücher und Hörzeitschriften für blinde Menschen.
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Das KOM-IN-Netzwerk verschickt die Ausgaben auf CD als Blindensendung und bietet registrierten Abonnenten die Vertonung auch online oder als Download an. Auf www.kom-in.de erscheint darüber hinaus jeweils ein Artikel als frei zugänglicher Podcast. Aber es geht dem Netzwerk nicht nur ums passive Zuhören: »›Die Briefe gegen das Vergessen‹ eröffnen blinden Hörern die Möglichkeit, auch selbst aktiv für Menschenrechte einzutreten«, betont Sorge. Bis in die 1990er Jahre zurück reicht die Erfahrung des Mono-Verlags (www.monoverlag.at/) in Wien nicht, wenn es darum geht, Journal-Artikel gut klingen zu lassen. Doch kooperieren Amnesty International und der Hörbuchverlag schon seit gut sechs Jahren. »Wir haben 2014 damit angefangen, Podcasts für Amnesty International aufzunehmen. So konnten wir verschiedene Sprecherinnen und Sprecher in der Studiosituation kennenlernen und gleichzeitig einen kleinen Beitrag leisten«, sagt Till Firit, der den Verlag im Jahr 2008 gegründet hat. Im zweimonatlichen Rhythmus nimmt der Verlag für das Amnesty Journal jeweils zwei Podcasts auf. Im gedruckten Heft gibt es bei den entsprechenden Texten einen Vermerk: »Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app«. Aber warum macht sich ein kleiner Hörbuchverlag diese Arbeit? Firits Antwort ist kurz und klar: »Die Themen aus dem Amnesty Journal berühren uns. Die Aufmerksamkeit darauf zu richten, ist auch ein persönliches Anliegen geworden«. Auch klar, aber nicht ganz so kurz sind die vertonten Journal-Beiträge. Hören Sie mal rein!
AMNESTY JOURNAL | 05/2020
DAS PRINZIP APFELBAUM
Das Marktforschungsinstitut GfK hat im vergangenen Jahr fast 1.000 Menschen ab 50 in einer repräsentativen Studie zum Thema Vererben befragt. Auftraggeber war die der Initiative »Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum«. Amnesty International Deutschland ist zusammen mit mehr als über 20 anderen Organisationen Teil der Initiative. Es war bereits das zweite Mal: 2013 war eine Umfrage mit dem gleichen Fragenkatalog angefertigt worden. 2019 wussten 92 Prozent der Befragten, dass man sein Erbe ganz oder teilweise einer gemeinnützigen Organisation zugutekommen lassen kann. Damit stieg der Bekanntheitsgrad des gemeinnützigen Vererbens in der Bevölkerung deutlich (2013 waren es 81 Prozent). Aber heißt das auch, dass mehr Menschen dazu bereit sind? 2013 konnten sich gut zehn Prozent vorstellen, mit ihrem Erbe Gutes zu tun. Nur sechs Jahre später war schon nahezu jede dritte Person in Deutschland bereit, einen guten Zweck zu bedenken. Noch deutlicher fiel die Bereitschaft bei denjenigen aus, die keine eigenen Nachkommen haben: 2019 konnte sich mehr als die Hälfte dieser Personengruppe das gemeinnützige Vererben auch für sich selbst vorstellen, während es 2013 nur 34 Prozent waren. Was treibt Menschen zum gemeinnützigen Vererben an? Für viele der 2019 Befragten ist entscheidend, eigene Werte
an die nächste Generation weiterzugeben und zu unterstützen (40 Prozent). Für ein Viertel steht der Wunsch im Vordergrund, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, da es ihnen selbst recht gut ergangen ist. Andere wollen ihr Vermögen nachhaltig anlegen oder vermeiden, dass es an den Staat fällt, weil es keine Verwandten mehr gibt. Fast die Hälfte der Menschen, die sich vorstellen können, einen guten Zweck im Testament zu bedenken, würde sich für den Umwelt- oder Tierschutz entscheiden. Bemerkenswert ist der Anstieg im Bereich der Bürger- und Menschen-
rechte: Konnte sich im Jahr 2013 nur ein Prozent der Befragten vorstellen, dieses Thema ins Testament aufzunehmen, waren es 2019 bereits 15 Prozent. Wir freuen uns über dieses gute Ergebnis – aber es zeigt uns auch, dass noch mehr öffentliche Information nötig ist. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, schauen Sie nach auf www.amnesty.de/testament oder bestellen Sie unseren Ratgeber zur Nachlassplanung unter www.amnesty.de/inzukunft. Ihre Fragen dazu beantwortet Ihnen gerne Sandra Lüderitz-Korte (Tel.: 030 - 42 02 48 354, E-Mail: inzukunft@amnesty.de).
Foto: Jarek Godlewski / Amnesty
Fast ein Drittel der über 50-Jährigen in Deutschland kann sich vorstellen, mit dem Testament einen guten Zweck wie Amnesty International zu unterstützen. Von Sandra Lüderitz-Korte
Engagement braucht Unterstützung. Ein Vermächtnis kann helfen.
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk
AKTIV FÜR AMNESTY
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Sumit Bhattacharyya, Urvashi Butalia, Hannah El-Hitami, Malte Göbel, Oliver Grajewski, Patricia Hecht, Knut Henkel, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Sabine Küper, Bartholomäus von Laffert, Felix Lill, Sandra Lüderitz-Korte, Katharina Masoud, Gaetano Massa, Arndt Peltner, Wera Reusch, Till Schmidt, Uta von Schrenk, Wolf-Dieter Vogel, Silke VoßKyeck, Elisabeth Wellershaus, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG
Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
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Fotos © Amnesty International
Street-Artist Ben Eine setzt sich künstlerisch für Menschenrechtsverteidiger_innen ein (in Romford, Großbritannien, 2017)
Amnesty International sucht gut sichtbare Hauswände für die Menschenrechte. Wir möchten im Rahmen der Kampagnenarbeit unsere Botschaften möglichst überall in Deutschland zeigen. Ob in Innenstädten, in Wohngebieten, an Garagen, an Lagerhallen oder an viel befahrenen Straßen, allerorts gibt es gute Stellen – da sind wir uns sicher. Wer kennt Immobilienbesitzer_innen, die Lust haben uns zu unterstützen? Wir kommen mit klaren Botschaften, schlauen Fragen und schönen Bildern. Zusammen mit lokalen oder internationalen Künstler_innen entwickeln wir die passende Gestaltung ganz individuell. Meldet euch einfach unter hauswand@amnesty.de und wir prüfen gemeinsam, welche Gestaltung am besten zu euch und eurer Wand passt.