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Meditation
from Angelus n° 12 /2021
by Cathberne.ch
DAS WEIHNACHTSGESCHENK
24. DEZEMBER. VIERTEL NACH FÜNF. DRAUSSEN HERRSCHT BEREITS FINSTERE NACHT UND VON IHR FEHLT JEDE SPUR.
Sollten wir uns Sorgen machen? Grosstante Margrit ist unser Weihnachtsgast. Sie ist partner- und kinderlos geblieben und hat ihr Leben lang bei Verwandten Weihnachten gefeiert. Diese Feiern endeten oft in Streit und mit gegenseitigen Vorwürfen. Margrit gilt als schwierige Person, ohne grosse Bereitschaft sich anderen Menschen anzupassen. Ihre bisherigen Gastgeber und Gastgeberinnen sind nun älter und gebrechlicher geworden und organisieren keine eigenen Feiern mehr. Seit ihrem fünfundsiebzigsten Lebensjahr laden wir sie an unsere Weihnachtsabende ein.
Zu Margrits Eigenheiten gehört, dass sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Sie fährt Auto. Auf ihre Art. So weicht sie jeder Autobahn und auch jedem Tunnel aus. Sie orientiert sich an keiner Strassenkarte und sucht sich das Ziel nach einem inneren Kompass. An den Weihnachtsabenden ist sie also wie die Drei Könige unterwegs, die von einem Stern nach Bethlehem geführt wurden. Bei Margrit leuchtet der Stern in ihren Gedanken. Um die Mittagszeit ist sie losgefahren für die 200 Kilometer von der Ostschweiz bis hier ins Seeland. Endlich läutet sie an der Haustüre – Gottseidank.
Unsere Kinder sind fasziniert von ihr. Sie hat einige Zeit in Amerika und Italien gearbeitet, später in der Schweiz einen privaten Logopädie-Service aufgebaut, der auch Kinder in abgelegenen Weilern und Dörfern besuchte. Diese Erfahrungen haben wohl ihren Orientierungssinn beim Autofahren geprägt. Nun legt sie ihre mitgebrachten Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Sie sind in benutztes Geschenkpapier eingewickelt, das sie an vorherigen Weihnachten eingesammelt und wieder flach gestrichen hat. Der Abfallberg, der während dem Geschenkauspacken entsteht, bereitet ihr grosses Unbehagen. Sie selber wirft nichts weg. Wortwörtlich. Ausserdem hat sie Hunger.
Während die anderen Familienmitglieder die letzten Saucen und Beilagen für das Fondue Chinoise auf den Tisch stellen, tunkt Margrit bereits ihre Gabel ins heisse Bouillonpfännli. Auf die Gabel hat sie mehrere Fleischstücke gespiesst. Ungläubig schauen wir ihr beim konzentrierten Essen zu, als habe sie noch nie genug bekommen. Was wohl auch stimmt: Sie hat in ihrem Leben wenig Wertschätzung erfahren dürfen.
Vor drei Jahre ist Margrit gestorben. Seit sie an unseren Feiern nicht mehr dabei ist, wird uns bewusst: Sie war nicht unser Gast, sie war unser Weihnachtsgeschenk.
Niklaus Baschung
Weihnachtstern auf der Spitze eines beleuchteten Weihnachtsbaums.
Foto: shutterstock