Oriental Grand Tour. Fotografien aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog

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Fotografien aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog

13. September – 13. Dezember 2020

www.antikenmuseumbasel.ch

Studioporträt eines Dragomans (Reiseführer), 1860-1880 Félix Bonfils © als Sammlung by Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel. All rights reserved.

Oriental Grand Tour


DIE FOTOSAMMLUNG RUTH UND PETER HERZOG Die Sammlung des Ehepaares Ruth und Peter Herzog-Wyss erzählt die Geschichte der Menschen in der Industriegesellschaft in Fotografien seit 1839. Es sind Werke der Pionierzeit und Dokumente aller Epochen, professionelle, künstlerische, aber auch Amateur-Fotografien. Sämtliche analoge Techniken der Fotografie-Geschichte seit der Erfindung des Mediums sind präsent. Der kontinuierliche Ausbau der Kollektion beinhaltet neben deren Archivierung und Konservierung auch die Veranstaltung von Workshops, Fachtagungen und Führungen, die Realisierung von Ausstellungen in eigenen Räumlichkeiten wie auch in anderen Institutionen. 2


Hinzu kommen Publikationen wie Ausstellungskataloge, Bücher, Beiträge in Zeitschriften und Magazinen, Postkarten, Plakate, Videos. Für Lehre, Forschung, Ausstellungen und Publikationen stehen Sammlungsgut, Fachwissen und Bibliothek zur Verfügung sowohl für interessierte Privatpersonen als auch nationale und internationale Institutionen (Schulen, Universitäten, Museen). Peter und Ruth Herzog-Wyss haben mit Akribie, Hartnäckigkeit und Fachkenntnis die Fotosammlung aufgebaut und dazu nicht nur ihre ganze Arbeitskraft, sondern auch alle ihre materiellen Ressourcen eingesetzt. Für ihre unermüdliche kulturelle Leistung sind sie gemeinsam 2000 mit dem Kulturpreis Basel-Stadt und 2002 mit der Ehrendoktorwürde der PhilosophischHistorischen Fakultät der Universität Basel ausgezeichnet worden. 3

ITINERA CUM CAMERA Nachdem jahrhundertelang Händler, Soldaten und Missionare ihren weltweiten jeweiligen Tätigkeiten nachgegangen waren, erhielt man dank der 1839 erfundenen Fotografie erstmals die Möglichkeit, auf verhältnismässig einfache Art das in fremden Ländern und auf fernen Kontinenten Gesehene bildlich festzuhalten. Davon legen die im Antikenmuseum Basel ausgestellten Fotografien eindrücklich Zeugnis ab. Unmittelbar nach der Erfindung des Mediums verbreitete sich das fotografische Wissen und Können sehr schnell. Das zuvor oft mühsame Zeichnen antiker Stätten wurde abgelöst durch die doch (nach Einführung der Trockenplatte) eher einfacher zu bewerkstelligende Fotografie. Fotografische Ateliers entstanden, wobei in der Pionierzeit 4


des Lichtbildes (ca. 1839–1860) zuweilen angeheuerte Fotografen zum Beispiel Adlige auf der sogenannten Grand Tour, der Reise rund ums Mittelmeer, begleiteten. Wenn anfangs nur wenige Gebildete und Begüterte (vor allem Engländer und Franzosen) die biblischen Orte und antiken Stätten besuchten, folgten diesen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Touristen, die ebenfalls nach Fotografien verlangten, um diese später stolz den zu Hause Gebliebenen präsentieren zu können. Parallel zur Industrie des Tourismus entstand diejenige der Fotografie. Davon zeugen Tausende von Bildern unserer Sammlung, von denen einige hier zu sehen sind: Italien, Griechenland, Ägypten, die Türkei, Palästina, Persien: Kein Monument, das der Fotografie entgangen wäre. Verkauft wurden diese Fotografien meist direkt von Foto-

ateliers, die einzelne Bilder aber auch ganze Alben, zusammengestellt nach dem Wunsch der Besucher, feilboten. Neben den erwähnten Monumenten konnte man auch Landschaftsdarstellungen der jeweiligen Länder und Bilder sogenannter „Volkstypen“ erwerben. Dabei agierten gewisse Modelle, die immer wieder in Erscheinung treten, einmal als Wasser- oder Melonenverkäufer, dann wieder als Rabbiner oder Haremswächter. Das Bedürfnis der männlichen Kundschaft nach dem Exotischen bediente man mit Fotografien mehr oder weniger hübscher und bekleideter Damen, die ebenfalls in verschiedenen Rollen auftreten konnten. Merkwürdigerweise taten sich Archäologen lange schwer mit der Fotografie, obwohl bereits William Henry Fox Talbot (1800–1877), der Erfinder des Papiernegativs (1840), den offensicht-

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lichen Vorteil des Verfahrens u.a. anlässlich von Ausgrabungen erwähnt hatte. Heute sind wir glücklich darüber, dass uns etliche Archäologen, nebst schriftlichen und gezeichneten Dokumenten auch solche in fotografischer Form hinterlassen haben. So ist dank der Fotografie vieles erhalten geblieben, das sonst unwiederbringlich verloren gegangen wäre. Gerade die Archäologen schulden dem Medium grossen Dank, denn ohne die Fotografie fehlten oft wichtige Hilfsmittel beim Rekonstruieren antiker Stätten und Denkmäler. Peter Herzog

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ORIENTREISEN UND FOTOGRAFIE IM 19. JAHRHUNDERT Reisen in den Nahen Osten erfuhren im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Aufschwung. Ganz in der Tradition der Grand Tour, einer seit dem späten 17. Jahrhundert vor allem bei englischen, deutschen und französischen Adeligen beliebten Bildungsreise, die als Destination Italien, Griechenland und Kleinasien umfasste, entwickelte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ein auf wohlhabende Europäer ausgerichteter Reisetourismus in den Orient. Die Faszination, die der Orient auf Europa ausstrahlte, war indes nicht neu. Beflügelt durch die Schilderungen früher Entdecker und Abenteurer, die Gemälde der Vertreter des Orientalis8


mus sowie durch den Willen, dem Weg christlicher Pilger ins Heilige Land zu folgen und neu entdeckte archäologische Stätten zu besuchen, wagten sich europäische Reisende vermehrt auf die strapaziöse Reise. Auch trugen Reiseberichte, wie F.-R. Chateaubriands «Itinéraire de Paris à Jérusalem» (1811) oder G. de Nervals «Voyage en Orient» (1851) massgeblich zur Orientfaszination bei. Im Kontext der frühen Orientfotografie nimmt vor allem die Reise eines weiteren Schriftstellers eine besondere Rolle ein: diejenige von Gustave Flaubert (1821–1880). Mit seinem Freund, dem Fotografen Maxime Du Camp (1822–1894), bereiste Flaubert zwischen 1849 und 1852 Ägypten, Nubien, Palästina, Kleinasien und Griechenland. Du Camp ergänzte Flauberts Reisenotizen mit Fotografien und brachte rund 200 Papiernegative aus

der Erkundungsreise mit, die er in mehreren Bänden, wie «Souvenirs et Paysages d’Orient» (1848) oder «Égypte, Nubie, Palestine, Syrie» (1852), publizierte. Bei seinen Aufnahmen bediente er sich der um 1841 entwickelten fotografischen Technik der Kalotypie (bzw. Talbottypie, benannt nach deren Erfinder William Henry Fox Talbot). Der grosse Vorteil der Kalotypie gegenüber früheren Techniken wie der Daguerreotypie, bei der jede Fotografie ein nicht weiter reproduzierbares Unikat darstellte, bestand darin, dass es sich um ein Negativ-Positiv-Verfahren handelte, bei dem durch Kontaktkopie von einem Papiernegativ mehrere positive Abzüge gewonnen werden konnten. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, die gewonnenen Fotografien zu reproduzieren und in Alben zu publizieren. Mitte des 19. Jahrhunderts brach mit der

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Perfektionierung der Kalotypie und der Verwendung von Glasplatten anstelle von Papier als Trägermedium das goldene Zeitalter der Fotografie an. Die Entfaltung der Fotografie als Mittel der Dokumentation förderte die Begeisterung für Orientreisen, die ihrerseits die Verwendung und Verbreitung der Fotografie im Nahen Osten beeinflusste. Europäische und einheimische Fotografen eröffneten seit den 1860erJahren zahlreiche spezialisierte Fotostudios, beispielweise in Beirut, Konstantinopel oder Damaskus, um die Nachfrage nach fotografischen Reiseerinnerungen bedienen zu können.

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REISEN IN DEN ORIENT Waren Reisen in den Nahen Osten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine selektive Angelegenheit, die sich auf Diplomaten, Forscher, Pilger und eine privilegierte Oberschicht beschränkte, demokratisierte sich die Reisetätigkeit bereits um die 1850er-Jahre. Dank der Verbesserung der Reisemöglichkeiten, wie dem Ausbau von Schiffsrouten und Eisenbahnverbindungen, sowie der zunehmenden Öffnung nahöstlicher Länder für westliche Reisende dehnte sich die Reisetätigkeit auf ein breiteres Bürgertum aus. Das Verlangen nach universaler Bildung, der Reiz der Exotik, aber auch der Wille, auf biblischen Pfaden die Geschichte des Christentums zu erfahren, lockten vermehrt Europäer in den Nahen Osten. 12


Diese Motivationen unterstützte nicht zuletzt ein vom Kolonialismus geprägtes Überlegenheitsgefühl gegenüber dem „Morgenland“. 1869 bot der, zunächst auf Europareisen spezialisierte, englische Unternehmer Thomas Cook seiner europäischen Kundschaft erstmals eine Nil-Kreuzfahrt an. Im gleichen Jahr wurden auch die ersten organisierten Reisen nach Palästina angeboten. Von Europa gelangte man auf unterschiedlichen Routen in den Nahen Osten. Meist fuhren die Reisenden per Schiff zunächst nach Alexandria oder Port Saïd, um dann nach Jaffa, Beirut oder Tripolis überzusetzen. Eine weitere Schiffsverbindung führte über den Piräus (in Griechenland) nach Konstantinopel oder Smyrna (Izmir), von wo aus die Reise in die Levante führte. Zunächst konzentrierten sich die angebotenen Reisen, die

unterdessen auch auf eine eigene Infrastruktur mit lokalen Reisebüros, Reiseführern (sog. Dragomanen) und Unterkünften zurückgreifen konnten, auf Palästina, wo der Besuch der christlichen Stätten im Vordergrund stand. Mit der Zeit wurden aber auch weitere Reisedestinationen im Libanon und in Syrien angeboten, wobei der Fokus auf antiken Sehenswürdigkeiten wie Baalbek und später auch Palmyra lag. Betrachtet man die Entwicklung des Orienttourismus im 19. Jahrhundert und dessen zunehmende Beliebtheit, so erstaunt es nicht, dass parallel dazu die auf die Bedürfnisse der Reisenden zugeschnittene Orientfotografie einen regelrechten Boom erlebte.

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1 Studioporträt eines Dragomans (Reiseführer) Albuminabzug, 1860–1867 Félix Bonfils Inv. L0412_F16 2 Reisegruppe in Bethanien (Judäa) Silbergelatineabzug, 1894 Unbekannter Fotograf Inv. L0415_F22

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 15

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GRIECHENLAND Griechenland bildete auf dem Rückweg oft eine der letzten Stationen für die europäischen Orientreisenden. Deren Interesse galt – wie zur Zeit der Grand Tour im 17. und 18. Jahrhundert – hauptsächlich den antiken Monumenten. Dimitrios Konstantinou (1820– 1900) gilt als einer der frühesten Fotografen Griechenlands. Zunächst als Assistent der Fotografiepioniere James Robertson (1813–1888) und Felice Beato (1832–1909) während deren Griechenlandreise tätig, gründete er 1858 in Athen ein eigenes Fotostudio und verkaufte Aufnahmen antiker Stätten an Touristen. Neben dieser kommerziellen Fotografie arbeitete Konstantinou auch in den Diensten der Archäologischen Gesellschaft in Athen, für die er die Monumente der Stadt 18


aufnahm und deren Arbeiten er dokumentierte. So sind auf seinem berühmten Bild der Athener Akropolis die Schutthügel, die in Folge der von der Gesellschaft unternommen Reinigungsarbeiten entstanden, deutlich zu sehen. Ebenfalls auf der Fotografie zu erkennen ist im Bereich der antiken Propyläen der sog. Frankenturm, ein aus dem 14. Jahrhundert stammender Wehrturm, der 1875 abgetragen wurde. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit der ersten grossen archäologischen Grabungen in Griechenland und insbesondere in Athen. Zahlreiche Monumente, wie das Dionysostheater auf der Fotografie von Henri Beck, wurden freigelegt und restauriert. Die Fotografie diente bei weitem nicht nur der Dokumentation antiker Monumente: Auch Unternehmungen, die vom Fortschritt Griechenlands zeugten, wie der

Bau des Kanals von Korinth (1881–1893), der der Schifffahrt die gefährliche Umfahrung der Peloponnes ersparte, lieferten beliebte Fotosujets.

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3 Athen, Südabhang der Akropolis Albuminabzug, 1860–1865 Dimitrios Konstantinou Inv.-Nr. L0363_F13 4

Athen, Dionysostheater zur Zeit der Ausgrabungen Albuminabzug, 1864–1868 Henri Beck Inv. L0363_F19

5 Bauarbeiten am Kanal von Korinth Lichtdruck, um 1885 Unbekannter Fotograf Inv. L0352_F12

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 21

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KONSTANTINOPEL Konstantinopel – die Brücke zwischen Orient und Okzident – war zweifelsohne eine der wichtigsten Städte für die Erfolgsgeschichte der Orientfotografie. Die „Perle am Bosporus“ zog zahlreiche Europäer in ihren Bann, wie den französischen Schriftsteller Pierre Loti (1850–1923). Seine Beschreibungen Konstantinopels im Roman «Aziyadé» (1879) liefern ein einschlägiges Zeugnis für die Faszination, welche die Stadt auf westliche Besucher ausübte. Mit der Zunahme der Orientreisenden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen wachsenden Nachfrage nach Fotografien etablierten sich vor Ort zahlreiche Fotostudios. So eröffnete Pascal Sébah (1823–1886) bereits 1857 sein erstes Fotoatelier im 24


Pera-Viertel. Die Wahl fiel kaum zufällig auf dieses Stadtquartier, stand es doch mit seinen ausländischen Botschaften, Konsulaten und Hotels im Zentrum der touristischen Aktivitäten Konstantinopels. Sébah, Sohn eines syrischen Katholiken und einer armenischen Mutter avancierte zu einem der produktivsten Fotografen der Stadt. Sein Sohn, JeanPascal Sébah (1872–1947), führte das Studio weiter und schloss sich 1890 mit dem Franzosen Policarpe Joaillier zusammen. Neben den für diese Zeit typischen Porträtfotografien, die bei der westlichen Käuferschaft auf grossen Anklang stiessen, spezialisierten sich Sébah und Joaillier auch auf die (architektonischen) Sehenswürdigkeiten der Stadt am Bosporus. So wurden sie kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges beauftragt, sämtliche Monumente Konstantinopels fotografisch festzuhalten.

Ebenfalls aus Armenien stammten die drei Brüder Viçen (1820–1902), Hovsep (1830–1908) und Kevork Abdullah (1839–1918), die unter dem Namen Abdullah Frères 1858 im Pera-Viertel ihr erstes Fotostudio eröffneten. Auch sie führten in ihrem Repertoire Aufnahmen der Stadt, insbesondere Panoramabilder, erlangten aber auch durch Porträtfotografien berühmter Persönlichkeiten ein solches Renommee, dass sie 1863 vom osmanischen Sultan Abdülaziz zu offiziellen Hoffotografen erkoren wurden. Die zahlreichen Fotografien, die sie im Auftrag der Hohen Pforte nicht nur von Konstantinopel selbst, sondern auch vom gesamten osmanischen Reich anfertigten, wurden 1893 in Alben zusammengefasst und sowohl der Library of Congress in Washington als auch dem British Museum in London geschenkt.

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Konstantinopel, Galatabrücke Albuminabzug, 1870–1875 Pascal Sébah Inv. L0363_F23

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Konstantinopel, Hauptraum der Hagia Sophia Albuminabzug, 1860–1870 Pascal Sébah Inv. L0363_F25

7 Konstantinopel, Stadtviertel Pera Albuminabzug, 1885–1895 Guillaume Berggren Inv. L0391_F10 8 Konstantinopel, Yeni-Djami-Moschee Albuminabzug, 1870–1880 Viçen Abdullah Hovsep Abdullah Kevork Abdullah Inv. L0363_F29

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 27

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BEIRUT Neben Konstantinopel galt auch Beirut als Hochburg der frühen Orientfotografie. Als Anlaufstelle zahlreicher Schiffsrouten aus Europa bildete die Stadt den Ausgangspunkt für Exkursionen ins Landesinnere oder für die Weiterreise nach Jerusalem oder Damaskus. Mit den zunehmenden Touristenströmen bildete sich hier eine blühende Nachfrage nach fotografischen Souvenirs. 1867 gründete der aus Alès (Frankreich) stammende Félix Bonfils (1831–1885) das berühmteste und erfolgreichste Fotostudio Beiruts – die «Maison Bonfils» –, das er zusammen mit seiner Frau Marie-Lydie Cabanis und später mit seinem Sohn Adrien führte. Die «Maison Bonfils» entwickelte sich zum regelrechten Marktführer mit mehreren hundert Negativen und 30


15’000 Abzügen im Angebot. Nach kurzer Zeit eröffnete Bonfils auch in Alexandria, Kairo, Jerusalem und Baalbek weitere Filialen. Zunächst spezialisierte sich Bonfils auf Aufnahmen biblischer Stätten, die er einzeln oder als fünfteiliges, mit kurzen, beschreibenden Notizen versehenes Album mit dem Titel «Souvenirs d’Orient» (1877) anbot. Für dieses Werk erhielt er anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1878 eine Auszeichnung, welche die Berühmtheit der «Maison Bonfils» nochmals steigerte. Bei Touristen besonders beliebt waren ab 1870 nebst den gängigen Denkmälerfotografien Bonfils’ Studioaufnahmen von Einheimischen, wie die eingangs gezeigte Fotografie eines Dragomans. Diese heute als eher klischeehaften und nicht unproblematisch geltenden Bilder, in

welchen Einheimische nach Volksgruppen, Berufen und sozialen Rollen inszeniert und abgebildet wurden, bedienten das bei Europäern weit verbreitete Klischee des „andersartigen Orientalen”. 10 Beirut Albuminabzug, 1860–1880 Félix Bonfils Inv. L0361_F8 11

Beirut und das Libanongebirge Albuminabzug, um 1870 Félix Bonfils Inv. L0412_F9

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung)

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HEILIGES LAND Seit Beginn der Orientfotografie nahm Palästina einen besonderen Stellenwert ein. Diese Entwicklung ist eng mit der im 19. Jahrhundert blühenden Palästinaforschung zu verstehen. Bis anhin war dieses Gebiet nur wenigen Pilgern, Missionaren und frühen Forschungsreisenden vorbehalten, doch sollte vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Erforschung Palästinas eine Hochkonjunktur erleben. Zeugnis davon legen beispielsweise der britische Palestine Exploration Fund (1865) oder der Deutsche Verein zur Erforschung Palästinas (1877) ab. Beide Institutionen bestehen noch heute. War es zunächst eine wissenschaftlich-dokumentarische Motivation, welche Fotografiepioniere 34


wie den Franzosen Maxime Du Camp (1822–1894) oder den Briten Francis Frith (1822–1898) in die Levante führte, so hielt sehr bald die kommerzielle Orientfotografie Einzug im Heiligen Land, das als Reiseziel immer beliebter wurde. Die politische Schwäche des Osmanischen Reiches und eine verstärkte Präsenz der europäischen Grossmächte führten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Öffnung der Region für europäische Reisende. Mit der Verbesserung der Reiserouten und einer damit einhergehenden Zunahme religiös motivierter Reisen bildeten die biblischen Stätten eine beliebte Destination für europäische Touristen. In der Folge früherer Pilger- und Forscherreisen galt allen voran Jerusalem als Hauptziel, aber auch Bethlehem, Jericho, Hebron, Nazareth und der See Genezareth wurden zu Etappen weiterer

Reiseprogramme. Obwohl in Jerusalem vor allem die für das Christentum bedeutenden Monumente (wie beispielsweise die Grabeskirche oder die Via Dolorosa) im Zentrum des Interesses standen, wurden jüdische und islamische Gedenkstätten (wie die Klagemauer oder der Felsendom) ebenso besucht und fotografisch festgehalten. So publizierte die «Maison Bonfils» die Fotografiealben «Souvenirs de Jérusalem» (1880) und «Nazareth et ses environs» (1894).

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Jerusalem, Felsendom Albuminabzug, 1890–1894 Francis Frith Inv. L0415_F12

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Jerusalem, Davidszitadelle Photochrom, 1895 Photoglob Co. Inv. L0415_E1_F3

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Jericho (Palästina) Photochrom, 1895 Photoglob Co. Inv. L0415_E1_F1

16 Pilger in Bethlehem an Weihnachten Albuminabzug, 1860–1880 Félix Bonfils Inv. L0361_F23

15 Kloster von Mar Saba (Palästina) Albuminabzug, 1860–1880 Félix Bonfils Inv. L0412_F6 © Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 37

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SYRIEN Auch ausserhalb Palästinas galt das Interesse der europäischen Reisenden zunächst den Zeugnissen der biblischen Überlieferung. Eine von F. Bonfils in seinen «Souvenirs d’Orient» (1877) abgedruckte Aufnahme zeigt beispielsweise einen Abschnitt der Damaszener Stadtmauer, an dem gemäss der Apostelgeschichte (9, 25) Paulus aus der Stadt gef­lohen sein soll. Nach den christlichen Orten sollten jedoch schon bald auch die „heidnischen“ Monumente des Nahen Ostens zu ebenso beliebten Reisezielen avancieren. Louis Vignes (1831–1896) zählt zusammen mit Luigi Pesce (1827–1864) zu den frühesten Orientfotografen. Bereits als junger Marinesoldat befasste sich Vignes mit der noch jungen Technik der Kalotypie 40


und dokumentierte fotografisch eine Reise, die ihn zwischen 1859 und 1862 nach Sizilien, in die Türkei, in den Libanon und nach Palästina führte. Aufgrund seiner fotografischen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse des Nahen Ostens wurde Vignes von der französischen Marine dem Fürsten und Altertumsforscher Honoré d‘Albert Duc de Luynes (1802–1867) empfohlen, der eine Orientexpedition plante und für dieses Projekt einen Fotografen suchte. Die im Jahre 1864 durchgeführte Reise führte Vignes von Beirut über Palästina bis nach Palmyra. 62 Fotografien Vignes’ wurden in der 1871 posthum gedruckten Publikation «Voyage d’exploration à la Mer Morte, à Petra et sur la rive gauche du Jourdain» des Duc de Luynes publiziert. Die beiden hier gezeigten Aufnahmen wurden zwar von Vignes in Palmyra angefertigt, jedoch nicht im

Reisebericht abgedruckt. Der berühmte französische Fotograf Char­les Nègre reproduzierte die beiden Bilder vor der Publikation des Reiseberichtes auf Albuminpapier. Sie stellen daher die frühesten fotografischen Zeugnisse Palmyras dar. Die Aufnahme des Grabturms des Elahbels ist umso bemerkenswerter als dieser 2015 dem zerstörerischen Wahn des sog. Islamischen Staates zum Opfer fiel und unwiederbringlich zerstört wurde.

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Damaskus, Stadtmauer Albuminabzug, 1875 Félix Bonfils Inv. L0363_F30

18 Damaskus, Innenhof der Umayyaden-Moschee Albuminabzug, 1865–1875 Suleiman Hakim Inv. L0415_F19 19

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Palmyra, Grabtempel Albuminabzug, 1864 Louis Vignes Inv. L1031_F9

21 Palmyra, Grabturm des Elahbel Albuminabzug, 1864 Louis Vignes Inv. L1031_F10

Baalbek, Bacchustempel Albuminabzug, 1872 Félix Bonfils Inv. L0363_F35

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 43

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PERSIEN Der neapolitanische Offizier Luigi Pesce (1827–1864) gelangte 1848 in den Iran, wo er in den Diensten des Schahs von Persien, Nāser ad-Din Schāh, die persische Infanterie modernisieren sollte. Nebst seiner Tätigkeit als Militärinstruktor betätigte sich Pesce auch als Amateur-Fotograf. In dieser Rolle und dank seiner offiziellen Funktion am Hof des Schahs konnte er nicht nur Ansichten von Teheran fotografieren, sondern durfte auch die Mitglieder der königlichen Familie ablichten. Gefördert wurde seine Tätigkeit als Fotograf vom Schah persönlich, der eine Leidenschaft für die noch junge Technik der Fotografie entwickelt hatte. Bereits 1850 hatte der Schah den französischen Daguerreotypisten Jules Richard nach 46


Persepolis gesandt, um die achämenidische Residenzstadt fotografisch festzuhalten, was jener mangels finanzieller Mittel jedoch nicht realisieren konnte. 1857 unternahm Pesce, der im Gegensatz zu Richard die Bedeutung einer solchen Expedition erkannt hatte und sich die Gunst des Schahs sichern wollte, auf eigene Kosten eine Expedition zu den historischen Ruinenstätten Persiens. Pesces Fotografien von Persepolis, Pasargadae oder Naqsch-e Rostam gelten als die frühesten erhaltenen Aufnahmen dieser antiken Stätten. Das Resultat dieser Fotokampagne, angereichert mit Aufnahmen von Teheran, präsentierte Pesce seinem Auftraggeber 1858 in Form eines Albums, das heute noch in der Sammlung des Golestanpalastes in Teheran aufbewahrt wird. Weitere Abzüge, die er ebenfalls in Alben

sammelte, schickte Pesce dem Grafen Camillo Benso von Cavour sowie Kaiser Wilhelm I. von Preussen. Eine Auswahl von 42 Salz- und Albuminabzügen fasste Pesce in einem weiteren Album zusammen, das er seinem Freund, dem berühmte englischen Diplomaten und „Vater der Assyriologie“, Sir Henry Creswicke Rawlinson (1810–1895), 1860 als persönliches Abschiedsgeschenk kurz vor dessen Abreise aus Persien überreichte. Die Aufnahmen Pesces sind nicht nur deshalb von besonderem historischem Wert, weil sie die frühesten Fotografien altpersischer Monumente darstellen, sondern auch, weil sie zahlreiche Monumente Teherans abbilden, die heute nicht mehr existieren oder stark umgebaut wurden.

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Persepolis, Torbau („Tor aller Länder“) Albuminabzug, 1858 Luigi Pesce Inv. L0337_E1_F5

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Persepolis, Relief mit tributbringenden Völkern an der Nord-Treppe des Empfangssaals („Apadana“) Albuminabzug, 1858 Luigi Pesce Inv. L0337_E1_F10

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Taq-e Bostan, Sassanidisches Relief mit Eberjagd Albuminabzug, 1850–1858 Luigi Pesce Inv. L0337_E1_F14

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Naqsch-e Rostam, Sassanidisches Relief Albuminabzug, 1850–1858 Luigi Pesce Inv. L0337_E1_F9w

© Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett, Basel (Stiftung) 49

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IMPRESSUM Gesamtleitung: Andrea Bignasca Michel Pompanin Ausstellungskonzept: Laurent Gorgerat Claudia E. Suter Leihgeber: Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett (Stiftung), Basel Szenografie & Grafik: Giorgia Imber Trinidad Moreno Werbemittel & Social Media: Tine Dittmar Texte: Laurent Gorgerat Peter Herzog Lektorat: Anna Laschinger Tomas Lochman 51

Übersetzungen: Aurélie Gorgerat (frz.) Sandy Hämmerle (engl.) Restaurierung / Montagen: Kurt Bosshard Susanne Dürr Olivier Berger Medienarbeit / Marketing: Alexandra Maurer Montagen / Technik: Abdeslam Achlhi Urs Kaufmann

Die Ausstellung wurde ermöglicht durch: Claudia E. Suter 52


Weiterführende Literatur: B. Forster, Fotografien als Sammlungsobjekte im 19. Jahrhundert. Die Alphons-Stübel-Sammlung früher Orientfotografien (Weimar 2013) J. Hannavy (Hrsg.), Encyclopedia of Nineteenth-Century Photography, Vol. 1 A-I (New York 2008) M. Luchterhandt (Hrsg.), Das unschuldige Auge. Orientbilder in der frühen Fotografie, Katalog zur Ausstellung Göttingen, Kunstsammlung der Universität, 23. April – 17. September 2017 (Petersberg 2017) C. W. Sui – A. Wieczorek (Hrsg.), Ins Heilige Land. Pilgerstätten von Jerusalem bis Mekka und Medina, Katalog zur Ausstellung Mannheim, Reiss-Engelhorn-Museen, 23. Juli – 5. November 2006 (Heidelberg 2006)

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Medienpartner:

Ermรถglicht durch Claudia E. Suter


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