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Der deutsche Konservatismus | Grundlagen

Von Ludwig Elm

Der deutsche Konservatismus Herkunft, Dilemma und neue Ambitionen In der Präambel zum Entwurf eines neuen Parteiprogramms der CDU wird neben der christlich-sozialen und liberalen auch die wertkonservative Strömung unter den Herkünften der Partei genannt. Das ist eine Charakteristik, die Erhard Eppler Mitte der siebziger Jahre in die Konservatismus-Debatten einbrachte und die rasch Verbreitung fand. Demzufolge sei zwischen Struktur- und Wertkonservatismus zu unterscheiden. Strukturkonservatismus stehe für Bestrebungen und Institutionen, die Besitzstände und Machtverhältnisse, überkommene soziale Schichtungen und Hierarchien sowie Privilegien rechtfertigen und verteidigen. Wertkonservatismus sei das Eintreten für gesellschaftliche und

ethische Werte, beispielsweise der Ehe und Familie, der Nation und des Staates, der Solidarität und Subsidiarität sowie des Christentums. Es war nicht zufällig, dass „wertkonservativ” im rechten Lager dankbar aufgenommen wurde. Rechtsintellektuelle erkannten den Nutzen, damit einen vor allem in Deutschland diskreditierten Begriff und seine umstrittenen Traditionen zu rehabilitieren. Außerdem eröffnet die Trennung der ethischen Verheißungen vom politischen und wirtschaftlichen Interesse Möglichkeiten für die apologetische Selbstdarstellung. In mehr als dreißig Jahren hat sich niemand als Strukturkonservativer bekannt. Symptomatisch für die negative Instrumentalisierung

Zum Autor Ludwig Elm, *1934. Prof. Dr. phil., lehrte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bis 1991. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen sowie Beiträge in Sammelbänden zur Geschichte der Parteien und der politischen Ideen in Deutschland.

des Begriffs ist, dass der Historiker Heinrich August Winkler jüngst die Linkspartei als „strukturkonservativ” bezeichnete. Dagegen drängeln sich Politiker, Publizisten und Wissenschaftler in einer als wertkonservativ umschriebenen imaginären Mitte. Bundesministerin Ursula von der Leyen fand kürzlich, dass „konservativer Feminismus” ein spannender Begriff sei, denn „konservativ steht dafür, Werte zu erhalten in einer modernen Welt: die Werte der Verantwortungsübernahme für andere, der Verlässlichkeit untereinander”. Wenig später wurde der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Volker Kauder, im Porträt einer Sonntagszeitung als „Prototyp des südwestdeutschen, männlichen, wertkonservativen CDU-Politikers” charakterisiert. Der Generalsekretär der CSU, Markus Söder, meinte, dass seine Partei „vielleicht der wertkonservativere Teil der Union” sei. Selbst im

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Fall Filbinger hatten Gesinnungsfreunde behauptet, dass er vor allem als standhafter Wertkonservativer angegriffen worden sei. Tatsächlich können in den Strömungen der Politik und politischen Ideologie die soziale Basis, das jeweilige Klassen- oder Gruppeninteresse und die spezifischen geistig-moralischen Anschauungen und Leitbilder nicht voneinander getrennt werden. Die relative Eigenständigkeit einzelner sozioökonomischer, politischer oder geistig-kultureller Komponenten wird damit nicht bestritten. Wer nimmt jedoch einem George W. Bush und seinem neokonservativen Umfeld noch ab, dass machtpolitische Drohungen sowie militärische Interventionen und Okkupationen weniger dem Interesse an Ressourcen, Machtpositionen und Kapitalverwertung, als angeblich vorrangig Idealen der Demokratie und der Menschenrechte geschuldet seien? Es ist weder neu noch originell, Interessen der Macht, des Besitzes und des Profits hinter patriotischen, konfessionellen oder humanitären Vorwänden und Parolen zu verbergen. Mehr als in anderen Ländern ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts jegliche Diskussion darüber, was Konservatismus für die Gegenwart und Zukunft bedeuten können, durch vergangenes Geschehen beeinflusst.

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Verrufene Vergangenheit Die konservative Strömung der Politik und des politischen Denkens hat das Deutsche Reich ab seiner Gründung 1871 entscheidend geprägt. Autoritäre und militaristische Mitgiften und Einflüsse Preußens, feudal-aristokratische Vorherrschaft, zwiespältige Weltsichten der deutschen Romantik sowie der Vorrang des Eigennutzes beim Bürgertum und seine Furcht vor der aufkommenden sozialistischen Bewegung gingen in das Bismarck’sche Reich ein. Steter Niedergang des Liberalismus begleitete die antidemokratische, alldeutschnationalistische und imperial-militaristische Orientierung, die nach Militär, Bürokratie und eigentlichen Bourgeois auch die Mehrheit des Bildungsbürgertums erfasste. Exzesse während der Intervention in China 1900 sowie im südwestafrikanischen Kolonialkrieg von 1904 bis 1907 signalisierten die im Imperialismus wurzelnde Krise der Humanität. Der Aufbruch an die Fronten des Ersten Weltkrieges sowie die Kriegsführung trugen völkischrassistische und menschenverachtende Züge. Die militärische Niederlage und die Novemberrevolution 1918, der Sturz des preußisch-deutschen Kaisertums sowie weiterer Dynastien und feudalaristokratischer Privilegien erfolgten gegen die langjährigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen

Bestrebungen der deutschen Oberschichten. Diese standen in der Folgezeit mehrheitlich der Republik skeptisch bis feindselig gegenüber. Rechtsintellektuelle radikalisierten die konservativen Ideen und Strategien mit völkischem Nationalismus, Kult der Aristokratie sowie des Führer- und Soldatentums sowie einem ausgrenzenden Antisemitismus. Die als „Konservative Revolution” bezeichnete einflussreiche Richtung nahm irrationale und präfaschistische Züge an. Namhafte Vertreter waren Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Edgar Julius Jung, Carl Schmitt und Oswald Spengler. Der Philosoph Martin Heidegger fand sich als ein Wegbereiter dieses verhängnisvollen Übergangs ebenso ein wie später als Geistesheroe einer restaurativen bundesrepublikanischen Gesellschaft. Schriftsteller, Lehrer und Professoren säten lange vor 1933 in den Köpfen ihrer Leser, Schüler und Studenten, was nazistische Bewegung und Diktatur ernten konnten. Alle bürgerlichen Parteien des Reichstags drifteten nach rechts. Längst waren Reichswehr, militaristische und weitere vaterländische Verbände, das Korporationsstudententum, Mehrheiten des Beam-


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tentums, der Justiz, der Ärzteschaft, der Lehrer und Professoren auf diesem Weg. Ab Sommer 1932 boten nach Deutscher und Deutschnationaler Volkspartei auch das katholisch-konservative Zentrum, die Bayerische Volkspartei und weitere Gruppen an, sich in Preußen wie im Reich mit der Nazipartei auf antisozialistischer und demokratiefeindlicher Grundlage zu arrangieren. Interventionen von Unternehmern, Bankiers und Großgrundbesitzern zugunsten der Nazis, konservative Minister im ersten Hitler- Kabinett vom 30. Januar 1933, die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien zum Ermächtigungsgesetz für Hitler am 23. März 1933 sowie die Hinnahme – wenn nicht gar Unterstützung – des beginnenden Terrors gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Pazifisten, Juden sowie andere Gruppen und Persönlichkeiten signalisierten den Bruch mit fundamentalen zivilisatorischen Normen. Das Ende der Parteien, der parlamentarischen Demokratie sowie der Bürger- und Freiheitsrechte besiegelte bis Sommer 1933 die Fehlentscheidungen von Politikern, die die Staatsmacht, die Justiz und die Medien dem aggressivsten, terroristischen Flügel der deutschen Rechten überlassen hatten.

Scheitern und restaurativer Neubeginn Ohne die extrem fortschritts- und demokratiefeindliche Rolle und den Antisozialismus der Mehrheit der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Führungsgruppen des konservativen Lagers wäre die NS-Diktatur nicht möglich geworden. Diese Erfahrung war 1945 in weiten Kreisen gegenwärtig und speiste Erwartungen an einen radikalen gesellschaftlichen Neubeginn. Das Ende und die Bilanz der Nazibarbarei wurden auch zu Inbegriff des Fiaskos des Konservatismus auf seinem Weg seit 1871, 1914 und 1918/19. „Konservativ” und „Konservatismus” waren mit diesen historisch-politischen Erfahrungen diskreditiert. Selbst die maßgeblichen

Kräfte der Restauration ab 1947/48 vermieden diese Etikettierungen und präsentierten sich vorzugsweise als christlich-demokratisch, abendländisch, europäisch und antitotalitär, wobei letzteres vor allem antikommunistisch bedeutete. Noch Jahrzehnte später sahen sich Rechtsintellektuelle im Bemühen, konservatives Ideengut zu rehabilitieren und zu modernisieren, mit den Nachwirkungen konfrontiert. Gerd Klaus Kaltenbrunner schrieb Anfang der siebziger Jahre, dass nicht nur das Wort „konservativ”, sondern auch Sachen wie Autorität und Tradition abgewertet seien: Eine „konservative Haltung in Politik, Gesellschaft und Kultur wird in breitesten Kreisen als irrelevant, wenn nicht gar als pervers eingeschätzt, gesellschaftlich als Sabotage auf der Fahrt in eine heilere Zukunft, individuell als ein extremer Fall von Pathologie, von moral insanity. Mit einer Mischung von Scham, Widerwillen und Gereiztheit reagiert man auf dieses lästige Phänomen, und so nimmt es nicht wunder, dass konservativ heute durchwegs ein Synonym für reaktionär, restaurativ, indolent, repressiv, autoritär, antidemokratisch, rechtsradikal oder faschistisch ist. Der Konservative gilt als Verkörperung des Ewig-Gestrigen, als Sand im Getriebe des Fortschritts; ihm haftet der Ruf an, für eine geschichtlich überholte, wenn nicht gar endgültig verlorene Sache zu plädieren und soziale Errungenschaften abbauen zu wollen”.1 Neben den geschichtlichen Erfahrungen wirkte der progressive Zeitgeist gegen konservative Ansprüche. Später änderte sich das Klima zugunsten der Rechten. Bis heute beeinflussen jedoch die Altlasten jedes Bemühen um konservative Profilierung. Wie die Weimarer ist die Bundesrepublik von ihren Herkünften und Erbschaften, der Entstehung und den Grundlagen her prinzipiell rechts, konservativ geprägt. Immer offensichtlicher tritt dies mit wachsendem geschichtlichen Abstand beim Blick auf die Mitte-Rechts-Regierungen unter Konrad Adenauer seit 1949

und die Verfassungswirklichkeit der frühen Bundesrepublik zutage. Wie 1918/19 und 1933 findet sich in der Gründungsphase der Bundesrepublik die Dominanz sozioökonomischer Kontinuitäten beim gleichzeitigen Wechsel des politischen Systems. Die Neuformierung der bürgerlichen Parteien nach dem Ende des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs war jeweils durch ihre Mitverantwortung für vorangegangene Fehlentwicklungen, Verbrechen und Opfer verursacht. Sie waren gescheitert und diskreditiert – somit jeweils für einen glaubwürdigen Neubeginn unbrauchbar geworden. Eine Untersuchung zur Frühgeschichte der Hamburger CDU ergab: Von den ersten tausend Mitgliedern waren 528 zuvor parteipolitisch gebunden: KPD (1), SPD (20), Zentrum (171), Christlich-Sozialer Volksdienst (5), Deutsche Volkspartei (41), Deutschnationale Volkspartei (36) und NSDAP (254). Selbst ohne das schließlich weit rechts befindliche Zentrum kam rund ein Drittel (331) der Mitglieder aus dem nationalkonservativen bis faschistischen, rabiat antisozialistischen, völkischen und antisemitischen Spektrum der deutschen Rechten. „Nachfolgeparteien” sollten nicht nur an der Kontinuität von Namen und Organisationsstrukturen, sondern an der der sozialen Milieus und Interessen, der Personen, der Programmatik sowie Freund- und Feindbilder ermittelt und identifiziert werden. Nach ihrem knappen Sieg in der ersten Bundestagswahl im August 1949 stellte die CDU mit Adenauer den Kanzler. Er verfolgte vorrangig sein Ziel einer weit nach rechtsaußen reichenden bürgerlichen Sammlung. Sie nahm in der Koalitionsregierung von CDU, CSU, FDP und Deutscher Partei (DP) Gestalt an und prägte diesen deutschen Staat nach Hitler. In der Union setzte sich der rechte Flügel gegen antifaschistisch-demokratische und christlich-sozialistische Gruppen und Bestrebungen durch. Die FDP war in Landesverbänden wie NRW, Lotta #28 | Herbst 2007 | Seite 53


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Schleswig-Holstein und Bayern sowie weiteren Regionen weithin eine Ansammlung ehemaliger Mitläufer und Funktionäre der Nazipartei. Die schwerpunktmäßig in Niedersachsen wurzelnde DP bekannte sich von Anbeginn als konservative Partei. Franz Josef Strauß sah in ihr zutreffend eine der CSU ähnliche Kraft. Sie hatte wie diese das Grundgesetz im Mai 1949 abgelehnt. Die von ihr vertretenen Interessen der früheren Staatsdiener der NS-Diktatur – bis zu Spitzenbeamten, Blutrichtern sowie Offizieren und Generälen – wurden von Kanzler und Kabinett unterstützt. Es ging um Mitglieder- und Wählerpotenziale, die benötigt wurden, um die hauptsächlichen parteipolitischen Vertreter des Antifaschismus für lange Zeit (SPD) oder für immer (KPD) aus der Regierungsverantwortung auszuschließen. Die Restauration schloss die Verdrängung der jüngsten Geschichte notwendig ein. Sie stützte sich vorrangig auf jene Schichten und Gruppen, die in den Krisen, Kriegen und Diktaturen (neben der faschistischen auch die Militärdiktatur der Jahre 1914 bis 1918 sowie die späteren Machtbefugnisse der Reichspräsidenten) der vorangegangenen Jahrzehnte entscheidende Verantwortung getragen hatten. Es war unmöglich, zugleich deren historisch-politisches Versagen in den Mittelpunkt kritischer Analysen und schonungsloser öffentlicher Kontroversen zu stellen, geschweige denn angemessene juristische und politische Konsequenzen zu ziehen. Die Ende der vierziger Jahre eingeleitete und vor allem von Ludwig Erhard personifizierte Verbindung von Restauration und Neoliberalismus illustriert, dass konservatives Denken und Handeln anpassungsfähig an veränderte Voraussetzungen ist. Stockkonservative Gesellschaftspolitik – beispielsweise hinsichtlich Familie, Frauen und Bildung – schloss technische Modernisierung und hohes Wirtschaftswachstum nicht aus. Grundlagen der sich am Beginn des 21. Jahrhunderts intensiv entfaltenden Symbiose von Konservativen und NeolibeSeite 54 | Lotta #28 | Herbst 2007

ralen sind die Interessen von Großkapital und Oberschichten überhaupt, weltweites Expansionsstreben, Elitarismus und Autoritarismus sowie ein Antisozialismus, der sich vor allem auf das Totalitarismuskonzept stützt. Der Erfolg der Unionsparteien in den fünfziger Jahren ging zu Lasten kleiner nationalkonservativer bis nazistischer Parteien, die sich auflösten und mehrheitlich in die CDU/CSU eingingen. Sie stärkten damit deren deutschnationales und antisozialistisches Potenzial. Es bildete sich das spezifisch konservativ-antikommunistische Milieu der Unionsparteien heraus, in dem bis heute keine einzige der unzähligen NSAffären wirklich zu einem klärenden Abschluss geführt wurde und das andererseits immer wieder Skandale rechtsextremistischer Tendenz hervorbringt. Das Milieu wurzelt in der Gesellschaft und durchdringt unzählige Bewegungen, Einrichtungen und Verbände, darunter die Vertriebenen-, Soldaten- und Korporationsverbände, aber auch Sport-, Heimat- und Kulturvereine. Die Ära Kohl bestätigte und befestigte ungeachtet pragmatischer Züge die rechte Grundverfassung der Bundesrepublik. Das äußerte sich auch in der restaurativen und reformfeindlichen Inbesitznahme der neuen Bundesländer ab 1990. Die rot-grüne Koalition (1998-2005) zeigte sich unfähig, diese Kontinuitäten abzubauen und Alternativen zu eröffnen. Ihre Teilnahme an der Aggression der NATO gegen Jugoslawien förderte die Rückkehr zu äußerer Macht- und Interventionspolitik.

Was ist heute „konservativ”? In einer neuen Studie zum deutschen Konservatismus seit 1945 wird davon ausgegangen, dass die Grundtendenzen in Gesellschaft, politischem System und vorherrschender Ideenwelt der Bundesrepublik am Beginn des 21. Jahrhunderts konservativ sind: „Hauptsächliche heutige Erscheinungsformen und Äußerungen sind die zunehmend ungleichen Besitzund Einkommensverhältnisse, die

Machtkonzentration bei immer kleineren sozialen Gruppen und wenigen Personen, der wachsende Einfluss ihrer Interessen auf die Grundlinien der Politik in allen Bereichen sowie die Bereitschaft, dafür die soziale Ausgrenzung und Deklassierung wachsender Teil- und Randgruppen der Gesellschaft nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern auch als legitime Begleiterscheinung zu konzipieren. Zu den Merkmalen konservativer Politik gehören der Verzicht auf eine progressive, demokratische und sozial gerechte Gestaltung künftiger Gemeinwesen, der Ausbau der Überwachungs- und Kontrollsysteme sowie modernisierter Instrumentarien der Manipulation und der Repression, um künftige Krisen und Erschütterungen beherrschen zu können, andauernde patriarchalische und antiemanzipatorische Hierarchien und Sozialnormen; verhärtete politisch-ideologische Positionen gegenüber wirklichen gesellschaftlichen Reformen und Alternativen sowie der Abbau aufklärerischer Potentiale und der Kult von Esoterik und Mythologien.”2 Es ist bezeichnend, dass die aus den USA überschwappenden „Kreationismus”- und „Intelligent Design”-Bewegungen im Sommer 2007 in ihrer wissenschaftsfeindlichen Tendenz Rückhalt in Roland Kochs hessischer Landesregierung und bürgerlichen Blättern finden. Konstanten der konservativen Ideologie und Programmatik sind Vorstellungen von der Naturgesetzlichkeit sozialer Ungleichheit sowie von evolutionärer und organischer Entwicklung. Das schließt ein, soziale und politische Hierarchien und die Notwendigkeit von Eliten sowie ständische Strukturen der Gesellschaft zu bejahen. Ein skeptisches Menschenbild wird gegen Visionen alternativer Lebensweisen oder Gesellschaften geltend gemacht. Geschichts- und kulturpessimistische Anschauungen gebieten, Krisen, Kriege und überhaupt den „Ernstfall” als Normalität des Daseins anzuerkennen. An realen Widersprüchen des individuellen wie des gesellschaft-


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lichen Lebens anknüpfend, eröffnen sich Chancen für fortschrittsskeptische Geisteshaltungen. Die Gegnerschaft zu Gleichheitsideen und auf deren Verwirklichung gerichtete Bewegungen bildet den roten Faden in der Geschichte des Konservatismus und seinen dauerhaften Wesenskern: von der Frontstellung gegen die Aufklärung und den Liberalismus bis zur Feindschaft gegen Sozialismus, Kommunismus und Marxismus, überhaupt gegen kapitalismuskritische und radikaldemokratische Bestrebungen und Ziele. Die für das geistige Leben der Bundesrepublik charakteristische Servilität gegenüber Monarchien und Aristokratien erwächst aus solchen Prämissen. Sie wird selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen protegiert und fördert subtil die ideell-moralische Unterwerfung unter herrschende Ordnungen und Schichtungen. Nostalgisches Untertanenempfinden wirkt tendenziell gegen bewussten Republikanismus und emanzipatorische Bewegungen. Eduard Beaucamp, namhafter Kunstkritiker dieses Landes, charakterisierte unlängst selbst die zeitgenössisch herrschende Kunst und Ästhetik als konservativ. Eine „gealterte Moderne” sei zum geschlossenen System erstarrt und keine Avantgarde in Sicht; die Kunst werde „nach Nutzungs- und Verwertungskriterien dressiert”: „Es ist der Markt, der die Moderne und ihre Mythen auch nach dem Ende ihrer Epoche künstlich am Leben erhält, um die Ressourcen zu sichern.”3 In der Programmdebatte der Union wird wiederum gefragt, was heute konservativ sein könne oder solle. Hier wirkt das aus der Vorgeschichte überlieferte Dilemma fort. Eine eher sozialkonservative Grundrichtung erinnert an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und an christliche Werte der Gerechtigkeit und Solidarität. Daraus erwachsen Erwartungen an die Politik auf den Gebieten von Arbeit und sozialer Sicherung, Familie und Frauen, Asyl und Integration, Bildung und Umwelt sowie Frieden und Abrüstung.

Entsprechende Forderungen werden vom Arbeitnehmerflügel, von Frauen sowie aus dem sozialkonservativen bis pazifistischen Spektrum erhoben. Die rechtskonservative Richtung setzt auf eine dem wirtschaftlichen und Bevölkerungspotenzial des Landes entsprechende Priorität äußerer Macht- und Interessenpolitik einschließlich der Bereitschaft und Fähigkeit zu weltweiten Interventionen und Teilhabe an Besatzungsregimes. Sie sieht im Nationalismus eine Komponente forcierter Europa- und Weltpolitik. Innenpolitisch werden autoritäre und restriktive Demokratievorstellungen sowie der weitere Abbau des Sozialstaates favorisiert. Der Drang nach klar umrissenen Feindbildern fördert militanten Antikommunismus, der gewerkschaftsfeindliche sowie gegen Antifaschismus und Pazifismus gerichtete Positionen einschließt. Es geht vor allem um diese Orientierung, wenn ums „Konservative“ in der CDU/CSU gestritten wird. Mitte Juli 2007 kam es zu einem Treffen von CDU/CSU-Landespolitikern der jüngeren bis mittleren Generation, die die Suche nach einem „modernen Konservatismus” umtreibt. Daran nahmen Generalsekretäre und Fraktionsvorsitzende aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und BadenWürttemberg wie Markus Söder, Hendrik Wüst und Stefan Mappus teil. Sie bestätigten, dass man sich in der Union weiterhin mit dem Begriff „konservativ” schwer tue. Die Konservativen, bemerkte ein Publizist, befinden sich in der Union seit Jahren in der Defensive. Es falle schwer, „in der CDU Politiker aufzuspüren, die sich zu ihren konservativen Neigungen offen bekennen”: „Wie heute eine zeitgemäße und doch dezidiert konservative Politik aussehen könnte, haben bislang auch diejenigen nicht formuliert, die sie immer wieder fordern”.4 Die Appelle, das konservative Profil zu schärfen, verraten die im rechten Untergrund lauernden deutschnationalen Potentiale und Ressentiments, die in künftigen Krisensituationen ihre Chance erhalten könnten.

Die Erfahrungen der deutschen und europäischen Geschichte sowie das Beispiel der USA unter den rechtskonservativen Präsidenten Ronald Reagan, George Bush sen. und George W. Bush verweisen darauf, dass wahrscheinlich auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, der globalen Ressourcenprobleme – Rohstoffe, Wasser, Klima u.a. – sowie der Rüstungspotentiale die weitreichendsten Entscheidungen fallen werden. Im Konservatismus an der Macht gehen die Priorität der Außen- und Machtpolitik und der Militarismus, die Interessen der Oberschicht sowie der für diese Ziele mobilisierte Nationalismus alarmierende Verbindungen ein. Das Bündnis von Militärmacht und Neoliberalismus offenbart längst auch totalitäre Gefährdungen. Das Bild der Welt bietet dafür unerschöpfliches Anschauungs- und Beweismaterial. Positionsgewinne gegen die Konservativen und Wege zur Umkehr der weltweiten Tendenzen sind im Streit um Ressourcen und Chancen zu erstreiten: in den Fragen von Völkerrecht oder Faustrecht, Abrüstung oder unabsehbare Auf- und Hochrüstung, Frieden oder Krieg als Hauptwege der Politik. Die der architektonischen wie der historisch-politischen Authentizität entbehrenden Fassaden des künftig wieder errichteten Berliner Schlosses sollten nicht zum Symbol des Triumphes einer überwunden geglaubten Vergangenheit über eine menschliche und demokratisch offene Zukunftsgesellschaft werden.

Fußnoten [1] Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Rekonstruktion des Konservatismus, 2., unveränderte Auflage, Freiburg 1973, S. 20f. [2] Ludwig Elm: Der deutsche Konservatismus nach Auschwitz. Von Adenauer und Strauß zu Stoiber und Merkel, Köln 2007, S. 24 [3] Eduard Beaucamp: Zukunftslose Zukunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juli 2007 [4] Matthias Geis: Alles für die Sicherheit. Die Union fragt sich, was an ihr noch konservativ sei. Jetzt gibt es ein neues Angebot, In: DIE ZEIT, Nr. 30, 19. Juli 2007

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