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Gesundheit: Pflegedirektorin Marianne Siller im Interview

„Die gesamte Gemeinschaft ist gefordert“

Die Gegenwart und die Zukunft stellt die Gesundheitssysteme vor große Herausforderungen. Die Südtiroler werden immer älter, es gibt immer mehr chronisch Kranke, aber immer weniger Fachkräfte, die Kosten explodieren. Handeln tut Not. Die Gesundheitsversorgung in Südtirol soll deshalb neu konzipiert und besser vernetzt werden. Der Erker hat bei Pflegedirektorin Marianne Siller - sie stammt aus Mareit - nachgefragt, was dies für den Bürger bedeutet.

Erker: Frau Siller, die Gesundheitsversorgung soll innerhalb 2026 wohnortnaher werden. Warum ist dieser Schritt notwendig geworden?

Marianne Siller: Dazu reicht ein Blick auf die soziodemografische Entwicklung. In Südtirol leben immer weniger junge und immer mehr ältere Menschen. Mit dem Alter steigt auch die Gefahr, chronisch krank, pflegebedürftig und sozial fragil zu werden. Es wird auch ein anderes Stützungsfeld benötigt, als es ein Krankenhaus bieten kann. Das Krankenhaus hat seine Berechtigung, was die akute, hochtechnologische und spezialisierte Versorgung angeht, aber die Integration von Sozialem und Gesundheit und die Einbeziehung von Freiwilligen braucht einen anderen Rahmen. In Südtirol leben derzeit 160.000 Menschen mit mindestens einer chronischen Erkrankung. Ich nenne ein Beispiel: Kommt ein Diabetiker mit einer Überzuckerung in die Notaufnahme, kann er diesbezüglich sicher behandelt werden. Aber die Veränderung seines Lebensstils, die im Hinblick auf Ernährung, Bewegung und Symptommanagement notwendig ist, geschieht im wohnortnahen Umfeld und nicht im Krankenhaus.

War dieser Schritt schon längst fällig?

Ja. Dieser Schritt ist auch bereits im

Marianne Siller: „Es geht vor allem um wohnortnahe Unterstützung.“

letzten Landesgesundheitsplan als solcher berücksichtigt worden. Nur heißen dort die Einrichtungen nicht „Gemeinschaftshäuser“, sondern „Sozial- und Gesundheitszentren“. Der neue Ansatz irritiert auf den ersten Blick. Kritiker mögen sagen: Noch vor ein paar Jahren wollte man kleine Krankenhäuser zusperren. Zentralisierung war die Zukunft – und nun wird wieder

stark auf Dezentralisierung gesetzt. Wie passt das zusammen?

Es war nie die Rede von einer Schließung kleiner Krankenhäuser, sondern davon, bestimmte Versorgungszweige zu zentralisieren, weil sie eine hochtechnologische und hochspezialisierte Kompetenz erfordern. Das eine schließt das andere ja nicht aus. Hier geht es um einen Paradigmenwechsel. Will ich auf den Lebensstil und die Lebensbedingungen einwirken, muss ich das so arbeitsfeldmäßig und wohnortnah wie möglich machen. Das Krankenhaus ist sicher der richtige Ort, wenn es darum geht, eine Akuterkrankung zu überwinden und zu therapieren. Es geht jetzt nicht darum, Krankenhäuser dem Erdboden gleich zu machen, sondern darum, den richtigen Menschen zum richtigen Ort hinzubringen, wo er eine angemessene Versorgung erhält.

Wie kann man sich die Gemeinschaftshäuser vorstellen? Werden vor allem bestehende Strukturen genutzt?

Im Sinne der Nachhaltigkeit ist es uns ein Anliegen, Bestehendes weiterzuentwickeln. Gemeinschaftshäuser sind nichts anderes als eine Weiterentwicklung der bestehenden Sprengel. Wo es möglich ist, nutzen wir bestehende Strukturen. Es wird aber auch Neubauten oder Erweiterungen geben, denn auch die Sprengel sind teilweise räumlich sehr beengt und stoßen irgendwann an ihre Grenzen.

Im Wipptal ist bislang kein Gemeinschaftshaus vorgesehen.

Gesundheitsversorgung nah am Bürger

In Südtirol wird bis 2026 eine wohnortnahe Grundversorgung aufgebaut. Diese soll helfen, Bürger vor Ort zu betreuen, Lebensqualität zu wahren, kostenaufwendige Krankenhausaufenthalte zu reduzieren und die Qualität der Betreuung zu erhöhen. Wohnortnahe Einsatzzentralen sollen Dienste und Fachkräfte, darunter Allgemeinmediziner, Fachärzte, Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Sozialbereich, Krankenhäuser, Palliativversorgung, pflegende Angehörige, Freiwillige und Patientenvereinigungen miteinander vernetzen. Neu organisiert werden auch die Einrichtungen für die Primärversorgung, sogenannte Gemeinschaftshäuser. Die derzeitigen Gesundheitssprengel werden weiterentwickelt und von einem multidisziplinären Team aus dem Gesundheits- und Sozialbereich betreut. Ausgedehnte Öffnungszeiten sollen die Versorgung beinahe rund um die Uhr sicherstellen. Neu eingeführt werden sogenannte Gemeinschaftskrankenhäuser, die für kurzzeitige Aufenthalte, Eingriffe mit geringem klinischem Aufwand oder als Übergangsstruktur nach einer Krankenhausentlassung genutzt werden können. In Südtirol entstehen bis 2026 fünf wohnortnahe Einsatzzentralen (Brixen, Bruneck, Meran, Bozen und Neumarkt), zehn Gemeinschaftshäuser (Naturns, Meran, Bozen, Eppan, Neumarkt, Leifers, Klausen, Brixen, Bruneck und Innichen) sowie drei Gemeinschaftskrankenhäuser mit Intermediärbetten (Bozen, Meran und Neumarkt). Nach 2026 wird das System auf die restlichen Landesteile ausgeweitet. Die Kosten in Höhe von 67,3 Millionen Euro werden mit 24 Millionen Euro aus dem staatlichen Wiederaufbaufonds (PNRR) abgedeckt, 43,4 Millionen Euro kommen aus dem Landeshaushalt.

Hat das einen bestimmten

Grund?

Der Plan läuft ja bis 2026. Laut Parameter auf europäischer Ebene müssten wir über 20 Gemeinschaftshäuser aufbauen, was in etwa den bereits bestehenden Sprengelstrukturen entspricht. Sterzing hat ja einen Sprengel, was nicht heißt, dass sich dieser Ort nicht auch weiterentwickeln wird. Zurzeit sind die Gelder für die Entstehung der fünf Hubs, die fünf zentralen Gesundheitshäuser und fünf kleinere Gemeinschaftshäuser, gesichert worden. Das bedeutet nicht, dass in den Jahren danach nicht weitergeplant wird. Es geht auch nicht darum, neue Häuser oder neue Container zu schaffen, sondern darum, Versorgungsprozesse zu reorganisieren. Dafür brauche ich nicht immer ein Haus, sondern Berufsgruppen, die zum Wohle des Patienten zusammenarbeiten.

Patienten werden ihren Bedürfnissen entsprechend an der bestgeeigneten Stelle versorgt und multidisziplinär betreut. Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?

Ein älterer Diabetespatient hat wahrscheinlich nicht nur Diabetes, sondern auch Bluthochdruck oder andere Pathologien. Vielleicht ist er auch sozial fragil, weil er alleine lebt und kinderlos ist oder die Kinder woanders leben und die Frau schon früher gestorben ist. Als Patient ist er für das Krankenhaus in dem Moment interessant, wenn er mit seiner Pathologie entgleist. Solange er mit dem Blutzucker an der Grenze steht, geht es darum, Wege zu finden, um sein Symptommanagement und seinen Lebensstil zu verbessern. Es ist ein Unterschied, ob ich mit 70 oder mit 40 Jahren die Diagnose Diabetes erhalte. Als jüngerer Patient habe ich eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, in der langen Lebensphase, die noch vor mir liegt, Komplikationen zu entwickeln. Genau diese Komplikationen möchten wir vermeiden. Wir stehen nicht nur vor gesundheitlichen, sondern auch vor sozialen Herausforderungen. Deshalb kann mittlerweile keine Berufsgruppe mehr für sich beanspruchen, so komplexe Situationen, wie etwa eine komplexe Palliativversorgung, alleine zu schaffen. Das schafft man besser, wenn man vernetzt ist. Nicht der Patient oder die Angehörigen sollen dieses Versorgungsnetz aufbauen, sondern die Berufsgruppen selbst stellen ihnen ihre unterschiedlichen Kompetenzen zur Verfügung. Das müssen keine kontinuierlichen Dienste sein. Vielleicht braucht es einmal eine Wohnfeldeinschätzung von einer Physiotherapeutin, um Stolperfallen in der Wohnung des Patienten auszuschließen. Kommt diese Einschätzung nicht zur rechten Zeit, stürzt der Patient vielleicht, landet mit einer Oberschenkelfraktur im Krankenhaus und läuft Gefahr, heimzukommen und nicht mehr die Selbstständigkeit zu erreichen, die er vielleicht vor dem Sturz hatte. Es geht also darum, wie wir damit umgehen, dass ein Patient so lange wie möglich im eigenen Wohnfeld und im vertrauten sozialen Umfeld bleiben kann. Lebensqualität und soziale Teilhabe haben auch damit zu tun, wie vital und wie aktiv ich dann bin. Je weniger Stimuli ich gebe bzw. bekomme, desto mehr Rückschritte erlebe ich und umso größer ist die Gefahr, pflegebedürftig oder schwer pflegebedürftig zu werden.

Innerhalb 2026 soll die wohnortnahe Gesundheitsvernetzung aufgebaut sein. Zur

Umsetzung bleibt nicht viel

Zeit ...

Diese Auflagen hat sich die Europäische Union gemacht. In den nächsten 20 bis 25 Jahren stehen wir vor großen Herausforderungen, was die integrierte soziale Versorgung und die Gesundheitsversorgung anbelangt. Zunächst geht es darum, die Grundlagen zu legen. Klar muss man das System danach noch weiterentwickeln. Die Grundlagen müssen aber jetzt gelegt werden. Dass es ein sportliches Programm ist, ist Europa, der italienischen Regierung und auch der Landesregierung bewusst.

Hausarztgewerkschaften befürworten das Vorhaben, geben aber zu bedenken, dass in Südtirol schon jetzt viele

Stellen nicht besetzt sind. Wie schafft man es, die Strukturen mit dem nötigen Personal zu füllen?

Ein Teil des Personals wird umgeschichtet. Es ist ja nicht so, dass die Sprengel zurzeit ohne Personal sind. Können chronisch kranke Menschen besser versorgt werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass im Krankenhaus weniger oder anderes Personal gebraucht wird und dementsprechend Tätigkeiten wie eine Ambulanz und damit auch Personal in die Sprengel hinaus verlegt werden kann. Über die Integration von Freiwilligen sind flankierende Unterstützungsmaßnahmen möglich. Es ist sicher eine Herausforderung. Auf der anderen Seite kann das Arbeitsfeld in der wohnortnahen Versorgung vor allem für jene Mitarbeiter interessant sein, die sich im Krankenhaus nicht mehr wiederfinden. Es geht sicher auch darum, Requalifikationsmaßnahmen zu ermöglichen, vertragliche Veränderungen vorzunehmen und das Zusammenspiel der verschiedenen Berufsgruppen zu verbessern. Hier ist nicht nur Fachpersonal, sondern die gesamte Gemeinschaft gefordert. Viele Kompetenzen, Ressourcen und Mittel sind auch schon in den Gemeinden vorhanden. Jetzt geht es darum, diese zu bündeln und besser zu nutzen.

Interview: Renate Breitenberger

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