slow.ch 2/2009

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Das Magazin von Slow food Schweiz Suisse Svizzera Svizra

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Frühling/Sommer 2009

slow

Fr. 18.20

.ch

Geschmackssache

ISBN 978-3-9523472-1-8

Wie unser Geschmackssinn lernt, wie er manipuliert wird – und wie wir Authentisches wieder wahrnehmen können

Genussregion

Appenzellerland ganz slow Süsses und Gepfeffertes / Wandern und Besichtigen / Einkaufen und Einkehren


Wir denken, in der idealen Küche gibt es nur eine wesentliche Zutat.

Innovationen von Electrolux. Erstaunlicherweise beginnen die meisten Menschen beim Planen einer neuen Küche bei den Möbelelementen. Warum nicht umdenken? Fangen Sie doch mit jenen Dingen an, die sich unmittelbar auf Ihr Leben auswirken, nämlich den Elektro-Haushaltgeräten! Das Sortiment von Electrolux mit seinem eleganten, einheitlichen Design bietet eine Fülle hilfreicher Ideen. Diese Geräte sind intuitiv und auf Ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt. So entsteht aus dem, was man traditionell «Küche» nennt, Ihr Mittelpunkt, wo Lebensfreude, Genuss und Leidenschaft verschmelzen. Jedes unserer Einbaugeräte wartet mit Innovationen auf, bei deren Entstehung wir an jemand ganz Besonderen gedacht haben – nämlich an Sie! Gehen Sie also neue Wege in der Küchengestaltung. Sie werden Spass daran haben!

Achten Sie auf den grünen Baum, auch im Electrolux Kunden Center oder auf www.electrolux.ch


porträt

Slow Food ist eine internationale Non-Profit-Organisation im ökogastronomischen Bereich, die von ihren Mitgliedern unterstützt wird.

A

nno 1986 sammelten sich in Bra im Piemont 62 engagierte Liebhaber der Gastronomie und gründeten die Vorgängervereinigung «Arcigola», um sich gegen die auch in Italien anrollende Fast-FoodWelle zu wappnen. 1989 wurde in Paris dann die internationale Slow FoodBewegung ausgerufen, und Delegierte aus 15 Nationen unterzeichneten das Gründungsmanifest. 1992 wurde Slow Food Deutschland gegründet und 1993 Slow Food Schweiz. Das Schweizer Convivium Ticino existierte aber schon seit 1988 als eines der ersten Convivien (Regionalgruppen) der neuen Bewegung. Heute hat Slow Food weltweit über 85 000 Mitglieder und rund 900 Convivien.

Die Philosophie gut, sauber und fair Slow Food möchte dem Fast Life und Fast Food entgegenwirken und verhindern, dass lokale Esstraditionen in Vergessenheit geraten. Jeder hat ein Recht auf Genuss und damit aber auch eine Verantwortung, die Vielfalt der Produkte, der Arten, der Herstellungsmethoden und des Geschmacks zu schützen und zu erhalten. Essen soll gut sein, dann ist es ein Genuss. Es soll aber auch auf saubere Art und Weise hergestellt werden, die der Umwelt, dem Wohlergehen der Tiere und unserer Gesundheit Sorge trägt. Und letztlich sollen die Produzenten von gutem und sauber hergestelltem Essen eine faire Bezahlung und Anerkennung für ihre Arbeit erhalten.

Ko-Produzenten Konsumenten, die sich im Sinne von Slow Food dafür interessieren, wie unsere Nahrung produziert wird, und die Hersteller von guten und sauberen Lebensmittelprodukten aktiv unterstützen, übernehmen Verantwortung und werden zu Partnern im Produktionsprozess: zu Ko-Produzenten.

Die Philosophie in die Tat umgesetzt Slow Food setzt sich weltweit und lokal in verschiedenen Projekten dafür ein, den unschätzbaren Wert unseres grossen kulinarischen Erbes zu erhalten. Zum Beispiel den Schutz der Biodiversität mit den Initiativen «Arche des Geschmacks» und «Förderkreise». Mit dem Netzwerk Terra Madre ermöglicht Slow Food einen weltweiten Dialog zwischen Produzenten, Köchen, Wissenschaftlern und Ko-Produzenten. Slow Food bietet Geschmacksschulung an, engagiert sich für Geschmacksförderung bei Kindern und den Aufbau von Schulgärten. Slow Food organisiert Messen, Märkte und Events, um exzellente handwerklich hergestellte Produkte bekannt zu machen und Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen. Nicht zuletzt ist Slow Food Mitbegründer der «Universität für Gastronomische Wissenschaften» im Piemont. Slow Food möchte damit wissenschaftliche Innovation und Forschung mit dem traditionellen Wissen von Bauern und Lebensmittelproduzenten verbinden, um das neue Wissen zu schaffen, das für die Auf3

wertung der lokalen Produktionen in einer globalisierten Landwirtschaft nötig ist.

Slow Food Schweiz Slow Food zählt in der Schweiz rund 3000 Mitglieder, die in 15 Convivien organisiert sind. Die Convivien führen für die Mitglieder Anlässe mit lokalen Produzenten und der lokalen Gastronomie durch. Slow Food Schweiz wird von einer Geschäftsleitung und einem Vorstand, bestehend aus den Präsidentinnen und Präsidenten der Convivien, geleitet. 2006 ist Slow Food Schweiz eine Partnerschaft mit Coop eingegangen, um den Aufbau von schweizerischen Förderkreisen und den Absatz der Förderkreisprodukte zu ermöglichen. Was ein Förderkreis ist sowie die aktuelle Liste der schweizerischen Förderkreise sind in diesem Magazin aufgeführt. Darüber hinaus bietet Slow Food Schweiz Geschmacksschulungen an, fördert Schulgärten und organisiert zusammen mit dem Reiseveranstalter Kuoni Förderkreis-Reisen.

Kontakt Unterstützen Sie unsere Ideen und Projekte, werden Sie Mitglied! Weitere Informationen über Slow Food auf www.slowfood.com und www.slowfood.ch Adresse: Slow Food Schweiz, Kornhausplatz 11, 3011 Bern; Tel. 031 311 82 21; info@slowfood.ch


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser segensreiche Erfindung im Gesellschafts- und Gesund-

O

heitswesen ausgewirkt hat. Und sie zeigen auf, welche Lösungsansätze respektive Alternativen es gibt.

b Büchsenhackbraten und Stocki mit

Kleine Kostprobe gefällig?

Beutelseeli, Roco-Ravioli oder Risotto Milanese à la

Unter dem Titel «Panschen erlaubt» schildert der

Knorr: Wir Kinder schnabulierten die Fertiggerichte, als

renommierte Lebensmittel- und Ernährungswissen-

wären sie vom Sternekoch gezaubert. Es gab sie nämlich

schaftler Udo Pollmer, wozu modernistische Food-Desig-

nur in den Ferien beim Zelten. Sie waren eine Rarität,

ner heute fähig sind. Kollegin Ursula Hasler befasst sich

ihre Geschmacksnoten «fremd». Wir genossen sie aus

mit dem neurobiologischen Bereich: Wie entsteht

Plastiktellern am wackligen Campingtisch – fernab vom

Geschmacksempfindung? Und was geschieht, wenn sie

Familienalltag und von Mutters Küche halt.

manipuliert wird? Sven Ahlborn hat seinerseits Kinder

Mahlzeiten aus Dosen und Tüten waren früher ein

beim Kochen und Aromentesten beobachtet – ein

kleiner Luxus. Sie rechneten sich im Vergleich zu

Bereich, den Slow Food künftig noch stärker fördern

Selbstgemachtem nicht. Dennoch war ihr Siegeszug

will. Und Jost Auf der Maur ist selbst an den Herd ge-

programmiert: In den Anfängen der Industrialisierung

standen, um dem «ragù napolitano» nachzuspüren. Das

galten sie als Segen, weil sie die Arbeit der nun werk-

Rezept wird in keinem Kochbuch erwähnt, sondern von

tätigen Frauen im Haushalt erleichterten. Ein anderer

Generation zu Generation weitergegeben.

Abnehmer war das Militär. Büchsen liessen sich leichter

Fazit der Recherchen? Punkto Ernährung ist ein

transportieren und verdarben nicht. Die grosse Nach-

Paradigmenwechsel fällig. Zwar sind Fertigprodukte

frage führte schliesslich zur Massenanfertigung. Und

nicht per se des Teufels. Als Proviant beim Campieren

diese wiederum liess bald die Preise purzeln. Man

beispielsweise oder als Blitzmahlzeit vor dem Theater-

scherte sich kaum darum, was in den Fabrikküchen

besuch haben sie durchaus Berechtigung. Aber alltäglich

eingebüchst wurde. Hauptsache, es war billig.

sollten Lebensmittel sein, die ihren Namen auch ver-

Und es kam, wie es kommen musste: Fertiggerichte

dienen: Mittel zum Leben notabene.

sind aus Privat- und Restaurantküchen heute nicht mehr wegzudenken. Ihr Geschmack ist uns vertrauter als das

Stephanie Riedi

Urtümliche. Originäres empfinden wir bestenfalls als

Redaktionsleitung slow.ch

originell, schlimmstenfalls aber als fremd. Ein Paradoxon. Die zweite Ausgabe von slow.ch ist deshalb dem Geschmack gewidmet. Aus verschiedenen Perspektiven beleuchten Autorinnen und Autoren, wie sich die einst

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Inhalt

Hors-D’œuvre News ................................................................................ Standpunkt Preispolitik ......................................................................... Kolumne Babuschka-Braten.................................................................... meinung De gustibus est disputandum .................................................. erlesenes Buchtipps ..............................................................................

6 11 12 14 16

thema – geschmackssache Neurobiologie Geschmack – alles erlernt ............................................ Sprachforschung Wie schmecken eigentlich Kartoffeln? ................. Geschmacksförderung So gruusig! ....................................................... Qualitätsprüfung Profis testen Olivenöl ............................................ Food-Design Panschen erlaubt .............................................................. sicherheit Der Geschmack des Gesetzes ............................................ literatur Das Abc literarischer Leckerbissen .................................... geschmackserinnerung Madeleines Macht über den Geniesser ........ Interview In der Wurst steckt mehr Kreativität als im Steak ............ küche Il ragù napolitano ........................................................................ pflanzenkost Lust auf Natur pur ......................................................... Nachgefragt Unkraut mundet ..............................................................

slow food Genussregion

appenzellerland Süsses und Gepfeffertes / Wandern und besichtigen / Einkaufen und einkehren / Wettbewerb ........................

18 26 28 33 34 42 44 46 50 56 ; 61

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im zeichen der schnecke

Förderkreise Philosophie / Urschweizerin Dunkle Biene / Brenzerkirsch ..........................................................................................

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Convivien Was war, was kommt .............................................................. 78 International Rückblick und Ausblick ................................................ 83

Impressum Herausgeber: Verein Slow Food Schweiz Suisse Svizzera Svizra, Kornhausplatz 11, 3001 Bern, info@slowfood.ch Verlag: Editions Slow Food Suisse Sarl; verantwortlich: Ursula Hasler, editions@slowfood.ch Redaktion: Stephanie Riedi (Leitung), redaktion@slowfood.ch Art Direction: artdepartment Adrian Hablützel, artdepartment@ggaweb.ch Texte: Sven Ahlborn, Jost Auf der Maur, Larissa Bieler, Annette Bongartz, Denise Buchser Hardmeier, Klaus Dürrschmid, Ursula Hasler, Jürg Ewald, Christina Gubler, Michael Higi, Paul Imhof, Daniel Kämpf, Rafael Pérez, Maja Peter, Udo Pollmer, Iris Reichlin, Frédéric Rein, Stephanie Riedi, Roger Staub, Daniela Wagner, Thomas Widmer Mitarbeit: Maja Baumgartner, Jean-Noël Blanchon Chef vom Dienst: Donald Journalistischer Beirat: Jost Auf der Maur, Paul Imhof, Karin Messerli Korrektorat: Alex Hansen Bildbearbeitung: Max Sommer Anzeigen: anzeigen@slowfood.ch Abonnement: Fr. 35.– jährlich, 2 Ausgaben, Slow Food-Mitglieder erhalten das Magazin gratis; Abonnement bestellen www.slowfood.ch Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Datenträger. Slow.ch darf nur mit Genehmigung des Verlags in Lesezirkeln geführt werden. © Editions Slow Food Suisse Sarl

ISBN 978-3-9523472-1-8

Druck: Binkert Druck AG, Laufenburg, www.binkert.ch. Auf FSC-zertifiziertem Papier (FSC Mix) klimaneutral gedruckt, www.climatepartner.com (Nr. 404-53213-0708-1001).

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HOrs-d’Œuvre

Dick statt satt

W

as schon lange vermutet wurde, ist nun wissenschaftlich bewiesen: Ein abgestumpfter Geschmackssinn fördert Übergewicht. Im «Journal of Neurophysiology» konstatieren Forscher der amerikanischen Pennsylvania State University: «Ein hoher Kohlehydrat- und Fettgehalt der Nahrung führt möglicherweise zum Versagen des Kontrollsystems im Gehirn.»

Gender Food

E

s gilt einen neuen Trend zu vermelden aus den Labors der Lebensmittelindustrie: Gender Food – Produkte für den Mann respektive die Frau. «Save the men», rettet den Mann, heisst der aktuelle Werbeslogan, mit dem die Firma Emmi ihre jüngste Kreation Emminent bewirbt. Der Milchdrink wurde eigens für das starke Geschlecht entwickelt, verlautbaren die Marketingfachleute, da Männer heute mehr gefordert seien als früher. Ob Emminent das Staubsaugen und Windelnwechseln erleichtert, bleibe dahingestellt. Sicher ist: Der Muntermacher entspricht dem Zeitgeist. 2006 lancierte Cardinal das erste Frauenbier Eve. Kurz darauf folgte Coca-Cola mit Zero, die männliche Alternative zum Coke Light. Und wie aus den USA zu vernehmen ist, gibt es dort bereits spezielle Brotsorten für beiderlei Geschlechter. Frauen ticken eben nicht nur anders. Ihre geschmacklichen Vorlieben sind es auch.

«Beim Essen haben wir zu lange weggeschaut. Jetzt gilt es, Fragen zu stellen und genauer hinzugucken.» Jamie Oliver Koch und Slow Food-Mitglied

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Duftpotenz

R

osen, die stärker nach Rosen duften, als die Natur es vorgesehen hat, sind nicht etwa Zukunftsmelodie, sondern Fakt: Israelische Wissenschaftler haben eine neue Methode entwickelt, um Blumenduft genetisch zu verstärken oder neue Bouquets zu züchten. Ihr Augenmerk gilt nun dem Obst und Gemüse: Die Forscher hoffen, das Verfahren auch auf Nahrungsmittel anwenden zu können.

Fotos: Fotolia (2)

Männer mögen andere Aromen als Frauen. Zur Freude von Food-Designern.


Kulinarik-Tour

L

ust, einem neapolitanischen Pizzaiolo über die Schulter zu gucken? Slow Food veranstaltet in Zusammenarbeit mit Kuoni eine Reise in die Heimat der Pizze, um verschiedene Förderkreise vorzustellen – und eben zu zeigen, wie echte Pizza gebacken wird.

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Neapel und Cilento – Alles für die Pizza: 8.–12. Juli

Weitere Highlights im Jahr 2009: Kulinarische Spurensuche im Tessin: 12.–14. Juni und 23.–25. Oktober Roggenbrot, Honig und Ziegenkäse – unterwegs im Münstertal: 23.–26. Juli und 13.–18. August Infos über www.kuoni.ch (ananea anklicken, Rundreise Europa)

Mässigung

Eine neue Studie zeigt, dass weniger bald mehr sein wird: Willkommen im Age of less.

Fotos: Fotolia (1)

D

er Moral Share löse den Market Share ab, lautet das Fazit des «European Food Trends Report» des Gottlieb Duttweiler Institutes (GDI). Demnach kann auf dem Markt künftig nur bestehen, wer die gesamte Wertschöpfungskette an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die Konsumenten bevorzugen zunehmend Produkte, deren Hersteller ihnen vertraut sind. «Qualitätsprodukte aus regionaler und biologischer Produktion werden boomen», heisst es im Bericht. Aber: Sie dürften nicht mehr nur Zahlungskräftigen zugänglich sein. «Eine zentrale Erwartung ist die Demokratisierung des gesunden Essens.» Die globalen Konsummuster, so die Studie, gleichen sich immer mehr an, die Rohstoffe wiederum werden immer knapper. Folgerichtig hilft nur Mässigung – man spricht vom Age of less: «Denn was die Vernunft nicht vermag, übernimmt der Regulator.»

Entlarvt

E

tiketten auf Lebensmitteln lügen wie gedruck. Die deutsche Konsumentenschutzorganisation Foodwatch enttarnt auf der Website «abgespeist» regelmässig Täuschungsversuche der Lebensmittelindustrie. Die Kampagne soll Druck auf die Fabrikanten und Politiker ausüben. Ausserdem will sie die Konsumenten anspornen, ehrliche Qualität respektive ehrliche Etiketten einzufordern. www.abgespeist.de

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Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Wen zitiert die Schnecke? Auflösung Seite 8.


HOrs-d’Œuvre

Machtmittel Mahlzeit

J Klimaneutrale Drucksachen Klimaneutrale Druckerzeugnisse sind eine Chance. In der Kommunikation eine vorbildliche Botschaft. Aber auch ein Zeichen für Innovation und Engagement. Und klimaneutrale Druckerzeugnisse sind glaubwürdig. Dieses Magazin wird klimaneutral gedruckt. Setzen auch Sie für Ihr Unternehmen deutliche Zeichen – unterstützen Sie den freiwilligen Klimaschutz – lassen Sie klimaneutral drucken!

Binkert Druck AG

Telefon +41 62 869 79 79 Telefax +41 62 869 79 80

binkertdruck@binkert.ch www.binkert.ch Zertifikate: ISO 9001:2000, ISO 14001:2004, FSC-COC

Auflösung von Seite 7: Bertolt Brecht

Baslerstrasse 15 CH-5080 Laufenburg

Foto: Adrian Sturzenegger, mühlerama

Eine überzeugende Botschaft:

agen, schlachten, Hungerstreiks, Lebensmittelblockaden und, wie das Bild oben zeigt, Gefängniskost basieren auf Macht. Das Zürcher Mühlerama widmet dem Thema eine Sonderschau: «Essen und Macht» beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven «Täter» und «Opfer» – auch aus dem Alltag: Ohne Abendessen ins Bett geschickt zu werden, ist eine gängige Strafe genervter Eltern. Bis 27. September 09 www.muehlerama.ch


Schluss mit Weinpanschen

E

in deutsch-spanisches Forscherteam hat eine «elektronische Zunge» entwickelt, die mit sechs Sensoren bestückt ist. Der Apparat «schmeckt» Säuregehalt, Zucker und Alkohl von Wein, wodurch sich sowohl die Rebsorte als auch der Jahrgang bestimmen lassen. Laut Erfindern ermöglicht das tragbare Gerät eine einfache Qualitätskontrolle, so dass Betrügereien rasch aufgedeckt werden können.

Öko-Kater

O

bacht: Tequila zu kippen, schadet der Umwelt nachhaltig. Der stetig steigende Bedarf führt in den Produktionsländern zu sozialen und ökologischen Problemen. Tequila wird aus der blauen Weber-Agave gewonnen, die sechs Jahre zum Reifen braucht. Folgerichtig entstehen überall missliebige Monokulturen – regelmässige Schädlingsplagen und massiver Pestizideinsatz inbegriffen.

Kochbücher für Kinder enthalten oft Rezepte, die ungesundes Essverhalten fördern.

Fotos: Fotolia (1) , Leif pixelio.de (1)

K

inder mittels spezifischen Kochbüchern für Herdkapriolen zu begeistern ist an sich eine gute Sache. Doch taugen ausgerechnet vier von zehn Rezeptfibeln für den Nachwuchs nichts. Dies zeigt ein Test des Konsumentenmagazins «Gesundheitstipp». Viel zu oft wird viel zu Ungesundes gelehrt, monieren die Experten. Will heissen: Kochen mit Rahm, Butter, Schokolade oder das Zubereiten von Würstchen, Fischstäbchen und Tiefkühlpizze ist keine Alternative zum Fast-Food. Statt die Kinder für gesundes Essen zu sensibilisieren, würden ungesunde Ernährungsgewohnheiten zementiert. Die gleiche Misere ist offenbar auch beim Kochunterricht in den Schulen festzustellen. Deshalb fordert nun die «Gesundheitsförderung Schweiz», Kinder bereits vor dem 8. Lebensjahr am Herd anzuleiten respektive «Kochkurse in der Primarschule machen Sinn», so die Experten.

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slow.ch wird gestaltet von

a r t d e p a r t me nt adrian habl端tzel art direktion

editorial design

asylstrasse 9, 8032 z端rich, +41 44 55 888 77 artdepartment@ggaweb.ch


standpunkt

Rafael Pérez,

Präsident von Slow Food Schweiz

Billig, billiger, am billigsten

S Bei den Bäuerinnen und Bauern geht es nicht um das Wohl der Aktionäre, sondern um ein würdiges Leben.

o, jetzt sind sie da, die Nachwehen der

Weltkonzernen anwenden kann und soll. Bei

«Geiz ist geil»-Welle. Zurzeit machen

den Bäuerinnen und Bauern geht es nicht um

die Grossverteiler einen Sport daraus,

das Wohl der Aktionäre, sondern um ein

sich mit Billigpreisen zu unterbieten. Eine aus

würdiges Leben, zu dem gerechte Preise für

meiner Sicht höchst fragwürdige, wenn nicht

geleistete Arbeit gehören.

sogar gefährliche Entwicklung. Um es von Anfang an klarzustellen: Es ist nichts dagegen

schutzorganisationen und manche Fernsehpro-

einzuwenden, dass Coop 100 Millionen aus

gramme stets nur die Preise ins Visier. Recher-

ihrem Gewinn durch Margenreduzierung an

chiert man weiter, erfährt man dann ab und zu,

ihre Kunden weitergibt, ganz im Gegenteil. Vor

dass ein Testsieger im Preis-/Leistungs-Verhält-

allem, weil es sich vorwiegend um Massen- bzw.

nis mit unbezahlter Kinderarbeit produziert

Markenprodukte und nicht um frische Lebens-

wird.

mittel handelt. Gerade die per Knopfdruck

Auf die Lebensmittel bezogen birgt dieser

millionenfach hergestellten Produkte sind hier

nur auf den Preis fixierte Blick die grosse

bekanntlich immer noch 20 bis 30 Prozent

Gefahr, dass die Menschen dem, was sie zu sich

teurer als im benachbarten Ausland. Willkom-

nehmen, keinen besonderen Wert beimessen.

men seien also diese Preisabschläge.

Das Essen darf nichts kosten. Mit verheerenden

Bedenklicher wird es, wenn das Rennen um

Folgen für Mensch, Tier und Natur. Dies den

die billigsten Preise die frischen Lebensmittel

Konsumentinnen und Konsumenten zu

betrifft. Mit grossem Befremden hörte ich die

erklären, ist die dringliche Aufgabe.

Präsidentin der Stiftung für Konsumenten-

Illustration: grafilu.ch

Leider nehmen gerade die Konsumenten-

Slow Food will aus Konsumenten Co-Produ-

schutz sagen, dass sie die Preisabschläge bei den

zenten machen, nämlich Menschen, die Verant-

gesunden Bioprodukten vermisst habe. Ja, Gott

wortung für das, was sie einkaufen, überneh-

sei Dank sind sie von der Geizwelle verschont

men. Um dies zu erreichen, benötigen die

geblieben. Auf die Bio-Bäuerinnen und

Konsumentinnen und Konsumenten in der

-Bauern, meistens kleine bis mittelgrosse

Schweiz weniger Schutz und mehr Aufklärung.

Betriebe, sollte man nicht den gleichen Druck ausüben, den man bei den börsenkotierten 11


kolumne

den Regenpfeifer in einen Kiebitz,

Paul Imhof

ist Redaktor beim Tages-Anzeiger

den Kiebitz in ein Rebhuhn, das Rebhuhn in eine Waldschnepfe, die Waldschnepfe in eine Krickente, die Krickente schiebt man in ein gut abgehangenes Perlhuhn, das Perlhuhn in eine Ente, die Ente in ein fettes Huhn, das Huhn in einen grossen Fasan,

Babuschka-Braten

die Gans in einen Truthahn,

as Datum ist seit 50 Jahren bekannt. Nun steht

den Truthahn in eine Trappe.

der Geburtstag des Freundes vor der Tür – eine Last

Man könnte diese carnivore Baumkuchen-Variante solange

für den Planeten, denn dieser Mensch isst nur das Beste,

ausbauen, bis man am Ende auf den Strauss stösst. Den

was die Natur zu bieten hat.

Brocken muss man etwa 18 Stunden lang bei moderater Hitze

Ihm schwebt ein Menü mit Geflügel vor. Nicht Güggeli

garen. Und kontrollieren, ob die Geflügelsäfte nicht trübe,

im Chörbli, nein, etwas Exklusives, eine Kanonade gerupfter

sondern klar sind. Es empfiehlt sich, die Vögel auszubeinen

Köstlichkeiten, die es in sich haben.

– abgesehen vom Ortolan. Der Freund wundert sich über die russische Herkunft. Stil

Das übliche Angebot an Geflügel genügt ihm nicht. Das sei eine Beleidigung, knurrt er, das könne seine Säfte

und Rezept kämen ihm eher französisch vor. Auf den ersten

nicht einmal nach einer Veganerdiät in Wallung bringen.

Blick scheint allein die Technik der verschachtelten Puppe russisch zu sein. Ob vielleicht einer jener französischen

Er sucht Rat. In einem englischen Kochbuch wird ein «Russian-Doll Roast» erwähnt, aber nicht beschrieben.

Küchenchefs den Braten kreiert hat, die im 19. Jahrhundert

Im Internet stolpere ich über einen «Russian Roast», «a

an die Höfe von St. Petersburg geholt worden sind? Der

sexual act involving three willing partners, two of whom

Aufwand passt in die hohe Zeit der französischen Kochkunst

must be male», dann über eine komplexere Verschachtelung

und der blaublütigen Schickeria, die keine Ahnung hatte von

von Fleisch, den tatsächlichen Russian-Doll Roast, den

den Brosamen, die dem Volk als Nahrung genügen mussten. Es wäre wohl klüger, in Krisenzeiten nicht so protzig

«Babuschka-Braten».

anzurichten, gebe ich zu bedenken. Man kann die Vögel ja

Das Rezept liest sich wie «Artenschutz à discretion»: Zuerst füllt man eine entsteinte Olive mit Kapern und

einen nach dem andern auftragen. Der Freund winkt ab. Den

einem Nägeli;

russischen Adel haben die Hungerleider auch nicht geküm-

dann steckt man die Olive in eine Feige,

mert. Warum soll ich die Seele ausweinen wegen ein paar

die Feige in einen Ortolan (alias Fettammer),

gebeutelter Banker, die das gepflegte Speisen ohnehin mit

den Ortolan in eine Lerche,

Füssen treten und im Gehen essen? Wer weiss, erwidere ich. Vielleicht haben die Adeligen ihre

die Lerche wickelt man in Weinblätter und presst sie in eine Drossel,

Gier gezähmt und sich die gebratene Volière in Teilen reichen

die Drossel in eine Wachtel,

lassen, Gang für Gang. Und so den Service à la français

die man in Speck wickelt und in einen Regenpfeifer stopft,

vollends in den Service à la russe verwandelt. 12

Illustrationen: grafilu.ch (Portrait), Lorenz Meier

D

den Fasan in eine Gans,



erlesenes

Bildung mit Biss Mal fiktiv, mal faktisch: Zwei Autoren treten in ihren Werken die Beweisführung einer kulinarischen Intelligenz an.

C

ésar Lambroso ist Gourmet von Geburt. Gesegnet mit Genen geniesserischer Ahnen, die ihre Küchengeheimnisse von Generation zu Generation weitergegeben haben, führt er als jüngster Spross der Familie nun das berühmte Feinschmeckerlokal Almacén Buenos Aires im argentinischen Mar del Plata. Illustre Gäste geben sich hier die Klinke in die Hand. Niemand ahnt, dass tief im Herzen der Herdkoryphäe ein Dämon lauert, der ihn in Teufels Küche bringen wird – Lambroso mutiert zum Mörder. Damit nicht genug: Der Meuchler entsorgt seine Leichen auf den Tellern der Almacén-Klientel. Starker Tobak. «Das Kochbuch des Kannibalen» von Carlos Balmaceda ist ein garstiger Krimi, dessen Protagonist auf dem Grat zwischen Genie und Wahnsinn balanciert. Zartbesaiteten sei indes versichert: Im Vordergrund stehen die sinnlichen Genüsse. Selten wurde in der Literatur denn auch so eloquent über die Magie des Essens geschrieben, wurden derart raffinierte Rezepte zusammengetragen wie im Werk des argentinischen Autors. Zu Recht wird die Familiensaga als exemplarisch gehandelt für die Existenz einer kulinarischen Intelligenz.

Die faktische Beweisführung zu Balmacedas Fiktion tritt Jürgen Dollase an. «Wissen ist auch beim Essen Macht», schreibt der deutsche Gastrosoph im Sachbuch «Kulinarische Intelligenz». Dollase plädiert in seiner Streitschrift für eine neue, selbstbestimmte Haltung der Nahrung gegenüber. Aus gutem Grund: Unser Verhältnis zum Essen sei gestört, meint der Experte. Statt sich von der Fastfood-Industrie verführen zu lassen oder rigide Öko-Parolen wiederzukäuen, gelte es, dem ureigenen Geschmackssinn zu vertrauen und ihn zu fördern. All den fröhlichen Kochsendungen im Fernsehen stünden Skandale gegenüber, die sich fast täglich jagen. Als Weg aus der Misere empfiehlt der Fachmann Achtsamkeit den Lebensmitteln gegenüber: «Der neue Gourmet ist ein sinnlich wahrnehmender Mensch», so Dollase, «der über einen positiven Zugang zum Essen und seinen faszinierenden Möglichkeiten ganz selbstverständlich auf Distanz geht zu minderwertigen Produkten, industrieller Aromentrickserei und kommerzieller Abkassiererei.» Kulinarische Intelligenz ist demnach etwas, das erlernt und trainiert werden kann wie das Alphabet oder Einmaleins. Selbst César Lambroso in Balmacedas lukullischem Krimi erlangt seine Meisterschaft erst durch die Praxis in der Küche und das Verkosten der Speisen. Zwar ist er durch die Familie sozusagen prädisponiert, rüstend und rührend zu reüssieren. Aber Handwerk und Erfahrung muss er sich selbst aneignen. Gastrosoph Dollase will deshalb die Kulinarik im Kanon der Schulfächer verankert wissen. «Erstens», schreibt der Fachmann, umfasse dieser Bereich alles: vom täglichen Leben bis zu hoch künstlerischen Leistungen. «Zweitens kann nur dadurch ein wirklich alternatives Handeln entstehen, das sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft zum Besten gereicht.» Stephanie Riedi

Carlos Balmaceda: Das Kochbuch des Kannibalen. Piper, 200 Seiten, Fr. 15.–, ISBN 3-492-25323-7 Jürgen Dollase: Kulinarische Intelligenz. Tre Torre, 157 Seiten, Fr. 23.20, ISBN 3-937963-33-2

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esskultur Alois Wierlacher, Regina Bendix (Hrsg): Kulinaristik

S

lukullische liebhaberei Jean Anthèlme BrillatSavarin: Physiologie des Geschmacks

J

ean Anthèlme Brillat-Savarin (1755–1826) war den sinnlichen Leibesfreuden zugetan. Neben zahlreichen Amouren pflegte der Geniesser das Essen als Geschmackserlebnis zu zelebrieren. Ähnlich wie der griechische Philosoph Epikur war BrillatSavarin überzeugt, das Glück sei unmittelbar mit der Sinneswahrnehmung verknüpft. «Die Entdeckung eines neuen Gerichtes», schreibt Brillat-Savarin denn auch in seinem Werk, «erfreut die Menschen mehr als die Entdeckung eines neuen Sterns.»

Insel Taschenbuch, 212 S., Fr. 36.70 ISBN 3-458-32123-1

seit Anfang 2008 gibt es in Mannheim ein KulinaristikForum. Das Netzwerk hat zum Ziel, der noch jungen Wissenschaft eine Kommunikationsplattform zu bieten. Nun ist der erste Band einer Publikationsreihe erschienen, die das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Als Autoren zeichnen Fachleute wie Professor Alois Wierlacher, Co-Intiator des Forums, dessen Beitrag sich der kulinaristischen Sprache widmet. LIT-Verlag Berlin, 451 S., ca. Fr. 37.– ISBN 3-8258-1081-8

Mordsmahl Francesco Abate, Massimo Carlotto: Ich vertraue dir

G

igi Vianello ist ein Sympathikus. Charmant und weltgewandt führt er ein Doppelleben: als

Besitzer eines Gourmettempels einerseits, als Händler minderwertiger Lebensmittel andererseits. Doch dann droht eine Affäre sein Lügengespinst zu enttarnen – Vianello wird zum Mörder. Die süffig und witzig geschriebene Meuchelstory besticht vor allem durch den authentischen und brisanten Hintergrund: die Welt der intenationalen Lebensmittelskandale.

rellen Wandel aufzeigt als auch mit Rezepten Lust macht, sich selbst an den Herd zu stellen.

C. Bertelsmann, 224 S., Fr. 30.90 ISBN 3-570-01096-9

rezeptraritäten

kulinarische zeitreise

D

Rudolf Trefzer: Klassiker der Kochkunst

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eine 300 Jahre ist es her, seit auch das gemeine Volk über Rezeptsammlungen verfügt. Zuvor waren Kochbücher Blaublütigen vorbehalten respektive deren Küchenlakaien. Der Historiker Rudolf Trefzer porträtiert im fundierten Werk «Klassiker der Kochkunst» die 15 prägendsten Küchenfibeln Europas der letzten acht Jahrhunderte. Ein Geniestreich, der sowohl den kulinarisch-kultu-

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Chronos, 272 S., Fr. 48.– ISBN 3-0340-0915-7

Gianni Bertossa: I mazzafam ass feines Essen keine Frage des Geldes ist, beweisen «die Hungertöter» – oder eben «I mazzafam». Das Buch präsentiert traditionelle Rezepte aus den Tälern Südgraubündens, die vom kargen Leben der Bevölkerung zeugen. Aber auch davon, dass Hunger halt der beste Koch ist: Simple, sättigende Alltagsgerichte finden sich darin ebenso wie finessenreiche Festtagsmenüs und deliziöse Desserts. Darüber hinaus lädt ein historischer Rundblick zu einer Reise in die Vergangenheit ein. Desertina Verlag Chur, 176 S., Fr. 35.– ISBN 3-85637-348-1


neurobiologie

Geschmack – alles erlernt Wie unsere Geschmackspräferenzen entstehen oder warum wir mögen, was wir mögen.

bestimmte Geschmacksempfindungen ist beim Säugling und Kleinkind also sinnvoll als eine Art Starter-Kit. Gleichzeitig wird ein genetisches Lernprogramm im Gehirn aktiv, das uns anleitet, den Geschmack von neuen Lebensmitteln zu identifizieren und zu beurteilen. Was sind die wichtigsten Bestandteile dieses Lernprogramms? Erstens brauchen wir sehr früh schon eine grosse ir kommen mit angebore- Geschmacksvielfalt, damit das Gehirn lernt, verschiedene Signalmuster und nen Geschmacksvorlieben zur Welt, Reizcodes zu identifizieren, um daraus damit wir überleben: Süss signalisiert «sichere» Geschmäcke zu identifizieren Energie und ist sicher, da es in der Natur keine süssen und zugleich giftigen und zu speichern. Zweitens muss das Gehirn nebst dem Geschmack von Nahrungsmittel gibt. Bittere Pflanzen verträglicher Nahrung auch die enersind häufig giftig, Saures oft etwas giereiche erkennen lernen. Drittens ist Verdorbenes: Saures und Bitteres wird die Nachahmung ein wichtiges Lernvon Neugeborenen und Säuglingen muster: Was die andern essen, ist offenstark abgelehnt. Auf Salz reagieren bar gut. Und schliesslich ist es für das Neugeborene noch indifferent, ab dem Überleben unserer Spezies wichtig, 4. Monat ziehen sie jedoch leichte immer wieder neue Lebensmittel zu Salzlösungen Wasser vor. Der biologifinden; Geschmacksempfindung ist mit sche Schutzmechanismus in Form von Neugier und Emotion gekoppelt. Präferenzen und Aversionen gegen

Text und fotos Von Ursula Hasler

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Es ist heute wissenschaftlich belegt, dass die frühkindliche Ernährung unsere sensorischen Vorlieben prägt. Das genetische Lernprogramm braucht von Anfang an eine Vielfalt an Geschmacksreizen, damit wir eine breite Palette an Geschmackspräferenzen ausbilden können, die uns das Überleben sichern. Das Lernen beginnt schon im Mutterleib: Das Ungeborene kommt über das Fruchtwasser in Kontakt mit Aromen und Geruchsstoffen aus dem Essen der Mutter. Sein Geschmackssinn wird ab dem siebten, sein Geruchssinn ab dem achten Schwangerschaftsmonat ausgebildet. Nach der Geburt nimmt ein Säugling, der gestillt wird, über die Muttermilch die ganze Geschmacksvielfalt der Lebensmittel auf, die seine Mutter gegessen hat. Verschiedene Versuche, die die amerikanische Biologin und Expertin für Geschmackspräferenzen Julie Mennella durchführte, bestätigten eindeutige Vorlieben der Säuglinge und Kleinkinder für Aromen



neurobiologie

Der Mensch hat den Drang, neue Nahrung auszuprobieren und Gerüche, die sie entweder aus dem Fruchtwasser oder aus der Muttermilch kannten. Im Gegensatz zu Kindern, die nur den immergleichen, standardisierten Geschmack der Säuglingsmilch kennen, machen gestillte Kinder also frühzeitig vielfältige sensorische Erfahrungen mit den unterschiedlichen Geschmacksstoffen in der Muttermilch. Gestillte Säuglinge sind so auf Geschmacksvielfalt vorbereitet worden, und sie akzeptieren später bei der Umstellung auf feste und Familiennahrung erwiesenermassen neue Lebensmittel besser. Die mit der Muttermilch angelegten Geschmackspräferenzen scheinen auch dafür zu sorgen, dass wir uns später gesünder ernähren. Das renommierte deutsche Forschungsinstitut für Kinderernährung FKE in Dortmund, das seit 1985 eine Langzeitstudie (DONALDStudie) mit über 700 gesunden Kindern und Jugendlichen durchführt, konnte aufgrund verschiedener Untersuchungen belegen, dass Zusammenhänge zwischen frühkindlicher Ernährung mit Flaschennahrung und späterer zu schneller Gewichtszunahme respektive konstant bleibender hoher Körperfettentwicklung bestehen. Muttermilch gilt heute als Schutz vor späterem Übergewicht und wirkt sich günstig auf die Entwicklung des Körperfetts aus.

gute wie schlechte Präferenzen erlernt werden. So konnte Julie Mennella ebenso nachweisen, dass Zehnjährige, die Getränke mit hoher Zuckerkonzentration bevorzugten, als Säuglinge bereits Erfahrungen mit Zuckerwasser gemacht hatten. Um diese frühkindliche Prägung sensorischer Vorlieben weiss auch die Nahrungsmittelindustrie. Die industriell hergestellte Säuglingsmilch ist der Grundstein einer langfristigen Marketingstrategie: Ihr Geschmack bereitet den Absatz der Folgeprodukte bis ins Kindergartenalter vor. Die lebenslange Wirkung frühkindlicher Geschmacksprägungen belegt die Ketchup-Vanillin-Studie, die 1999 von einer Münchner Sensorik-Forschergruppe der ASAP mit 133 Personen durchgeführt wurde. Die Versuchspersonen im Alter zwischen 12 und 59 Jahren füllten einen Fragebogen aus, in dem unter anderem gefragt wurde, ob sie gestillt oder mit Säuglingsmilch ernährt worden waren. Danach mussten sie zwei Ketchupvarianten testen, von denen die eine mit Spuren von Vanillin angereichert wurde – was kommerziell im Ketchup nicht vorkommt –, und ihre Präferenz angeben. 66,7% der Testpersonen, die mit der Flasche aufgezogen worden waren, bevorzugten das VanillinKetchup, während 70,9% der gestillten Testpersonen das pure Ketchup vorBekanntes speichern zogen. Da die Säuglingsnahrung in DeutschUnser genetisches Lernprogramm lässt uns positive Esserfahrungen wiederho- land in den frühen Jahren Vanillin entlen, damit das Gehirn die entsprechen- hielt, schlossen die Forscher aus den den Geschmackscodes speichern kann. Testergebnissen, dass erste GeschmacksVor allem Kleinkinder ziehen bekannte prägungen in der täglich aufgenommenen Nahrung unbewusst lebenslange Geschmacksrichtungen vor und essen diese Lebensmittel immer wieder – ver- Geschmackspräferenzen verfestigen. gleichbar mit dem Üben beim Lernen –, Es kann vermutet werden, dass dieser so stabilisieren sich die Präferenzen für Effekt umso stärker ist, je weniger Geschmacksvarianten das Kleinkind «sichere» Lebensmittel, was auch als «mere exposure effect» bezeichnet wird. kennt, wenn es zum Beispiel eben mit Säuglingsmilch ernährt wurde. Mit diesem «Programm» können aber 20

neugier wird belohnt Für unsere Entwicklung und um unseren komplexen Nährstoffbedarf zu decken, ist eine vielfältige Nahrung notwendig. Der Mensch muss für sein Überleben also Unbekanntes versuchen und neue Geschmackseindrücke mögen lernen. Einerseits zieht der Mensch wie alle andern Säugetiere vertraute und sichere Nahrungsmittel vor, andrerseits ist er das einzige Säugetier mit einer angeborenen Neophilie, das heisst mit Neugier und einem Drang, unbekannte Nahrung auszuprobieren. Der amerikanische Verhaltensforscher Gregory Berns fand 2001 heraus, dass unerwartete Geschmacksaromen im Gehirn den Nucleus accumbens, das Lustzentrum, stimulierten. Der Nucleus accumbens ist Teil des körpereigenen Belohnungssystems und setzt den Botenstoff Dopamin frei, der ein Glücksgefühl hervorruft. Den Versuchspersonen wurde zuerst in einer vorhersehbaren Abfolge Wasser und Fruchtsaft in den Mund gespritzt, danach waltete das Zufallsprinzip. Der Nucleus accumbens zeigte bei der unerwarteten Reihenfolge die höchste Aktivität. Wir werden also belohnt, wenn wir unseren Gaumen mit unerwarteten Sinneseindrücken konfrontieren und unser Gehirn immer wieder mal überraschen. Unser genetisches Lernprgramm will also, dass das Gehirn lebenslang lernt, neue gustatorische Reize zu verarbeiten und die Geschmackscodes zu speichern. Die Belohnung ist dann der Genuss.

enerigereich ist besser Dank unseres genetischen Programmes lernen wir auch sehr früh, energiereiche Nahrung an ihrem Geschmack zu erkennen und zu bevorzugen, was früher unser Überleben sicherte. Die amerikanische Psychologin Leann Birch konnte diese Konditionierung zwischen


Geschmack

wird in einem komplexen mentalen Vorgang mit Hilfe aller Sinne identifiziert.

Energiedichte und Geschmack nachweisen: Wenn Kleinkinder neue Lebensmittel, die sich sowohl bezüglich des Geschmacks als auch der Energiedichte unterscheiden, regelmässig zu essen bekommen, bevorzugen sie bald die Geschmacksrichtung des energiereichen Produktes. Danach ziehen sie ein Produkt mit dieser Geschmacksrichtung vor, auch wenn das Produkt im Paarvergleich nicht energiereicher ist. Die Tatsache, dass heute in der industriellen Kleinkindernahrung und im Convenience Food praktisch ausschliesslich Lebensmittel mit zu hoher Energergiedichte angeboten werden, macht dieses genetische Lernmuster verhängnisvoll.

überfütterte säuglinge So warnte zum Beispiel die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin letztes Jahr ausdrücklich vor den Begleitprodukten zu Flaschennahrung, die unter Namen wie «Gute-Nacht-Fläschchen» oder «Trinkbrei» vermarktet werden. Die Energiegehalte dieser Produkte liegen zwischen 80 und 110 kcal/100 ml, während die optimale Energiedichte bei Säuglingsnahrung zwischen 60 und 70 kcal/100 ml liegen müsste (gemäss europäischer Säuglingsnahrungsrichtlinie vom Dezember 2006). Säuglinge, die von wohlmeinenden Eltern zusätzlich solche Produkte bekommen, werden also klar überfüttert – was direkt mit einem stark erhöhten Risiko für späteres Übergewicht verbunden ist. Zudem haben die Säuglinge, wie wir nun wissen, mit diesen energiereichen Produkten unbewusste Geschmackspräferenzen entwickelt, die ihr späteres Essverhalten beeinflussen werden. Im Rahmen der DONALD-Langzeitstudie wurden in Deutschland auch die Auswirkungen von Convenience Food in der Ernährung von Kindern unter-

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uf der Zunge und im Gaumen liegen die für das Schmecken zuständigen Sinneszellen: die Geschmackspapillen mit den Geschmacksknospen, in deren Membranen sich die eigentlichen Geschmacksrezeptoren befinden, die für die Reizaufnahme verantwortlich sind. Für jede Geschmacksqualität wie süss, sauer etc. ist ein bestimmter Rezeptor verantwortlich. In einer Sinneszelle befinden sich immer Rezeptoren für alle Geschmacksqualitäten. Dass man auf bestimmten Arealen der Zunge bevorzugt eine Geschmacksqualität schmeckt, nämlich süss an der Spitze und sauer und salzig am Zungenrand, ist ein Irrtum. Inzwischen weiss man, dass überall auf der Zunge, wo Geschmacksknospen sitzen, auch alle Geschmacksqualitäten wahrgenommen werden können. Die Geschmackssinneszellen besitzen selber keine Nervenfortsätze für die Reizweiterleitung, sondern sie werden von zuführenden Fasern von Hirnnerven versorgt. Die Verschaltung mit dem Hirn ist raffiniert: eine Hirnnervenfaser versorgt immer mehrere Geschmacksknospen, und eine Geschmacksknospe wird ihrerseits von mehreren Nervenfasern «bedient». Das bedeutet, dass die Nervenfasern überlappende Informationen von mehreren Sinneszellen bekommen, die sie als komplexe Erregungsmuster weiterleiten, mit denen das Gehirn dann die Art und Konzentration des Reizstoffes

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identifiziert, und so entsteht ein Teil der Geschmackswahrnehmung. Der Geschmackssinn braucht eine bestimmte Konzentration des Reizstoffes, damit die Geschmacksqualität erkannt wird, andrerseits führt aber ein konstanter starker Reiz dazu, dass die Geschmacksintensität abnimmt, was als Adaptation bezeichnet wird. Der Geschmackssinn ist biologisch wichtig zur Prüfung der Nahrung und zum Schutz vor giftigen und ungeniessbaren Pflanzen: süss, salzig und umami zeigen nährstoffreiche Lebensmittel an, bitter und sauer weisen auf giftige resp. verdorbene Nahrung hin. Ist bei Kleinkindern dieses genetische Programm sehr aktiv, so übersteuert beim erwachsenen Menschen das Gehirn seine Geschmacksvorlieben: wird Bitteres vom Kind noch verabscheut, entwickelt der Erwachsene eine Vorliebe für Bitterstoffe (Kaffee, Tee, Bier). Der Mensch besitzt im Durchschnitt 5–7000 Geschmacksknospen, bei Geburt über 10000, im Alter noch weniger als 2000. Die Sinneszellen in der Geschmacksknospe werden ca. alle zehn Tage erneuert. Temporäre Störungen des Geschmackssinns wie Ageusien (Verlust der Geschmacksempfindung) oder Dysgeusien (unangenehme, verstärkte Geschmacksempfindung), die durch Krankheiten oder Medikamente bedingt sind, verschwinden so wieder.



Die Seiten 19, 22, 23 und 25 zeigen Impressionen vom Salone del Gusto 08 in Turin.


neurobiologie sucht. Die 516 protokollierten Convenience Food-Produkte enthielten im Durchschnitt 14,3 Zutaten pro Produkt, davon 20% Aroma und Zusatzstoffe. Energiedichte und Fettgehalt pro 100 g lagen deutlich über dem für Jugendlichennahrung empfohlenen Prozentsatz. Neben der zu hohen Energiedichte sieht die Ernährungswissenschaftlerin Ute Alexy jedoch als Hauptproblem von Convenience Food den standardisierten Geschmack mit starken Aromen und Geschmacksverstärkern, was dazu führe, dass bei Kindern und Jugendlichen die Erfahrung der typischen Geschmacksvariabilität von selbst zubereiteten Speisen verloren geht. Und abgesehen davon, dass auch das Wissen um die Zubereitung verloren geht, prägen sich so lebenslange Geschmackspräferenzen für diese Produkte ein und damit unbewusste Kaufentscheide. Eine Studie, die 2008 am Departement für Lebensmittelwissenschaften und -technologie der Wiener Universität für Bodenkultur unter der Leitung von Klaus Dürrscheid durchgeführt wurde, untersuchte die Riech- und Schmeckfähigkeit von 385 10- bis 13-jährigen Schulkindern in Österreich. Die Autoren bezeichnen die Resultate als bestürzend: die durchschnittliche Erkennungsrate bei den vier Geschmacksqualitäten süss, salzig, bitter und sauer lag bei den Kindern bei 55% (Erwachsene 85%) und bei elf alltäglichen Gerüchen bei 77% (Erwachsene 95%). Unter anderem erzielten Kinder, die angaben, häufig oder ausschliesslich Schnellimbiss- und Fertiggerichte zu konsumieren, signifikant schlechtere Ergebnisse bei den Geruchs- und Geschmackstests als jene, die so gut wie nie zu Schnellimbissen greifen.

verhängnisvolle wirkung Was wir als Geschmack wahrnehmen, haben wir also irgendwann einmal bewusst oder unbewusst gelernt. Die Geschmackspräferenzen des erwachsenen Menschen sind somit konditioniert. So weit wäre das kein Problem. Nun hat sich in den vergangenen hundert Jahren jedoch mit der Industrialisierung der

Nahrungsmittelproduktion, der Denaturierung der heute angebotenen Lebensmittel und der starken Vermarktung der Produkte als Brands unser ganzes Nahrungsumfeld verändert. Unser genetisches Lernprogramm zur Geschmacksidentifizierung von Nahrung, die gut für uns ist, scheint heute angesichts der irreführenden denaturierten Nahrung eher verhängnisvolle Auswirkungen zu haben. Wir haben seit einigen Jahren grosse Ernährungs- und damit zusammenhängende Gesundheitsprobleme in der westlichen Welt, wie Übergewicht, ernährungsbedingte Krankheiten, Lebensmittelallergien und Mangelerscheinungen bei Nahrungsüberfluss. Was können wir tun? Die Geschmackswahrnehmung von Kleinkindern, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wieder sensibilisieren – keine Frage des Luxus, sondern des Wohlbefindens und der Gesundheit.

und Neues zu entdecken – das Belohungssystem soll stimuliert werden. Da die Geschmacksförderung ein grosses Anliegen von Slow Food ist, initiiert Slow Food überall sogenannte Geschmackslabors für Erwachsene. Ziel ist auch hier, dass durch spielerisches Kosten und Vergleichen von ähnlichen Produkten oder von Produktkombinationen die Teilnehmenden ihre subjektive Geschmackswahrnehmung verfeinern und so immer mehr Nuancen spüren – was unser Gehirn sofort mit höherem Genuss belohnt, wie wir nun wissen. Es liegt also an uns, unser genetisches Lernprogramm auch im industrialisierten und kommerzialisierten Nahrungszeitalter wieder so einzusetzen, dass wir Geschmackspräferenzen für Lebensmittel entwickeln, die uns wirklich guttun. Ursula Hasler ist Autorin und Dozentin.

Geschmacksempfinden schulen Viele Geschmacksvarianten zu verarbeiten, ist eine Herausforderung für das Gehirn und seine Entwicklung; es fördert die Synapsenbildung. Es wird vermutet, dass die Anforderung an die frühkindliche Gehirnentwicklung, wenn es vielfältige Geschmackseindrücke verarbeiten muss, grundsätzlich die Intelligenz fördert, gerade weil die Geschmackswahrnehmung alle Sinne einbezieht und ein mentaler Lernprozess ist. Geschmackswahrnehmung ist das, was wir gelernt haben. Das bedeutet, dass wir immer auch verlernen, umlernen und Neues lernen können. Unerwünschte Geschmackspräferenzen, die uns abhängig machen, wirken nur, so lange sie unbewusst sind. Es gibt in Deutschland und in der Schweiz verschiedene Initiativen für Geschmacksschulung mit Kindern und Jugendlichen. Dabei geht es natürlich nicht um sensorische Fachkenntnisse, sondern darum, dass die Kinder neue gustative Erfahrungen mit Essen machen, zum Beispiel eben auch, um bereits eingeschliffene Geschmackspräferenzen wieder zu «neutralisieren» 24

weiterführende infos Website von Slow Food international mit Informationen zur Geschmacksschulung (Taste education) www.slowfood.com/educazione/ welcome_eng.lasso Sinnesschulung für Kinder und Jugendliche www.foodmedia.de/fws/ Forschungsinstitut für Kinderernährung FKE Dortmund (DONALD Studie) www.fke-do.de/ Schweizerische Gesellschaft für Ernährung www.sge-ssn.ch Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin http://www.dgkj.de/ Deutsche Akademie für Kulinaristik http://www.kulinaristik.de/ UGB-Vereine für Unabhängige Gesundheitsberatung in Europa www.ugb.de/



sprachforschung

Wie schmecken eigentlich Kartoffeln? Geschmacksempfindungen sind individuell. Sie lassen sich nicht teilen, sondern bloss mitteilen. Sprachwissenschaftler sind gefordert. Von Larissa Bieler und Daniela Wagner

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as Deutsche verfügt – wie andere Sprachen auch – mit süss, sauer, salzig und bitter nur über wenige genuine Geschmackswörter. Benannt werden damit die sogenannten Grundgeschmacksarten. Das japanische umami, das für den Geschmack von Bouillon, Fleischsaft, aber auch für den Geschmack von reifen Tomaten steht und als fünftes Grundgeschmackswort gilt, hat sich im Deutschen ausserhalb der Fachwelt nicht eingebürgert. Und selbst die Ausdrücke für die Grundgeschmacksarten sind nicht alle für Geschmack reserviert: Es gibt auch süsse Träume, saure Mienen und bittere Tränen. Insgesamt steht der Fülle an alltäglichen Sinneseindrücken beim Essen ein verblüffend kleiner spezialisierter Wortschatz gegenüber. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Problemlosigkeit wir im Alltag über Geschmack sprechen. Ein Blick in die grossen Deutschwörterbücher und ein offenes

Ohr für die Alltagssprache zeigen allerdings, dass es neben den vier Grundgeschmackswörtern eine Menge an Ausdrücken gibt, mit denen wir Geschmackswahrnehmungen bezeichnen. Viele davon beschreiben und werten zugleich: Ein Käse, der nach wenig schmeckt – auch das ist ein Geschmacksausdruck –, kann als fad (negativ) oder mild (positiv) charakterisiert werden. Selbst das Urteil, jemand sei farblos, wird auf Anhieb als negativ empfunden, auch wenn wir uns hier eines Ausdrucks aus der Sprachwelt des Gesichtsinns bedienen: Wir nutzen sprachlich aus, dass wir alle in gewisser Weise zu synästhetischen Empfindungen fähig sind.

zweierlei skalen Was in unserem Geschmacksalltag also funktioniert – das Reden über Geschmack –, macht dort Schwierigkeiten, wo man es genau haben muss – etwa in der Lebensmittelsensorik oder bei den gesetzgebenden Lebensmittelbehörden. In diesen Bereichen sind praktische oder wissenschaftliche Zielsetzungen oft eng mit sprachlichen Fragestellun26

gen verknüpft. In der Lebensmittelsensorik wird häufig mit Geschmackstests gearbeitet, bei denen verbale Beschreibungen eine zentrale Rolle spielen, ohne dass geklärt wäre, in welchem Verhältnis die Versprachlichung von Geschmackswahrnehmungen zu den sensorischen Stimuli steht. Wir wissen aber, dass sprachlich-semantische und chemische Skalen nicht unbedingt übereinstimmen. So «arbeiten» wir in der sprachlichen Beschreibung von Früchten mit einer semantischen Skala, die sich vom Pol «sehr süss» zum Pol «sehr sauer» erstreckt – etwa wenn wir einen Apfel als relativ sauer bezeichnen – obwohl sensorisch betrachtet hinter dem so beschriebenen Geschmackserlebnis zwei Skalen stehen: die Süsseskala und die Säureskala. Semantik und Chemie gehen also nicht immer parallel. Deshalb werden alltagssprachliche Geschmacksbeschreibungen in fachlichen Zusammenhängen oft als zu wenig differenziert empfunden. Was heisst schon scharf? Könnte man es präzisieren? Die sprachlichen Probleme aus der Praxis der sensorischen Forschung sind


Geschmack

und der Wortschatz des Deutschen

auch aus linguistischer Perspektive herausfordernd – das Verhältnis von Sinneswahrnehmung und sprachlichem Ausdruck sowie der Geschmackswortschatz selbst sind erst wenig erforscht.

geschmack im spannungsfeld Reden über Geschmack ist kulturell verschieden und historisch veränderlich. Käse kann in Italien süss (dolce) sein, und dass Wein eine sehnige Statur haben kann, ist eine neuere sprachliche Errungenschaft des Deutschen. Überhaupt der Wein: Die kulturelle Hochwertung auch in breiteren Schichten hat zu einer Explosion der Weinsprache geführt – und die Frage ist, ob diese sprachliche Differenziertheit auch mit einer geschmacklichen Differenziertheit einhergeht. Oder anders gefragt: Hat die neue sprachliche Differenzierung auch unser Wahrnehmungsvermögen gesteigert? Nimmt man vielleicht «auf Italienisch» den Geschmack von Käse anders wahr, weil man dasselbe Wort benutzt wie für Kuchen? Damit sind wir bei der Frage, ob und in welcher Weise das Medium Sprache nicht nur die Kommunizierbarkeit von

Sinneseindrücken, sondern vielleicht auch die Geschmackswahrnehmung selbst beeinflusst. Wären wir vielleicht auch bei Kartoffeln anspruchsvoller, wenn wir einen breiteren Wortschatz für Kartoffelgeschmack hätten? Dass individuelle Geschmackswahrnehmung, kulturelle Prägungen und sprachliche Ausdrucksmuster sich gegenseitig beeinflussen, davon ist auszugehen; Geschmack steht im Spannungsfeld von Kultur, Biologie und Sprache. Den messbaren sensorischen Eigenschaften eines Lebensmittels stehen die historisch gewachsenen und kulturell geprägten sprachlichen Bezeichnungen für die entsprechenden Wahrnehmungen gegenüber. Wie genau dieses Spannungsfeld angelegt ist, muss durch interdisziplinäre Forschung ergründet werden. Lic. phil. Larissa Margot Bieler ist Projektmitarbeiterin im Projekt «Sensory Language and the Semantics of Taste» am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Daniela Wagner, M.A., ist Projektkoordinatorin im selben Projekt. 27

Im interdisziplinären Forschungsprojekt SenS [«Sensory Language and the Semantics of Taste»] untersuchen seit 2008 Linguisten, Kognitionswissenschaftler und Lebensmittelsensoriker den Geschmackswortschatz des Deutschen und seine Verwendung in alltäglicher Kommunikation. Beteiligt sind die Universitäten Zürich und Basel, die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die ETH Zürich. Eines der anwendungsorientierten Ziele des Projekts ist die Erstellung einer öffentlich zugänglichen Online-Datenbank der Geschmackswörter. Mit dieser Datenbank soll der gesamte Geschmackswortschatz des Deutschen erfasst werden; die Wortprofile geben unter anderem Auskunft über typische Verwendungsweisen der einzelnen Ausdrücke, über statistische Korrelationen zu anderen Ausdrücken sowie über das emotionale und wertende Potenzial der einzelnen Wörter. www.sensorysemantics.ch


Geschmacksfรถrderung

So gruusig ! Kinder lernen spielerisch, bewusst zu schmecken und zu geniessen. Ein Blick ins Geschmacks- und Kochatelier in Erlinsbach. O-Ton inklusive.

Von Sven ahlborn Fotos Ruth Erdt

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Mit Orangen und Ă„pfeln werden die Sinne sensibilisiert. Anschliessend gehts ans Kochen.

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Geschmacksförderung

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lbi von Felten hört an diesem Mittwochnachmittag vor allem eines: «So gruusig!» Der Chefkoch und Gastgeber vom Landhotel Hirschen in Erlinsbach AG organisiert einen Workshop für Geschmacksbildung. Teilnehmer sind acht Kinder im Alter von 7 bis 11 Jahren. Etwa drei, manchmal vier solcher Kurse veranstaltet von Felten jährlich. Und weil diese so gefragt sind, können es auch sechs oder sieben sein. Die Kinder werden mit Apfelsaft und Gemüsesticks an verschiedenen Cocktailsaucen empfangen. Danach gehts an den gedeckten Tisch. Dort stehen an jedem Platz sieben Weingläser, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Albi von Felten erläutert das Vorgehen respektive worauf es zu achten gilt: «Welche Geschmacksrichtungen schmeckt man auf der Zunge?» Der Mentor erklärt, dass man beim Degustieren seine Sinne brauche. Mit zugehaltener Nase beispielsweise, schmecke man viel weniger gut. «Zuerst die Augen, dann die Nase und erst am Schluss den Mund.» Kurse in Geschmacksschulung sind ganz im Sinne von Slow Food. Seit Jahren veranstaltet der Verein im In- und Ausland regelmässig Workshops für Kinder und Erwachsene, in denen auf innovative und originelle Art die Sinne geweckt und geschult werden. Ziel der Seminare: Das Schmecken als bewusstes Erlebnis zu vermitteln. Im weitern soll der Unterschied zwischen Lebensmitteln und industrieller Massenproduktion wahrgenommen sowie die Zubereitung von Speisen mit frischen, saisonalen Produkten aus der Region gelernt werden. Als Terroirist der ersten Stunde ist es Albi von Felten vor allem ein Anliegen, den Kindern die reiche Auswahl an regionalen Produkten schmackhaft

zu machen. Doch zunächst gilt es an diesem Nachmittag, die Sinne zu sensibilisieren. Brav richten die Kinder den Blick auf die Gläser, gemäss der Anweisung ihres Lehrers. Aha, bei Glas Nr. 3 ist die Flüssigkeit leicht getrübt. Ansonsten sehen sie alle gleich aus. Beim Riechen werden die Unterschiede schon deutlicher. Zwei Flüssigkeiten riechen sauer, die eine leicht süsslich. Glas Nr. 4 riecht nach Nichts, sagt von Felten. «Doch, nach Wasser!», rufen die Kinder unisono. Von Felten nickt und fordert die Jungmannschaft auf zu probieren: «Aber vorsichtig! Ihr wisst ja nicht, ob es euch schmeckt.» Für diejenigen, die der Flüssigkeit nichts abgewinnen können, stehen Spucknäpfe bereit. Beim Essigwasser möchte niemand trinken, ergo wird fleissig gespuckt. Ebenso beim Salzwasser. Das Zitronenwasser hingegen gefällt einigen schon besser. Und das Zuckerwasser mögen natürlich alle. Ein kleiner Connaisseur bemerkt, dass Leitungswasser bitter schmecke, wenn man es nach dem Zuckerwasser trinke. Von Felten freut sich ob der Beobachtung und schlägt vor, einen Cocktail zu mischen aus Zitronen- und Zuckerwasser. «Hmm, schmeckt wie Citron pressé in Frankreich.» Nun möchten die Kinder gerne noch das Essig- mit dem Salzwasser mischen. Das ist dann wirklich «gruusig».

Produkte als DuftBouquet Anschliessend werden die Gläser mit ein wenig Wasser geputzt, und die zweite Runde beginnt. Diesmal mit Säften: Randensaft – «Blutwurstsaft» mutmassen die einen –, Traubensaft, Zwetschgen/Apfelsaft, Rüeblisaft und Orangensaft. Schön von dunkel nach hell aufgereiht. «Schaut diese wunderschönen Farben an, die in der Natur 30

vorkommen», sagt von Felten. Die Knacknuss sei diesmal, beim Riechen nicht nur auf die vordergründigen Aromen zu achten, wie etwa Apfel oder Rüebli, sondern welche Geschmacksnoten sonst noch die Nase kitzelten. «Der Randensaft riecht erdig», meint eine Teilnehmerin. «Der Rüeblisaft ebenso», wirft ein Bub ein. «Ja, aber der Rüeblisaft riecht süsser als der Randensaft», entgegnet ein Dritter. Die Kontroverse ist in vollem Gang. Von Felten erklärt seinen Schützlingen, jedes Produkt sei ein Blumenstrauss voller Düfte. Den gelte es zu entdecken. Am Schluss darf wieder gemischt werden. In der dritten Runde stehen Salze in verschiedensten Farben zur Degustation parat: von schwarz (aus Hawaii) über braun zu rosa, von grau über weiss mit blauen Punkten (dem persischen Königssalz) bis zum normal weissen Kochsalz. Hier sind die Kinder etwas zurückhaltender. Bei den Ölen hingegen ist das Interesse wieder grösser.


Zuerst gucken und riechen. Dann dürfen die Säfte degustiert werden Da werden die verschiedenen Farben erklärt und auch, dass bei billiger Massenware oft künstliche Farbstoffe hinzugefügt würden, um eine bessere Qualität vorzugaukeln. Die Kinder tunken Brotstücke in Raps-, Baumnuss-, Oliven-, Senf- und Kürbiskernöl. Einen klaren Favoriten gibt es nicht, aber diesmal auch nicht die Note «gruusig».

kleine küchenmeister Die Apfeldegustation gefällt allen. «Wie muss ein guter Apfel sein?», fragt von Felten. «Fein» ruft jemand, «knackig» ein anderer und «saftig» ein Nachzügler. Aber der erste Apfel ist weich und mehlig; ergo findet er keinen Anklang. Beim Braeburn flüstert ein Junge, «de hemmer dihei». Der Jonagold wird als langweilig eingestuft. Von Felten erklärt, das sei wegen der mangelnden Säure. Er rät den Kindern, die Eltern zu ermuntern, verschiedene Äpfel zu kaufen. So gebe es etwas Abwechslung, und die Bauern bauten weiterhin verschiedene Sorten an.

Nach den Äpfeln folgen Orangen, die zur Zeit des Seminars Saison hatten. Im Eilzugtempo schneidet der Gourmet und Koch die mehr oder weniger süssen, mehr oder weniger saftigen und mehr oder weniger biologischen Früchte klein und erklärt ihre Provenienz. Auch hier sind es diejenigen ohne nennenswerte Säure, die am wenigsten munden – langweilig halt. Zum Schluss gibt es eine Sorte, die sogar von Felten nicht kennt: Eine Cherryorange, die der Gemüse- und Früchtehändler geschickt hat. Zwar nicht «gruusig», aber «wenig überzeugend», meint von Felten. Jetzt haben die Kinder genug vom Degustieren. Mit Geschrei stürmen sie in die Küche. Der Chef erläutert das Menu. Zur Vorspeise gebe es Kohlrabischaumsuppe. «Muess me die ässe?» fragt ein Mädchen. Die Skepsis ist allgemein gross. Aber als es darum geht, wer sie zubereiten darf, wollen plötzlich alle. Also schälen und schneiden die einen Kohlrabi, die anderen zupfen und hacken Kräuter für die 31


Geschmacksförderung

Schulgarten heisst Albi von Feltens jüngstes Projekt. Was ganz im Sinne von Slow Food ist.

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Gartenkräuter-Rahmsauce, die das gebratene Aargauer Poulardenbrüstchen begleiten soll, und wieder andere zerkleinern Zwetschgen für die Dessert-Crème. Zwei Mädchen bereiten in der Zwischenzeit das Blätterteigkonfekt vor für den Apéro.

chicken Nuggets selbst gemacht Am Anfang sind die Kinder noch etwas zurückhaltend und trauen sich nicht zu probieren. Aber mit der Zeit naschen sie hier ein bisschen und stecken dort einen Finger in den Schlagrahm. Von Felten wirbelt zwischen den Kleinköchen hin und her. Es sei ganz schön anstrengend, meint er. Kinder mögen nicht warten, es müsse immer etwas laufen. Deshalb unterrichten normalerweise zwei Köche. Aber heute ist von Felten alleine. Unermüdlich erklärt er, wie kalt das Zwetschgenmus sein muss, wie die Rüebli für das Rüeblisrisotto geschnitten werden sollen, wie man das Pouletbrüstli richtig anbrät. Und immer wieder ermuntert er die «Lehrlinge», auch mit der Nase und den Ohren zu kochen. Den Kindern macht es ganz offensichtlich Spass. «Jaa, so isch es schön!», freut sich ein Junge, als er die Poulardenbrüstchen umdreht und die Haut knusprig braun ist. Da stören auch die paar Fettspritzer nicht, die er abbekommen hat. Zwei Mädchen hören indes

genau zu, als von Felten ihnen vorrechnet, für einen Risotto brauche es auf einen Teil Reis drei Teile Flüssigkeit. Trockenreis hingegen würde auf einen Teil Reis mit zwei Teilen Flüssigkeit geköchelt. Lange war das Urteil nicht mehr zu hören, aber als von Felten meint, jetzt müsse man zu den Kohlräbli Gemüsebouillon geben, kommts wieder wie aus der Pistole geschossen: «so gruusig!» Ein Junge meint jedoch: Nur weil man etwas nicht möge, sei es noch lange nicht «gruusig». Und weil so Verhaltensregen besser ankommen, als wenn sie Erwachsene diktieren, heisst es eben ab sofort: «Das hani nid so gärn.» Albi von Felten möchte künftig auch Fast-Food-Kurse anbieten. Dort sollen Kinder lernen, Ketchup, Pommes frites und Chicken Nuggets selber zu zaubern. Am Schluss würden die Eigenkreationen dann mit der industriell hergestellten Ware verglichen. Dadurch könnten die Kinder selber erfahren, warum rekonstituiertes Pouletfleich nicht gleich schmeckt, und was dahinter steckt. Weshalb es wichtig ist zu wissen, was auf den Teller kommt. Von Felten: «Nur so sind wir fähig, zwischen fein und gruusig zu unterscheiden.» Sven Ahlborn ist Food- and WineScout und Kommunikationsberater. www.boccafino.com 32

low.ch berichtete in der letzten Ausgabe über das Slow Food-Projekt «Schulgärten». Die so genannten Genussgärten, wie sie mittlerweile in zahlreichen Ländern rund um den Erdball verwirklicht werden konnten, sollen Kindern und Jugendlichen eine Geschmacks- und Sinnesausbildung ermöglichen und ihnen damit die Grundlagen für Qualität und Genuss vermitteln. Das Gewahrwerden natürlicher Rhythmen, die Sensibiliserung für ganzheitlich orientierte Prozesse respektive Wertschöpfungsketten sind weitere Anreize, die Schulgärten bieten. In der nächsten Nummer von slow.ch (erscheint im Oktober) werden wir ausführlich darüber berichten. Auch Albi von Felten plant zurzeit, einen Schulgarten nach Slow Food zu realisieren. Nebst dem Pflanzplatz, der mindestens 80 m2 und im Idealfall rund 150 m2 gross sein sollte, muss eine Schulklasse gefunden werden, die im Rahmen des Unterrichtsplanes in einer ersten Phase den Garten vorbereitet, mit von ProSpecieRara zur Verfügung gestellten Sämlingen bepflanzt und sie hegt und pflegt. Da ein Pflanzjahr nicht mit einem Schuljahr identisch ist, muss die Gartenbetreuung auch in den Schulferien gewährleistet sein. Albi von Felten konnte bereits einen Rektor für das Projekt begeistern. Jetzt muss nur noch die Klasse bestimmt werden.

Informationen zum Schulgarten-Projekt von Slow Food: Projektleiter Schulgärten Jürgen Schnaithmann, Hotel Chesa Alpina, 7516 Maloja GR, Tel. +41 81 824 31 12, E-Mail: info@chesa-alpina.ch Am 4. Juni findet im Landgasthof Hirschen in Erlinsbach ein kulinarischer Rundgang statt inklusive Besichtigung des Schulgartens. Am 20. Juni und 26. September stehen Kinderworkshops für Geschmacksbildung auf dem Plan. www.hirschen-erlinsbach.ch


Qualitätsprüfung

Profis testen Olivenöl Die Lebensmittel-Sensorik analysiert und bewertet die Qualität von Produkten. Von Annette Bongartz

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eit 2002 werden an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW in Wädenswil die sensorischen Eigenschaften von extra nativen Olivenölen getestet. Die Analysen und Bewertungen sind zum einen Dienstleistungsaufträge, zum andern die jährlich stattfindende Auszeichnung «International Olive Oil Award – Zurich» (IOOA). Um einen sensorischen Eindruck zu gewinnen, ist es wenig sinnvoll, die Wahrnehmung von Geschmack und Geruch voneinander zu trennen. Aus subjektiver Konsumentensicht ist genau dieses Zusammenspiel in Verbindung mit weiteren sensorischen Empfindungen, wie etwa der Optik, Haptik und der Akustik, massgebend für die Akzeptanz oder Präferenz von Lebensmitteln. Diese zwei Zusammenhänge werden in einer von zwei Grunddisziplinen der Lebensmittel-Sensorik, der so genannten «Hedonik», im Rahmen von Konsumententests analysiert. In der zweiten Grunddisziplin der Lebensmittel-Sensorik, der «sensorischen Analytik», befasst man sich mit der objektiven Beschreibung und Beurteilung sensorischer Eigenschaften von Lebensmitteln. Hier werden alle menschlichen Sinnesempfindungen äusserst differenziert betrachtet. Dies mit dem Ziel, objektive und zudem äusserst detaillierte Produktbeschreibungen zu erhalten.

Alle menschlichen Sinnesempfindungen werden betrachtet Die achte sensorische Beurteilung der Olivenöle des Erntejahres 08/09 hat Anfang Jahr stattgefunden. Die Ergebnisse werden im Frühjahr publiziert. An der letzten sensorischen Beurteilung, im Frühjahr 2008, testete das Schweizer Olivenöl-Panel (SOP) der ZHAW 132 eingereichte Olivenöle der Güteklasse «Nativ Extra». Die Öle stammten aus elf verschiedenen Nationen. Fünf wurden mit der «Goldenen Olive», acht mit der «Silbernen Olive» und siebzehn mit dem Ehrenpreis «Award» prämiert.

harmonie und dauerhaftikgeit Was genau steckt eigentlich hinter dieser Prämierung? Grundlage ist zunächst die Klassifizierung von Olivenöl gemäss geltender EU-Verordnung (640/2008). Darunter versteht man im ersten Schritt die Prüfung der Olivenöle auf so genannte Negativattribute, die Produktions- und Lagerhaltungsfehler erkennen lassen. Anschliessend folgt die klassische Profilierung von Positivattributen wie «fruchtig», «bitter», «scharf», wobei es sich dabei um erwünschte Eigenschaften handelt, die für Olivenöl je nach Sorte charak33

teristisch sind und in jeweils unterschiedlicher Intensität vorkommen. Des Weiteren erfolgt eine Zuordnung der Öle in eine der beiden Kategorien «grünlich-fruchtig» oder «reiffruchtig». Nur diejenigen Öle, welche keinerlei Fehler aufweisen und gleichzeitig eine spürbare Fruchtigkeit zeigen, können der höchsten Güteklasse, den «extra nativen» (extra vergine) Olivenöle, zugeordnet werden. Die Intensität der Positivattribute «bitter» und «scharf» haben dabei keinen Einfluss auf die Zuordnung der Klassifizierungskategorie. Anlässlich des IOOA wird ergänzend für alle als «extra nativ» klassifizierten Öle zusätzlich die Harmonie und Dauerhaftigkeit sämtlicher positiver Eigenschaften beurteilt. Ausserdem erfolgt eine detaillierte Beschreibung der Fruchtigkeitsvielfalt. Dafür stehen weitere beschreibende Begriffe zur Verfügung, die geeignet sind, die Qualität der Fruchtigkeit präzis zu spezifizieren. Annette Bongartz ist Dozentin für Lebensmittel-Sensorik am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation (ILGI) der ZHAW. www.ilgi.zhaw.ch http://oliveoilaward.ch


Food-design

Panschen erlaubt

In den Laboratorien der Lebensmittelindustrie wird fleissig getüftelt. Von sonnengelben Eidottern dank Farbstoffen im Hühnerfutter und Cranberries, aus denen Kirschen werden.

Von Udo Pollmer Fotos Lucas Peters

Z

usatzstoffe sind die Heinzelmännchen der Food-Designer. Wenn teure Lebensmittel zum Spottpreis für den Discounter nachgebaut werden müssen und Fertiggerichte aus der Mikrowelle schmecken sollen, als kämen sie aus Grosis Backofen, dann brauchen sie jene Hilfen aus dem Reich der Biochemie, Lebensmittelchemie und Technik, die man so gerne vor den Augen der Konsumenten verbergen würde. Selbstredend sollen die Produkte dabei «natürlich» und «gesund» wirken. Wie wäre es mit frischen Früchtchen? Für den Hersteller können sich solche arglosen Wünsche schnell als Alptraum entpuppen. Aus Sicht des Verarbeiters hat frisches Obst seine Tücken: Die meisten Früchte nehmen gewöhnliche Verfahrensschritte wie Tiefgefrieren oder Backen übel. Die Erdbeeren im Glace werden blass, die Fruchtzubereitung im Joghurt schmeckt ohne Aromatisierung genauso fad wie der Joghurt, und die Apfelstücke im Tiefkühlstrudel erinnern nach der Mikrowelle besten34

falls an Babybrei. Und welcher Konsument würde schon echte Himbeeren akzeptieren? Sie enthalten kleine Kerne, die sich zwischen den Zähnen festsetzen.

Maskierte Früchte Jede Frucht will anders verarbeitet werden, was die Produktion unnötig verteuert. Viel vernünftiger wäre es, man würde sich auf eine einzige Obstsorte beschränken, möglichst eine, die maschinenfreundlich ist und alles mit sich machen lässt: Aus Sicht der Technologen erfüllen Cranberries diese Anforderungen in idealer Weise. Deshalb wird nur ein kleiner Teil der Ernte tatsächlich als Cranberry verzehrt. Der grösste Teil wird zunächst tiefgefroren und dann in kleine Streifen geschnitten, um den Saft per Gegenstromextraktion vollständig zu entfernen. Das Verfahren ist deshalb so aufwendig, weil es nicht um den Saft, sondern um die leergelutschten Hüllen geht. Diese von den typischen Merkmalen und Inhaltsstoffen echter Cranberries befreiten Hüllen werden nun per Gegenstrominfusion mit einem Spezialsirup imprägniert. Er




Food-design besteht unter anderem aus Aromen, Säuren, Farbstoffen, Zucker, Glycerin. Diese Komponenten benötigt man, um dem Konsumenten den Geschmack von Erdbeeren, Mangos oder Kirschen vorzugaukeln. Mit Speiseöl wird das Kunstwerk stabilisiert und nun in die gewünschten Formen gepresst und geschnitten. So erhält man, versichert der Hersteller, «Fruchtstückchen mit einer weichen, vollen Textur. Die getrockneten Fruchtstückchen schmecken je nach Aromazugabe wie Heidelbeeren, Kirschen, Erdbeeren oder Himbeeren, und entsprechen ihnen auch farblich.» Wer glaubt, dass es billiger wäre, gleich die echten Vorbilder zu verwenden, irrt. Denn Cranberries haben einen finanziellen Vorteil: Sie sind maschinenfreundlich und überstehen die meisten Verarbeitungsschritte problemlos. Der lästige Saft der Beeren wird über die Getränke- und Aromenindustrie «entsorgt».

technische herausforderung Sind solche Früchte auch ökologisch? Nein, werden Freunde der politisch korrekten Denkart einwenden. Wozu aus den USA Cranberry-Konglomerate importieren? Haben wir hier nicht genügend Obst? Richtig. In den Saftfabriken fallen jede Menge Pressrückstände an. Daraus liesse sich durchaus etwas machen. Das Haus Unilever kann bereits die ersten Erfolge verzeichnen, wie einer einschlägigen Patentschrift zu entnehmen ist: Bei Birnen, Pfirsichen, Aprikosen, Erdbeeren, Bananen, Avocados, Himbeeren und Zitrusfrüchten gelang es, Produkte mit einer «verbesserten Widerstandsfähigkeit gegenüber Hitze» zu kreieren, «was beispielsweise beim Backen oder Eindosen von Bedeutung ist». «Die vorgetäuschten Früchte werden besonders zweckmässig», so die Erfinder, «in Milchprodukten, wie Joghurt, Quark und Rahmglace» verwendet, ausserdem in «Füllungen für Fruchttorten, Confi und Fruchtsaucen». Da den Pressrückständen natürlich der Saft fehlt, wird er einfach

Die cremige Textur lässt sich durch den Zusatz sprühgetrockneter Fette erzielen.

nachgemacht. Ein Mix aus Wasser, Zitronensäure, Zucker, Aromen und Farbe ergibt mit den Fruchtresten die Basis. Um die Struktur des Fruchtfleisches nachzubauen, nimmt man bewährte Zusatzstoffe wie Dicalciumphosphat, Trinatriumcitrat und Alginate. So funktioniert das System: Die Zitronensäure setzt aus dem Dicalciumphosphat Calcium frei. Das wiederum reagiert mit dem Alginat zu einem festen, fruchtfleischartigen Gel. Leider verläuft diese Reaktion zu schnell. Deshalb enthält die Rezeptur noch Trinatriumcitrat, damit die Masse schön gleichmässig erstarren kann. Das fertige Imitat übersteht im Gegensatz zu echten Früchten problemlos jede Hitzebehandlung. Soll das Produkt für die Tiefkühltruhe gefrier-tau-stabil werden, empfiehlt sich ein Zusatz an Spezialstärken oder Carboxymethylcellulose. So kann der Bäcker seine Apfelkrapfen «nach Grossmutters Rezept» tiefgefroren aus der Fabrik beziehen und im Laden aufbacken, ohne dass die vermeintlichen Apfelstücke breiig werden.

übertroffene erwartung Kirschen stellen schon höhere Anforderungen an die Technik: Um ihre feste, dünne Haut nachzuahmen, wird die Mixtur in ein Calciumbad extrudiert. Darin wird die Aussenschicht des herausgepressten Stranges gehärtet. Avocados und Bananen unterscheiden sich von den übrigen Obstsorten durch ihre cremige Beschaffenheit. Dieser 37

Geschmackseindruck lässt sich durch Zusatz sprühgetrockneter Fette mit etwas Johannisbrotkernmehl erzielen. Ja, der Kunde ist König – und seine Erwartungen werden oft genug von der Realität übertroffen.

Faule Früchte Doch die Tage dieser Erfindung sind gezählt. Ein Newcomer aus den USA macht ihr den Ruhm streitig, das faulste Früchtchen zu sein: Vollsynthetische «Flavor Islands» aus dem Hause Quali Tech läuten ein neues Zeitalter ein: «Grundlage der Beeren ist eine Mischung aus Invertzucker, Natriumalginat, Wasser und dem Konservierungsstoff Kaliumsorbat, die nach Wunsch des Verarbeiters durch Zugabe natürlicher oder künstlicher Farbstoffe und Aromen ihre unverwechselbaren Eigenschaften bekommen.» Damit bei einer eventuell erforderlichen Deklaration der Kunde nicht gleich merkt, was er da isst, «können auch Bestandteile aus echten Früchten verwendet werden». Für Müesli und andere Produkte des Trocken- und Gesundheitssortiments gibt es ein spezielles Kunstprodukt: eine «Basisknusperperle» aus Zucker, Reismehl, Glucosesirup, pflanzlichen Ölen, Zitronensäure und Salz. Neben Allerweltsaromen wie Ananas, Apfel, Aprikose und Ahornsirup gibts Früchte, die nach Karamel, Pfefferminz, Schokolade und sogar Kaugummi oder Marshmallow schmecken. Die edlen Fruchtstückchen sind drauf und dran, die Geschmacksnerven einer ganzen


Food-design

Technologen realisieren die Vorstellung des Verbrauchers nach unverfälschter Natur

Generation zu prägen. Wetten, dass Kinder bald glauben, ihre bunten Kaugummikugeln würden beim Biobauern von Sträuchern gepflückt und Marshmallows seien besonders süsse Südfrüchte?

Künstliche Natürlichkeit Dabei handelt es sich um die konsequente Umsetzung eines Konzeptes, das einst von den Strategen des Hauses Nestlé entwickelt wurde. Im Jahr 1986 stellte das Unternehmen in seiner wegweisenden Studie «Mensch und Ernährung 2000» die Philosophie der «künstlichen Natürlichkeit» vor. Gemeint ist, dass der Konsument zwar möglichst natürliche und unverfälschte Produkte wünscht, aber gar nicht mehr weiss, wie sie eigentlich beschaffen sind und schmecken. Also erfragten Marktforscher, was der Kunde für natürlich hält. Anschliessend realisierten Technologen die Vorstellungen des Verbrauchers nach unverfälschter Natur im Labor. Die Idee von Nestlé war nicht neu. Als sich vor vielen Jahren herumsprach, unsere Eier kämen nicht mehr vom Mistkratzer, sondern aus der Legebatterie, empfahlen Tierschützer, die Dotterfarbe zu prüfen: Im Käfig blieben die Dotter blass, während sie auf dem kleinbäuerlichen Hof eine herrlich orangerote Farbe annähmen. Die Vermarktungsstrategen reagierten prompt. In Umfragen stellten sie fest, welche Farbe der Konsument für «natürlich» hält. Heute können die

Eierproduzenten die Färbung des Dotters mit entsprechenden Farbstoffen zielgruppenspezifisch steuern. In der Schweiz und in Deutschland soll das Innere des Eies möglichst tieforange leuchten, während die Holländer und Skandinavier ein sattes Gelb für «natürlich» halten. Da die Bildung des Dotters bis zu drei Wochen dauert, müssen die Farbstoffe kontinuierlich zugeführt werden, um die Entstehung unterschiedlich gefärbter konzentrischer Ringe zu vermeiden. Ohne Geschmacksdesign wäre unsere Vorstellung von «natürlicher Nahrung» kaum zu realisieren. Mit ihren Produkten bestätigt die Industrie gleichzeitig unsere verqueren Vorstellungen von «echten» Lebensmitteln und verfestigt sie. Ein Ergebnis der Suche nach der künstlichen Natürlichkeit ist das «Clean Label». Motto: Je weniger Zusatzstoffe in der Zutatenliste, desto besser. So will es jedenfalls der Verbraucher. Die Industrie sitzt damit in einer Zwickmühle. Schliesslich sollen die Produkte immer praktischer und schneller genussfertig sein. Also versuchen die Hersteller, alle technischen Optionen zu nutzen, um durch ein sauberes Etikett die vom Kunden geforderte «Natürlichkeit» signalisieren zu können. Für diesen Zweck wurde eine neue Gruppe von Zusatzstoffen entwickelt, die funktionalen Additive. Ein wichtiger Rohstoff ist ein ganz unverdächtiges Produkt: Milch. Sie enthält alles, was ein Neugeborenes, ob Kalb oder Kind, zum Wachsen und 38

Gedeihen braucht, wenn auch jeweils in etwas anderer Zusammensetzung: Fette, Eiweisse, Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Cholesterin, Hormone. Und Milch hat nun einmal bei den meisten Konsumenten von Kindesbeinen an ein unschlagbar gutes Image. Damit ist sie ein idealer Rohstoff für die Zusatzstoff-Technologen. «Milchproteine sind die Proteine von morgen», wirbt denn auch der französische Anbieter Cidil. Warum so bescheiden, wenn diese Zukunft doch bereits begonnen hat? Milchproteine sind längst allgegenwärtig. Schliesslich gehören sie zu den billigsten Tiereiweissen. Wer ahnt schon, dass Milch ein Rohstoff ist, aus dem sich Kunststoff, ja sogar Elfenbein-Imitate herstellen lassen? Als Ausrüstungsmittel für Spezialpapiere, Additiv für Korken und Klebstoffe, als Stabilisator in Autoreifen und Trägerstoffe für Unkrautvernichter erweisen sich Milcheiweisse als wahre Allround-Künstler.

zusatzstoffe aus milch Die Gewinnung erinnert an eine Erdölraffinerie: Als Rohstoff dient pasteurisierte Magermilch, der Salz-, Schwefel- oder Milchsäure zugegeben wird. Damit lassen sich die Caseine ausfällen, also jene Eiweisse, aus denen traditionell Käse oder Quark hergestellt wird. Durch einen Zusatz von Natronlauge oder Calciumhydroxid wird das geronnene Casein wieder löslich. Entfernt man anschliessend wiederum das Calcium mittels Ionenaustauscher, so erhält man einen vorzüglichen Emulgator. Je nach Weiterbehandlung gibts immer wieder andere funktionalen Additive. Sie wirken zwar wie Zusatzstoffe, aber da sie aus einem Lebensmittel gewonnen werden, gelten sie lebensmittelrechtlich nicht als Zusatzstoff. Auf dem Etikett heissen diese Imitate «Milchprodukt» oder «Milcheiweisserzeugnis». In Österreich befragten Marktforscher Hausfrauen nach der idealen Milch. Erwartungsgemäss lautete die Antwort: eine naturbelassene Rohmilch mit natürlichem Fettgehalt,


möglichst biologisch erzeugt. Beim verdeckten Geschmackstest lehnten sie dieses Produkt jedoch entrüstet ab: Es handle sich um « typisch industriell behandelte Milch». Das sei am «fremden und störenden Beigeschmack» zu erkennen. Stattdessen bevorzugten sie die gewohnte geschmacksneutrale, pasteurisierte Milch vom Grossverteiler mit 3,5% Fettgehalt.

knusprigkeit prüfen Selbstredend ist es das Ziel der Hersteller, aus möglichst billigen Rohstoffen besonders attraktive Geschmackserlebnisse zu designen. Dabei geht es nicht nur um Aroma und Farbe, sondern auch um so komplexe Eindrücke wie Mundgefühl (Beispiel: Kohlensäure), Kaugeräusche (Gurkenscheiben im Hamburger), Kiefervibrationen (Chips), Mundauskleidung (Rahm), Elastizität (Gummibärchen), Temperaturempfinden (Pfefferminz, Chilis) oder Schmelzprofil (Schokolade). Der Verbesserung des Gaumenkitzels widmet sich die Psychophysik. Anfangs arbeiteten die Experten noch mit richtigen Totenschädeln, um die Kieferbewegungen aufs Genaueste zu vermessen. Ja, sie pflanzten sogar Mikrofone ein, um die Geräusche im Mund zu belauschen. Das erwies sich als schwieriger als zunächst gedacht, denn die Kaugeräusche erreichen unser Ohr auf zwei Wegen: Zum einen gelangt die Botschaft über Schallschwingungen im Gehörgang, zum anderen über den Kieferknochen zum Innenohr. Auch wenn der Totenschädel als Werkzeug der Psychophysik noch immer nicht ausgedient hat, werden

Chips heute vorzugsweise «maschinell gekaut» – mit dem «Crunchmeter», das Cornflakes und Kartoffelchips auf ihre Knusprigkeit prüft. Der Verbraucher wird seither – wenn immer möglich – aufs Genaueste vermessen und sein Innerstes im Dienste der Wissenschaft respektive des Auftraggebers ausgelotet. Da werden mit dem EEG Hirnströme gemessen, mittels EKG die Herztätigkeit bestimmt, Atemfrequenz und Einatemtiefe registriert, Veränderungen der Pupillen verfolgt, Blutdruck und Blutvolumen per Plethysmografie aufgezeichnet und elektromyografisch die Aktivität der Gesichtsmuskulatur beim Kauen vermessen. Testesser werden etwa an einen «Lügendetektor» angeschlossen. Damit lassen sich zwar entgegen dem plakativen Namen keine «Lügen» feststellen, aber sehr wohl die emotionale Erregung beim Kosten von Speisen. Ist endlich erforscht, welche Geschmackserlebnisse vom limbischen System in unserem Gehirn als besonders attraktiv empfunden werden, so macht sich ein Stab von Geschmacksdesignern und Food-Technologen daran, das Gewünschte zusammenzubasteln. Es wird die Schnittfestigkeit von Butter festgelegt, das Biegebruchverhalten von Schmelzkäse oder das richtige «Mouthfeel», das Mundgefühl. Böte die Psychophysik nicht auch die Chance, die genusssüchtige Menschheit zu einer vernünftigen Kost zu verleiten? Erfahrungsgemäss scheitern die meisten Menschen, wenn sie beschliessen, künftig «Gesünderes» zu verzehren. Warum eigentlich? Es würde doch

Mittels Lügendetektor wird die emotionale Erregung beim Kosten von Speisen geprüft

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genügen, den Gaumen des Verbrauchers zu seinem eigenen Vorteil zu täuschen, und schon gehörten die Ernährungsprobleme der Überflussgesellschaften der Vergangenheit an. Es würde reichen, wenn die Lebensmittelindustrie nach den Vorgaben der Ernährungsexperten geschmacklich optimierte Gesundheitsprodukte entwickelte: fettarmes Geschnetzeltes, luftige Vollkornbrötchen und Fruchtquark ohne Zuckerzusatz. Niemanden müsste mehr Heisshunger auf blasse Pommes, fettige Bratwürste und klebrige Limos quälen. Das Thema «bewusste Ernährung» wäre gegessen.

denkender Bauch Aber: Es ist eben ein Leichtes, den Gaumen des Menschen zu täuschen, jedoch beinahe unmöglich, seinen Darm zu überlisten. Über kurz oder lang erkennt der Körper den Betrug, den der menschliche Verstand mit List und Tücke geplant hat. Würden kalorienarme Produkte auf Dauer schlank machen, dann wären die Amerikaner das magerste Volk der Welt, denn nirgendwo sonst werden so viele fett- und kalorienreduzierte Produkte verspeist wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die zentrale lenkende Rolle fällt somit dem Verdauungstrakt zu. Dieser ist mit etwa 100 Millionen Nervenfasern durchzogen. Sie entsprechen in ihrer Struktur dem Nervengewebe im Gehirn und mengenmässig dem Rückenmark. Dieses Darmhirn führt nicht etwa nur die Befehle «von oben» aus, sondern befindet sich «im Zwiegespräch» mit den entwicklungsgeschichtlich alten Teilen des Gehirns, um über den Appetit die nächste Darmfüllung zu regeln, damit ein geeignetes inneres Milieu im Körper aufrechterhalten werden kann. Schliesslich sickern die Nährstoffe nicht einfach vom Darm ins Blut, um dann, am Zielort angeschwemmt, nach dem Zufallsprinzip an das richtige Enzym zu geraten und so in einen nützlichen Bestandteil des menschlichen Körpers umgewandelt zu


Food-design

Der Körper erkennt den Betrug, den der Verstand mit List und Tücke geplant hat

werden. Der Stoffwechsel erfordert präzise und vorausschauende Steuerung, damit der Organismus, der sich in ständigem Ab- und Aufbau befindet, auch Bestand hat. Allein durch das Resorbieren von Nährstoffen vermag sich der Körper ebenso wenig zu regenerieren, wie in einem Automobilwerk durch das planlose Abladen von Auspufftöpfen eine Luxuslimousine entsteht.

endogene regulation Alle Inhaltsstoffe einer Mahlzeit müssen vom Körper erkannt, in Empfang genommen und auf einen geeigneten Transporter verladen werden. Der muss wissen, wo er seine Fracht abladen soll. Am Zielort werden sie zu Enzymen geleitet, die rechtzeitig dafür bereitgestellt wurden. Die Enzyme selbst haben eine Lebensdauer von durchschnittlich 20 Minuten, dann werden sie abgebaut. Der Körper muss daher seinen eigenen Zustand und seinen Bauplan bis hinunter auf die molekulare Ebene kennen und stets wissen, was vorhanden ist, was er benötigt und welcher Weg der effektivste ist, um seine Lebens- und Leistungsfähigkeit sicherzustellen. Dieses Körperbewusstsein arbeitet unabhängig von unserer bewussten Wahrnehmung und unserem Verstand. Tiere halten die Zufuhr von Kalorien und Nährstoffen über einen weiten Bereich von diätetischen Manipulationen konstant. Die Regulation funktioniert sogar dann, wenn sie weder riechen noch schmecken

können. Als Forscher deren Geschmacks- und Geruchsnerven chirurgisch durchtrennten, waren die Tiere trotzdem in der Lage, ihre Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zu regulieren wie vorher. Es muss sich daher um eine von innen gesteuerte, endogene Regulation handeln, die nicht über die bewusste Wahrnehmung, sondern unwillkürlich über den Verdauungstrakt vermittelt wird. Diese Form der enterosensorischen Wahrnehmung ist im Gegensatz zur Verarbeitung von Geschmackssignalen unbewusst, wird aber in ein Appetit- oder Sättigungsgefühl umgesetzt.

orientierungsloser appetit Natürlich lässt sich unser Körper auch mal mit Psychophysik austricksen – aber meistens nur für kurze Zeit. Hannelore Daniel, Ernährungsphysiologin an der Technischen Universität München, hat tierexperimentelle Studien durchgeführt, bei denen sie Tiere durch manipuliertes Futter in eine gesundheitliche Schieflage brachte. Sie frassen daraufhin weniger, um von der angebotenen Kost keinen weiteren Schaden zu nehmen. Daniel: «Man kann sie aber dadurch überlisten, dass man ihnen einen Aromastoff anbietet. Wenn dieselbe Mangeldiät plötzlich nach Vanille schmeckt, fangen die Tiere wieder an zu fressen. Nach drei Tagen hören sie zwar wieder auf, wenn man dann aber einen anderen Aromastoff nimmt, fangen sie wieder an.» Was bedeuten diese Erkenntnisse für 40

die Designer-Produkte der Lebensmittelindustrie? Prinzipiell geht von neuartigen Lebensmitteln genauso wenig ein gesundheitliches Risiko aus wie von der Tatsache, dass Kinder heute etwas anderes essen als ihre Eltern früher. Da unser Körper durchaus lernfähig ist, kann sogar das penetrante Erdbeeraroma eines Fruchtjoghurts eine geeignete Reaktion des Regulationssystems zur Folge haben – schliesslich riechen und schmecken echte Erdbeeren völlig anders. Dass Jugendliche keine Erdbeeren mehr mögen, sondern nur Erdbeerjoghurt, liegt nicht unbedingt allein an den Molkereien, sondern auch an Eltern, die ihren Kindern keine Erdbeeren zum Probieren geben. Problematisch für den Verbraucher ist allerdings die Fähigkeit der FoodDesigner, mit wachsender Perfektion der psychophysikalischen Techniken die Rückkopplung zu verwirren: Wenn mehrere gleich schmeckende Lebensmittel mit jeweils deutlich anderer Zusammensetzung angeboten werden, beispielsweise im Falle von Diätprodukten, verliert der Appetit seine Orientierung. Unser Appetit kann nur dann funktionieren, wenn ihm Geruch und Geschmack den tatsächlichen Inhalt unserer Speisen zuverlässig signalisieren. Aus diesem Grund sind «gesunde» Diätprodukte, die das Darmhirn täuschen, unserer Gesundheit abträglicher als «ungesunde» Hamburger oder Gummibärchen.

Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker und Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Er schrieb mehrere Bücher. Zum brisanten Thema Aromentrickserei publizierte er in Zusammenarbeit mit Monika Niehaus die Streitschrift «Food-Design – Panschen erlaubt. Wie unsere Nahrung ihre Unschuld verliert» (Hirzel Verlag, 247 S., Fr. 35.20, ISBN 3-7776-1447-5)



sicherheit

Der Geschmack des Gesetzes Wie beeinflussen Lebensmittelgesetze den Geschmack unserer Nahrung? Erheblich, sagen Fachleute. Was nicht nur schlecht ist.

G

oetz Hildebrandt mag es kernig: «Wir brauchen gar nicht mehr schmecken zu können», sagt der Lebensmittelhygiene-Professor von der Freien Universität Berlin. Die Qualitätskontrolle hätten wir längst ans Gemeinwesen delegiert: «Was verkauft werden darf, kann nicht giftig sein.» Unsere Vorfahren, so Goetz, mussten sich auf Auge, Mund, Nase, Finger und Zunge verlassen, um festzustellen, ob das gejagte Fleisch noch geniessbar, die Pilze ungiftig oder die Beeren reif waren. Wer unvorsichtig oder unkundig zur Sache ging, hatte mit Durchfall oder Vergiftung zu rechnen. «Die frühen Jäger und Sammler müssen Meister im Schmecken gewesen sein. Ihre Sinne waren eine Art Lebensversicherung», schreibt Goetz Hildebrandt im neuen Buch «Geschmackswelten»*. Verkümmert die menschliche Fähigkeit, Geschmäcker zu identifizieren demnach durch rigide Gesetze? Ja und nein. Jacqueline Javor Qvortrup relativiert mit dem Argument: «Bei Lebensmitteln schmeckt man Toxine nicht.» Die ETH-Ingenieurin und Dozentin Lebensmitteltechnologie am

Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW in Wädenswil konstatiert, «unliebsame Bakterien haben keinen Geruch und sind unsichtbar.» Lebensmittelgesetze, Kontrollen sowie neue Technologien in der Nahrungsmittelproduktion hätten für eine Sicherheit gesorgt, wie es sie nie zuvor gegeben habe. Seit der Industrialisierung der Lebensmittelproduktion sowie der Distribution durch Grossverteiler wurden sie sukzessive ausgebaut. Tatsächlich verzeichnete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zwischen 1994 und 2006 nur 137 Krankheitsausbrüche, die durch Keime in Lebensmitteln übertragen wurden bei rund 2200 Betroffenen. Insbesondere Salmonellen-Erkrankungen konnten seit Mitte der achtziger Jahre in der Schweiz dank besserer Hühnerhaltung, regelmässigen Kontrollen sowie Hygienekonzepten in Lebensmittelbetrieben stark reduziert werden. 2006 registrierte das BAG bloss einen Ausbruch.

Kastrierter käse Doch der Preis ist hoch: «Wegen der Konzentration auf die Sicherheit ist der Geschmack der Produkte sowie die Artenvielfalt vernachlässigt worden», meint Lebensmittelingenieurin Jac42

Qualitätssicherung hat zur Vereinheitlichung des Geschmacks geführt queline Javor Qvortrup. Auch für Andreas Baumgartner, stellvertretender Leiter der Sektion mikrobiologische und biotechnologische Risiken im BAG, ist klar: «Qualitätssicherung führt zur Vereinheitlichung des Gschmacks.» Ein Beispiel dafür ist die Rohmilchkäse-Produktion. Affineure wie der weltberühmte Elsässer Maître Fromager Bernard Antony bezeichnen Käse aus pasteurisierter Milch schlicht als «kastriert». In den USA wird indes nur pasteurisierter Käse angeboten, Roh-

Foto: Robin Bergqvist (www.flikr.com)

Von Maja Peter


Für die Glaceherstellung müssen die Früchte vorab erhitzt werden.

milchprodukte sind verboten. Aus profanem Grund: Wird die Milch erhitzt, gelingt der Käse leichter – Fehlgärungen kommen seltener vor –, und die Konsumenten gehen ein kleineres Risiko ein, an Durchfall infolge Listerien, Staphylokokken oder Campylobacter-Bakterien zu erkranken. Dafür verliert der Käse an Geschmack. Auch Kühlung kann die Aromen verschliessen. Salat etwa schmeckt im Restaurant meistens nach nichts, weil er zu kalt aufgetragen wird. Das Lebensmittelgesetz fordert eine Lagertemperatur von maximal 5 Grad Celsius. Mehr wäre gefährlich für die Gesundheit der Gäste. Vor allem, wenn

das Buffet über Stunden aufgebaut bleibt. Die Kühltechnik gilt deshalb als eine der grössten Errungenschaften für die Konservierung von Käse, Fleisch, Fisch und Gemüse. Die Geschmackseinbusse durch Kälte ist laut Lebensmittelingenieurin Qvortrup denn auch marginal im Vergleich zu den Vorteilen. «Schinken musste früher so stark geräuchert werden, dass wir ihn heute als ungeniessbar bezeichnen würden.» Zudem habe der Rauch Schadstoffe im Fleisch hinterlassen.

Bessere lagerfähigkeit Tiefkühlen hat auch andere Konservierungsmethoden abgelöst, wie etwa das 43

Sterilisieren. «Im Trend liegen Verfahren, welche die sensorischen Eigenschaften eines Lebensmittels möglichst wenig verändern», sagt Qvortrup. Deshalb werde das Angebot der Grossverteiler weiterhin stetig wachsen. Das Risiko liegt dann alleine beim Konsumenten – Tiefkühlprodukte müssen nämlich richtig gelagert werden. Einmal aufgetaut, gibts nur eines: Sofort verzehren; die Ware verdirbt schnell. Im Gegensatz zur Eiseskälte verändert Hitze den Geschmack von Gemüse und Obst. «Das muss nicht unbedingt schlecht sein», so Qvortrup. Als Beispiel nennt sie heiss eingefüllte Zwetschgen oder geröstete Zwiebeln. Dass in der Industrie die Beeren fürs Glace aus Sicherheitsgründen erhitzt würden, verändere zwar den Gschmack der Glacemasse, sorge aber dafür, dass jene Enzyme ausgeschaltet werden, die Milchproteine abbauen und das Glace bitter machen. Trotz Vorteilen, die gewisse Konservierungsmethoden bringen, bedauert Lebensmittelingenieurin Jacqueline Javor Qvortrup wie Professor Hildebrandt, dass der Wunsch nach Sicherheit auf Kosten von Sorten, Reifezeiten und Zubreitungsarten gingen. «Wir haben viel Wissen eingebüsst», sagt die Expertin. Eine Entwicklung, die nicht durch die Lebensmittelgesetze verursacht wurde, sondern in ihnen gespiegelt wird. Maja Peter ist Autorin und freie Journalistin.

*Geschmackswelten Goetz Hildebrandt beleuchtet gemeinsam mit anderen Fachautoren das Thema Geschmack. Wie funktionieren unsere Sinne? Wie werden Wahrnehmungen im Hirn verarbeitet? Auch die kulturelle Dimension findet in der kurzweiligen Lektüre gebührend Erwähnung. Goetz Hildebrandt: Geschmackswelten – Grundlagen der Lebensmittelsensorik, DLG Verlag Berlin 2008, 244 Seiten, Fr. 49.50 ISBN 3-7690-0698-8


literatur

Das Abc literarischer Leckerbissen

Schriftsteller bitten zu Tisch: Lebensmittel prägen Romane, Märchen, ja sogar biblische Gleichnisse. Eine Kostprobe querbeet durch die Jahrhunderte. Von Thomas Widmer ILLUSTRATionen Svenja Plaas

APFEL In der Bibel ist nur die Rede von einer verbotenen «Frucht», die Eva und Adam verspeisen. Wohl durch Falschübersetzung wird daraus nachträglich ein Apfel. Massiv die Strafe, die mit der harmlosen Zwischenmahlzeit verbunden ist: Gott macht die weibliche Schwangerschaft schmerzhaft und verstösst die ersten beiden Menschen aus dem Paradies. So ist Essen schon ganz am Anfang mit Sünde verknüpft.

BRATWÜRSTE Der Nürnberger Hans Sachs baut 1530 ums Schlaraffenland-Motiv

den gleichnamigen Schwank. Das Schlaraffenland liegt «drei Meilen hinter Weihnachten», um hinzukommen, muss man sich durch einen Berg von Hirsebrei essen. Dann aber kann man von früh bis spät schlemmen. Am deftigsten ist die Beschreibung jener Fleischspeise, für die Nürnberg bis heute berühmt ist: «Um jedes Haus geht rings ein Zaun/ geflochten aus Bratwürsten braun ...»

BROT Jesus und seine Jünger haben an einem See in Galiläa ein logistisches Problem: Nur fünf Gerstenbrote und zwei Fische stehen für eine riesige Volksmenge bereit. Und doch, erzählt das Neue Testament, reicht es dann gut für alle. Ein Cateringwunder hat sich ereignet.

CURRYWURST Uwe Timms viel gelesene Novelle (1993) handelt vorerst von der Liebe eines Fahnenflüchtigen im Zweiten Weltkrieg zu der Frau, die ihn

versteckt. Nach dem Krieg baut die Hamburgerin eine Imbissbude auf, kurzum: Alles dreht sich um Zusammenbruch und Neubeginn. Deutschlands Wandel ist symbolisiert in einer Fleisch-Innovation: «Die Entdeckung der Currywurst» heisst das Buch.

FRANKFURTER BRENTEN Seit dem Mittelalter gibt es in Frankfurt am Main Brenten, eine Art Marzipanderivat. Eduard Mörike (1804 bis 1875) hat ein Reimrezept geschrieben. Es beginnt so: «Mandeln erstlich, rat’ ich dir/ Nimm drei Pfunde, besser vier.» 44

Und es endet so: «Zuletzt – das wird der Sache frommen/ Den Bäcker scharf in Pflicht genommen/ Dass sie schön gelb vom Ofen kommen!»

KAVIAR 1960 erschien Johannes Mario Simmels Roman «Es

muss nicht immer Kaviar sein»; darin durfte man den Agenten Thomas Lieven bewundern, einen Musterdeutschen und Mustermann, der mit Talent kochte und Frauen vernaschte. Der Bestseller war auch eine Rezeptsammlung, man erfuhr zum Beispiel, wie man Parmesanpudding zubereitet. Was aber bleibt, ist die Huldigung an die Luxusspeise Kaviar.

KRANICH Eine Gastrogeschichte aus dem schelmischen «Decamerone» (um 1350) des Giovanni Boccaccio: Ein Koch schenkt einer Hure eine Keule des Kranichs, den er gerade gebraten hat. Sein Herr, dem er den Rest vorsetzt, fragt, wo die fehlende Keule sei. Der Koch behauptet, Kraniche hätten nur einen Fuss. Der zornige Herr macht sich nun mit dem Koch auf, einen Kranich zu suchen ...


LINSENGERICHT Esau kommt vom Felde heim und begehrt eine Portion von Jakobs Linsengericht. Doch Jakob serviert dem tumben Bruder erst von dem Eintopf, nachdem ihm dieser sein Erstgeburtsrecht abgetreten hat: die Macht des Hungers gemäss dem Alten Testament.

MADELEINE In Marcel Prousts Fin-de-Siècle-Monumentalroman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» (siehe S. 46) löst das Rührteiggebäck Madeleine unglaubliche Erinnerungen und Empfindungen im Erzähler aus, als der kostet: «In der Sekunde … zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig

werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz ...»

MANNA Als die Israeliten in der Wüste darben, regnet es Nahrung vom Himmel. Leider ist unklar, worum es sich beim «Manna» handelt. Immerhin sind in der Bibel an einigen Stellen Eigenschaften genannt: knusprig. Fein wie Reif. Weiss wie Koreandersamen. Honigkuchenartig im Geschmack. Schnell verderblich.

PFANNKUCHEN Auch Wilhelm Busch, der lustigste Deutsche des 19. Jahrhunderts, schrieb ein Rezeptgedicht, «Pfannkuchen und Salat». Offenbar hat ihn eine «Liese» inspiriert, die so vorging: «Drei Eier, frisch und ohne Fehl/ Und Milch und einen Löffel Mehl/ Die quirlt sie fleissig durcheinand/ Zu einem innigen Verband ...»

WILDSCHWEIN

PFEFFERKUCHEN Hänsel und Gretel haben im Märchen der Brüder Grimm schrecklichen Hunger. Am dritten Tag allein im Wald finden die beiden ein Häuschen aus Brot, Kuchen und Zucker. Ohne zu wissen, dass darin eine Hexe wohnt, naschen sie und können nicht mehr aufhören. Laut Ernährungsexperte Udo Pollmer sind die Gewürze im Pfefferkuchen schuld, da sie berauschend wirken – Suchtgefahr!

RÜBENSUPPE «Weisse Rübensuppe» von Theodor Fontane, 1819 bis 1898, beginnt so: «Rindfleisch schlage, stampfe, klopfe/ Brüh es ab im irdnen Topfe/ Spargelschnitzel, Portulacke/ Nimm aus sauberm Sommersacke/ Morcheln, eine ganze Sippe/ Ziehe von der Fensterstrippe ...» 45

Der Dichter und Politiker Petronius im Rom des Kaisers Nero schildert in seinem «Satyricon» das Gastmahl im Haus eines reichen Protzers, bei dem auch ein Eber aufgetragen wird: «Ringsum aber gaben kleine, aus Stossteig hartgebackene Frischlinge, dadurch, dass sie gleichsam zu den Eutern drängten, zu erkennen, dass hier ihre Muttersau lag. Diese jedenfalls waren Tafelgeschenke zum Mitnehmen. Übrigens kam zum Tranchieren des Wildschweins ... ein riesiger Bartträger mit riemenumwundenen

Beinen und einem Zipfelmantel aus Damast. Er zückte ein Jagdmesser und stiess es kräftig in die Flanke des Ebers, so dass aus der Wunde Drosseln aufflogen. Vogelsteller standen mit ihren Ruten bereit und fingen sie, obwohl sie im Speisezimmer herumflatterten, im Handumdrehen.»

ZÜPFE Kindstaufe im Emmental des 19. Jahrhunderts. Jeremias Gotthelf richtet in der Novelle «Die schwarze Spinne» ein opulentes Mahl an – samt Zopf: «Neben den Käse stellte sie die mächtige Züpfe, das eigentümliche Berner Backwerk, geflochten wie die Zöpfe der Weiber, schön braun und gelb, aus dem feinsten Mehl, Eiern und Butter gebacken, gross wie ein jähriges und fast ebenso schwer.» Thomas Widmer ist Redaktor beim Tages-Anzeiger.


geschmackserinnerung

Madeleines Macht über den Geniesser

Marcel Proust verfällt dem Gebäck im Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit».

Von Klaus Dürrschmid Fotos Sigrid Reinichs

T

ee und Madeleines, muschelförmige Sandkuchen, lösen in Marcel Prousts Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» im Romanhelden ein überaus grosses Glücksgefühl sowie unwillkürliche Erinnerungen an seine Kindheit aus und setzen damit nicht nur einen langen Erkenntnisprozess, sondern den Roman selbst in Gang. Als Auslöser dieser unwillkürlichen Erinnerungen kann die Gesamtheit der oralen und nasalen sensorischen Empfindungen, die in der Sensorik als Flavour bezeichnet wird, identifiziert werden. Welche sensorischen Eigenschaften der Madeleine/ Tee-Mischung evozieren die «memoire involontaire»? Betrachten wir zuerst den im Roman beschriebenen Vorgang der sensorischen Prüfung der Madeleine/Tee-Mischung. Die Situation, in der Marcel Madeleine und Tee zu sich nimmt, ist melancholisch entspannt. Marcel befindet sich offensichtlich in einem passiven Bewusstseinszustand, in dem er seine Aufmerksamkeit keineswegs auf die sensorischen Eigenschaften von Madeleine und Tee richtet oder eine aktive handlungsorien46

tierte Wahrnehmung anstrebt. Auch das orthonasale Riechen kommt nicht zur Anwendung. Marcel riecht nicht am Tee und auch nicht an der Madeleine. Sensoriker nennen das Beschnüffeln einer Probe orthonasales Beriechen, das ist das Prüfen des Geruchs einer Probe durch stossweises Ein- und Ausatmen durch die Nasenlöcher, wodurch es zu einer Verwirbelung der Atemluft und einer stärkeren Belegung der sich ungefähr zwischen den Augen befindenden Riechregion im Nasendach mit den Geruchsstoffen kommt. Im 19. Jahrhundert galt Tee als asketisches, ja genussfeindliches Getränk, das vornehmlich schwächlichen, kränkelnden Personen vorbehalten war und in die Nähe eines Medikaments rückte, zumal es durch die damalige Zubereitungsweise an einen Kräutertee erinnerte. Gerade aus diesem Getränk vermag Marcel in Verbindung mit unscheinbaren Madeleines schliesslich ausserordentliche sensorische Sensationen zu gewinnen. Marcel nimmt also gedankenverloren einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin und «in der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.» Er nimmt ein Madeleinestückchen und Tee gleichzeitig in den Mund, und hier erst entfaltet die Mischung ihre Brisanz. Marcel nimmt jetzt gewiss alle möglichen


Welche sens orischen Eig enschaften evozieren die ÂŤmemoire in volontaireÂť?


geschmackserinnerung

Eindrücke wahr, sie werden aber nicht thematisiert. Proust geht es in der Madeleine-Szene offenkundig nicht um eine analytische Beschreibung der sensorischen Wahrnehmungen, auffälligerweise gibt er sogar keinerlei Hinweis darauf, wie die Madeleine/ Tee-Mischung schmeckt. Sie könnte gewiss als süss oder adstringierend bezeichnet werden, oder der Geruch nach Vanille, Nuss, Rum oder Zitrone könnte das Butter-Geruchsgrundthema des Sandkuchens modifizieren. Eine solche Madeleine/Tee-Mischung entwickelt sich im Mund zu einer breiigen Masse, und solche Breie werden typischerweise in regressiven, entspannenden Situationen bevorzugt; sie erinnern an die wohlig weiche und breiige Nahrung, die wir als Babys und Kleinkinder in uns hineingesaugt haben.

prozess der erkenntnis Man gliedert Konsumenten in der Ernährungspsychologie und der Lebensmittelproduktentwicklung sogar nach der Art ihrer bevorzugten Lebensmittelaufnahmeweise in Beisser und Lutscher. Während die Beisser aggressive, aktive Welt-Aneigner sind, bevorzugen die Lutscher oder Schlabberer das zahnlose Einsaugen von Nahrung und werden dadurch in eine frühkindliche Welt des passiven Genusses und der narzisstischen Selbstversunkenheit zurückgeführt. Dieses Bild des selbstversunkenen Geniessers passt in unsere Szene, allerdings geht es Marcel Proust nur vordergründig um die hedonische Beurteilung des Madeleine/Tee-Gemisches. Man findet den Hinweis darauf, ob beziehungsweise wie sehr dem Helden das Gemisch schmeckt, im Glücksgefühl, das die Einnahme der Madeleine auslöst. Es wäre nachgerade banal, wollte Proust seinen Lesern nur mitteilen wollen, dass dem Romanhelden

muschelförmige, in Tee getauchte Kuchen sehr gut schmecken. Lebensmittelsensoriker sprechen in ihrem Fachbereich von einem «zentralen Dogma», das die strikte Unterteilung ihrer Methoden in analytische und hedonisch-affektive Prüfungen beschreibt. Proust aber wendet im Sinne der Sensorik weder eine analytische noch eine hedonische Methode an, denn für ihn ist das sensorische Erlebnis primär Ausgangspunkt für einen Prozess der Erkenntnis. Nach dem Empfinden des Glücksgefühls wendet sich Marcel forschend seinem Inneren zu. «Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der 48

Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte.» Diese unwillkürliche Erinnerung hat eine ganz bestimmte Qualität, und zwar zeichnet sie eine ungewohnte Totalität und «Wahrheit» aus. Es ersteht kein mehr oder weniger gut rekonstruiertes Bild der Kindheit in Combray, sondern in Marcel erstrahlt ihr vermeintlich wahres Wesen, ihre Essenz.


des Sandkuchens, der sich langsam zwischen Zunge und Gaumen in einen Brei verwandelt, vielleicht auch die adstringierende Wirkung des Tees, von dem wir nicht wissen, ob er gesüsst ist, genannt werden.

Das sensorische Erlebnis ist bei Proust Auslöser der Erkenntnis

unscharfer begriff

Welche sensorischen Eigenschaften aber könnten all dies komplexe Geschehen ausgelöst haben? Welche sensorischen Eigenschaften können Lebensmittel im Allgemeinen haben? Sie sind, mehr oder weniger, warm oder kalt, sie können hart, weich, elastisch, zäh, viskos, teigig, schmierig sein; sie haben chemische Eigenschaften, die zu Geschmacks- respektive Geruchseindrücken führen, sie können aber auch irritative Eigenschaften haben. Eine solche allgemeine Liste kann natürlich nie vollständig sein. Für die Madeleine/ Tee-Mischung können sicher der Geruch des jeweiligen Tees, der süsse Geschmack der Madeleines, die Textur

Proust schreibt immer vom «Geschmack» der Madeleine. Nach heutiger Auffassung besteht Geschmack in den von spezialisierten Geschmackssinneszellen im Mund wahrnehmbaren gustatorischen Grundgeschmacksarten. Aber ist es tatsächlich nur dieser sensorische Eigenschaftskomplex, nämlich der Geschmack, der die fulgurative «memoire involontaire» bei Marcel auslöst? Im nicht-fachspezifischen Sprachgebrauch versteht man unter Geschmack meist alle Eindrücke, die entstehen, wenn man ein Lebensmittel in den Mund nimmt, es mit der Zunge verteilt, mit den Zähnen zerbeisst, es einspeichelt und schluckt. Die Integration aller Sinneswahrnehmungen, die in der Mundhöhle entstehen, machen – in dieser Form gebraucht – den «Geschmack» eines Lebensmittels aus. Was aber ist mit dem Geruch oder dem Aroma von Madeleine und Tee? Marcel kann den Geruch des warmen Gemisches im Mund wahrnehmen, auch wenn er nicht orthonasal daran riecht, und zwar durch retronasales Riechen. Der Geruch besteht in einer chemischen Wahrnehmung von Geruchsstoffen, an der zwei unterschiedliche sensorische Systeme beteiligt sind, das olfaktorische und das nasaltrigeminale System. Die olfaktorischen Sensoren sitzen in der regio olfactoria im Nasendach auf einer Fläche von 2–5 cm2. Bei der retronasalen (auch choanalen) Wahrnehmung steigen nach der Aufnahme der 49

Nahrung in den Mund Riechmoleküle vom körperwarmen und zerteilten Lebensmittel in die Nasenhöhle auf und gelangen vor allem beim Ausatmen bis zur regio olfactoria. Das trigeminale System mit seinen freien Nervenendigungen befindet sich im gesamten Mund-Rachen-Nasen-Raum und wird primär durch irritative Stoffe wie Rauch, Säuren und anderen gereizt. Proust war sich der Unschärfe des Alltagsbegriffes «Geschmack» offenbar bewusst. Das Flavour eines Lebensmittels hingegen bezeichnet, relativ einheitlich definiert, die Summe aller oral-nasal wahrnehmbaren Merkmale, Geruch (olfaktorisch, trigeminal, ortho- und retronasal), Geschmack, Textur, Mundgefühl, Wärme etc. Nachdem Marcel nun aber sehr undifferenziert von der Gesamtheit des sinnlichen Eindrucks der Madeleine/Tee-Mischung angesprochen wird, kann man davon ausgehen, dass nicht ihr «Geschmack» allein – süss, sauer, bitter, salzig, umami – und auch nicht ihr Aroma, sondern die Wahrnehmung aller oral-nasal wahrnehmbaren Eigenschaften, des Flavours also, Auslöser des Glücksgefühls und der unwillkürlichen Erinnerung an die Kindheit in Combray ist. Klaus Dürrschmid ist als Assistenzprofessor an der Universität für Bodenkultur Wien, Departement für Lebensmittelwissenschaften und -technologie, tätig.


Interview

In einer Wurst steckt mehr Kreativität als in einem Steak

Sind Geniesser Snobisten? Was zeichnet Kreativität in der Küche aus? Die Präsidenten von Slow Food Schweiz und Deutschland im Kreuzverhör.

G Interview: Ursula Hasler und Stephanie Riedi Fotos reza khatir

eschmack ist subjektiv. Objektiv betrachtet bedeutet eine Normierung durch die Industrie demnach einen Missbrauch mit programmiertem Leiden. Dies das Fazit eines Gesprächs mit Weinexperte Rafael Pérez und Hotellier Otto Geisel. Pérez, geboren in Madrid und wohnhaft in Zürich, studierte Wirtschaftswissenschaft in Spanien und erwarb das Weinhandelsdiplom an der Ingenieurschule Wädenswil. Geisel lebt im deutschen Bad Mergentheim, wo er das Vier-Sterne-Haus Hotel Victoria führt. Von den Gastrokritikern des Guide Michelin wird die Victoria-Küche seit 15 Jahren mit einem Stern ausgezeichnet, von Gault Millau ebenso lange mit 17 Punkten. Seit nunmehr fünf Jahren werden fast nur regionale Produkte verwendet. Rafael Pérez ist Präsident von Slow Food Schweiz, Otto Geisel von Deutschland. Beide sind Mitglieder des Vorstandsausschusses von Slow Food International. Beste Voraussetzungen also, um der Geschmacksbildung und -verbildung zumindest auf theoretischer Ebene nachzuspüren. 50

Herr Pérez, Sie als Weinexperte und Sie, Herr Geisel, als Spitzengastronom sind Verfechter des guten Geschmacks. Ist Ihre Passion reiner Snobismus? Rafael Pérez: Im Gegenteil. Unsere Arbeit ist eine Rettungsaktion und kein Wohlstandsphänomen. Wir bezeichnen Genuss als ein Menschenrecht, und ohne Geschmack gibt es keinen Genuss, keine Freude. Aber beides geht immer mehr verloren im Einheitsbrei der Lebensmittelindustrie. Deshalb besteht unsere Aufgabe bei Slow Food in erster Linie darin, den Geschmack wieder zu schulen, um Kinder und Erwachsene für natürliche Aromen zu sensibilisieren. Otto Geisel: Meine Rede. Aus der modernen Hirnforschung ist bekannt, dass Kinder, deren natürliche Geschmacksbildung durch künstliche Aromen unterdrückt worden ist, ein Defizit haben. Und zwar nicht nur punkto geschmacklichem Differenzierungsvermögen. Man vermutet heute vielmehr, dass dieser verhinderte Lernprozess der Geschmacksbildung


Rafael PÊrez (links) und Otto Geisel im Gespräch mit Stephanie Riedi (links) und Ursula Hasler.


Interview

zu Lernschwächen generell führt, beispielsweise beim Rechnen und Schreiben. Betreiben Sie da nicht ein bisschen arg Schwarzmalerei? Geisel: Ein synthetisches Produkt kann gar nicht den Nährwert eines authentischen haben. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass Kinder, die mit so genanntem Vanillin aufgewachsen sind, bei einer Blindverkostung die künstliche echter Vanille vorziehen. Dagegen kann man sich fast nicht wehren. Eine gefährliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass so bereits Jugendliche «gebrandet» werden auf Geschmacksprofile von einer Industrie, deren oberste Maxime Rendite heisst. Pérez: Es ist ein Paradoxon: Einerseits haben wir den Fortschritt der Medizin und dadurch eine hohe Lebenserwartung. Andererseits gibt es mehr Krankheitsbilder als früher. Da muss man sich doch fragen, welche Rolle die Ernährung dabei spielt. Vor allem bei typischen Zivilisationskrankheiten, wie Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Schwäche des Immunsystems, scheint falsches Essen klar mitverantwortlich zu sein. Wo sehen Sie Lösungsansätze? Pérez: Schulgärten, wie sie von Slow Food realisiert werden, sind bestimmt ein guter Ansatz. Indem die Kinder beispielsweise Kartoffeln setzen, pflegen, ernten und sie am Schluss selber zubereiten, entsteht eine

Die Entkulturalisierung ist ein bedenklicher Prozess

emotionale Bindung zum Produkt. Es gibt ein wunderbares Projekt namens «Dirty Hands» – bei dem es also um dreckige und nicht um saubere Hände geht. Die Kinder sollen im Garten buddeln, etwas anpflanzen und dadurch eine Beziehung zur Erde und zum Produkt entwickeln. Das evoziert Emotionen. Dann müsste man das Essen einfach wieder in einen emotionalen Kontext setzen, und alles wäre prima? Pérez: Es hängt eben alles zusammen. Nicht der Geschmack alleine ist wichtig, sondern auch die Einstellung zum Essen. Gäbe es mehr Familien, die miteinander kochen und zusammen essen, bräuchte es weniger Therapeuten. Früher konnten am Esstisch sogar Kriege verhindert werden! Leider ist den Menschen kaum bewusst, dass die Entwertung des Essens zugleich zu einer Entkulturalisierung generell führt. Gemeinsame Mahlzeiten sind letztlich ein kultureller Akt, dessen Mehrwert unter anderem darin besteht, in genüsslicher und geselliger Atmosphäre zu speisen. Vielleicht waren die Kinder sogar beim Einkauf dabei, 52

haben beim Kochen zugeschaut und heimlich die Schüssel ausgeleckt. Solche Erinnerungen sind später jederzeit abrufbar, etwa wenn man ein Stück Apfelkuchen isst. Schon beim ersten Bissen assoziiert man das legendäre Geburtstagsfest, an dem alle Bauchweh hatten vor Lachen. Mit andern Worten: die Geschmacksempfindung ist gekoppelt mit Erinnern? Geisel: Aber sicher. Das Geschmackszentrum im Gehirn ist eng mit dem Bildzentrum verbunden. Ich erinnere mich beispielsweise heute noch an meinen ersten grossen Wein, einen Barbaresco, den ich vor rund 27 Jahren im Piemont getrunken habe. Wenn ich heute einen guten Barbaresco oder Barolo trinke, taucht automatisch das Bild der Region auf mit der besonderen Stimmung damals. Ich bin kein analytischer Mensch. Und ich würde mir nie anmassen, einen Wein zu analysieren und in verschiedene Aromen zu zerlegen. Mir bedeutet das emotionale Erleben mehr. Deshalb schaudert mich der Gedanke, dass selbst gewisse Weine heute von Food-Designern «gemacht» werden.


wollen beim Rind beispielsweise nur die Premium-Produkte wie Filet und Rücken, der Rest interessiert uns nicht. Das hat zur Folge, dass in Südamerika grosse Teile des Rindfleisches gleich verbrannt werden, weil sie nicht verkauft werden können. Wir haben 1,3 Milliarden Rinder weltweit für etwas mehr als sechs Milliarden Menschen, also ungefähr das Dreifache von dem, was wir bräuchten.

Städter kennen fast keine natürlichen Düfte mehr

Diverse Aufsehen erregende Degustationen haben jedoch gezeigt, dass man kaum etwas merkt. Im Gegenteil, Kunstprodukte schliessen oft besser ab …

Kommt hinzu, dass heute immer mehr Kinder, sogar fünfjährige, an Diabetes II leiden, also an Altersdiabetes. Eine verheerende Entwicklung.

Geisel: Weil wir eben schon früh vom Natürlichen entwöhnt worden sind. Ein Säugling kann bereits differenziert schmecken, also süss, bitter, sauer und salzig unterscheiden. Das Süsse kennt er am besten, weil dieser Geschmack die Muttermilch dominiert. Und dieses Urvertrauen in das Süsse machen sich Food-Designer zu Nutze. Der Baustein Nummer eins im Fast Food ist Zucker. Ketchup besteht zu 50% aus Zucker. Das heisst, Kinder werden sehr schnell mit Süsse bedient und deshalb gewissermassen abhängig von diesem Geschmacksbild. Es handelt sich dabei überwiegend ja nicht etwa um hochwertigen Trauben- oder Rohrzucker, den die Natur produziert, sondern um Zucker, der aus Rübensaft industriell raffiniert worden ist. Der Körper wiederum kennt diese Form des Süssen nicht und hat darum Schwierigkeiten, solche Nahrung sinnvoll zu verarbeiten. Ausserdem wird unser ureigenes differenziertes Empfinden dadurch entwöhnt, praktisch zugekleistert.

Pérez: Auch der Geruchssinn verkümmert. Vor allem Städter kennen fast keine natürlichen Düfte mehr. Selbst die Wohlgerüche aus Küchen und Backstuben wurden aus dem städtischen Alltag verbannt. Stattdessen atmen wir Abgase ein oder verschliessen gar unser Riechorgan. Weil wir um die Schädlichkeit der Abgase wissen. Ebenso kennen wir die Tücken des Cholesterins und die Tugenden der Vitamine, wissen aber kaum mehr um die Saisonalität der Produkte. Essen, so scheints, ist eine komplizierte Sache geworden. Geisel: Eher eine komplexe. Aber das war sie schon immer. Bloss sehen wir heute die Zusammenhänge nicht mehr. Die Lebensmittelkrise weltweit zeigt ja deutlich, dass alles aus dem Ruder gelaufen ist. Einerseits haben wir eine Verfügbarkeit von Produkten rund ums Jahr, andererseits 850 Millionen Menschen, die Hunger leiden. Wir 53

Pérez: Wir brauchen eine Produktion, die sich auf die Umwelt nicht belastend auswirkt. Der Millenium-Rapport der FAO kommt zum Schluss, dass nicht etwa das CO2 die grösste Belastung der Erde bildet, sondern die Schäden, die durch die Lebensmittelproduktion entstehen. Es werden Nahrungsmittel für etwa zwölf Milliarden Menschen erzeugt, obwohl wir nur sechs Milliarden sind. Aber: Fast eine Milliarde Menschen leiden an Hunger, ebenso viele an Übergewicht. Um die Balance wieder zu finden, muss das Essen einen zentralen Stellenwert bekommen. Weltweit. Im Fernsehen gibt es rund um den Globus Kochsendungen à gogo mit sagenhaften Einschaltquoten. Was wollen Sie mehr? Pérez: Kochsendungen sind nichts anderes als gastronomische Pornografie. Die Menschen schauen sich etwas im Fernsehen an, das sie selber nicht mehr können. Auf mich wirkt das wie Masturbation oder Voyeurismus. Nie wird beispielsweise erwähnt, woher die Produkte stammen und ob sie überhaupt Saison haben. Es heisst einfach, man nehme Karotten, Zwiebeln, Tomaten … Geisel: … und gezeigt wird bloss Concassé. Eine reine Ersatzbefriedigung, denn die Leute essen Chips oder Tiefkühlpizza, während sie sich Koch-


Interview

sendungen anschauen. Kochsendungen vermitteln kein Wissen, und sie haben auch keine positive Auswirkung auf das Essverhalten oder die Ernährung. Ein ähnlicher Unfug ist die Deklaration bei den Lebensmitteln. Da sind zwar Reihen von E aufgeführt, die jedoch so verständlich sind wie Hieroglyphen. Elementar wären indes geschützte Herkunftsbezeichnungen. Aber diese wiederum gibt es in den seltensten Fällen. Beispielsweise ist weder die Bezeichnung Mozzarella alleine ein Qualitätsgarant noch Aceto balsamico. Deshalb wird heute selbst Aceto balsamico bianco verkauft. Purer Blödsinn. Was ist denn dagegen einzuwenden? Geisel: Dass es ein solches Produkt gar nicht gibt! Aceto balscamico entsteht durch Einkochen, Reduzieren und langes Fasslagern, ein «Balsam» eben. Aber etwas Weisses kann nicht eingekocht, reduziert und fassgelagert worden sein. Das ist ein kultureller Betrug. Nur der Begriff Aceto balsamico tradizionale di Modena ist eine eingetragene Marke und vor Schindluderei sicher. Pérez: Deshalb hat Slow Food die «Arche des Geschmacks» gegründet. Dabei geht es auch um den Schutz von Lebensmitteln und klar deklarierte Herkunftsbezeichnung. Die Entkulturalisierung ist ein bedenklicher Prozess. Wenn wir nämlich dem Essen den kulturellen Wert nehmen, nehmen wir ihm den Mehrwert. Carlo Petrini erklärt dies mit folgendem Beispiel:

Wein ist ein Kulturgut Europas mit 2000 Jahren Tradition Ein Säugling nimmt an der Mutterbrust nicht nur Nahrung auf, sondern auch Liebe und Zuwendung. Kauft nun jemand an der Tankstelle gleich noch eine Mahlzeit ein, dann stellt er sich auf das gleiche Niveau wie ein Auto. Dieser Weg vom Baby zum Mann, der sich an der Tankstelle verpflegt, das ist ein Entkulturalisierungsprozess. Diese Form der Schnellverpflegung stammt ja aus den USA. Was ist in Europa die grösste Herausforderung aus der Perspektive von Slow Food? Pérez: Da gibt es keinen Unterschied, weil heute alles vernetzt ist. Nehmen wir den Klimawandel: Da kann man ja auch nicht einfach sagen, wir machen es jetzt so, und der Rest der Welt interessiert uns nicht. Das gleiche gilt für die Gastronomie, deren Zukunft davon abhängt, wie es den anderen Ländern geht. Deren Zukunft aber vielleicht dahingehend bestimmt wird, ob wir uns auch in Europa gegen genmanipulierte Lebensorganismen einsetzen. Mit andern Worten: Es geht um die Zukunft der Erde, und das betrifft uns alle. 54

Geisel: Ein bisschen spezifisch darf man Europa schon sehen. Wir haben ein kulturelles Erbe. Mich ärgert zum Beispiel, dass wir zwar über ein 2000-jähriges Fachwissen punkto Weinbau verfügen, aber uns mittlerweile von den Amerikanern sagen lassen, wie Wein gekeltert und ausgebaut werden muss. Das hat dazu geführt, dass wir heute Weine ohne natürliche Oxydation durch Holzfässer herstellen, dafür aber mit Holzchips ähnliche Geschmacksnoten erzeugen. Ich verbinde mit dem Wort Wein jedoch einen Kulturträger und keinen industriell gefertigten, vergorenen und verfremdeten Traubensaft. Stichwort Verfremdung: Die Molekularküche kann man ja als gustative Verfremdung betrachten. Geisel: Erfinder der Molekularküche ist Ferran Adrià, ein guter Freund von Carlo Petrini übrigens und Slow Food-Mitglied. Ferran hat eine klassische Küchenausbildung und kommt aus einer Ecke Spaniens, in der Bunuel surreale Filme drehte, Dalí surreale Bilder malte und Gaudì


Beispiel. Was die Bauern nicht verkaufen konnten, verarbeiteten sie zu schmackhaften Mahlzeiten. Wenn ich die Wahl habe zwischen Rindsfilet und Ochsenschwanz, dann wähle ich letzteres. Ein Filet kann ich selber zubereiten. Ochsenschwanz aber braucht Zeit.

Luxusprodukte sind kein Zeichen einer guten Küche surreale Gebäude entwarf. Ferran weiss, dass unser Sehsinn schneller aufs Gehirn wirkt als unser Riech- und Geschmackssinn. Ergo serviert er zum Beispiel eine Speise, die das Auge als Kaviar wahrnimmt. Aber beim Essen entpuppen sich die Kügelchen als Honigmelone. Das ist genial. Man könnte also sagen, er macht Geschmacksschulung auf höchster Ebene durch die Irreführung der Sinne? Geisel: Genau. Bedenklich finde ich hingegen den Boom, den Ferran ausgelöst hat – eine reine Geldmacherei. Man serviert mit relativ geringem Wareneinsatz relativ hochpreisige Gerichte. Das hat mit Produkteehrlichkeit nichts mehr zu tun. Ausserdem verfügen die meisten Köche nicht über Ferrans Erfahrung. Er experimentiert nämlich zusammen mit seinem Bruder während eines halben Jahres im Labor, bevor er ein Gericht auftischt. Ich möchte zwar niemandem etwas unterstellen. Aber ich denke, dass mit der Molekularküche meistens allzu unbekümmert herumgebastelt wird. Der Hype ist nicht ungefährlich.

Pérez: Worin unterscheidet sich ein Picasso von einer Kinderzeichnung? Im Handwerk. Das Problem bei Ferrans Trittbrettfahrern ist, dass sie nur den Effekt nachahmen, das heisst zu abstrahieren versuchen, ohne das Handwerk zu beherrschen. Worin besteht Ihrer Ansicht nach das kreative Potenzial der zukünftigen Gastronomie? Geisel: Der perfekte Gastgeber ist ein schöpferischer Koch, der die Natürlichkeit des Produktes, den regionalen und saisonalen Aspekt im Auge hat. Damit legt er auch Wert auf eine umfassende Bekömmlichkeit sowie auf das Budget. Immer Luxusprodukte aufzutischen ist aus vielerlei Hinsicht nicht mehr zeitgemäss. Man kann zu jeder Jahreszeit auch mit einfachen Nahrungsmitteln etwas Köstliches zaubern. Pérez: Dem kann ich nur beipflichten. Luxusprodukte sind weder ein Synonym für gute Küche noch für gute Ernährung. In einer Wurst etwa steckt mehr Kreativität als in einem Steak. Die Cucina povera ist hierfür ein gutes 55

Geisel: Da bist du die Ausnahme! Ich hatte kürzlich einen Gast, der wollte für eine Geburtstagsgesellschaft von 60 Personen Rindsfilet bestellen. Ich erklärte ihm, dass ein Rind mit seinen zwei Filets nicht mehr als 20 Portionen hergebe. Demnach müssten wir 3 Rinder schlachten, was nebenbei einen Fleischberg von rund 1000 Kilogramm generieren würde. Eine Erklärung, die garantiert jeder versteht … Geisel: Leider nicht. Pérez: Weil Essen keinen Wert mehr hat! Wir sind zwar bereit, ein Mal im Jahr – beispielsweise für ein Geburtstagsfest – etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Aber der Rest interessiert uns nicht. Das geht ins gleiche Kapitel wie die landläufige Meinung, alltägliche Nahrungsmittel müssten billig sein. Wir investieren Unsummen in teure Haushaltgeräte, sind aber entrüstet, wenn ein Kilo Kartoffeln 20 Rappen mehr kostet. Dabei zaubert man innert zehn Minuten einen Kartoffelstock, der immer noch günstiger ist als ein Fertigprodukt und besser schmeckt. Geisel: Ich schliesse den Bogen zur Geschmacksschulung mit einem schönen Beispiel: Fährt man im Spätsommer nach Italien, sieht man auf dem Land Menschen, die frisch geerntete Tomaten in Kupferkesseln einkochen – ohne Emulgatoren, Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe. Das wäre zum Beispiel ein Ansatz für Schulküchen. Man könnte im August, September Tomaten einkochen. Das ergäbe eine wunderbare Grundsauce für den Herbst und Winter – Convenience der kreativen und feinen Art.


küche

ll ragù napolitano Auf der Suche nach dem geheimen Rezept.

von Jost Auf der Maur

I

n der französischen Sprache gibt es neben dem schönen Wort Ragoût das entsprechende Tätigkeitswort ragoûter, für dessen Bedeutung wir uns in Deutsch bezeichnenderweise mit zwei Worten behelfen müssen: Appetit anregen. Genau das wird mit der Mariage von Tomaten und Fleisch erreicht. Einmal vereint, wecken diese Zutaten selbst bei Kindern die Sinne, und der Genuss macht zusammen mit Pasta sehr zufrieden. Es ist bekannt, dass es neben den verschiedenen, wunderbaren Tomatensaucen auch jene überaus beliebte Bologneser Fleischsauce gibt, die in Italien als ragù alla bolognese zu bestellen ist. Damit ist unser Tomatensaucen-Wissen denn auch komplett. Oder vielmehr am Ende. Mit Methode scheinen uns nämlich die grossen Küchen-Fibeln zu verschweigen, dass es in Italien eine Tomaten-Fleisch-Sauce gibt, die an Qualität und Eleganz alles übertrifft. Il ragù napolitano! Vergeblich schlagen wir nach im sonst doch zuverlässigen «Larousse gastronomique», dem Standardwerk aus Frankreich. Im deutschen «Lexikon der Küche» von Hering steht natürlich auch nix. Es schweigt der «Oxford Companion to Food». Verwunderlich dann, dass auch die Spezialisten versagen: Der legendäre Pellegrino Artusi mit seiner «Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Geniessens» bleibt so stumm wie «Il Cucchiaio d’argento», der viel gerühmte «Silberlöffel», der auf keinem Gabentisch italienischer Hochzeitspaare fehlt. Selbst die weltoffene Marcella Hazan schreibt in «Die klassische italienische Küche» kein Wort über das ragù napolitano. Und die letzte Hoffnung, bei

Larissa Bertonascos «La nonna. La cucina. La vita» Zuflucht zu finden, bleibt unerfüllt. Es liegt nahe, diese rätselhafte Lücke so zu erklären, dass die Buchverlage Norditaliens vom selben Dünkel gegenüber Süditalien geblendet sind wie die übrige Gesellschaft nördlich Roms. Gern ignorieren sie kulturelle Leistungen des Mezzogiorno. Und das ragù napolitano gehört ohne Zweifel dazu. Wir favorisieren jedoch eine andere, freundlichere Ursache: Neapel ist die Stadt der mündlichen Überlieferung, hier werden die wirklich wichtigen und wahren Geschichten nicht aufgeschrieben, sondern erzählt. Das ist sicherer, bedrucktes Papier ist bekanntlich eine Quelle von Missverständnissen, Lügen und – siehe oben – ein Ort böswilliger Auslassungen. Über das ragù napolitano wird in Neapel jedoch keineswegs lauthals berichtet, es wird geflüstert. Von Frau zu Frau. Von Mutter zu Tochter – im dunklen Dialekt Neapels: «o‘ rraù» – und heute gelegentlich auch von Mann zu Mann. Unter gewissen Bedingungen auch von Frau zu Mann. Das Rezept jedenfalls ist in seiner familiären Ausformung geheim. Es stellt zudem eine unbezahlbare Mitgift dar, und die Art und Weise der Zubereitung ist gleichsam genetisch verankert. Für unsereiner gilt also: Die Rezeptur muss man sich sagen lassen. Bei der Betrachtung dieser hochkarätigen Sauce fällt zuerst auf, dass von einem Ragoût nichts zu sehen ist. Optisch scheint es sich um eine rubinrote, konsistente, matt glänzende Tomatensauce zu handeln. Doch Geruch und Geschmack verraten sogleich, dass das dichte Aroma nicht nur aus der Tomate stammt. Da war Fleisch im Spiel, und zwar lange und in grosser Menge. Rosalinda C., die uns das Rezept vor vielen Jahren unter gewissen Bedingungen anvertraut hat, verwendete dafür den «girello» vom Rind, bei unseren Metzgern als Nuss bekannt. Ein kostbares Stück also. Vielleicht darf es auch der runde Mocken sein oder das dicke Ende der Laffe. Aber Rosalinda wollte nichts weniger als den girello. Eine Frage der Familienehre. Jost Auf der Maur ist Autor bei der NZZ am Sonntag 56

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s lohnt sich, mehr als genug ragù napolitano zu kochen. Grosse Quantität verbessert hier die Qualität. Und das Zuviel des Guten lässt sich, heiss abgefüllt oder gar sterilisiert, in den schnell verfügbaren Vorrat einreihen.

Die Zutaten für zirka 1,5 Liter Sauce:

1,5 kg reife Tomaten

geschält und entkernt,

winters aus der Büchse.

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1,5 kg Rindsnuss, gespickt 0,75 kg Zwiebeln, gehackt 3 Zehen frischen Knoblauch, fein gehackt 20 Blätter Basilikum Salz und Pfeffer 4 dl Rotwein Olivenöl, Schweineschmalz 4 Stunden Aufmerksamkeit


DAS REZEPT

Zubereitung In Olivenöl und Schmalz die Zwiebeln und das Fleisch in einem gusseisernen Topf gemächlich anbraten. Wenn das Fleisch Farbe angenommen hat, Deckel drauf. Feuer klein. Fleisch mehrmals wenden. Nach 20 Minuten Deckel weg, Knoblauch zufügen, anziehen lassen, mit dem Wein ablöschen, aber bitte «Schluck für Schluck», nicht in einem Guss. Immer wieder einköcheln lassen. Dann die Tomaten dazu. Feuer hoch, bis es blubbert. Feuer sofort wieder klein. Es ist nun sehr wichtig, jede Viertelstunde nach der Sauce zu schauen und behutsam mit der Holzkelle am Pfannenboden entlangzufahren: Es darf nichts anbrennen, der Geschmack der Sauce wäre sonst zerstört. Und nicht kräftig umrühren, die Oberfläche der Sauce samtig belassen, wie sie ist und es immer mehr wird. Eventuell gelegentlich einen Esslöffel Wasser dazugeben. Nach drei Stunden das Fleisch entfernen. Kalt und dünn aufgeschnitten und mit einer Salsa verde serviert leistet es auch nach dem Aroma-Entzug gute Dienste. Es liesse sich damit aber auch das altfranzösische «Boeuf miroton» zubereiten (siehe z. B. bei Kaltenbach, Echtzeit-Verlag). Nun die Sauce nochmals während einer Stunde bei weiterhin kleinem Feuer köcheln lassen, Basilikum beifügen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken. Angerichtet wird das ragù napolitano, in dem man zuerst in einer grossen Schüssel etwas geriebenen Parmesan einstreut – was aber nicht in allen napolitanischen Familien geschätzt wird –, dann eine Suppenkelle voll ragù, darauf eine Lage Pasta, wieder ragù, Pasta, ragù und so weiter. Spaghetti sind hier nicht die richtige Teigware. Zu empfehlen sind Mafaldine oder Penne rigate. Rosalinda servierte jeweils die grossen napolitanischen Röhren namens Paccheri Nr. 123 von Giovanni Voiello, Napoli.

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Pflanzenkost

Lust auf Natur pur Wildpflanzen sind ein Genuss. Vorausgesetzt, man kann die essbaren von den ungeniessbaren unterscheiden. Ein Seminarbericht.

Text und Bilder Von Frédéric Rein

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s ist 10 Uhr morgens. Die Sonne scheint. Dennoch ist es kalt. Eine frische Brise weht über die Landschaft oberhalb von Saint-Luc im Walliser Val d’Anniviers, 1600 Meter über Meer. Rund zwanzig Naturfreunde stehen mit hochgezogenen Schultern bereit. Sie warten darauf, unter kundiger Führung essbaren Wildpflanzen nachzuspüren. Leiter ist François Couplan,weltweit bekannter Spezialist für wohl schmeckende Wildpflanzen. Mit breitkrempigem Hut, so dass er stets gut zu erkennen ist, begrüsst er seine Schüler und erläutert: «Jedes Mal, wenn wir 100 Meter höher steigen, ist es, als wäre man 100 Kilometer weiter nach Norden gelangt.» Deswegen sei dieVegetation hier dieselbe wie in Finnland. Die Lernwilligen saugen die Worte des Meisters auf. Couplan selber bezeichnet sich denn auch gerne als Berg-und-Tal-Indianer, der den Schafen das Gras streitig mache. Tatsächlich weiss der in der Schweiz lebende Franzose die Gefilde der Unwissenheit zu nutzen respektive seinen Lebensunter58

halt damit zu bestreiten. Der Ethnobotaniker ist Autor zahlreicher Publikationen, zu deren wichtigsten das Werk «Wildpflanzen für die Küche»* gehört. Couplans Schüler sind Frauen und Männer aus dem In- und Ausland, welche die Kunst des Aufspürens und Zubereitens von Wildpflanzen erlernen oder perfektionieren wollen. Diese Kunst fusst nicht etwa auf Improvisation. Im Gegenteil: Sie muss akribisch geschult werden. «Zuweilen unterscheidet sich eine essbare Pflanze kaum von ihrer giftigen, ja, lebensbedrohlichen Variante», sagt Couplan, «etwa durch einen anderen Ansatz der Blätter am Stängel.» Als Beispiel erwähnt er den Weissen Germer und den Gelben Enzian, aus dem Likör gemacht wird. Vor ihrer Verwendung gelte es deshalb, so der Experte, eine Pflanze genau zu identifizieren. Charaktermerkmale seien das Aussehen, die Oberflächenstruktur, der Geruch und Geschmack. «Kenntnis und Vorsicht sind die wichtigsten Voraussetzungen», sagt der «Floragastronom».

Eine Blumensymphonie Die Kursteilnehmer haben eine Woche Zeit, um sich das von François Couplan und seiner Frau, Françoise Marmy, übermittelte Wissen anzueignen und damit zu experimentieren. Im Gänsemarsch gehts auf schmalen, oft unbefestigten Wegen durchs Gelände. Durch die Unebenheiten fällt die Gruppe alsbald auseinander. Neue Zellen formieren sich je nach Kondition, interessenweckenden Pflanzen und Gesprächen darüber. Die Natur entpuppt sich als wahres Füllhorn mit einer bunten Blumenpracht, so weit das Auge reicht: Rapunzel in sattem Violett und Arnika in Gelborange recken sich der Sonne entgegen. Andere, eher unscheinbare alpine Pflänzchen hüllen sich förmlich in einen flauschigen Mantel, um der Kälte zu trotzen inmitten einzeln verbliebener Schneefelder. Der zarte Duft von Bergklee erfüllt die Luft. Doch sobald man sich hinunterbeugt, erhält die Schnüffelspur Konkurrenz.


Die Teilnehmer werden von Sammelfieber gepackt. François Couplan gilt weltweit als Wildpflanzenkoryphäe.

Schön und schmackhaft: Orchis vanille.

Rapunzel sind roh genossen eine Delikatesse.

Die Pflanzen müssen sortiert und zerkleinert werden.

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pflanzenkost Feine Kakao-Noten kitzeln die Nase, je tiefer sich diese gen Boden neigt. Duftspender ist in diesem Fall das Schwarze Kohlröschen, eine Orchideenart. Unglaublich, welche Aromendichte die filigrane Blüte hervorzubringen vermag. Der idyllische Spaziergang lässt fast vergessen, wofür die Gruppe unterwegs ist: Entdecken, erkennen, ernten – alles unter dem wachsamen Auge von François Couplan. Schliesslich gilt es, bei Mutter Natur zu besorgen, was abends Gaumen und Bauch zum Besten gereichen soll. In der Küche des Chalets, das die Kursteilnehmer während fünf Tagen bewohnen, gehts an die Zubereitung des Nachtessens. Unter Aufsicht von Grégory Poirot, Koch im Restaurant «La Ville de Lyon» im französischen Rouffach, Haut-Rhin, der sich selber auf Wildpflanzenmenüs spezialisieren möchte, und François Couplan werden

Erstaunlich, welche Aromendichte in den essbaren Wildpflanzen steckt die mitgebrachten Pflanzen sortiert, entstielt und klein geschnitten. Anschliessend dürfen sich die Sammler von ihrem doch recht anstrengenden Tag erholen. Am Himmel glitzern bereits die Sterne, und der Magen knurrt, als der grosse Augenblick endlich gekommen ist: Es darf degustiert werden! Als Entree gibts knackigen Lattich-Salat, dessen Geschmacksnoten leicht an Nüsse erinnern und der laut Kenner Couplan eine beruhigende Wirkung haben soll. Dann folgen Alpen-Sauerampfersuppe, pure Rapunzelschösslinge, Quiche aus Blütenblättern des Alpen-Sauerampfers, Almen-BlancManger – weisser Pudding mit Mandeln – aus Steinklee, Schafgarbe und Feldthymian mit Zitronengeschmack sowie zum Abschluss ein Gelee aus Isländischem Moos mit Zitrone.

«All diese Gerichte sind gewollt einfach», sagt François Couplan, «damit sich das Aroma der Pflanzen im Mund voll entwickeln kann.» Der Floragourmet hat schon berühmte Herdkoryphäen wie Marc Veyrat in die Kunst der Wildpflanzenküche eingeweiht. «Meine Vorschläge begeistern immer mehr Menschen», sagt er selbstbewusst. Eine für ihn logische Entwicklung: «Wenn man alles hat, kehrt man zum Wesentlichen zurück.» Die Thematik greift er im neuen Buch «La nature nous sauvera» (Die Natur wird uns retten) auf. Laut Couplan stellen sich ganz primäre Fragen in Hinblick auf das persönliche und überpersönliche Wohlergehen: Was sind die wirklichen Bedürfnisse? Wie lassen sie sich erkennen und wie befriedigen? Wenn man sich bewusst werde, so der Pflanzenphilosoph, dass man im Grunde sehr wenig brauche und der Rest überflüssig sei, nehme man alles leichter. «Das verhindert vielleicht auch, dass die Menschheit sich selbst zerstört.» Die Gruppe ist von der Pflanzenkost begeistert. Prompt möchten ein paar noch etwas zum Naschen. Doch welche Überraschung! Das erst vor einigen Stunden gepflückte Isländische Moos liegt mittlerweile auf dem Grund des Glasbehälters. «Sobald die Pflanze vom Wasser benetzt ist, wird sie zum Geliermittel», erläutert der Ethnobotaniker. Gut schmeckt es trotzdem. Frédéric Rein ist freier Journalist. * François Couplan: Wildpflanzen für die Küche. AT Verlag, 144 S., Fr. 39.90 Aktuelles zu François Couplan und seinen Kursen: www.couplan.com

Aperitifs von François Couplan Brennnessel-Kanapees In einer Schüssel schaumig geschlagene Butter, Olivenöl, Zitronensaft, gepressten Knoblauch und Salz miteinander verrühren. Dann frische Brennnesselspitzen fein hacken und hinzugeben. Dünne Brotscheiben leicht grillen und mit der Mischung bestreichen. Gundermann-Aperitif 1 l Weisswein, 1 l Apfelsaft, 0,5 l Wasser, 100 g Zucker und eine Schüssel grob gehackten Gundermann (Stängel und Blätter) in einem Schmortopf vermischen und 1 Stunde kalt stellen. Filtrieren und 0,75 l Mineralwasser hinzugeben.

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Nachgefragt zubereiten kann. Dennoch freue ich mich über Hinweise von Botanikern, die meine Kenntnisse erweitern oder vertiefen.

Unkraut mundet

Ihre Kräuterpirsch-Kurse sind gefragt. Haben Sie keine Bedenken, dass die Natur dadurch geplündert werden könnte? In meinen Workshops lernen die Kursteilnehmer gleich zu Beginn, ihr Bewusstsein zu schärfen: für den Ort einerseits, für die Pflanzen andererseits. Plätze, an denen beispielsweise nur wenige Gewächse einer Sorte blühen, sind zum Ernten tabu. Wenn schon jemand vor einem da war, muss man halt weitersuchen. Wir sollten die Natur ähnlich zurücklassen, wie wir sie vorgefunden haben. Deshalb bewegen wir uns beim Sammeln wie die Tiere: Wir pflücken beim Gehen mal hier, mal dort, um Kahlschlag zu vermeiden.

Meret Bissegger pflegt seit Jahren eine Cucina Naturale mit Wildpflanzen aller Art. Frau Bissegger, Sie verwenden für Ihre «Cucina Naturale» auch Wildpflanzen. Sind Sie punkto Geschmack besonders risikofreudig? Meret Bissegger: Ich mag kräftige und klare Geschmacksnoten. Weil ich ein gutes sensorisches Vorstellungsvermögen habe, weiss ich oft schon vorher, wie etwas schmecken wird. Teilen Ihre Gäste die Begeisterung? Meistens. Meine Tavolata-Gäste schätzen die ungewohnten Aromen – sie kommen ja auch deswegen. Das gemeinsame Sammeln der Wildpflanzen in den Kursen steigert die Begeisterung und Wertschätzung zusätzlich. Zaubern Sie Ihre Menüs ausschliesslich aus Wildpflanzen? Nein. Wildpflanzen ernten wir nur im Frühjahr. Sonst gibt es Gemüse, Salate

und Kräuter aus den Bio-Gärten. Aber zu einer ausgewogenen, vollwertigen Mahlzeit gehören ja auch Brot, Getreide, Milchprodukte, Hülsenfrüchte und je nachdem Fleisch oder Fisch. Die Wildpflanzenküche boomt. Empfiehlt sich die Natur als Selbstbedienungsladen? Nur bedingt, da nicht alle Gewächse oder bloss Teile davon geniessbar sind. Wildpflanzenkunde ist anspruchsvoll; es gibt ja auch giftige und geschützte Gewächse. Mit Fachliteratur alleine kommt man nur langsam weiter. Viel mehr gilt es, die Natur über alle Jahreszeiten respektive die Pflanzen in ihrem Wachstum zu beobachten. Als Autodidaktin brauchte ich fast dreissig Jahre, um mir das heutige Wissen anzueignen. Mittlerweile kenne ich zirka 70 Pflanzen, die ich in irgendeiner Form 61

Im Blenio-Tal, Ihrem Wohnsitz, sind Sie als Sammlerin von Wildpflanzen sozusagen privilegiert. Im Gegensatz zu Zürich bestimmt. Städte bieten generell weniger Möglichkeiten, Wildpflanzen zu sammeln. Auch ist dort die Gefahr grösser, einzelne Pflanzen auszurotten. Ich weiss von einer Wiese in Zürich, auf der heute kein Löwenzahn mehr blüht, weil das Kraut in Massen gepflückt und dadurch vernichtet worden ist. Was also raten Sie? Das Hauptinteresse sollte unserem Unkraut gelten. Und das ist fast überall zu finden. Die meisten dieser «verhassten» Pflanzen sind nahrhaft, vielseitig verwendbar und schmecken darüber hinaus ausgezeichnet. Giersch oder Baumtropf etwa kann man als Salat, Gemüse oder Suppe zubereiten.

Meret Bissegger lebt in Malvaglia, am Eingang des Blenio-Tals. Sie veranstaltet regelmässig Kochkurse und Wildpflanzen-Workshops im Tessin. Infos: Tel. 091 870 13 00 oder www.meretbissegger.ch


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Appenzellerland

Sönd willkomm! Nachdem er die Welt erschaffen hatte, zeigte sich der Herrgott noch nicht restlos zufrieden. Also schulterte er den grossen Sack mit Häusern, Kirchen, Schlössern und marschierte los. Beim Überqueren des Alpsteins ritzte der Säntis mit seinem spitzen Gipfel ein Loch in den Sack. Prompt purzelten Häuser und Ställe auf die sanften Hügel und blieben verstreut liegen. Dankbar nahmen die Appenzeller dieses Geschenk an und gelobten, dem Land und seinen Früchten Sorge zu tragen. So pflegen sie bis heute ihre Wiesen für die braunen Kühe und die weissen Geissen. Sie sammeln Kräutlein für den Appenzeller Bitter und die mythische Kräutersulz, mit der sie ihren Käse beschmieren. Mit Witz und Biss verteidigen sie ihre Heimat und wehren sich gegen Fremdes und Nacktwanderer. Doch, geschätzte Nicht-Appenzellerinnen und Nicht-Appenzeller, Traditionsbewusstsein ist nicht zwangsläufig Zeichen von Sturheit und Blindheit. Wissen erhalten geblieben. Berufsstolz und handwerkliches Geschick, gepaart mit einer gehörigen Portion Humor und Tüchtigkeit, bringen immer wieder Erfolge. Vom Flauder übers Vollmondbier, vom Biber bis zur Köchin des Jahres: Das Appenzllerland ist für eine Überraschung gut. Und Herrgott sei Dank, es ist «choge schöö».

Süsses und Gepfeffertes

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Wandern und Besichtigen

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Einkaufen und Einkehren

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Wettbewerb

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Redaktion: Christina Gubler, Michael Higi (Mitarbeit)

Dank der Verwurzelung mit Haus und Scholle sind Bräuche und altes


FotoS Ueli Alder Seiten 63/67/70 Der junge Appenzeller K端nstler setzt sich in seinem Bilderwerk humorvoll mit dem Brauchtum seiner Heimat auseinander. www.alderego.ch


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Appenzellerland Allerlei

Süsses und Gepfeffertes, aromatisiert mit Witz.

Mostbröckli: Einst bloss Ersatzprodukt, heute beliebte Spezialität – und Streitobjekt.

D

ie Appenzeller gelten als eigenwillig und gewitzt. Ein Klischee. Und doch nicht ganz von der Hand zu weisen, wie die Geschichte des Mostbröckli zeigt. Im 19. Jahrhundert war Schweinefleisch im Appenzellerland ein rarer und umso beliebterer Luxus. Zumal, wenn es aus dem Kamin kam. Also sann man nach Methoden, um das kommunere Rind vom Goût und damit von den Absatz- und Preismöglichkeiten her geräuchertem Schwein anzugleichen. Das mit Salz und Gewürz gepökelte, dann im Rauch getrocknete Ersatzprodukt setzte sich durch. Als Appenzeller Mostbröckli gehört es heute zu den bekanntesten Schweizer Regionalspezialitäten. Jährlich werden 400 Tonnen hergestellt. Teils auch ausserhalb des traditionellen Ursprungsgebiets, etwa im St. Gallischen. Deshalb reklamiert das Appenzellerland die Produktion nun für sich: Sein Metzgermeisterverband beantragte im Herbst für Mostbröckli und zwei weitere Appenzeller Fleischspezialitäten, Siedwurst und Pantli, das Echtheits-Label GGA (geschützte geografische Angabe). Gleichzeitig liess er es sich mit Blick auf Exportmärkte und günstige Rohstoffpreise offen, selbst Etikettenschwindel zu betreiben: Für Appenzeller Mostbröckli soll weiterhin ausländisches Fleisch verwendet werden dürfen. Dagegen und gegen die geplante Mostbröckli-Grenze hat der Kanton St. Gallen inzwischen Einspruch erhoben. Fortsetzung folgt.

dass auf Appenzeller Boden Wein gedieh? Sonderlich der Rote war «delicat» und «vortreflich gesund» (Appenzeller Chronik, 1740). Um 1900 vernichteten Laus und Mehltau fast alle Rebberge.

dass die Appenzeller unter der grossen Hungersnot 1816/17 besonders litten? Selbst Hafergrütze gabs kaum mehr, man hielt sich – wenn überhaupt – mit Gras, Heu und Tierabfällen am Leben.

ChÄstschoope Für 4 bis 5 Personen 400 g dunkles Bauernbrot (wichtig: 1–2 Tage alt) Butter 200 g fetter Appenzellerkäse 200 g rezenter Appenzellerkäse Muskat, Pfeffer 1 dl Rahm Schnittlauch, fein gehackt

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Das Brot wie für Fondue in Würfel schneiden und in Butter goldbraun anrösten. Für die Käsemasse den Käse raffeln und mit Pfeffer und Muskat würzen. Mit dem Rahm zu einem festen Brei mischen. Die Käsemasse über die heissen Brotwürfel geben – in der Pfanne – und so lange schwenken, bis sie mit der Käsemasse schön überzogen sind. Die Chästschoope anrichten und mit viel fein geschnittenem Schnittlauch bestreuen. Sofort servieren und heiss geniessen.

Foto: Christiane Dörig (1)

Nur Bundesrat Moritz Leuenberger hat die Siedwurst bislang verschmäht. Ansonsten ist sie bei Ehrengästen heiss begehrt. Sie gehört zum Appenzller Kulturgut wie das Hackbrett zur Streichmusik. Darum soll die Siedwurst mit dem Gütesiegel «Geschützte geografische Angabe» (GGA) ausgezeichnet werden. Metzgermeister Franz Fässler aus Appenzell hat die Geschichte der «Södworscht» recherchiert und Autor Andreas Heller diese im Buch «Um die Wurst» dokumentiert. Echtzeitverlag, 128 S., Fr. 34.–.

Chästeilet mal anders

Wussten Sie dass Appenzell Innerrhoden gemessen an den Einwohnerzahl am meisten Metzger hat? Auf 5000 Köpfe kommen zwei, im Bauernkanton Bern nur einer.

Siedwurst


Kloster

Kleiner Dialektkurs

d

ie Naturheilkunde hat im Appenzellischen lange Tradition. Seit dem Spätmittelalter wurden in den Gärten der Klöster Grimmenstein und Wonnenstein Heilkräuter gezogen. Nicht nur für den Eigengebrauch: Die Ordensfrauen standen auch ihren Schäfchen mit «Leibes-Remedia» bei. Diese Tätigkeit, obwohl mitunter wie von Pfarrer Gabriel Rüsch als «medicinische Pfuscherei» abgekanzelt, behielten die Nonnen bis heute bei. Im Kloster Leiden Christi im Jakobsbad ist die Apotheke gar noch immer Haupteinnahmequelle. Neben Tabletten und Salben bieten die Schwestern Spezialitäten an wie den nach alter Manier gebrannten Angelika-Likör. Als heilend darf er nicht mehr gepriesen werden – obwohl Angelika (Engelwurz) antibakteriell wirken soll. Als Tonikum schon: Mit Milch gemischt, so ein Rezept der Nonnen, wird daraus ein feiner Drink. www.klosterleidenchristi.ch

Appenzeller sagen Häselbei (Heidelbeeren), Zonne (Mus, Brei), Täghüffe (Hagebutten), Iimehung (Bienenhonig), Gramülle (Kamille), meeschtelos (heikel, wählerisch beim Essen), Zockermuul (Schleckmaul).

Simon Enzler (33), Appenzeller und Kabarettist mit Leib und Seele. Mit welcher kulinarischen Spezialität ihres Heimatkantons würden Sie sich vergleichen? Mit einer feinen Siedwurst. Oder doch eher mit dem Senf? Wie wäre es mit einer Kombination aus beidem? Oder ist Senf zu Appenzeller Siedwurst ein Sakrileg? Nein, eine Pflicht. Eine Siedwurst ohne Senf ist wie Gulasch ohne Fleisch. Nicht Pflicht, aber beliebt ist derzeit die Mariage von Kultur und Kulinarik. Welches Appenzeller Produkt passte am besten zu Ihrem neuen Programm? Ein Alpsteinbitter – Lachen kann medizinische Wirkung haben. Welche Beiz besuchen Sie, wenn Sie Lust auf ein heimisches Traditionsgericht haben? Dann besuche ich jeweils meine Mutter. Denn so gute Chäsmagerone wie bei ihr kriegt man in keiner Beiz. Wie erklären Sie einem Deutschen, was ein Appenzeller Mostbröckli ist? Es ist vergleichbar mit dem italienischen Bresaola – einfach mit brasilianischem Rind.

ein Käser und ein Metzger bestellen in der Wirtschaft einen Halbliter Wein und möchten dazu auch etwas Kleines essen. der Wirt empfiehlt ihnen Siedwurst oder Käse. der Käser bestellt Käse: «Me wäässt jo doch nüö, was i de Wöörscht inn hät.» da meint der Metzger: «I nemm au de Chääs, i wäss ebe, was i de Wöörscht inn häd.»

LECKERLI

I

m Ganzen sind die Leute ziemlich leckerhaft», heisst es in «Gemälde der Schweiz – Der Kanton Appenzell (1835)». Diese Vorliebe für Süsses hat sich offensichtlich auch in einem Brauch niedergeschlagen. Jeweils am Aschermittwoch wird in Herisau AR und Waldstatt AR mit einem wilden fasnächtlichen

Umzug eine lebensgrosse Strohpuppe namens Gidio Hosestoss zur Abdankung geleitet. Das unbelehrbare Schleckmaul, so will es die Mär, erstickte an einem gestohlenen Leckerli. Während des Umzugs werden solche Leckerli, kleine rechteckige Lebkuchen, zu Tausenden an die Kinder verteilt. Die meisten landen direkt in den Bäuchen, einige zu

Hause in der Pfanne. Nach altem Rezept zubereitet kommen dann «Bacheschnette» auf den Tisch: Im Omelettenteig ausgebackene Leckerli, mit Zucker und Zimt überstreut. Ein kalorienreiches Gericht, das ein gutes Polster verspricht für die Fastenzeit.Vielleicht rutschen die eher trockenen Leckerli im geschmeidigen Eiermantel aber auch einfach besser.


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AppenzellerlAnd ist im Appenzellerland stets mit Genuss und Musse verbunden.

a AUF AlTen KÄSeTrAnSpOrTpFAden zUr SeeAlp

Route: Schwende – Wasserauen (0.30 h) – Chlihütten (0.50 h) – Seealpsee/Spitzigstein (0.30 h) – Wasserauen via Fahrstrasse (0.40 h) Einkehr: Gasthaus Forelle, Seealpsee Anfahrt: Zug bis Schwende (www.appenzellerbahnen.ch) Literatur: «Historische Verkehrswege in den Kantonen Appenzell Inner- und Ausserrhoden», www.viastoria.ch

A

n schönen Tagen schleppen sich Ausflügler in Heerscharen von Wasserauen über das steile Fahrsträsschen zum Seealpsee hinauf. Doch das lässt sich umgehen – was sich besonders lohnt, wenn man oben am See die Alp Spitzigstein besuchen will. In deren Käserei wird die Produktion des fast vergessen gegangenen Schlipferkäses wieder gepflegt. Die vorgeschlagene Alternativ-Route führt als historisches Relikt der Alperschliessung auch thematisch an diese alte Appenzeller Sennenspezialität heran. Ausgangspunkt ist Schwende. Von der Dorfkirche zieht sich ein schöner

Weg entlang des Schwendibaches nach Wasserauen. Wie in der Publikation «Historische Verkehrswege in den Kantonen Appenzell Inner- und Ausserrhoden» vermutet wird, ist er ein Teilstück des alten Zugangs zur Meglisalp, die ihren Käse bis um 1400 ans Kloster St. Gallen, dann an die Alpgemeinschaft im Tal lieferte. Ab Wasserauen ist der Anstieg durchs Hüttentobel auf Chlihütten zu wählen. Man folgt dabei einem heute teils mit Geländern und Seilen gesicherten Pfad. Auch er wurde einst eigens zur Begehung der Meglisalp angelegt – herausgeschlagener Fels, Hohlwege und vereinzelt auch erhaltene Pflästerung zeugen davon. Was erstaunt: Die Meglisalp hätte man eigentlich am bequemsten via die eine Alpstufe tiefer liegende Seealp erreicht. Doch nach föderalistischer Manier brauchte jede Alp ihren eigenen Weg. Inzwischen existieren auch Querverbindungen. Eine geht bei Chli Hütten rechts ab und führt leicht bergabwärts zum Seealpsee. Nahe an dessen Ufer steht die Alphütte Spitzigstein, in der Hans Gmünder im Sommer die Milch der Seealp-Kühe zu Alpkäse, Mutschli und zu Schlipferkäse verarbeitet. Mit diesem milden, rindenlosen Produkt ernährten sich die Sennen wahrscheinlich vorwiegend selber, da es bereits nach einem Tag genussbereit ist. Vor dem Verzehr wird der Schlipferkäse tranchiert und in eine Wasser-MilchSalz-Mischung eingelegt. Das macht ihn schlüpfrig und gibt ihm den Namen. Wer Hans Gmünders Käse probieren will, kann sie direkt bei ihm kaufen. Sie werden zudem im benachbarten Berggasthaus Forelle serviert. Auf dass man gestärkt wieder nach Wasserauen absteigen oder die Wanderung Richtung Meglisalp oder Wildkirchli-Ebenalp fortsetzen kann. 66

b WAnderUnG ÜBer dIe HUndWIler HÖHe

Route: Gonten – Hundwiler Höhe (ca. 1.30 h) – Hundwil (ca. 1.30 h), Aufstieg 400 m Einkehr: Bergrestaurant Hundwilerhöhe Einkauf: Appenzeller-Line, Hundwil Anfahrt: Zug nach Gonten (www.appenzellerbahnen.ch), Postauto ab Hundwil (www.sbb.ch) Literatur: Wanderkarte 1:25000, St.Gallen und Umgebung, www.appenzeller-wanderwege.ch

W

er über einen CD-Spieler und viel Imaginationskraft verfügt, könnte diese Wanderung auch vom Sofa aus machen. Peter Waters, Australier mit Wohnsitz im Appenzellerland, hat ihr mit «Von Gonten nach Hundwilerhöhe I und II» gleich zwei Kompositionen gewidmet (Alpentöne 03, MGB/ CD 6208, www.musiques-suisses.ch).

Fotos: Medard Bischof (1)

Wandern



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AppenzellerlAnd Die groovig-jazzigen Tongemälde fangen die topografischen Konturen der Landschaft und den Schritt-Rhythmus während des Aufstiegs auf eindrückliche Weise ein. Nur: Der Geschmackssinn kommt dabei zu kurz. Das ist schade, denn die Hundwiler Höhe lockt nicht nur mit ihrer fantastischen Rundsicht, die an klaren Tagen von den Glarner Alpen über die Alpsteinkette bis zum Bodensee reicht. Man erklimmt den Gipfel ebenso gerne mit eigener Muskelkraft, weil oben im Bergrestaurant feine Siedwürste, Käsemagronen und Hausspezialitäten wie Gerstensuppe warten. Zudem schätzen Habitués, dass Wirtin Marlies Schoch mit ihren Gästen gerne plaudert und politisiert. Schliesslich ist sie Ausserrhoder Kantonsrätin. Kaum jemand also, der die Hundwiler Höhe nicht gut gesättigt verlässt. Und deshalb froh ist, dass nur noch der Abstieg vor einem liegt. Wir folgen der Route, die forsch bergab zum Buechbach führt, dann weiter über Giessfeld, Chessleren und Pfand nach Hundwil. Dort empfiehlt sich ein Abstecher ins Ladengeschäft der Appenzeller-Line – selbst wenn man im Moment gar keinen Hunger hat. Allein der Anblick der traditionellen und neu kreierten Regionalspezialitäten in den Regalen ist ein Vergnügen.

Gastlichkeit

und Gourmetfreuden – von Slow Food empfohlen.

ESSEN Restaurants 1 Restaurant Bären

Dorf 9108 Gonten AI Tel. 071 795 40 10 www.hotel-bärengonten.ch (So-Abend/ Mo Ruhetage) Alte, fast vergessene Appenzeller Spezialitäten wie Fenz, ChemiSoppe, Chästschoope. Um Ostern auch Appenzeller Gitzi.

2 Restaurant Bären Dorf 34 9064 Hundwil AR Tel. 071 393 70 15, www.restaurantbaeren. ch (Do/Fr ab 17 Uhr, Sa ab 11 und So ab 9 Uhr) «Wir kochen, was auf den Feldern wächst.» 3 Hotel Appenzellerhof Hauptstrasse 6 9042 Speicher AR Tel. 071 344 13 21 www.appenzellerhof.ch (Restaurant ab 17.30 Uhr offen, Di Ruhetag) Bio-Küche mit Produkten aus der Region (Slowfood-Mitglied). 4 Genossenschaft Hotel Linde Heiden Poststrasse 11 9410 Heiden AR, Tel. 071 898 3400, www.lindeheiden.ch (keine Ruhetage) U. a. griechische Küche und regionale Spezialitäten wie Appenzeller Kalbs-Cordon-bleu, gefüllt mit Mostbröckli 68

und Appenzellerkäse, Biedermeier-Cordonbleu. Tipp: Biedermeiersaal für Anlässe und kulturelle Veranstaltungen.

5 Brauerei Stein 9063 Stein AR Tel. 071 367 11 05 www.brauerei-stein.ch (Di/Mi Ruhetage) Appenzeller Spezialitäten wie Mostbröckli, Pantli, Siedwürste und Käsehörnli. Besonderes: Schöner antiker Bankettsaal 6 Gasthaus Bären Schlatt, 9050 Appenzell Tel. 071 787 14 13 www.baeren-schlatt.ch (Di/Mi Ruhetage) Appenzeller Spezialitäten. Wunderbare Lage oberhalb Appenzell mit Aussicht aufs Alpsteinmassiv.

Bergrestaurants 7 Berggasthaus Hundwilerhöhe 9064 Hundwil AR Tel. 071 367 12 16 www.hundwilerhoehe. ch (das ganze Jahr jeden Tag offen) Bodenständige Küche und Appenzeller Spezialitäten wie Käsemagronen mit Apfelmus. 8 Bergrestaurant

Äscher-Wildkirchli 9057 Weissbad AI Tel. 071 799 11 42 www.aescher-ai.ch (offen Mai bis Ende Oktober) Regionale Bergspezialitäten.

Supplément: an den Fels gebautes Gasthaus unterhalb der Ebenalp, nur für Schwindelfreie.

9 Restaurant Forelle am Seealpsee 9057 Weissbad AI Tel. 071 799 11 88 www.gasthausforelle. ch (täglich offen von Ende April bis Anfang November) Regionale Alpspezialitäten. Empfehlung: Terrasse direkt am See 10 Höhenrestaurant unterer Gäbris 9056 Gais AR Tel. 071 793 12 01 (Di Ruhetag) Regionale Bauernspezialitäten. 11 Berggasthaus Blattendürren 9107 Urnäsch Tel. 071 364 17 63 www.blattenduerren.ch (1. Mai bis 31. Oktober Mi Ruhetag, Winter nur am Wochenende offen) Spezialitäten wie Älplermagronen mit Siedwürsten, regionale Käse von Geiss und Kuh, ab Sept. Wild aus eigener Jagd, Mai/Juni Gitzichüechli.

urchige Beiz 12 Restaurant Fladehus Sternen Schwänberg 9100 Herisau AR Tel. 071 351 19 16 (Di Ruhetag) Appenzeller Rahmflade, Chäsflade, Bire-Schlorziflade (Flade = Wähe)


Grub AR Eggersriet

Essen Arnegg

2

Rehetobel Abtwil

Märkte

Heiden

2

Andwil

Einkaufen

4

Speicherschwendi

St.Gallen

Gossau

Oberegg

Wald

3

Speicher

Startpunkt Wanderungen

Diverses

Trogen

Gübsensee Niederteufen

12Schwänberg

Herisau

Teufen

1

Altstätten Gäbris

10

Bühler Stein

2 3

Hundwil

5

Gais

3/7

Schlatt Enggenhütten

Schwellbrun

7 Hundwiler Höhe

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Zuckersmühle Schönengrund

Urnäsch

Gonten

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Gontenbad

Appenzell

Jakobsbad

8 Apotheke im Kloster Leiden Christi 9108 Gonten AI www.klosterapotheke.ch (Mo bis Sa, 10 bis 11.45 und 14 bis 17 Uhr, So und Feiertage geschlossen) Heilkräuter-Spezialitäten und Liköre (siehe S. 65)

Steinegg Weissbad

Blattendürren

Scheidegg

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Wi Kronberg

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Ebenalp

1

Schwägalp

Säntis

Buchtipp

«Urwaldhus, Tierhag, Ochsenhütte und Co. – Die schönsten Beizen der Ostschweiz», 6. Auflage, aktualisiert und ergänzt, erscheint im Sommer 2009, ca. 38 Franken, Orte Verlag, www.orteverlag.ch

EINKAUFEN Käse 1 Hans Gmünder Alp Spitzigstein Seealpsee 9057 Weissbad AI Tel. 079 441 22 73 (Betrieb von Anfang Juni bis Ende August) Schlipferkäse (Arche-

Wildkirchli

8 Seealpsee

Produkt), Alp-Butter, Alp-Mutschli Verkaufsladen beim Seealpsee am Weg zur Meglisalp (siehe S. 66)

Backwaren 2 Bäckerei Kern Poststrasse 17 Bionat Naturladen Werdstrasse 18 9410 Heiden AR Tel. 071 891 17 91 www.cafe-konditorei.ch (Mo geschlossen) Appenzeller Gewürzbrot, Birnenbrot und Biber (trad. Rezeptur in Bio-Qualität) 3 Holzofenbäckerei und Restaurant Mühle Mühle 133 9064 Hundwil AR

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7 Appenzeller-Line Dorf 4 9064 Hundwil AR Tel. 071 367 20 01 www.appenzeller-line.ch (Di bis Fr, 14 bis 18.30 Uhr, Sa 9 bis 15 Uhr) Regionale und Appenzeller Spezialitäten wie Sirup, Konfitüre, Likör, Käse, Fleischprodukte

Hoher Kasten

Sämtisersee

Fählensee

Tel. 071 367 12 46 (Mi Nachmittag Ruhetag) Ablage: Cafe Hirschen, Dorf 9, 9064 Hundwil AR (Mo Ruhetag) Appenzeller Biber, Leckerli, Brot und andere Spezialitäten aus dem Holzofen. Restaurant ist eine typische Appenzeller Wirtschaft.

4 Café Confiserie Laimbacher Weissbadstrasse 3 9050 Appenzell AI Tel. 071 787 17 44 www.laimbacher.ch (Mo geschlossen) Appenzeller Biber und Hausspezialitäten

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Fleisch 5 Metzgerei Fässler Rinkenbach 33 9050 Appenzell Tel. 071 787 18 73 www.metzgerei-faessler. ch (Do geschlossen) Appenzeller Spezialitäten wie Siedwurst, Mostbröckli, Pantli, Alpenklübler. 6 Gasthaus / Metzgerei

Löwen Unterdorfstrasse 8 9107 Urnäsch AI Tel. 071 364 23 87 (Gasthaus Do und erster So im Monat Ruhetage, Metzgerei Do und So geschlossen) Appenzeller Spezialitäten wie Siedwürste, Mostbröckli, Pantli.

Märkte / Viehschauen 1 Wochenmarkt in Herisau (jeden Sa 9 bis 13 Uhr) 2 Bauernmarkt in Heiden, Kirchplatz (jeden Sa vom 20. Juni bis 7. November, 8.30 bis 12 Uhr) Viehschauen finden im September/Oktober in verschiedenen Ortschaften beider Halbkantone statt (Infos auf www.appenzell.ch). 3 Jene auf dem Viehschauplatz Gehren in Schwellbrunn AR gilt als besonders attraktiv, auch wegen der schönen Örtlichkeit (2009: 28. September).



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Appenzellerland Gewinnen Sie

mit dem richtigen Lösungswort und ein wenig Glück eine Übernachtung mit Halbpension im schmucken Hotel Appenzellerhof, Speicher AR.

1 Wie viele Metzger gibt es in Appenzell Innerrhoden pro 1000 Einwohner?

7 Wohin geht Simon Enzler, wenn er gute Appenzeller Spezialitäten geniessen will?

4 (M) 10 (O) 2 (A)

In den Bären Gonten (S) Zu seiner Mutter (T) In den Bären Hundwil (R)

2 Welcher Bundesrat mag die Siedwurst nicht?

8 Woher hat der Schlipferkäse seinen Namen?

Hansruedi Merz (U) Pascal Couchepin (I) Moritz Leuenberger (E)

Schlüpfrigkeit (E) Hans Schlipfer (M) Schlipferalp (V)

3 Woran erstickte der unersättliche Gidio Hosestoss?

9 Woraus besteht der Chästschoope?

Leckerli (E) Mostbröckli (T) Biberli (Q)

Kartoffeln (U) Brot (L) Polenta (F)

4 Welches politische Amt übt Marlies Schoch aus, Gastgeberin in der Hundwilerhöhe?

10 Woher stammt grösstenteils das Fleisch fürs Mostbröckli?

Bundesrätin (W) Kantonsrätin (S) Regierungsrätin (Z) 5 Wie wirkt Angelika-Likör? Antibakteriell (C) Entspannend (K) Harntreibend (L) 6 Wogegen wehren sich die Appenzeller? Nacktwanderer (H) Barfusswanderer (T) Nacktschnecken (W)

Das Gibts zu Gewinnen Wettbewerbspreis 1 Übernachtung für 2 Personen im Komfortdoppelzimmer inkl. Frühstücksbüffet und Halbpension nach Empfehlung des Chefs. Das Idyllhotel Appenzellerhof in 9042 Speicher bietet eine konsequente Bio-Küche und ist Ihr idealer Ausgangspunkt für Ausflüge ins Appenzellerland zwischen Bodensee und Säntis. Herzlich willkommen! Laure und Herbert Sidler Trogenerstrasse CH-9042 Speicher Tel. +41 (0)71 344 13 21 Fax +41 (0)71 344 10 38 info@appenzellerhof.ch www.appenzellerhof.ch

Schweiz (Z) Brasilien (O) USA (F) 11 Was sind Häselbei? Kaninchenschlegel (G) Haselzweig (W) Heidelbeeren (S)

So funktionierts

Lösungswort und Absender auf eine Postkarte schreiben. Einsenden an: Slow Food Schweiz Kornhausplatz 11, 3001 Bern Oder: info@slowfood.ch. Einsendeschluss: 31. August 09

www.appenzell.ch

Das Lösungswort Die Gewinnerin oder der Gewinner wird ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt. Keine Barauszahlung. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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Philosophie

Die konkreten Ziele eines Förderkreises sind vielfältig

Schweizer Förderkreise Zincarlin, ein Käse aus dem Val

Übrig gebliebene Produzenten zusammenbringen und ihnen durch Kommunikationsmassnahmen Aufmerksamkeit verschaffen Wissen über alte handwerkliche Produktionsmethoden und damit lokale Arbeitsplätze mit fairer Entlöhnung bewahren und Abwanderung verhindern mit dem traditionellen Wissen ein neues absatzfähiges Produkt entwickeln ein lokales Ökosystem erhalten oder wieder wirtschaftliche Perspektiven schaffen Qualitätsprodukte durch eine Verbreiterung des Absatzmarktes erhalten, indem sie einem grösseren Publikum bekannt gemacht werden und so die Wichtigkeit der Geschmacksvielfalt und unseres kulinarischen Erbes wieder bewusst wird.

di Muggio im Tessin, 2006 Cicitt, eine Bratwurst aus Ziegenfleisch aus dem Locarnese im Tessin, 2006

D

as Hauptziel der weltweiten Slow Food-Bewegung ist es, die Vielfalt von Nutzpflanzen und Tierrassen sowie bei Grundprodukten und Lebensmitteln zu erhalten. Diese Vielfalt von Geschmack und Genuss beim Essen ist ein wichtiger Teil unserer Lebensqualität, nämlich unseres Wohlbefindens und letztlich auch unserer Gesundheit. Will man diese Vielfalt erhalten, müssen die natürlichen Ressourcen respektiert und das Wissen erhalten werden, das die Menschen durch jahrzehnte-, manchmal jahrhundertelange sorgfältige Nutzung dieser Ressourcen entwickelt haben. Slow Food hat deshalb bereits in den neunziger Jahren zwei grosse Initiativen lanciert: Die Arche des Geschmacks und die Förderkreise, um angesichts der globalisierten Nahrungsmittel-Industrialisierung die Zukunft der lokalen, hochwertigen Agrar- und Lebensmittelproduktion zu sichern. Herausragende gastronomische Produkte, die durch die industrielle Standardisierung, durch die Bedingungen der Grossdistribution mit ihren Hygienevorschriften und durch die Umweltverschmutzung bedroht sind, werden in die symbolische Arche des Geschmacks aufgenommen. Um die Zukunft dieser Produkte zu sichern, werden in einem zweiten Schritt die wirtschaftlichen Massnahmen geplant und umgesetzt, indem ein Förderkreis gegründet wird.

Allen Zielen gemeinsam ist, dass eine lokale und wirtschaftlich nachhaltige Wertschöpfung gesichert oder wieder geschaffen wird. Hier ist die Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop zentral und eröffnet den Produzenten mit dem überregionalen Verkauf ihrer Produkte in Coop-Läden die notwendigen wirtschaftlichen Perspektiven.

Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop 2006 wurde eine Zusammenarbeit zwischen Slow Food Schweiz und Coop vereinbart, um den Aufbau von schweizerischen Förderkreisen und die Vermarktung von schweizerischen und internationalen Förderkreis-Produkten zu ermöglichen. Coop unterstützt Slow Food mit Mitteln aus dem Fonds für Nachhaltigkeit. Die Partnerschaft mit Slow Food ermöglicht Coop, sein Engagement für biologische und traditionelle Vielfalt im Lebensmittelangebot zu verstärken, und bietet den FörderkreisProdukten den notwendigen Absatzmarkt, damit sie zu fairen Bedingungen produziert werden können und erhalten bleiben. Die Förderkreis-Produkte sind in ausgewählten Coop-Läden und in Abhängigkeit von ihrer Verfügbarkeit erhältlich (Liste der Verkaufsstellen siehe www.coop.ch/slowfood).

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Aufbau mit Unterstützung aus dem Coop-Fonds für Nachhaltigkeit:

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Pastefrolle della Valle Bedretto, ein Mürbteiggebäck aus dem Tessin, 2007 Paun sejel Val Müstair/Paarl, ein Roggenbrot aus dem Engadiner Münstertal, 2007 Ur-Roggenbrot aus dem Wallis, 2007 Farina bóna, ein Mehl aus gerösteten Maiskörnern, Tessin, 2008 Zwetschgenlandschaften im Tafeljura, Produkte aus Hochstammzwetschgen, Baselbieter und Fricktaler Jura, 2008. Schweizer Brenzer-Kirsch aus einheimischen dunklen Hochstammkirschen, Regionen Innerschweiz und Baselbiet, 2008 einheimische Dunkle Biene Schweiz, in Zusammenarbeit mit ProSpecieRara, Landrassen-Bienenhonig, schweizweit, 2008 Dörrbohnen aus reinen Schweizer Biobohnen, schweizerisches Mittelland, 2008 Neue Schweizer Förderkreise 2009

√ √

Rohmilchbutter, Butter aus nicht-thermisiertem Rahm, Erhalt des spezialisierten Know-how der Herstellung, schweizweit traditioneller Emmentaler mit Fettsirte hergestellt und über 12 Monate feucht gelagert, Erhalt des Wissens und der Strukturen im Ursprungsgebiet Vacherin fribourgeois aus Rohmilch, Erhalt des Wissens und der Strukturen im Ursprungsgebiet Öl aus gerösteten Baumnüssen, Pflege von Baumnussbeständen und Erhalt des spezialisierten Know-how der Ölmühlen Furmagin da cion, eine Art Paté (Fleischpastete) zur Verwertung von Fleischresten, Erhalt der Rezeptur dieser Puschlaver Spezialität Chantzet, eine schwarze, z.T. geräucherte Winter-Rohwurst (Blutwurst mit Kabis und Schweinefleisch), Pays-d’Enhaut (Waadtland) Toggenburger Ziege, Produkte (Fleisch, Käse) der einheimischen Ziegenrasse, Erhalt des gefährdeten Bestandes, in Zusammenarbeit mit Culinarium Wimmiser Chriesimus, aromatischer Kirschendicksaft, Erhalt der Rezepturen und Pflege der Schweizer Kirschensorte «Die Schöne von Einigen», Region Thunersee

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Foto: Natascha Schiller

√ Slow Food Förderkreise √ Altes Wissen erhalten √ und regionale Wertschöpfung fördern. √ √



Förderkreis

Urschweizerin Dunkle Biene Obwohl seit Jahrtausenden hierzulande heimisch, ist die Dunkle Biene vom Aussterben bedroht. Nun erhält sie Unterstützung im Kampf ums Überleben.

F

rühestens seit der Mensch begann, Honig zu konsumieren, spätestens aber seit der Comicfigur Maja gilt die Biene als arbeitsam und fleissig. Attribute, die auch gerne mit dem Schweizer Volk in Zusammenhang gebracht werden. Im Gegensatz zu letzterem aber hat dies zumindest der in der Schweiz heimischen Bienenrasse namens «Einheimische Dunkle Biene der Schweiz» (Apis mellifera mellifera) nicht viel gebracht. Schlimmer noch: Sie wurde fast ausgerottet. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts holten Bienenzüchter nämlich vermehrt andere Rassen in die Schweiz. Die einheimische Biene wurde zusehends in abgelegene Täler und Regionen verdrängt oder mit den neuen Rassen durchmischt. Diese Kreuzungen erbrachten zu Beginn zwar einen höheren Honigertrag und eine frühere Trachtreife. Aber dann, wenige Generationen später, resultierte daraus ein aggressiveres Verhalten, eine höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Ertragsschwankungen.

robust und anpassungsfähig Was sich über Jahrtausende nachhaltig entwickelt hatte, eine an die natürliche Umgebung angepasste Bienenrasse, drohte innerhalb weniger Jahre zu verschwinden. Seit der letzten Eiszeit ist die Dunkle Biene nördlich der Alpen heimisch. Mit ihrem kompakten Körperbau und ihrer dunklen Panzerfärbung, die Sonnenstrahlen optimal anzieht, passte sie sich dem rauen, unausgewogenen Klima an. Sie fliegt und bestäubt auch bei kühler Witterung, ist robust und kälteresistenter als andere Rassen. Und sie besucht auf ihren Flügen eine Vielzahl von Wild-

und Kulturpflanzen, was deren Fortbestand und einen vielfältigen Honig garantiert. Gründe genug also, die Dunkle Biene zu schützen. Der Kanton Glarus ging mit gutem Beispiel voran. Er verbot 1978 per Landsgemeindebeschluss die Einfuhr von anderen Bienenrassen. So entstand das erste Schweizer Schutzgebiet für die Dunkle Biene. Zusammen mit ProSpecieRara initiierte der Verein Schweizerische Mellifera Bienenfreunde (VSMB) im Prättigau und im Münstertal Schutzgebiete. Ziel ist es, Regionen zu schaffen, in denen ausschliesslich mit der Dunklen Biene geimkert wird.

Dunkle Bienen sichern den Fortbestand von Kultur- und Wildpflanzen Slow Food gründete deshalb den Förderkreis «Einheimische Dunkle Biene der Schweiz», zu dem Imker, VSMB-Mitglieder, Vertreter von ProSpecieRara und Slow Food gehören. Mit der Verkaufsförderung des Honigs der Dunklen Biene setzt sich der Förderkreis dafür ein, dass sich Imker vermehrt entscheiden, in den ursprünglichen Regionen reinrassige Völker der Dunklen Biene zu züchten und zu pflegen und somit deren Fortbestand zu sichern. Die Erreichung dieses Ziels aber ist aufwändig, heikel und fordert von den Imkern eine Eigenschaft, die auch der Biene zugeschrieben wird: Ausdauer. Die Königin paart sich im Flug mit vielen verschiedenen Drohnen – den männlichen Bienen – und dies oft kilometerweit vom Bienenhaus entfernt. In abgelegenen Gebirgstälern, 74

die nur Völker der Dunklen Biene beherbergen, ist damit die Weiterentwicklung der reinrassigen Dunklen Biene gewährleistet. Alle anderen Imker müssen genetisch getestete Königinnen zur Paarung in Bienenhäuser bringen, wo reinrassige Drohnenvölker gezüchtet werden. Diese so genannten Belegstationen liegen in Hochtälern, fernab von anderen Bienenrassen. Nun ist ein Honig erhältlich, der seine Einzigartigkeit nicht nur einer Region oder Pflanze verdankt, sondern auch einer Bienenrasse. Es gibt ihn als Blütenhonig, Blütenhonig cremig oder als Waldhonig, je nachdem, wo und wann die Dunkle Biene auf Nahrungssuche war. Rund 1800 Mal muss sie übrigens ausfliegen und dabei zirka 120 000 Blüten besuchen, um die Menge Honig zu produzieren, die auf ein Butterbrot gestrichen wird. Ein hoher Arbeitseinsatz, der indes Höchstgenuss verheisst. Honig der «Einheimischen Dunklen Biene der Schweiz» kann direkt bei den Produzenten bezogen werden: Ernst Hämmerli, Tel. 032 338 19 23, Werner Walker, Tel. 081 771 39 15 Hanspeter Küng, Tel. 081 723 33 00. Auch in ausgewählten Coop-Filialen ist der Honig als Förderkreis-Produkt erhältlich. www.coop.ch/slowfood

Kontakt

Slow Food Förderkreis-Referent: Raphael Pfarrer, Convivium Bern Champ du Brez 17, 1797 Münchenwiler raphael.pfarrer@slowfood.ch


Imker bei der Arbeit. Das Bienenh채uschen ist die Sammelstelle, in dem die Biene ihren Bl체tennektar deponiert.

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Förderkreis

Brenzerkirsch Die Kultur der Hochstammbäume ist gefährdet – und damit die berühmte Brennkirsche namens Brenzer. Wie die Kirschbäume erhalten werden.

hochstammbäume erhalten Die Produktion des Brenzerkirsches und somit auch die Hochstammbäume sind aber gefährdet. Die 1999 eingeführte Reduktion der Schutzzölle auf importierte Destillate sowie Kirschen und das Angleichen der Steuersätze auf inländischen Kirsch an diejenigen aus dem Ausland liessen den Preis von Brennkirschen bis auf magere 35 Rappen pro Kilogramm purzeln. Die Hochstammproduktion ist aufwändig, und der Preissturz führte zum Teil dazu, dass in schlechten Kirschjahren nicht mehr geerntet wurde. Trotz ihrer qualitativ hochstehenden Brennkirschen werden so die Hochstammbäume laufend durch Niederstammbäume ersetzt, und ein Teil der Kirschen wird aus dem Ausland importiert. Um diesen Prozess zu stoppen, rief Slow Food, zusammen mit

engagierten Kirschproduzenten – den Brennereien Humbel (Stetten/AG), Arnold Dettling (Brunnen/SZ) und der Bauernhofbrennerei Röllin (Baar/ZG) – den Förderkreis Schweizer «Brenzerkirsch» ins Leben. Hauptziel ist es, die für Landschaft, Tier und somit auch Mensch so wichtigen Hochstamm-Kirschbäume zu erhalten und die Qualität und das Image des Kirschs durch den Austausch unter den Produzenten und Brennern zu fördern. Schrittweise soll der Kilopreis von Brennkirschen auf Fr. 1.65 angehoben werden bis zum Jahr 2012, um den Mehraufwand an Zeit und Kosten, den die Kirschbäume fordern, zu decken. Wenn Hermann Röllin, einer der drei Brenner des Förderkreises, von seinen Kirschbäumen und dem Bren-

Die Schweiz hat eine lange Tradition im Brennen von Kirsch nen spricht, spürt man die Leidenschaft fürs Handwerk. Auf seinem Land wachsen 230 Hochstammbäume mit 36 verschiedenen Kirschsorten. Von einzelnen, wie etwa der Brenzerkirsche Ramsler, hat er zum Teil nur noch einen einzigen Baum, den er sorgfältig pflegt. Für das Brennen des Brenzerkirschs braucht es nach Richtlinien des Förderkreises die schwarzen, kleinen bis mittelgrossen Schweizer Hochstamm-Süsskirschen. Der Brenner aus dem Kanton Zug, der seine eigenen Kirschen brennt, zählt einige der Sorten mit markigen Namen auf: Buholzer, Mischler, Zopf, Lauerzer, Tüfebächler, Wölfisteiner oder Dolleseppler. Jede hat ihren eigenen Charakter, ihre eigene Blüte- und 76

Reifezeit. Einige wachsen nur regional, andere zum Teil auch in den übrigen, für den Brenzerkirsch zugelassenen klassischen Kirschanbaugebieten der Kantone Basel-Stadt und -land, Solothurn, Aargau, Luzern und Schwyz. Die Kirschen müssen am Erntetag eingemaischt werden, nach mindestens vierwöchiger Fermentierung heizt Röllin mit Holz ein und bringt die Maische im 180 Liter fassenden Kessel zum Sieden. Aus der dunklen Masse entsteht nach 4 bis 6 Stunden ein Destillat mit 78 Volumenprozent Alkohol. Der Brenner setzt den Kirsch mittels entmineralisiertem Wasser auf eine Trinkstärke von mindestens 40 Volumenprozent und erhält nach dem ganzen geheimnisvollen Prozess etwa 18 Liter Kirsch, der nun mindestens ein Jahr in geschmacksneutralen Behältern wie Glas gelagert werden muss, um seinen Namen zu verdienen. Brenzerkirsch kann direkt bezogen werden bei: Bauernhofbrennerei Röllin, Tel. 041 761 11 59 Humbel Spezialbrennerei Tel. 056 496 50 60, www.humbel.ch Arnold Dettling AG Tel. 041 820 24 24, www.dettling.ch. Auch in ausgewählten Coop-Filialen ist Brenzerkirsch als Förderkreis-Produkt erhältlich. www.coop.ch/slowfood

Kontakt

Slow Food Förderkreis-Referent: Erich Wintsch, Convivium Aargau Am Falter 10, 8966 Oberwil-Lieli wintsch@pro.agri.ch

Fotos: Véronique Hoegger (2)

B

loss ein Buchstabe trennt die Kirsche vom Kirsch. Doch wie viel Wissen, Erfahrung, und Arbeit liegt zwischen der süssen Frucht eines ausladenden HochstammKirschbaumes und dem durchsichtigen, duftenden Klaren! Und natürlich das Feuer, das die zwei unwiderruflich verbindet und dem Ergebnis dieser Metamorphose Namen wie Brand oder Feuerwasser schenkte. Der Kirschenanbau und das Brennen von Kirsch hat in der Schweiz, vor allem in der Nordwest- und in der Innerschweiz, Tradition. Dafür wurden die «Brenzer», Synonym für kleinfruchtige, schwarze Brennkirschen, verwendet. Sie wachsen an Hochstämmern, die bis heute durch alle Jahreszeiten hindurch unsere Landschaft prägen und bestimmten Vogelarten sowie Insekten Lebensraum bieten.


Vom bl端henden Hochstamm-Kirschbaum bis zur Flaschenabf端llung: Die Herstellung von Brenzerkirsch ist pure Alchimie.

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schweiz Erlebnisberichte diverser Regionalgruppen

Weisse Lötschentaler schlagen Blaue Schweden Die Convivien luden zur Härdöpfel-Degustation. Die Gewinner und Verlierer. Text und Foto ursula Hasler

A

uch die Parli mussten eine vernichtende Niederlge einstecken, während die Röseler sich gut halten konnten. Dies ist keine Schlachtenchronik der Alten Eidgenossen, auch kein Bericht aus der Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg. Aber richtig: Es geht um alte Schweizer und um Härdöpfel. Bei der dritten nationalen Degustation der Schweizer Slow Food-Convivien wurden dieses Jahr Härdöpfel bewertet, und zwar alte Schweizer Sorten: Parli, Röseler, 8-Wochen-Nüdeli, Weisse Lötschentaler und eben Blaue Schweden (siehe Kasten). Die Convivien (Slow Food Regionalgruppen) organisierten am gleichen Abend, am 21. Februar 2009, ein Essen mit diesen alten Kartoffelsorten. Ziel war, pro Convivium die beliebteste Härdöpfelsorte einmal als Bratkartoffel, dann als Kartoffelpüree und schliesslich noch als Gschwellti auszuwählen und aus den Ergebnissen den Schweizer Härdöpfel-Liebling zu erküren. Es ging dabei spielerisch um die subjektiven Geschmackserlebnisse der Teilnehmenden. Kartoffelnsorten geschmacklich zu unterscheiden, erwies sich übrigens als eine ziemliche Herausforderung, und noch anspruchsvoller war es, die gespürten Nuancen in

HärdöpfelTavolata im Historischen Museum, angerichtet vom Restaurant Roter Turm in Baden

Worte zu fassen. Uns fehlt tatsächlich eine Kartoffelsprache analog zur Weinsprache (siehe auch S. 26). Jedes Convivium organisierte den Abend auf seine Art: zum Beispiel in Eigenregie, mit hochgekrempelten Ärmeln beim Convivium Säuliamt im Kirchgemeindesaal Wettswil. Ihre grösste Herausforderung war, jeweils die 5 Kartoffelsorten auf 4 Herdplatten gleichzeitig als Gericht inklusive Beilagen aufzutischen. Das Convivium

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Rheinland Weinland hingegen liess sich im Gästehaus zum Adler in Unterstammheim klassisch mit drei Kartoffelgängen verwöhnen. Das Convivium Ostschweiz umrahmte die HärdöpfelDegustation mit Rohmilchbutter, lokalen Fleisch- und Käsevariationen sowie Salaten. Die Teilnehmenden gingen wohl gelaunt, jeder mit einem Säckchen Härdöpfel im Gepäck, nach Hause. Die Teilnehmenden beim Convivium Aargau Solothurn kamen in


den Genuss einer passenderweise gerade stattfindenden Sonderausstellung zum Thema «Härdöpfel – eine Erfolgsgeschichte» im Historischen Museum Baden. Nach der Besichtigung degustierten die 52 Teilnehmenden an einer eindrücklichen 20 Meter langen Tavolata im stimmungsvollen Museumssaal die 5 Kartoffelsorten, jeweils mit passenden Beilagen. Alles generalstabsmässig organisiert, perfekt auf einem Buffet angerichtet und ausgezeichnet gekocht von Slow Food-Mitglied Felix Pente und seinem Team vom Restaurant Roter Turm in Baden.

klare sieger und verlierer Insgesamt 324 Personen aus 13 Convivien degustierten die 5 HärdöpfelSorten. Interessant ist, dass die gesamtschweizerische Rangfolge bei der Zubereitungsart «Püree» und bei «Gschwellti» genau gleich war: Die Weissen Lötschentaler waren beide Male Sieger, knapp gefolgt von den Röseler auf Platz 2 und den 8-WochenNüdeli auf Platz 3. Die Blauen Schweden mussten mit Platz 4 und Parli mit dem Schlusslicht Vorlieb nehmen. Gebraten hingegen brillierten die 8-Wochen-Nüdeli. Die Weissen Lötschentaler folgten auf Platz 2 und die Röseler, mit praktisch gleich viel Punkten, auf Platz 3. Gebraten schmeckten die Parli besser und schafften Platz 4, während die Blauen Schweden auf Platz 5 landeten. Über alle Zubereitungsarten hinweg erhielten die Gesamtsieger Weisse Lötschentaler rund 50 Prozent mehr Punkte als die Verlierer Blaue Schweden und die minim besseren Parli. Die Weissen Lötschentaler scheinen also den modernen Schweizer Geschmack am besten zu treffen – und da unser Geschmack ja bekanntlich konditioniert ist, kommt der Berichterstatterin der leise Verdacht, ob die Weissen Lötschentaler uns wohl an den wohlvertrauten Stocki erinnern …

Sortenvielfalt ProSpecieRara kultiviert alte Schweizer Kartoffelsorten, die heute aus den Verkaufsregalen verschwunden sind. Daraus wurden diese 5 Sorten für das Slow Food-Degustationsspiel ausgewählt:

Parli

Bereits im 19. Jh. zwischen Prättigau und Safiental GR angebaut: tiefe Augen, eher trockenes Fleisch, sehr guter, charakteristischer Geschmack.

Acht-Wochen-Nüdeli

Aus Graubünden: kleine, längliche Knollen mit brauner Haut und weissgelbem Fleisch, bis zu 15 cm lang. Ernte 8 Wochen nach dem Auspflanzen.

Röseler

Eher kleine, eckige Knollen mit vielen, mässig tief liegenden Augen. Dunkelbraune, leicht rötliche Schale. Feines, schmelzendes Fleisch.

Blaue Schweden

Ovale mittelgrosse Knollen mit kaum versenkten Augen. Blaue Schale und blau marmoriertes Fleisch.

Weisse Lötschentaler

Walliser Sorte mit heller Schale und hellem Fleisch. Kurzovale, mittelgrosse Knollen. Eignen sich für den Anbau in höheren Lagen.

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Zürich Unterland, Wein-/Rheinland Von Denise Buchser Hardmeier

Blutwurst, Speck und Chessifleisch Metzgete im Restaurant Buck Liebevoll wurden wir im uralten Riegelhaus «Buck» von der Gastgeberin Frau Rapold empfangen. Hans von «Hans und Wurst», ebenfalls aus Rheinau, hat uns ein paar Details über die Aufzucht, Haltung und Schlacht der Säuli informiert, was uns die Metzgete umso würdiger geniessen liess. Schön war, dass mal nicht Berge von Fleisch daherkamen, sondern je nach Lust und Laune von Blutwurst, Leberwurst, Rippli, Speck, Bratwürsten, Chessifleisch bis zum Schnörrli und Schwänzli alles mit der gewünschten Beilage in einer appetitlichen Grösse bestellt werden konnte. Trotz der grossen Auswahl hatten alle noch etwas Platz für das fantastische Dessertbuffet gefunden, und der wunderbare Schnaps aus Obst von den Bäumen ums Haus hat den krönenden Abschluss gebildet. All dies haben wir mit dem Formular für Metzgete vom «Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste» bewertet – das Resultat liegt zwischen 5 und 6 und lässt darauf schliessen, dass wir diesen Anlass 2009 bestimmt wieder durchführen werden.


schweiz

Basel Von Jürg Ewald

Jubelfeier vom Feinsten 10 Jahre Convivium Basel Ganze 75 Mitglieder aus Basel – Stadt und Land – haben sich am vergangenen 6. November auf Schloss Wildenstein bei Bubendorf im Baselbiet eingefunden, als es darum ging, am Ort der Gründung und auf den Tag genau, das 10-jährige Bestehen des Conviviums Basel zu feiern. Die Bäuerinnen-Vereinigung beider Basel hatte mit einem ausserordentlich reichhaltigen Buffet typisch lokaler Gerichte aus eigenem Boden, eigener Produktion und eigener Küche – mit dem besten Baselbieter Blauburgunder Syydebändel, denn slowfoodischer ginge es gar nicht! – den Anlass zu einem wunderbaren Genuss werden lassen. Der Verfasser dieser Zeilen – damaliger Initiator und bis heute Präsident des Conviviums – konnte seine Freude darüber keineswegs verhehlen, dass sich die Mitgliederzahl (342) des Conviviums in diesen 10 Jahren seit der

Gründung schlicht mehr als verzehnfacht hat. Erfreulich war aber auch die Tatsache, dass von den 32 Gründungsmitgliedern deren 14 am 10-Jahre-Jubiläum anwesend waren. Die Feier abgerundet hat das A-capella-Vokal-Quartett «lalabox» mit passenden Liedern, und die Präsenz von Rafael Pérez und Gattin Brigitte – samt seiner begeisternden Ansprache als Präsident von Slow Food Schweiz – haben den Abend unvergesslich gemacht, so dass wir uns bereits auf das 20-Jahre-Jubiläum freuen.

Ostschweiz Von Michael Higi

Gitzichüechli, Schlipferkäse und Beinwurst Arche-Dinner im Appenzellerhof Beste Werbung für die Slow Food Sache und die Schweizer Arche- und Förderkreisprodukte war der Artikel anlässlich des Arche Dinners im St.Galler Tagblatt. So fanden am 8. November 2008 über 30 Geniesser den Weg in den Appenzellerhof (siehe S. 71) im

appenzellischen Speicher zum ersten Arche-Dinner in der Ostschweiz. Laure und Herbert Sidler bewiesen sich als vorzügliche Gastgeber. Im Mittelpunkt stand das sechsgängige Surprise-Menu aus Arche- und Förderkreis-Produkten der Schweiz. Neben Farina Bona und dem Zincarlin-Käse aus dem Tessin, dem Honig der Dunklen Schweizer Biene (siehe S. 74), dem wunderbaren Öl aus gerösteten Baumnüssen der Huilerie de Sévery, dem Roggenbrot aus Müstair, den Schweizer Dörrbohnen, dem Brenzerkirsch (siehe S. 76) und der unvergleichlichen Churer Beinwurst waren natürlich zwei Ostschweizer Arche-Produkte die Höhepunkte. Ein traditionelles Appenzeller Rezept sind die Gitzichüechli, gesottene Gitzistückli in Teig fritiert. Das Fleisch stammte von der Toggenburger Ziege, einer alten Schweizer Milchziegenrasse, die ohne entsprechenden Schutz in ihrem Bestand gefährdet ist. Der Schlipferkäse ist ein altes Nahrungsmittel der Sennen rund um den Säntis. (siehe S. 66). Eines hat das Arche-Dinner deutlich gezeigt: Die Arche-Produkte mit ihrer Tradition und Geschichte passen ausgezeichnet in eine kreative und moderne Küche. Und ebenso sicher ist: Es war nicht das letzte Arche-Dinner in der Ostschweiz.

Stadt Zürich Von Daniel Kämpf

Lehrreiche Leckerbissen Jubelfeier des Conviviums Basel im Schloss Wildenstein.

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Zürichsee-Fischessen im Seehof Im gemütlichen Restaurant Seehof in Uerikon am Oberen Zürichsee trafen sich rund 20 Fischliebhaber zu einem feinen Zürichsee-Fischessen. Fisch, frisch ab Fang, vom SeehofHausfischer Fritz Hulliger war ange-


kündet, und es wurde nicht zu viel versprochen. Nach der Begrüssung durch Raymond Marti, dem Präsidenten des Conviviums Stadt Zürich, starteten wir zum Apéro mit einem Blanc de Blanc aus Stäfa, danach berichtete uns Herr Hulliger Interessantes von seinem Fang für unser Essen und von seiner Tätigkeit als einer von 22 Zürichsee-Berufsfischern. Das Essen begann mit gebratener Felchenleber auf Nüsslisalat. Ein speziell feiner und seltener Genuss. Als zweite Vorspeise folgte eine Ueriker Fischkügelisuppe aus diversen Weissfischen. Der Hauptgang begeisterte durch eine hausgebeizte Seeforelle an Dillsenfsauce und Mousse von der Forelle mit Toast und Butter. Es folgte eine weitere informative Pause, in der uns Heinzpeter Studer, Fachstellenleiter der Organisation fair-fish.ch, Wissenswertes zum Thema Fisch und dem Umgang mit demselben berichtete. Dann ging es mit gebackenen Eglifilets, hausgemachter Tartarsauce und Salzkartoffeln weiter. Mit pochierten Felchenfilets an einer leichten Rahmsauce, frischen Eierschwämmli und Reis wurden die Fischgänge beendet. Begleitet wurde das Essen von süffigen Weinen der Zürichsee-Region. Rafael Pérez, Präsident von Slow Food Schweiz, der mit seiner Frau Brigitte am Fischessen teilnahm, informierte uns über die Aktivitäten des Vereins und wies uns auch auf die vierte Veranstaltung für nachhaltigen Fischfang, Slow fish (slowfish.it) vom 17. –20. April in Genua hin. Eine Veranstaltung, die von Slow Food und der Region Ligurien organisiert wird – ein grosser internationaler Anlass, der alle zwei Jahre stattfindet, widmet sich ganz und gar der Welt des Fisches mit all seinen Problematiken. Zum Dessert wurde eine feine Tarte von Seehofäpfeln mit Vanilleglace serviert.

Poulardenbrust, gekrönt mit schwarzem Fricktaler Trüffel.

Aargau-Solothurn Von Ursula Hasler

Luxus oder Natur pur? Schweizer Trüffel im Hirschen Der Herbstanlass, unsere traditionelle Herbstlese, war dieses Jahr einer Kostbarkeit gewidmet: dem Trüffel. Dabei wollten wir aber nicht Piemonteser Tartufo-Bianco-Exzessen frönen, sondern etwas erfahren über Schweizer Trüffel. Es gibt den schwarzen Trüffel nämlich auch im Aargauer Jurabereich, weil der Trüffel kalkhaltige Böden liebt, zum Beispiel den Waldrändern entlang zwischen Aarau und Biberstein. Mit einem solchen Thema waren wir bestens aufgehoben bei einem grossen Verfechter des Terroir-Prinzips: bei Albi von Felten in seinem Landgasthof Hirschen in Erlinsbach. So erzählte er zum Beispiel, dass ein einheimischer Gärtner in einem Rosenbeet schwarze «Teerklumpen» fand, wie er zuerst meinte – es waren

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schwarze Trüffel. Und es könne vorkommen, dass nach einem Aarehochwasser Trüffel aus dem erodierten Sand herausschauen. Der Rest, nämlich wo die Profisucher mit ihren Hunden die schwarzen Diamanten finden, blieb natürlich ein Geheimnis. Nachdem der Trüffel-Wissensdurst gestillt war, genossen wir die kulinarische Köstlichkeit mit allen Sinnen in fünf Gängen: ein fein gewürztes Kalbstartar mit weissen Trüffeln, einen eleganten Zwischengang in Form eines Schaumsüppchens aus frischen Steinpilzen, das nach Laub, Nüssen, Rapsöl, Knoblauch und Schalotten duftete, einer im Ofen gebackenen Mägenwiler Poulardenbrust mit Fricktaler Trüffelscheiben unter der Haut und mit einem dunklen Trüffeljus beträufelt. Dazu wurden Griessgnocchi und Herbstgemüse serviert. Der Käsegang setzte sich aus einem Trüffelbrie und dem «Bergfichte»-Käse (Städtlichäsi Lichtensteig) und getrüffeltem Kartoffelstock zusammen. Wir genossen also die Köstlichkeit der Trüffel in einer entsprechenden Ambiance; es wurde aber den einen oder andern auch bewusst, wie sehr unser Geschmack schon von dominierenden künstlichen Trüffelaromen, die man heute in vielen Produkten findet, verdorben ist und wie viel zurückhaltender und feiner das natürliche Trüffelaroma ist. Einen ausführlichen Bericht über diesen und andere Anlässe von Slow Food Aargau-Solothurn finden Sie im Blog von Walter Hess http://www.textatelier.com/index. php?id=996&blognr=2741


Adressen und Termine der Regionalgruppen

schweiz Termine Convivien 2009

Adressen der Convivien CV Aargau / Solothurn Giuseppe Domeniconi / Ursula Hasler Im Roggebode 2 5400 Baden Tel 056 222 89 15 Fax 056 222 89 14 slowfood-aargau(at) hispeed.ch CV Basel Stadt und Land Jürg Ewald Ziefnerstrasse 28 4424 Arboldswil Tel 061 931 20 12 Fax 061 933 90 70 juerg.ewald(at)slowfood.ch CV Bern Raphael Pfarrer Champ du Brez 39 1797 Villars-les Moines Mob 078 614 29 27 raphael.pfarrer(at)slowfood.ch CV Bündner Herrschaft Rainer Riedi Poststrasse 22 7000 Chur Tel 081 252 29 59 Fax 081 252 29 54 info(at)slowfood-grischa.ch www.slowfood-grischa.ch

Aargau-Solothurn CV Ostschweiz Michael Higi Rüti 621 9036 Grub Tel 071 891 54 16 michael.higi(at)slowfoodost.ch info(at)slowfood-ost.ch www.slowfood-ost.ch CV Pays de Vaud Sekretariat Bern Tel 031 311 82 21 info(at)slowfood.ch

CV Zürcher Oberland Markus Baumgartner Zelglisteig 2 8127 Forch Tel 044 391 38 24 Fax 044 391 61 00 markus.baumgartner(at) slowfood.ch CV Zürcher Unterland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at)slowfood.ch

CV Säuliamt Kurt & Yvonne Schmutz Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil CV Zürich linkes Seeufer Tel 044 700 32 07 Kurt & Yvonne Schmutz Fax 044 700 32 07 k.schmutz(at)printcolor.ch Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil Tel 044 700 32 07 CV Ticino Fax 044 700 32 07 Luca Cavadini k.schmutz(at)printcolor.ch 6837 Bruzella Tel 091 684 18 16 CV Zürich Stadt slowfoodticino(at)blueRaymond Marti win.ch Schaffhauserstrasse 315 www.slowfood-ticino.ch 8050 Zürich Tel 044 318 80 00 CV Wallis - Valais Mob 079 401 50 29 Christophe Pritschke raymond.marti(at)slowRoute de Rionda 10 food.ch 3968 Veyras Tel 031 311 82 21 chprit(at)netplus.ch

CV Engadin Jürgen Schnaithmann Hotel Chesa Alpina 7516 Maloja Tel 081 824 31 12 Fax 081 24 35 41 chesaalpina.maloja(at) bluewin.ch

CV Weinland/Rheinland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at)slowfood.ch

CV Léman Jean-Noël Blanchon 14, rue Champ Blanchod 1228 Plan-les-Ouates Tel 022 794 78 10 info(at)slowfood-geneve.ch www.slowfood-geneve.ch

CV Zentralschweiz Simon Meyer Ried 9 6182 Escholzmatt Tel 041 485 00 44 simon.meyer(at)slowfood.ch

13. 5. Geschmackswerkstatt Brote und Butterarten 6. 6. Kulinarische Stadtwanderung in Bremgarten September Reiche Ernte – Dörren oder Trocknen? 21. 10. Geschmackswerkstatt Sbrinz und Aargauer Weissweine 21. 11. Einheimische Oele und Ölmühlen Bern

Ostschweiz 7. 5. Geschmackswerkstatt 21. 6. Besuch bei Hans Gmünder, Produzent Schlipferkäse (Archeprodukt) auf der Alp Spitzigstein beim Seealpsee AI 29. 8. Hopfenernte in der Kartause Ittingen TG 19. 9. St. Galler Genusstag: Treffen mit den Convivien Bodensee (D), Allgäu (D) und Vorarlberg (A) 7. 11. Arche Dinner Säuliamt und linkes Zürichseeufer

17. 5. 24.–26. 4. Bienen – Besuch Reise nach Süddeutsch- beim Imker land (Vorstand und inter19. 9. essierte Mitglieder) Traditionelle 16. 5. Männerchochete Jubiläumsfeier 15 Jahre 13. 11. Slow Food Bern im Restaurant Auberge des Whisky – Wasser des Lebens Clefs in Lugnorre 6. oder 20. 6. Spargelstechen in Kallnach

Stadt Zürich

4. 7. Honig

Jeden 2. Mittwoch im Monat Gschmackstreff im Tezet Oerlikon

22. 8. 6. Balade gourmande de Berne

27. 4. Themenabend rund um die Kakaobohne

21. 10. Geschmackslaboratorium zum Thema Förderkreis Produkte

13. 6. Beeren im Garten und Gaumen

12.12. Wohltätiges Weihnachtsessen

1. 9. Artischocken 9. 10.–12.10. Gourmessa Zürich

Bitte beachten Sie auf jeden Fall die aktuellen Termine der Convivien-Anlässe auf der Slow Food-Website www.slowfood.ch

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international Rückschau auf die Terra Madre und den Salone del Gusto 08

Fotoserie von Gianluca Canè: Teilnehmer an der Terra Madre 08 in Turin.

Kommentar

über die diesjährige Terra Madre und die wichtigsten Anliegen weltweit.

Der dritte Kongress der Lebensmittelbündnisse Terra Madre

Zeit zu handeln

Menschen aus allen Teilen der Welt suchen nach Lösungen, um die Lebensmittelkrise zu bewältigen. von roger staub

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ie dritte Terra Madre fand vom 23. bis 27. Oktober 2008 parallel zum Salone del Gusto in Turin statt und war nicht nur ideell, sondern auch organisatorisch eine Herausforderung. Das Welttreffen vereinte für vier Tage über 1000 Lebensmittelbündnisse, rund 1000 Köche, 400 Dozenten und 5000 Bauern, Fischer, Handwerker und

(neu!) 1000 junge Menschen, um gemeinsam in Vorträgen, Workshops und Gesprächen zu beraten, wie weltweit eine Produktion und Verarbeitung von qualitativ hochwertigen Erzeugnissen gefördert werden kann, welche die Umweltressourcen, geschmacklichen Aspekte, die Würde der Arbeiter und die Gesundheit der Verbraucher achtet. (www.terramadre.info)

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Der 3. Kongress von Terra Madre stand ganz im Zeichen der Finanzkrise. In seiner Rede anlässlich der Schlussveranstaltung gebrauchte Carlo Petrini deutliche Worte: «Diese Form von Wirtschaft hat das Vertrauen der Menschen verloren.» Ein Grund mehr also, die materiellen Bedürfnisse der Klein- und Co-Produzenten (sprich Konsumenten) wieder in den Vordergrund zu rücken. Ein Anliegen, das Slow Food und Terra Madre schon lange verfolgen. Nach dem «Manifest zur Zukunft des Saatguts 2006» erhebt Terra Madre mit dem jüngsten «Manifest zum Klimawandel und zur Zukunft der Ernährungssicherheit» nun den Anspruch, auf der Grundlage weltweit organisierter Kleinbauern in diesen – weitgehend den Politikern und Regierungsorganisationen überlassenen – Fragen aktiver mitzureden. Carlo Petrini gebraucht den Begriff «Dritte industrielle Revolution», welche – will die Menschheit ihren Bedarf und ihre Bedürfnisse auf Dauer decken – auf erneuerbare Energie setzt, vorab auf Sonne und Photo-


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international

synthese. Ein Bauer – so Petrini – sei ein Meister nachhaltiger Produktion, weil er auf alternative und erneuerbare Ressourcen baue und selbst in Zeiten ökonomischer und ökologischer Krisen sich noch zu helfen wisse. Das grosse Thema der nahen Zukunft – hierin sind sich Beobachter unterschiedlichster Herkunft einig – wird die globale Ernährung sein. Die jüngste Finanzkrise hängt wesentlich mit der industriellen und auf Gentechnik setzenden Nahrungsmittelproduktion zusammen. Und die Erkenntnis wächst, dass eine dauerhafte Lebensmittelversorgung nur mit einer regional verwurzelten, nachhaltigen und sozialverträglichen Herstellung erreicht werden kann, wie sie die Kleinerzeuger seit Jahrhunderten leisten. Slow Food und Terra Madre, welche die Kleinbauern weltweit fördern und vernetzen, sind zu Institutionen herangewachsen, an denen – nicht nur in Italien – niemand mehr vorbeikommt, der ernsthaft an einer Verbesserung der Nahrungsmittel vom Anbau über die Herstellung bis hin zur Gastronomie interessiert ist. Schön, dass der Genuss dabei im Mittelpunkt bleibt, er hat etwas Anarchisches und garantiert in Verbindung mit den Kleinbauern auch, dass man bei aller theoretischen Sorgfalt und wissenschaftlichen Analyse nicht vom Weg abkommt.

Spezialitäten aus aller Welt locken: Der Salone del Gusto in Turin ist ein Fest für die Sinne.

Salone del Gusto 08 in Turin

Stockfisch und Sehnsucht Die Norweger haben kulinarisch Überraschendes zu bieten. Und als Menschen viel Herzlichkeit. von roger staub

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m Salone del Gusto findet man immer etwas zu essen – zahlreiche Regionen und Länder führen während der Ausstellung ein Restaurant und servieren ihre Köstlichkeiten. Wir versuchten es bei den Norwegern, deren kühl-warme Bilder auf dem Flachbildschirm und die Speisekarte uns angesprochen hatten. Zur Vorspeise assen wir Stockfisch und Kaviar (interessanterweise auf Ei serviert), danach Rentierfilet mit Kartoffeln und getrockneten Erbsen. Ein Dessert bestand aus Quark mit Heidelbeeren. Für uns Gemüse- und Salatverwöhnte sicher ein Wagnis – doch wir wurden geschmacklich durch diese exotische Abwechslung

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reichlich entschädigt. Wirte und Personal stammten aus Sørøya (engl. Sorvaer), eine Insel weit im Norden der Finnmark. Sie sind mit den ebenfalls angereisten Fischern und Verarbeitern des Stockfischs eng verbunden und strahlen eine kühle Freundlichkeit aus. Wenn man sich die Mühe nimmt, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, über ihre Heimat, ihre kulinarischen Vorlieben, ja auch über ihr Zeitgefühl, das von ewigen Tagen und Nächten geprägt ist, kann man Sehnsucht nach dieser Fremdheit bekommen. Die Norweger waren hervorragende Seefahrer und Eroberer. Die Kellnerin erinnert uns daran, dass sie immer


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Slow Food on Film wir selten gehört. Auch die Kellnerin, die bereits einige Jahre in Washington gelebt und gearbeitet hatte, zog es wieder zurück auf die kleine – für unsere Begriffe karge – Nordinsel. Auf die wechselnden Lichtverhältnisse – im Winter ewige Nacht und im Sommer ewiger Tag – möchte sie nicht zu lange verzichten. Sie sei ein Nachtmensch, und deshalb habe es ihr nie etwas ausgemacht, wenn die Tage ewig dauerten. Als Jugendliche hätten sie so das Gefühl von Freiheit entwickelt – das versteht man als Mitteleuropäer schnell, denn es dürfte für Eltern schwierig sein, Jugendliche bei Tageslicht ins Bett zu schicken. Unsere Nordnorweger haben ein ganz anderes Raum- und Zeitgefühl, und es wäre eine spannende Sache, zu erforschen, wie sich ein solches Verständnis auf das Gemüt und auf andere Bereiche des kulturellen Daseins – etwa den Geschmacksinn - auswirken. Infos: www.hasvik.com grosszügigen Handel betrieben hätten – sie waren auf den Tausch angewiesen, sie brauchten und brauchen Getreide, Gewürze, Gemüse und Früchte und bieten dafür etwa ihren Stockfisch an. Also assen sie selber gar keinen Stockfisch, sondern exportierten ihn, um dafür die nötigen Devisen zu bekommen und sich die Dinge zu beschaffen, die sie brauchten. Der getrocknete Stockfisch aus Sørøya ist übrigens rar, weil das Handwerk des Trocknens fast in Vergessenheit geraten ist. Es braucht nämlich ein geschultes Auge, um festzustellen, welcher Fisch sich dafür eignet. Das kann keine Maschine ersetzen, wie man sie auf industriellen Fangbooten findet. Deshalb bleibt er eine in Geschichte und Geografie gut verankerte Kostbarkeit, was unseren Genuss zusätzlich beflügelt hat. Ob er sich vorstellen könne, in der Fremde zu leben, fragten wir den etwas scheuen und jungen Kellner – so ein leidenschaftlich funkelndes «no» haben

Salone del Gusto 08 Der siebte Salone del Gusto vom 23. bis 27. 10. 08 zog gegen 200 000 Besucher an. Auf einer Fläche von rund 18 000 m2 boten über 400 Aussteller hochwertige Produkte zur Verköstigung an. Fast noch einmal so viel Fläche stand für Gastrobetriebe und Geschmackslaboratorien zur Verfügung. Vermutlich ist der Salone del Gusto die grösste kulinarische Bildungsinstitution, die den «Ko-Produzenten»,nämlich uns Konsumenten, zu Bewusstsein bringt, was gute, saubere und faire Produkte sind. Der Salone del Gusto findet alle zwei Jahre statt, der nächste also im Oktober 2010. Alternierend organisiert Slow Food jedes zweite Jahr die Messe Slow Fish in Genua und den grössten Käsemarkt Chees in Bra: Slow Fish: 17. bis 20. 4. 09 Chees: 18. bis 21. 9. 09.

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Genuss auf Zelluloid Das Essen steht im Zentrum des Foodund Filmfestivals.

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anfang Mai bietet Bologna Genüsse für Gaumen und Augen: Das internationale Foodund Filmfestival lockt wieder und damit kulinarische Köstlichkeiten, kombiniert mit Kino vom Feinsten. Unterstützt von Slow Food und der Cineteca, hat sich die Veranstaltung weltweit etabliert. Während fünf Tagen werden Filme, Videos, Dokumentationen und TV-Serien gezeigt, die sich der Motivation, Perversion, Identität und den Emotionen des Essens widmen. Ebenso stehen die Auswirkungen von Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie auf die Umwelt und Gesellschaft im Fokus des Anlasses. Um die doch recht happige Themenwelt aufzulockern respektive auch die schönen Seiten des Essens aufzuzeigen, erwarten Gabel- und andere Sinnesfreuden die Gäste. Slow Food on Film Internationales Food- und Filmfestival Bologna, 6. bis 10. Mai 09 www.slowfoodonfilm.com


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Mit der Inkanuss schön und gesund werden Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO unterstützt den umweltgerechten Anbau der peruanischen Inka-Nuss. Handel und Export blühen. von Richard Bauer

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ief im peruanischen Hinterland, in der Gegend von San Martín, herrscht Goldgräberstimmung. Doch nicht edle Metalle, sondern die Nüsse einer geheimnisvollen Pflanze aus dem Quellgebiet des Amazonas beflügeln die Fantasie. «Mit dem Säbel in der Hand verteidigt hier jeder seine Vorräte», sagt Fulvio Leguia, ein Agraringenieur, der mit dem Notenbündel in der Hand den Bauern ihre Ernte abkauft. Die Rede ist von der erst vor wenigen Jahren für den Weltmarkt entdeckten Inkanuss, der Sacha Inchi. Als er 1 noch studiert habe, sei die Pflanze nur Botanikern ein Begriff gewesen, sagt Leguia. Man habe wenig über die Qualitäten des Pflanzenöls gewusst. Heute sei die Nachfrage gigantisch. «Die halbe Welt will dank Sacha Inchi schöner und gesünder werden.» Davon ist auch Alejandro Roca von der Firma Roda in Lima überzeugt, wo nach eigenen Angaben ein Drittel des Sacha Inchi-Öls gepresst wird. Bei Roda hat man das Öl auf seine Wirksubstanzen hin untersuchen lassen. Der Befund: 48% Omega 3, 35% Omega 6 sowie 9% Omega 9. Diese mehrfach ungesättigten Fette machen das Besondere des Öls aus, das Preise gewonnen hat, und zu den besten Speiseölen der Welt zählt. Vor allem der Hauptbestandteil, das Omega 3, kommt in der Natur selten in so hoher Konzentration vor und wird von Kardiologen und Ernährungswissenschaftlern gelobt. Dass mit der Inkanuss Geld zu machen ist, hat sich bei der armen Landbevölkerung am Fuss der Anden

bald einmal herum gesprochen. «Sacha Inchi ist wie Erdöl – die Preise steigen über Nacht», freut sich Alberto Amacifen, einer der Pioniere in San Martín. Seit er auf einer hektargrossen Parzelle Sacha Inchi für den Markt produziert, hat sich das jährliche Einkommen der Familie verdoppelt. Noch setzt der kluge Bauer nicht alles auf eine Karte: Auf kleinen Äckern pflanzt er weiterhin Bohnen, Papaya, Mais und Bananen, die traditionellen Produkte der Region. Denn unvergessen sind die Zeiten, als zu Beginn des Booms die Absatzkanäle verstopft waren und die Bauern auf den Nüssen sitzen blieben. Innerhalb des letzten Jahres hat sich der Kilopreis für ungeschälte Nüsse verdoppelt. Für ihn sei die Beschaffung zum Albtraum geworden, sagt Ingenieur Leguia. Ihn drängen die Chefs im 88

Die Inka-Nuss gilt als Vorzeigestück einer Wertschöpfungskette fernen Lima, mehr und mehr zu liefern, weil längst die Nachfrage das Angebot übersteigt. Die Firma Roda, bei der Leguia angestellt ist, schätzt, dass 2007 in Peru insgesamt 60 000 Liter Öl aus Sacha Inchi gepresst wurden. Innerhalb von zwei Jahren hat sich damit die Jahresproduktion verzehnfacht. Laut der offiziellen Exportstatistk Perus wurde 2007 Öl im Wert von 360.000 US Dollar ausgeführt. Das ist eine Verdoppelung der Exporte im Vergleich zum Vorjahr. Seit Urzeiten wächst Sacha Inchi (Plukenetia volubilis) wie Unkraut in


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Der Inka-Nuss-Boom führt zu bescheidenem Wohlstand. Ernte, Verarbeitung und Handel schaffen Arbeit und Einkommen. Sacha Inchi stammt aus dem AmazonasTiefland Perus und wird nachhaltig bewirtschaftet.

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den Wäldern des oberen Einzugsgebiet des Amazonas. Einheimische meinen, dass die Inkanuss nicht Sacha Inchi heisse, sondern «sacha inchik», denn in Quechua bdeutet «inchik» Nuss und «sacha» (ausgesprochen «satscha») steht für Wald, Waldnuss also. Sacha Inchi gilt heute als Vorzeigestück einer Wertschöpfungskette, die biologische Reserven eines Entwicklungslandes wie Peru in Wert setzt, um diese zu schützen. «Artenschutz und fairer Handel gehen hier Hand in Hand», sagt Biologe Ulrich Röttger, der im Auftrag der GTZ das Projekt «Perúbiodiverso» betreut. Dieses setzt auf sanfte, umweltgerechte Nutzung der fragilen Ökosysteme. Man untersuchte 120 einheimische Gewächse, bevor 5 für den Handel und den Export geeignete Sorten zur Förderung ausgewählt wurden, darunter die Inka-Nuss. «Um nicht bei Null anzufangen, hielten wir Ausschau nach Produkten mit Exportpotenzial, in der Regel mit bereits bestehenden Märkten», sagt Röttger. Finanziert wird das 4 Millionen Dollar schwere Vorhaben zur Hälfte vom Staatssekretariat für Wirtschaft

(SECO) – der staatlichen Schweizer Organisation für wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit –, sowie zu je einem Viertel von nationalen Institutionen wie Promperu, der für Exportund Tourismusförderung zuständigen Agentur der peruanischen Regierung, CONCYTEC, der nationalen Institution der Agrarforschung, der Umweltbehörde CONAM und der GTZ mit Geldern des Bundesentwicklungsministeriums. Gearbeitet wird an der Entwicklung der jeweiligen Wertschöpfungsketten vom Produzenten in Peru bis zum Konsumenten in Europa, Asien oder Amerika. Pate steht die 1996 mit Unterstützung der Schweiz lancierte Bio-Trade-Initiative der Uno-Komission für Handel und Entwicklung (UNCTAD). Die Biotrade-Initiative hilft, Handelsbarrieren für Entwicklungsländer – etwa die Novel Food Regulation der EU – abzubauen. Richard Bauer war bis vor kurzem Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Latein amerika. Heute schreibt er für die NZZ aus Genf. 89

Nützliche Links www.seco-cooperation.ch Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Ressort Handelsförderung www.biotrade.org Biotrade Initiative der UNCTAD www.uebt.ch Union for Ethical Biotrade, Dachverband von Biodiversitätsexporteuren www.biocomercioperu.org SECO/GTZ-Programm Biodiversitätshandel Peru www.osec.ch/internet/osec/de/ home/import.html Swiss Import Promotion Programme SIPPO Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an: Hans-Peter Egler (SECO) Tel. 031 324 07 99 Mail: hans-peter.egler@seco.admin.ch


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as Magazin slow.ch ist nicht am Kiosk erhältlich, als Kunde oder Gast bekommen Sie von einem Restaurant oder Geschäft, das Slow Food unterstützt, ein Exemplar geschenkt. Die Mitglieder von Slow Food Schweiz erhalten slow.ch gratis. Wollen Sie sich regelmässig ein Exemplar sichern, dann lösen Sie ein Abonnement, oder werden Sie Mitglied bei Slow Food! Mit einem Abonnement oder noch besser mit einer Mitgliedschaft unterstützen Sie unseren Einsatz für gute, saubere und faire Lebensmittel, nämlich für geschmackvolle, qualitativ hochstehende und mit Respekt für die Erhaltung der Artenvielfalt und Ressourcen hergestellte Produkte.

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Slow.ch erscheint 2 x pro Jahr, im Herbst und im Frühjahr, umfasst ca. 90 S. und enthält ab Ausgabe 2 ein Special Slow Food Genussregion. Darin wird eine Gegend in der Schweiz aus der Perspektive Slow Food näher vorgestellt: alte Bräuche im Zusammenhang mit Essen, Legenden, kulturhistorische Wanderungen, Restaurants, Hotels, Produktionsbetriebe und lokale Spezialitäten.

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Vorschau die nächste Ausgabe von slow.ch erscheint im oktober 2009

Der Markt bestimmt, was wir essen. Welche Chancen und Gefahren die Globalisierung der Nahrungsmittel birgt. Warum es lokale Märkte für regionale Genüsse braucht. Und wie das Netzwerk von Slow Food funktioniert. Genussregion greyerzerland – Pays-D’ENHAUT ganz slow: Brauchtum und Legenden rund ums Essen. Wander- und Ausflugtipps. Hotels, Restaurants, Produktionsbetriebe mit Slow Food-Philosophie. slow food-mitglieder empfehlen sich Hirschen – das kleine Genuss-Refugium

Verschiedenste Genuss-Projekte laufen seit Jahren mit regionalen Produzenten. Die daraus entstandenen feinen Spezialitäten können Sie als «Speuzerli» (Tapas) probieren. Im Sommer lädt der Garten zur Entdeckungsreise ein. Spazieren Sie an üppig duftenden Geranien und der Ölwerkstatt vorbei in den Themen-Kräutergarten und schlendern Sie von dem mit Ölpflanzen bewachsenen Hochbeetgarten zurück in das gepflegte Gartenrestaurant. Übrigens: Auf unserer Homepage finden Sie interessante Genuss- und KulturEvents, z. B. Daten von Kinder-Kochkursen. Landhotel Hirschen Albi von Felten Hauptstrasse 125 5015 Erlinsbach/ Aarau 062 857 33 33 www.hirschenerlinsbach.ch

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Schwungvoll, kreativ und herzlich: ein Restaurant mit sozialem Auftrag. Seit genau 10 Jahren erfüllt der Rote Turm viele Zwecke: Zum einen ist er ein Ort für Speis und Trank mit Fokus auf eine ausgewogene Ernährung, auch fleischlos, und eine abwechslungsreiche, saisonale und fantasievolle Küche. Zum andern bietet er als Arbeitsplatz ein Lernfeld für leistungsbeeinträchtigte Menschen. Intensiv betreut, aber in einem marktwirtschaftlichen Betrieb, werden sie ins normale Berufsleben zurückgeführt. Trägerin ist die Stiftung Pegasus für die Eingliederung psychisch behinderter Menschen, Aargau. Restaurant Roter Turm Rathausgasse 5, 5400 Baden 056 222 85 25 postmaster@restaurant-roterturm.ch www.restaurant-roterturm.ch Mo–Sa 9–24 h So auf Wunsch

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Einer der renommiertesten Weinproduzenten Süditaliens ist die CANTINA di VENOSA. 1957 von 27 Weinbauern gegründet, zählt das Unternehmen heute 500 Mitglieder und ist somit der grösste Verarbeiter von Aglianico-Trauben im Vulture-Gebiet (Basilicata). Neben dem Carato Venusto, ein Aglianico del Vulture mit DOC-Herkunftsbezeichnung, bietet die Cantina di Venosa eine breit gefächerte Auswahl weiterer hochwertiger Weine an, darunter den Madrigale di Gesualdo und den Terre di Orazio, beide ebenfalls Aglianico del Vulture DOC. mehr unter www.cantinadivenosa.it


Der Walliser Bergkäse von Albert Andereggen aus dem Goms ist nur eines von vielen auserlesenen und authentischen Produkten aus den Schweizer Bergen. Mit jedem Kauf fliesst ein Beitrag an die Coop Patenschaft für Berggebiete. Diese unterstützt die Pflege Schweizer Kulturlandschaften und verbessert die Existenzgrundlage unserer Bergbauern. So können Sie sicher sein, ein echtes Bergprodukt in Ihren Händen zu halten – auch morgen noch. Für unsere Berge. Für unsere Bauern.


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