slow.ch 1/2008

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Das Magazin von Slow food Schweiz Suisse Svizzera Svizra

#1 / 2008 Fr. 18.20

slow

.ch

ISBN 978-3-9523472-0-1

Zeichnung von Mario Cseh, 10 Jahre

Zu TISCH bitte

Ist unsere Esskultur ein Auslaufmodell?


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

N

och ein NachhaltigkeitsMagazin auf einem bereits übersättigten «grünen» Medienmarkt? Nein – wir wollen mit slow.ch etwas anderes. Nämlich im Konkreten zeigen, was die internationale Slow FoodBewegung schon seit 20 Jahren bewegt: Essen ist ein politischer Akt! Bis eine Mahlzeit auf den Tisch kommt, hat der Konsument oder die Köchin einige Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen getroffen, angefangen vom Verkaufsort, Distributionskanal, Transportweg über Verpackungsmaterial, Herstellungsart bis schliesslich zum Umgang mit Produzenten und Ressourcen. Geschmackvolles, sauber und ressourcenschonend produziertes und somit gesundes Essen ist in unserer globalisierten und industrialisierten Welt eine hochkomplexe Sache geworden. Es betrifft die Wirtschaft, Politik, Technologie, Medizin, Biologie, Psychologie, Kultur, Kulinarik und und und … Unser Magazin slow.ch widmet sich in jeder Ausgabe einem Schwerpunktthema aus der Sicht von Slow Food. So legt Der Tisch, unser erstes Thema, den Fokus auf gesellschaftliche und kulturelle Aspekte des Essens, während in unserer nächsten Ausgabe zum Thema Der Geschmack kulinarische und wissenschaftliche Erkenntnisse vorgestellt oder in der übernächsten Aus- gabe zum Thema Der Markt – die Märkte politische und wirtschaftliche Fragen zum Essen aufgeworfen werden, das auf unseren Tisch kommt. Der Tisch, Möbelstück und als Tafel die wortwörtliche Grundlage unserer europäischen Esskultur, ist der perfekte Auftakt für die erste Ausgabe von slow.ch. Denn: «Alles, was gross ist, geschieht bei Tische. Das Paradies ging bei Tisch e

verloren, Monarchien und Regenten entstanden und gingen unter bei Tafel; alle Ehen werden im Himmel und bei Tische geschlossen. Jemanden zu Tische bitten, ist die feinste Art zu bestechen; hat man den Revisionskommissairen nur einmal zu essen gegeben, ist das Spiel gewonnen. Bei Tische kommt der Mensch seinem natürlichen Zustande näher. Der Vornehme sieht, dass er hier mit dem Geringeren gleichen Appetit hat; da er mit ihm aus einer Schüssel isst, aus einer Flasche trinkt, fängt er an, ihn für seines Gleichen zu halten. Alle Herzenssachen gehören vor einen weissbedeckten und mit Essen und Trinken besetzten Tisch.» Diese Erkenntnis hatte Theodor Gottlieb Hippel (1741–1796), Jurist, Stadtpräsident im preussischen Königsberg, sozialkritischer Aufklärer und Freund von Immanuel Kant, vor rund 250 Jahren. Ist der Tisch als Symbol unserer Esskultur heute ein Auslaufmodell? Das neue Magazin slow.ch ist ein Projekt, das nur dank eines hochmotivierten Teams in 4 Monaten realisiert werden konnte – allen voran danke ich der Chefredaktorin Stephanie Riedi, ehemals Journalistin bei SonntagsZeitung, Facts, Saisonküche, für die kompetente Umsetzung der visionären Ideen in ein professionelles journalistisches Magazin mit Hand und Fuss – und Kopf und Herz! Dem Art Director Adrian Hablützel danken wir für die genuss- und lustvolle Visualisierung der slow.ch-Ideen und natürlich allen Mitgliedern der Redaktion sowie dem journalistischen Beirat für die anregenden Inputs. Es ist angerichtet! Ursula Hasler Editions Slow Food Suisse


Inhalt

Standpunkt Gastrotrends ....................................................................... h Hors D’œuvre News ................................................................................. j Kolumne Nahrungskette .......................................................................... bc erlesenes Buchtipps .............................................................................. be spurensuche Porzellan ........................................................................... bg

thema – Der Tisch soziologie Ist unsere Esskultur ein Auslaufmodell? ........................... warenkorb Hilfe und Selbsthilfe ........................................................... Kindermund Mittagstisch – Pro und Contra ........................................... ideen-tavolata Zu Tisch mit Thom Held ............................................. Tafelkultur Mahlzeit mit Musse .......................................................... essen ohne tisch Vom Picknick ............................................................ glosse Die Freuden des Picknicks ........................................................ historie Tafelgeschichte(n) .................................................................... Kunstbetrachtung Gestern und heute: Der Tisch in der Kunst ......... gastrosophie Ein Königreich für eine Tafelrunde ............................... Dekoration Das Auge isst mit ................................................................ wein Die Revanche der Tafelweine ....................................................... Meinung Nahrungsmittelkrise ................................................................

bi ci da di ee eg fc fe fg ga gc ge gh

im zeichen der schnecke Förderkreise Philosophie und Produkte .............................................. g} brauchtum Das Geheimnis der Baumnuss ........................................... he Special 20 Jahre Convivium Tessin: Rückblick / Kongress in Cadro / Carlo Petrini im Interview / Produkte ............... Convivien Was war, was kommt .............................................................. partner ProSpecieRara über Alpgitzi ..................................................

Impressum Herausgeber: Verein Slow Food Schweiz Suisse Svizzera Svizra, Kornhausplatz 11, 3001 Bern, info@slowfood.ch Verlag: Editions Slow Food Suisse Sarl; verantwortlich: Ursula Hasler, editions@slowfood.ch Redaktion: Stephanie Riedi (Leitung), redaktion@slowfood.ch Art Direction: artdepartment Adrian Hablützel, artdepartment@ggaweb.ch Texte: Jost Auf der Maur, Maja Baumgartner, Markus Baumgartner, Jean-Noël Blanchon, Patricia Briel, Denise Buchser Hardmeier, Luca Cavadini, Jürg Ewald, Ursula Hasler, Walter Hess, Michael Higi, Catrin Hofstetter, Paul Imhof, Andreas Morel, Rafael Pérez, Simona Picco, Maja Peter, Frédéric Rein, Stephanie Riedi, Giorgio Romano, Thomas Schenk, Roger Staub, Flavio Turolla, Thomas Widmer, Véronique Zbinden Mitarbeit: Caroline Hösli Laportosa, Iris Reichlin, Donald Journalistischer Beirat: Jost auf der Maur, Paul Imhof, Karin Messerli Korrektorat: Alex Hansen Übersetzungen: Textcetera Translations, Texalysis SA traductions Bildredaktion: Monika Polyvas Bild Editing Bildbearbeitung: Max Sommer Anzeigen: Susanne Schützelhofer, anzeigen@slowfood.ch Abonnement: Fr. 35.– jährlich, 2 Ausgaben, Slow Food-Mitglieder erhalten das Magazin gratis; Abonnement bestellen www.slowfood.ch Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Datenträger. Slow.ch darf nur mit Genehmigung des Verlags in Lesezirkeln geführt werden. © Editions Slow Food Suisse Sarl

ISBN 978-3-9523472-0-1

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28.8.2008

11:43 Uhr

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ESSKULTUR HEISST, SICH ZEIT NEHMEN ZUM GENIESSEN…

Eine überzeugende Botschaft:

Klimaneutrale Drucksachen Klimaneutrale Druckerzeugnisse sind eine Chance. In der Kommunikation eine vorbildliche Botschaft. Aber auch ein Zeichen für Innovation und Engagement. Und klimaneutrale Druckerzeugnisse sind glaubwürdig. Dieses Magazin wird klimaneutral gedruckt. Setzen auch Sie für Ihr Unternehmen deutliche Zeichen – unterstützen Sie den freiwilligen Klimaschutz – lassen Sie klimaneutral drucken!

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standpunkt

Rafael Pérez,

Präsident von Slow Food Schweiz

Tradition versus Innovation in der Gastronomie?

Z

Es gibt Worte, die so lange missbraucht werden, bis sie zu leeren Hülsen werden. Dem Wort «traditionell» droht eine solche Zukunft.

urzeit findet in der Spitzengastrono-

erinnere sich an die verblassende Nouvelle

mie eine hitzige Diskussion um die

Cuisine –, sondern in der Qualität und

neuesten Entwicklungen am Koch-

Herkunft der Produkte, in der Ausbildung und

herd statt: der so genannte Krieg der Köche.

im Handwerk der Köchinnen und Köche und

Die Rede ist von der Molekularküche, vertreten

nicht zuletzt in der Leidenschaft, mit der sie

durch den zum besten Koch der Welt erkorenen

ihren Beruf ausüben.

Ferran Adrià. Diese Küche wurde vernichtend kritisiert vom 6-Michelin-Sterne-Koch (doch,

die Molekularküche stattfindet, sind die

zwei mal drei) Santi Santamaria, der zu den

Menükarten namhafter Schweizer Restaurants

Vertretern der traditionellen mediterranen

mit Poulet aus Brasilien, Crevetten aus Vietnam

Küche zählt.

und Lamm aus Neuseeland bestückt. Und noch

Dies erinnert mich an den bizarren Disput

schlimmer: Jeden Mittag füttern sich unzählige

um den Einsatz von Barriques beim Ausbau

Schweizerinnen und Schweizer einhändig mit

von Barolo-Weinen in den frühen neunziger

bedenklichem Fast- und Convenience-Food (die

Jahren. Jene Auseinandersetzung wurde zu

zweite Hand benötigen sie zum Telefonieren).

einem Glaubenskrieg, der Familien spaltete und

Illustration: grafilu.ch

Denn während die Auseinandersetzung um

Uns geht es um eine verantwortungsvolle

alte Freunde verfeindete. Am Schluss stellte

Küche, welche die lokale und saisonale Pro-

sich heraus, dass ein erstklassiger Barolo sowohl

duktion fördert, die Natur und die Artenvielfalt

in traditionellen grossen Holzfässern als auch

schützt und ein würdiges Leben der Produzen-

in kleinen französischen Barriques möglich ist.

ten und Produzentinnen auf der ganzen Welt

Die Qualität wird eben nicht nur von einer,

sichert. Uns geht es um Genuss und Verantwor-

sondern von vielen Entscheidungen bestimmt,

tung. Der Kreativität aber wollen wir keine

die durch das Wissen und die Leidenschaft

Grenzen setzen.

der Menschen getroffen werden.

Keine Tradition also? Doch. Wir setzen uns

Soll sich nun Slow Food für eine traditionelle

auch für die Tradition ein. Dabei halte ich

oder für eine innovative Küche einsetzen? Ich

mich immer an die Worte von Gustav Mahler:

denke, dass die Zukunft der Gastronomie nicht

Tradition ist nicht Anbetung der Asche, sondern

in einer bestimmten Stilrichtung liegt – man

Erhaltung des Feuers.

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Kulinarische Schätze. Slow Food und Kuoni organisieren gemeinsam Reisen, bei welchen Förderkreise in der Schweiz und im nahen Ausland besucht werden. Kommen Sie beispielsweise mit auf unsere Reise in den Golf von Neapel! Unter der kompetenten Führung von Slow Food entdecken Sie Unbekanntes und Überraschendes aus der Welt des lokalen, genussvol-

len Essens. Sie haben die einmalige Gelegenheit, Fischer beim Fang von Sardellen zu begleiten, Sie lernen die Spezialitäten des Cilento aus erster Hand kennen und bekommen einen interessanten Einblick in den Herstellungsprozess des Büffelmozarellas. Entdecken Sie mit uns das unverfälschte Italien!

Foto: Karsten Jipp · www.photocase.de

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hors d’Œuvre

Bio-News

D

ie Anzahl der Schweizer Biobetriebe nahm in den letzten beiden Jahren um 3,4% ab, vermeldet das Bundesamt für Statistik (BFS). Vor allem kleinere Höfe gingen ein. Laut Markus Arbenz, Bio-Suisse-Geschäftsführer, hätte sich dieser Trend schon 2004/ 2005 abgezeichnet. Ins- gesamt sei die Fläche für Bio-Landwirtschaft jedoch gewachsen. Fundierte Infos bietet die Schweizer Bio-Plattform www.bionetz.ch

Authentizität

verkauft sich gut. Doch der Trendbegriff gerät allmählich zur Leerformel.

«Ich war am Salone del Gusto in Turin sowie an der Aktion Terra Madre – ein faszinierendes Erlebnis. Das ist echte Avantgarde!» Ferran Adrià, weltbester Koch und Mitglied von Slow Food.

Freudenspender

K

äse macht glücklich, und ein Ticket zum Träumen ist er auch. Das jedenfalls vermerken zwei neue britische Studien. Die erste erklärt die Aminosäure Tryptophan im Käse zum Glücksboten, da sie im Körper in Serotonin, das Happy-Hormon schlechthin, umgewandelt wird. Die zweite bescheinigt vor allem Schimmelkäse wie Stilton eine leicht psychotrope Wirkung.

Auflösung von Seite 11: Heinrich Heine

Fotos: Martina Meier, Keystone

N

ach der grossen grünen Welle drohe die grosse grüne Verwirrung, heisst es im Trendradar 2.08 des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI). Alle wollen Authentizität. Bloss: «Was so viele Bedeutungen aufweist, hat bald gar keine mehr», sagt Ceo David Bosshart. «Wir erleben eine Fetischisierung des ‹real thing›.» Authentizität sei wie die Begriffe ‹nachhaltig›, ‹echt› oder ‹unverfälscht› zur Lieblingsfloskel vifer Verkäufer mutiert und sei deshalb so nichtssagend wie die Verbindung zwischen ‹fake› und ‹real› zu ‹real fake› oder ‹fake real›, protokolliert der Bericht. Einen Lichtschimmer ortet er jedoch: «Konsum ist, wie der Soziologe Max Weber festgestellt hat, ein Prozess der Sinngebung. Heute bewegen wir uns von einer Konsumkultur des Habens zu einer des Seins.» Demnach kaufen wir künftig, was unserem Selbstbild entspricht.

j


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HOrs d’Œuvre

Aktuell

ProSpecieRara-Produkte, die im Oktober/ November Saison haben.

Nahrung

nährt nur als Matrix. Ihre Inhaltsstoffe lassen sich nicht isoliert durch Pillen ersetzen.

Fotos: Martina Meier, Keystone

F

ast täglich verteufeln Ernährungsapostel irgendwelche Inhaltsstoffe von Lebensmitteln, um sie wenig später zu rehabilitieren. Man denke bloss an die Cholesterin-Debatte. Gekoppelt sind solche Botschaften meist mit Empfehlungen für Nahrungsmittelergänzungspräparate, die im Westen denn auch zum Milliardengeschäft avanciert sind. Doch damit scheints nun gottlob vorbei zu sein: «Es ist ein Irrtum, Lebensmittel nur als Summe einzelner Nährstoffe zu betrachten», sagt David Jacobs, Epidemiologe an der US-University of Minnesota. Verschiedene neue Studien zeigen nämlich, dass die Inhaltsstoffe der Nahrungsmittel Wechselwirkungen eingehen – zunächst in der Produkt-Matrix selber, später auch im menschlichen Organismus. Eine Substanz, die von ihrer Matrix getrennt wird, verhält sich anders als in ihrem natürlichen Zusammenhang. «Iss Nahrung, nicht Nährstoffe!», empfiehlt deshalb Jacobs.

Hungerleider

B

ienen finden den Nektar nicht mehr; die Luftverschmutzung dämpft den Blumenduft. Dies das Fazit einer Untersuchung der Universität Virginia im amerikanischen Charlottesville. Früher hätte der Blütenduft die Insekten über eine Distanz von bis zu 1200 Metern angelockt. Heute seien es noch 300 Meter. Vom Hungertod sind auch Schmetterlinge betroffen.

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Tomate Black Cherry Aubergine Rotonda bianca sfumata di rosa Tomatenpaprika farbige Hornpeperoni Stangenbohne Berner Butter Roter Mangold Bodenkohlrabi Küttiger Rüebli Rübeli Jaune Longue du Doubs Kartoffel Blaue Schweden Kartoffel Parli Kartoffel 8-Wochen-Nüdeli Rande Chioggia Pastinake Halblange Apfel Goldparmäne Apfel Berner Rose Apfel Sauergrauech Apfel Danziger Kant

Saisontabelle: www.coop.ch/prospecierara/ ausprobieren/gemuese-de.htm

Wohl dem, der es verdauen kann.

Wen zitiert die Schnecke? Auflösung Seite 9.

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kolumne

hatte. Jahre müssen verstrichen sein. Zwar gibt es Zuchthimbeeren in Hülle und Fülle, sie sind

Paul Imhof

wie Erdbeeren zum Vierjahreszeiten-Dauerbren-

Redaktor beim Tages-Anzeiger

ner geworden und wie diese ziemlich feist und klinisch sauber – doch so richtig naturgewollt wollen mir die Turbofrüchte nicht erscheinen. Wie so viele andere Früchte und Gemüse

Das Huhn und die Himbeere

I

fleckenloser Schönheit so natürlich präsentieren wie Hollywoodschauspielerinnen nach dem

n einem prächtigen Wald spazierte ich an

Besuch bei Coiffeur und Zahnarzt. Da kommt

ein paar Himbeersträuchern vorbei, und

man schon ein bisschen ins Grübeln, schliesslich

wie das so geht, wenn die Verlockung in

müssen alle essen – wo kämen wir hin, wenn die

Griffnähe sitzt, pflückte ich eine schöne rote,

Fliegen nichts mehr zu fressen fänden, hungern

pralle Beere. Ich bewunderte sie ausgiebig, roch

und am Ende aussterben würden? Wie viele

daran und wollte sie schon zum Mund führen, als andere Tiere hätten am Verlust der Fliegen zu ich ein kleines helles Würmchen entdeckte, das

beissen? Womit sie ersetzen? Welche anderen

eilig Position bezog. Es wand sich, rollte und

Insekten böten sich an? Die Nahrungskette

kurvte, wie sich das gehört für so ein schlankes

hätte eine böse Lücke erhalten.

Tierchen ohne Beine und Arme, und ich hatte

Wie, zum Beispiel, würden Hühner damit

den Eindruck, dass es mir signalisierte, ja kein

zurechtkommen? Ich will ja nicht behaupten,

Jota von seiner Eroberung preisgeben zu wollen.

dass Hühner den ganzen Tag Maden erschar­ren

Das Würmchen hatte leichtes Spiel – mir war nicht nach Maden-Sashimi. Erst recht nicht von

und Fliegen picken, aber verschmähen würden sie die Insekten gewiss nicht, und auf Umwegen

der Larve der Fruchtfliege, über die ich einmal in landen ohnehin Tausende in ihren Mägen – in Grzimeks Tierleben gelesen hatte: «Ihre weiss-

Form von Fliegenfressern, grösseren Insekten,

gelben, sehr lebhaften Maden (Körperlänge 8

die zur Hühnerspeise geworden sind.

mm) verwandeln das Fruchtfleisch in eine braune

Die Hühner würden bald Mangelerscheinun-

Brühe. Sie krümmen sich auf glatter Unterlage

gen aufweisen, die Eier gerieten immer kleiner,

bogenförmig ein und springen dann mit schnal-

die Pouletbrüstchen glichen jenen von Wachteln,

zendem Geräusch etwa zehn Zentimeter hoch

und wir wären bald wieder dort, wo alles seinen

und etwa doppelt so weit.» Eine kuriose Vorstel-

Anfang genommen hat: der Monsterfrucht, dem

lung, wies da im Gaumen hüpft und schnalzt!

Riesenputer, der vor lauter Muskelbepackung

Nach meiner Kapitulation versuchte ich die

wie ein Medizinball aussieht und weder gehen

Himbeere wieder auf den Stängelstöpsel zu

noch besteigen kann, und dem Schwein mit

stecken, von dem ich sie gezupft hatte, und mich

14 Rippen. Dem Punkt, wo nachgebessert wird,

zu erinnern, wann überhaupt ich letztmals eine

auch wenn alles seinen Sinn und seine Ordnung

wild gewachsene Himbeere mit Wurm gesehen

hat – aber nicht jedem Wunsch genügt.

bc

Illustrationen: grafilu.ch (Portrait), Lorenz Meier

Wo kämen wir hin, wenn die Fliegen nichts mehr zu fressen fänden, hungern und am Ende aussterben würden?

auch, die sich mit leuchtenden Farben in



erlesenes

Welsche Topfwonnen

Der Zürcher Autor Martin Weiss würdigt im dritten Urchuchi-Band die Romandie und das Wallis.

Auf dem Feuer geschmorter Braten Loup Blanc.

Genussreiche Westschweiz

D

ie grüne Fee alias Absinth kennt jeder, zumindest dem Namen nach. Der Wermut, seit März 2005 in der Schweiz wieder legalisiert und damit rehabilitiert, hat seine Provenienz im Val de Travers und ist vermutlich der einzige Exportschlager lukullischer Prägung, der den Jura ein bisschen berühmt gemacht hat. Andere Delikatessen wie der Zwetschgenschnaps Damassine oder die Saucisse d’Ajoie gerieten aus dem Fokus der Geniesser oder wurden gar nie anvisiert. «Der jüngste Kanton der Schweiz ist kulinarisch noch weitgehend Terra incognita», sagt Martin Weiss. Der Zürcher Autor und Dokumentarfilmer muss es wissen. Zwei Jahre hat er jenseits des «Rideau de Rösti» recherchiert, von den Alpentälern des Goms bis zu den Gestaden des Lac Léman, vom Vallée de Joux bis zum hintersten Zipfel im Jura. Das Ergebnis präsentiert

er jetzt im dritten und letzten Band der UrchuchiTriologie «Romandie und Wallis». Nach der Deutschschweiz im ersten Kompendium und dem Tessin im zweiten hat Weiss nun also das kulinarische Erbe der Westschweiz aufgearbeitet. Und wie! Bei der Lektüre entfaltet sich ein Bilderbogen archaischer und zeitgemäss umgesetzter Genüsse, der faszinierend, ja, geradezu speicheltreibend ist. Abseits von touristischen Trampelpfaden gilt es, Beizen und Produzenten zu entdecken, die auf Authentizität und Nachhaltigkeit setzen – zwei Modewörter zwar, die bei den Porträtierten jedoch vollumfänglich Gültigkeit haben. Im Vordergrund steht bei allen das Lokale, Saisonale; Köstlichkeiten eben, die im Einklang mit der Natur gezaubert werden. Weiss führt in seinen Urchuchi-Werken denn auch eine «Bataille», eine lustvolle Kampfansage an die Bequemkost respektive den geschmacklosen Einheitsbrei modernistischer Lebensmitteldesigner.

raffiniert wie ein uhrwerk Auch etablierte Küchenkoryphäen kommen zu Wort. So findet sich im Jura-Kapitel ein Interview mit Georges Wenger, dem Vordenker der jurassischen Terroir-Philosophie, der in Le Noirmont eine edle, von der Region inspirierte Kochkunst pflegt. Über die urwüchsigen Delikatessen seiner Heimat sagt Wenger: «Wir befinden uns hier etwas am Rande der Schweiz. Dadurch konnten sich die Dinge in Ruhe entwickeln.» Die Leute seien früher zwar sehr arm gewesen, hätten aber immer schon einen höchst anspruchsvollen Zugang zum Essen gehabt. «Die Jurassier sind Gourmets! Wenn etwas auf den Tisch kommt, dann muss es so raffiniert sein wie ein Uhrwerk.» Stephanie Riedi

Martin Weiss: Urchuchi Romandie und Wallis, Rotpunkt, S. 440 Fr. 68.– ISBN 3-85869-339-6

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bewegendes profil Geoff Andrews: The Slow Food Story

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kostspieliger genuss Erwin Wagenhofer, Max Annas: We feed the World

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risaner Lesestoff, der einem den Appetit vergällt: Die Autoren dokumentieren die Hintergründe einer scheinbar im Dienste der Konsumenten global operierenden Lebensmittelindustrie, die aber längst zur Vernichtungsmaschinerie verkommen ist – statt zu nähren, beutet sie Menschen aus, Naturressourcen, Eigentum und Wissen. «Was die Welt wirklich kostet», so der Unteritel der erschütternden Lektüre, ist ein pickelharter Bericht, der, mit Zahlen untermauert, sowohl die Misere als auch die Zusammenhänge aufzuzeigen versucht. Orange Press, 192 S., Fr. 35.90.–, ISBN 3-9360-8626-3

er amerikanische Akademiker und Autor Geoff Andrews porträtiert und dokumentiert die Slow Food-Bewegung seit ihrem Beginn vor über 20 Jahren. Akribisch listet er die gesellschaftspolitischen Inputs auf, die Slow Food in Sachen Kulinarik bewirkt und weltweit berühmt gemacht haben, wie etwa die Geschmacksförderung an Schulen, der Kampf um Biodiversität sowie das stetig wachsende Netz lokaler Produzenten. Mcgill Queens Univ Pr, 224 S., ca. Fr. 23.–, ISBN 077-3-53478-4

Verbotene Früchte Taras Grescoe: Verteufelt gut

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in Jahr lang reiste der kanadische Autor rund um den Erdball auf der Suche nach gesetzlich verbotenen Genüssen.

So probierte er in Frankreich etwa den Rohmilchkäse Époisses, der als Urheber von Listeriose gilt und dessen Export heute strikt verboten ist. Ebenso delektierte er sich in Spanien an Stierhoden-Ragout und in Bolivien an Cocablättertee. Grescoe hat aber auch die Geschichte der «verbotenen Früchte» recherchiert respektive Sinn und Unsinn solcher Prohibitionen. Karl Blessing Verlag, 450 S., Fr. 39.90, ISBN 3-89667-346-6

anregender FLEISCHKLOSS Josh Ozersky: The Hamburger, a History

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ndy Warhol liess sich von ihm inspirieren. Ebenso Robert Crumb: Der Hamburger gilt vor allem in den USA als «amerikanische Ikone», zuweilen gar als «Waffe des kulturellen Imperialismus». Nun skizziert der Gastrokritiker des «New York Magazine» die Biografie des berühmt-berüchtigten Fleischklosses, der sozusagen das Zeitalter des Fastund Fingerfoods begründet hat.

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Allerdings schildert Ozersky auch, wie sein Leibgericht von der Industrie vereinnahmt und sukzessive verhunzt worden ist. Richard Henderson Verlag, 184 S., ca. Fr. 53.–, ISBN 0300-14449-0

königliche nüsse Erica Bänziger: Das goldene Buch der Baumnuss

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euer feiern die Deutschen das Jahr der Baumnuss. Die offizielle Ernennung zur «Frucht des Jahres 2008» (die Baumnuss ist botanisch gesehen nämlich gar keine Nuss) soll dazu beitragen, dass die imposanten Bäume wieder vermehrt Beachtung finden, damit sie nicht ganz aus der Landschaft verschwinden. Slow.ch berichtet auf S. 74 über einen Tessiner Trunk, der den schmackhaften Kernen auf wundersame Art zur Ehre gereicht. Fona Verlag, 128 S., Fr. 34.–, ISBN 3-03780-213-7


soziologie

Gemeinsame Mahlzeit am Tisch – eine Utopie des 21. Jahrhunderts? Von Frédéric Rein Fotos Nathalie Bissig

Der Tisch ist aus der modernen Wohnung nicht wegzudenken. Oder doch? Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann beobachtet im Buch «La famille à table» Überraschendes. Ausgewählte Häppchen einer durchwegs köstlichen Lektüre, serviert mit Bildern alltäglicher Tischszenen aus der Nachbarschaft.

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G

emeinsame Mahlzeiten am Tisch – eine Utopie des 21. Jahrhundert oder eine wertvolle Tradition einer nicht allzu fernen Vergangenheit? Hat das berühmte «Zu Tisch, bitte!» überhaupt noch eine Daseinsberechtigung in unserer Gesellschaft? Die Familie von heute hat sich weit von ihren Wurzeln entfernt, wie der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann konstatiert: «Sie ist nicht mehr die wichtige, stabile Institution, die Traditionen vermittelt.» Sie habe sich, so der Experte, zu einem Instrument gewandelt, das die einzelnen Familienmitglieder zu ihrer individuellen oder gemeinsamen Glücksfindung einsetzten. Distanzierung oder Annäherung zwischen Personen veränderten die Bedeutung des Raumes fortwährend. «Deshalb müssen sich unsere Wohnräume und die Möbel, die ihnen ihre Identität verleihen, an neue Lebensgewohnheiten anpassen können, bei denen die Improvisation mehr Regel denn Ausnahme ist.» Egal, wo er sich befindet, ob im Esszimmer, in der Küche, im Wohnzimmer oder im Garten, und auch wenn es



soziologie sich dabei um ein Tablett handelt (die individualistischste Ausprägung): Der Esstisch ist ein aufschlussreiches Beispiel dieser (R)Evolution. Seit der Renaissance gilt er als Möbelstück und präsentiert sich den Umständen entsprechend mal sorgfältig gedeckt für den Empfang von Gästen, mal schlicht für einen einfachen Snack.

mysteriöse komplexität Dank dieser Nutzungspalette gibt es den Tisch in verschiedenen Ausprägungen. Trotzdem «bewahrt er in jeder Familie einen eigenen Stil; die Familie entscheidet sich für einen Mittelweg zwischen guten Manieren und Nachgiebigkeit, zwischen Disziplin und Ungezwungenheit», wie Kaufmann feststellt. Er hat die Tischgewohnheiten in verschiedenen Haushaltsformen unter die Lupe genommen, beispielsweise die Tischrituale einer Wohngemeinschaft, einer Single-Frau, einer Grossfamilie und eines jungen Paares. «WG-Bewohner, Singles und junge Paare beginnen bewusst mit der grösstmöglichen Improvisation. Danach stellen sich Gewohnheiten ein.» Die Gewohnheiten sind meist eine Mischung aus Traditionen, die nicht in der Vergangenheit stecken geblieben sind, sondern sich weiterentwickelt haben. So gehören denn auch die guten Manieren des 19. Jahrhunderts heute noch – und wieder mehr – zur modernen Lebenskunst. Man versucht etwa, nicht mit vollem Mund zu sprechen, den Rücken gerade zu halten, und die Gabel liegt wie eh und je auf der linken Seite des Tellers. «Alles kann eben nicht über den Haufen geworfen werden, sonst rüttelt man am Fundament der Mahlzeit selbst», erläutert Kaufmann. Jeder bastle sich seine eigenen Rituale, die sich irgendwo zwischen allzu strenger Ordnung und unbekümmerter Informalität bewegten. Für die Kinder sei dies wie ein Spiel; ein Spiel allerdings, das sie bereits den Ernst des Lebens spüren liesse – durch die mysteriöse Komplexität des Benehmens der Erwachsenen. Die Zeiten mögen sich geändert haben,

doch der Tisch behält seine einzigartige gemeinschaftstiftende Funktion – im Gegensatz zum Kühlschrank, der die Individualisierung verkörpert. «In unserer Welt, die mental erschöpfend und aggressiv geworden ist», sagt Kaufmann, «will das moderne Individuum in eine wohltuende Geborgenheit eintauchen. Ein heisses Bad oder Musikgenuss. Nichts reicht jedoch an die Gruppe heran, die mit ihrer Intimität und Wärme eine beständigere Art von Geborgenheit vermittelt. Darum ist die gemeinsame Mahlzeit ein so privilegierter Moment.»

Eine Tischrunde zu organisieren, ist heute ein schwieriges Unterfangen Ein Privileg, das erst mal verdient sein will. Zum einen ebnet unsere Gesellschaft schon seit vielen Jahren einer «McDonaldisierung» der Essgewohnheiten den Weg. «Die Zukunft gehört unbestritten dem Fastfood», so Kaufmann. «Wir wollen selbst entscheiden, wie, wo und wann wir essen.» Und dies, obschon man durch übertriebene individuelle Freiheit einsam an der Theke enden kann. Zum anderen erweist sich eine gemeinsame Mahlzeit am Tisch als ein schier unmögliches Unterfangen, so sehr scheint unser Leben in den Sog beruflicher und privater Hektik geraten zu sein. Schon die Jüngsten haben einen randvollen Terminkalender und rennen vom Klavierunterricht zum Judotraining.

rollenspiel bei tisch Gerade weil gemeinsame Mahlzeiten einen solchen Seltenheitswert bekommen, «erhalten sie grössere Bedeutung», erklärt der Soziologe. «Erschallt der Ruf <Zu Tisch!>, so wissen wir, dass wir unsere Beschäftigung unterbrechen und uns an den Tisch setzen müssen. Nun kann das Kammerspiel beginnen. Da gibt es den ewig Späten, den Moralisierenden, den Spassvogel … jeder findet seine Rolle und entdeckt seine Möglichkeiten und seinen Charakter ca

Seite 19/21 Gemeinsam tafeln: Mitglieder der Aussenwohngruppe, Alterszenrum Neumarkt, Winterthur.

Seite 22/23 Zusammen kochen und speisen: Sandro Domeniconi und Isabelle Peyer, Zürich.





soziologie im Austausch mit den anderen.» Für Jean-Claude Kaufmann ist es jedoch von grösster Wichtigkeit, den Esstisch nicht zum Verhandlungstisch verkommen zu lassen und die heiteren Momente nicht harschen Diskussionen und kritischen Äusserungen zu opfern. «Das ist der schlimmste Fehler, den Familien machen können. Der gemeinsame Augenblick am Tisch ist zu wertvoll, als dass man ihn aufs Spiel setzen sollte.» Das Herz der Gruppe liege in diesem Synkretismus, der Nichtigkeiten zu einem grossartigen Werk vereint: dem Zusammensein. Über das Essen zu sprechen, gehöre auch zur gemeinsamen Geschichte, zur kurzen Geschichte des Gerichts, das vielleicht kürzlich anders zubereitet worden sei oder das demnächst an einem besonderen Anlass aufgetischt werde und zur langen Geschichte des kollektiven Familiengedächtnisses gehöre. «So vermag ein einfacher Rhabarberkuchen Erinnerungen an die Grossmutter zu wecken. Die Familie schweisst sich durch die Mahlzeit von innen her zusammen.» Durch das gemeinsame Essen am Tisch kann die Familie also ihre Werte und Regeln von einer Generation an die nächste weitergeben und den sozialen Kontakt fördern. Und dies sogar im 21. Jahrhundert!

Ein Tanz um den Tisch «Am Tisch essen ist ein Tanz!», sagt Soziologe Kaufmann. Ein Ballett mit einer Choreografie, die Bewegungen harmonisch kombiniert – exakte und unbeholfene, vereinbarte und improvisierte. «Die Zeiten, in denen sich die Tischgesellschaft damit begnügt hat, die ‹Füsse unter den Tisch zu stellen›, sind längst vorbei. Wir essen auch mit unseren Füssen; unser Körper ist ständig in Bewegung. Und jeder Handgriff hat seine Bedeutung: Man nimmt sich etwas zu essen oder zeigt durch Gesten, was man empfindet.» Es beginnt mit dem Tischdecken, das je nach Stimmung und Kreativität variiert. «Früher war das Tischtuch ein Zeichen für die Zugehörigkeit zur oberen Gesellschaftsschicht. Auch war sei-

ne Verwendung eine willkommene Abwechslung im eintönigen Alltag. Heute ist alles weniger eindeutig; einfache Tischdecken kaschieren Armut, während bei schön gedeckten Tischen das Tischtuch weggelassen wird, um das Material des Möbelstücks ins beste Licht zu rücken», fügt Kaufmann an. Diese moderne, künstlerische Unschärfe zeigt sich auch am Ende der Mahlzeit: «Lange ist es her, seit die Kinder um Erlaubnis bitten mussten, den Tisch verlassen zu dürfen. Schon beim Nachtisch läuft heute alles weniger harmonisch ab – ausser vielleicht, wenn eine

Über das Essen, ein Gericht, zu sprechen, gehört zur gemeinsamen Geschichte Speise nach traditionellem Familienrezept aufgetischt wird – und ein Kontrast zur sitzenden Einheit und Verbundenheit während des Essens entsteht. Die Mahlzeit hat kein klares Ende, genau wie die heutigen Filme und Romane. Dabei ist jegliche Nostalgie fehl am Platz, denn so spielt auch das heutige Leben: unbeständig, da vielfältig, zukunftsorientiert, individuell. Ist der Hauptgang abgeräumt, scheinen alle wie von einem Zwang befreit. Langsam leert sich der Tisch: offensichtliches Zeichen, dass die Mahlzeit trotz fehlendem Abschluss nun beendet ist.» Ein Walzer im Dreivierteltakt also, der zwischen zwei lebhaften Phasen (Tisch decken und abräumen) eine langsamere, ruhigere Kadenz enthält. Frédéric Rein ist freier Journalist Seite rechts

Zum Lesen Familles à table Jean-Claude Kaufmann, Editions Armand Colin, 2007, 192 Seiten. Jean-Claude Kaufmann beobachtet sieben Tischgesellschaften respektive -situationen. Das äusserst originelle sozialwissenschaftliche Werk räumt auch Fotos Platz ein, da sie das Verständnis erleichtern und verschiedene Lesarten zulassen – viel besser als wortreiche Ausführungen. Eine äusserst bekömmliche Lektüre. ce

Frühstücken am Tisch und Zeitung lesen: Ein Ritual, das Christa Löpfe, Zürich, nicht missen möchte.

Seite 26/27 Familientisch: Rafael und Andrea Pfarrer mit Sohn Nicola, Münchenwiler BE.





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Tischlein, deck dich

Am gedeckten Tisch zu sitzen, ist auch in der Schweiz nicht selbstverständlich. Eine Non-Profit-Organisation verköstigt Menschen in finanzieller Not.

D

as Grimm’sche Märchen «Tischlein, deck dich», konfrontiert den Leser mit allem, was eine Wohlstandsgesellschaft ausmacht: Der Überfluss, der die hinterhältige Ziege zum Lügen verlockt. Der Traum vom Schlaraffenland in Form eines Tisches, der sich selbst deckt. Die Gier, die den Wirt zum Raub des Tischleins verleitet. Die Scham des Gastgebers, als der vom Wirt ausgetauschte Tisch die Gäste nicht zu verpflegen vermag. Die Grosszügigkeit eines Lehrmeisters, der seinen Lehrling mit einem Tisch beschenkt, der sich selber deckt. In der Schweizer Realität spielen Coop, Howeg, Prodega, die ErnstGöhner-Stiftung und rund 400 andere Unternehmen aus der Lebensmittel-

branche die Rolle wohltätiger Gönner. Sie unterstützen den unabhängigen Verein Tischlein deck dich mit 832 Tonnen Lebensmitteln jährlich sowie in Form von Sponsoring. Die Lebensmittel, die wöchentlich von rund 8800 Menschen in finanzieller Not an 58 Ausgabestellen in allen Landesteilen der Schweiz abgeholt werden können, stammen mehrheitlich aus der Überproduktion. Aber auch Produkte mit leicht lädierter oder

Vor allem Frauen schämen sich, in ihrer Not Hilfe in Anspruch zu nehmen ci

veralteter Verpackung und Frischwaren kurz vor dem Verfalldatum werden an Hungernde verteilt. Womit deckt sich der Tisch armer Menschen? «Das ist jedes Mal anders», sagt Caroline Schneider, Mediensprecherin von Tischlein deck dich. «Von Gemüse, Salat und Früchten über Reis und Teigwaren bis hin zu Tiefkühlprodukten, Sprüngli-Truffes, Lachs und speziellen Pilzen durften wir schon alles abgeben.» Damit ihre Kundinnen und Kunden von der Dienstleistung profitieren können, müssen sie bei einer Sozialfachstelle wie zum Beispiel der Heilsarmee, Pro Senectute oder auf den Sozialämtern des jeweiligen Domizils eine Bezugskarte beantragen. Damit

Foto: akg-images

Von Maja Peter


steht ihnen der Weg frei, bei Tischlein deck dich einzukaufen. In Begleitung eines der 765 freiwilligen Helfer werden sie durch die Auslage geführt und können eine Tragtasche mit Lebensmitteln ihrer Wahl füllen. Je grösser der Haushalt, desto mehr darf eingepackt werden. Der Andrang bei den Ausgabestellen ist zum Teil so gross, dass nicht mehr alle, die bezugsberechtigt wären, eine Lebensmittelkarte bekommen. Das ist etwa in Basel der Fall; aber auch in Freiburg musste der Verein notgedrungen die Ausgabe der Karten kurzfristig stoppen. Auch sonst können sich Menschen mit schmalem Budget nicht ausschliesslich auf die Lebensmittellieferungen von Tischlein deck dich verlassen. Das Angebot ist nicht immer gleich gross, und häufig ist es auch nicht ausgewogen. Im Sommer herrsche eher Flaute, sagt Sprecherin Caroline Schneider. «Wir sind auf weitere Unterstützung angewiesen. Wünschenswert wäre, wenn noch mehr Lebensmittelfirmen bei Überproduktion und Überbeständen an uns dächten.» Anderseits beantragen längst nicht alle, die das Recht dazu hätten, eine Lebensmittelkarte von Tischlein deck dich. Scham, so zeigt die Erfahrung von Schneider und Mitstreitern, stellt dabei das grösste Hindernis dar. So beziehen denn auch gewisse Kunden ihre Lebensmittel im Nachbarort, um nicht dabei gesehen zu werden. Sprecherin Schneider: «Vor allem Schweizerinnen legen lieber ein paar Kilometer zurück, als zu ihrer Armut zu stehen.»

Aufruf an die Konsumenten! Für die «Freeganer» (aus englisch

von Frédéric Rein

E

«free» für «umsonst» und «Veganer»

ine riesige Menge an Lebens-

für «jemand, der keine Tierprodukte

mitteln fällt täglich unserer

verzehrt») sind unsere Mülleimer ein

Konsumgesellschaft zum

Gratiskonsumparadies. Diese militan-

Opfer. Laut einer Studie einer privaten

ten Globalisierungsgegner – die übri-

britischen Umweltorganisation werfen

gens nicht unbedingt vegan leben – ho-

die Untertanen Ihrer Majestät ein

len sich ihre Lebensmittel (und andere

Drittel der gekauften Nahrungsmittel

Bedarfsartikel) aus den Abfalleimern

weg. Dies entspricht mehr als einer

von Supermärkten und Restaurants.

Million ungeöffneter Jogurtbecher und

Weitere Initiativen der 2002 in

5500 ganzen Poulets pro Tag – bzw.

Manhattan (New York) gegründeten

einem Wert von dreizehn Milliarden

Bewegung sind das «Guerilla Garde-

Euro pro Jahr. Der gleiche Trend lässt

ning», bei dem ungenutzte Flächen in

sich in den USA beobachten, wo

Städten besetzt und mit Gemüse

gemäss dem amerikanischen Landwirt-

bepflanzt werden, oder das «Regifting»

schaftsdepartement 40% bis 50% der

das Weiterschenken von Waren, für die

produzierten Lebensmittel gar nie

man selbst keine Verwendung hat.

konsumiert werden.

Handelt es sich bei diesen Leuten um

Das ist die traurige Realität in un-

Nostalgie-Hippies, die dem Kapitalis-

serer Welt. In den Industrieländern

mus ein Schnippchen schlagen wollen?

wird gegen das Übergewicht gekämpft

Ich glaube nicht. Vom Abfall der

und in den so genannten Entwicklungs-

andern zu leben, ist ihr Protest, und sie

Weitere Informationen unter www.tischlein.ch

ländern litten letztes Jahr gemäss Uno

handeln getreu ihren Prinzipien.

mehr als 850 Millionen Menschen an

Auch wenn Prinzipien nicht unbe-

Maja Peter ist Autorin und freie Journalistin

Unterernährung. Eine Welt, in der die

dingt solch extreme Formen annehmen

Mehrheit der Menschen auf der Süd-

müssen – Konsumenten, nehmt eure

halbkugel sich noch so gerne mit dem

Verantwortung wahr!

Inhalt unserer überquellenden Mülleimer begnügen würde. cj

Frédéric Rein ist freier Journalist


kindermund

MittagsTisch Immer mehr Gemeinden bieten Kindern von berufst채tigen Eltern einen Mittagstisch an. Slow.ch hat zwei Schulklassen besucht. Das F체r und Wider einer gemeinsamen Mahlzeit. Von Maja Peter

30


Marina Michel, 9


kindermund

D

ie Drittklässlerin Yasmin schreibt in die Spalte «Contra»: «Man muss das Essen was man uns giebt. Es giebt Schlägereien. Man bekkomt nicht das was man viel. Eine Essenschlacht.» Zu «Pro» fällt ihr ein: «Das man Nachschlag bekkommt. Vielleicht vindet man Neue Freunde. Manchmal gibts Leckeres Essen. Man probirt Neues aus.» Yasmins Lehrerin an der Basler Christoph-Merian-Schule hat die ganze Klasse aufgefordert, Argumente für und gegen das gemeinsame Essen an einem so genannten Mittagstisch aufzulisten. Das Resultat ist erstaunlich differenziert, vor allem aber rührend ehrlich. So befürchtet etwa Yasmins Klassenkollege Michel: «Vieleicht schmeckt mir das Essen nicht. Es ist dan sicher langweilig, weil ich kein Buch dabei habe. Vielleicht mus man Tischdecken. Hofentlich ist es nicht im Religions zimer.» Als die zehn Kinder im Schulhaus Schwerzi in Freienbach SZ am Donnerstag vor den Sommerferien um 11.50 Uhr eintrudeln, sind die Tische schon gedeckt. Die einen geben der Betreuerin Claudia Schuler sofort artig die Hand, andere werden von ihr laut herbeigerufen und begrüsst. Die Jungen setzen sich an einen Tisch, die Mädchen an einen anderen. Sie schwatzen leise, ein Knuff hier und dort, man kennt sich. Nur ein Bub sitzt allein beim Fenster. Als ein paar Grossmaulige ihn hänseln, weist die Betreuerin sie zurecht. «Jeder darf sitzen, wo er will.» Als um zehn nach zwölf Uhr nicht alle angemeldeten Kinder am Tisch sitzen, ruft Claudia dc

Schuler die Mutter des fehlenden Sechstklässlers an. Diese hat aber offenbar einfach vergessen, ihren Sohn abzumelden. Claudia Schuler und ihre Kollegin Margrith Ettlin, die nach den Ferien einen neuen Mittagstisch eröffnen wird und sich im Schulhaus Schwerzi einarbeitet, streifen sich Gummihandschuhe über und servieren Salat. «Französisch oder Italienisch?», fragen sie wie Kellnerinnen im Restaurant. Die Saucen werden wie alles Essen in der zentralen Küche im Schulhaus Weid extra für die Kinder zubereitet und in Boxen angeliefert. Betriebsleiterin Susanne Kehl, die seit zehn Jahren die Mittagstische der Gemeinde koordiniert, sagt: «Bis vor kurzem haben zwei Mittagstische das Essen vom Altersheim bezogen, aber das kam bei den Kindern gar nicht gut an.» Das Essen sei zu weich gewesen, vieles püriert und geschmacklos. «Ich lege grossen Wert auf ausgewogene Ernährung», sagt sie. Deshalb wird in Freienbach täglich frisch, mit wenig Butter und Rahm gekocht. Saisonales Gemüse, Obst und Fleisch bestellt Susanne Kehl nach Möglichkeit bei Lieferanten aus der Region, den Rest kauft sie engros ein.

Positiver gruppendruck Der Menüplan ist abwechslungsreicher als in mancher Kantine. Mit fünf Franken pro Mahlzeit wird von Hörnli mit Ghacktem über Cipollatta-Spiess bis zu Tortilla, rotem Curry oder Pastetli alles gezaubert. Immer dabei ist Salat und Gemüse. Damit die Kinder beim Grünzeug nicht die Nase rümpfen, dürfen sie oft aus zwei Sorten auswählen. «Oder wir machen mit püriertem Gemüse eine Sauce, dann gibt es keinen Widerstand», verrät Susanne


Yvette Rivero Suarez, 9

János Straub, 9

Elif Karateke, 9

Yasmin Boulbrima, 9

Basler Primarschüler zeichnen für slow.ch ihren Mittagstisch daheim. Unter der Leitung von Friderike Arlt, Lehrerin an der Christoph-Merian-Schule in Basel, zeichneten 25 Kinder ihren Mittagstisch zu Hause. Die Schülerinnen und Schüler besuchen die 3. Primarklasse und sind zwischen 9 und 10 Jahre alt. An der Schule selber wird kein Mittagstisch angeboten. Aber es gibt sie im Quartier, von Privaten oder Quartiervereinen organisiert. Ausserdem läuft im Basler Gundeldingerquartier ein Pilotprojekt, das Schülern vor Ort einen Mittagstisch bietet. Ilaria Pezzella, 9

Riccardo Proto, 9

Isabel Rosales de los Reyes, 9 dd


Kerem Uzakgider, 9

Michel Oesch, 9

Ali Jaff, 10

Juan Pablo Tribelhorn, 10

Bibin Muttappillil, 9

Leandro Koweindl, 9

Elakkiya Arumugam, 9

Anouschka Braginsky, 9 de


kindermund Kehl. Und, das würde Michel aus Basel freuen, es gibt sogar ab und zu selbst gemachte Pizza. Damit sie knusprig ist, backen die Betreuerinnen die Fladen vor Ort im Backofen fertig. Auch der Basler Ali muss sich keine Sorgen machen. Er schreibt unter «Contra»: Wen es Schweine Fleiss gibt dann haben es die Musslmen es nicht so gerne.» Auf Vegetarier, Muslime und Allergiker wird in Freienbach wie auch an anderen Mittagstischen Rücksicht genommen. Das ist sogar in den Richtlinien festgehalten. Susanne Kehl vermerkt denn auch bei jedem Kind, was und wie viel es essen darf, und sorgt dafür, dass alle genug bekommen. Den Eltern wird nahegelegt, den Kindern keine Esswaren mitzugeben. Es komme zwar vor, dass Kinder das Essen nicht mögen. Aber das sei eher selten. «Der Gruppendruck wirkt sich hier positiv aus», sagt Susanne Kehl.

teure betriebskosten «Kinder lieben es, zu essen, und sie sind neugierig», erklärt Marianne Ryf, die Ko-Leiterin der Fachstelle Kinder und Familien des Kantons Aargau. Auch dort sind aus Eltern-Initiativen heraus Mittagstische entstanden. 2009 soll die Institution wie andernorts im Bildungsgesetz des Kantons verankert werden. Damit soll garantiert werden, dass kein Kind über Mittag allein zuhause sein muss. Gemeinsames Essen wäre eigentlich ideal für die Integration von fremdsprachigen Kindern aus einkommensschwachen Familien. Doch in Freienbach beispielsweise kommt die Mehrheit der Kinder, die am Mittagstisch sitzt, aus der Mittelschicht oder gut situierten Verhältnissen. Das liegt auch am Preis. Die Eltern bezahlen je nach Ort und Angebot zwischen fünf und zwölf Franken pro Kind plus Vereinsbeitrag. In Freienbach sind es zehn Franken pro Mittag plus 60 Franken Mitgliederbeitrag im Jahr. Zwar sieht der Verein für ärmere Kinder einen Sozialtarif vor. Aber um den zu erhalten, müssen die Eltern dem Vereinsvorstand ihren Steuerausweis unterbreiten.

Ein Schulgarten vermittelt Kindern die Wertschöpfungskette als sinnliches Erlebnis. Ab Frühjahr 2009 realisiert Slow Food in Zusammenarbeit mit der Trägerschaft des Kinderheims Bachtelen in Grenchen SO und der Stiftung ProSpecieRara den ersten Schulgarten der Schweiz. Im Rahmen des Biologie-Unterrichts sollen die Kinder und Jugendlichen dazu animiert werden, beim Anpflanzen, Hegen und Pflegen sowie beim Ernten von Gemüse, Obst und Kräutern mit anzupacken. In der Erde wühlen, fast vergessene Produkte wieder entdecken und sie biologisch aufziehen sowie den Reifeprozess beobachten – diese ganzheitlich orientierte, sinnliche Erfahrung mit und in der Natur ist Teil der Geschmacksförderung an Schulen, wie sie bereits in verschiedenen Slow Food-Convivien rund um den Globus realisiert worden ist. «Ein Schulgarten ermöglicht, die ganze Wertschöpfungskette direkt in der Praxis kennen zu lernen», sagt Projektleiter Jürgen Schnaithmann. Was geerntet werde, könne in der schuleigenen Küche zubereitet, für den Winter eingemacht oder aber auf dem Markt verkauft werden, um mit dem Erlös wiederum neue Sämlinge kaufen zu können. «Ausserdem bietet das Naturerlebnis die Chance, mit Misserfolgen umgehen zu lernen. Was über Wochen mit Herzblut betreut wird, kann über Nacht einem Unwetter zum Opfer fallen», so Schnaithmann. Über die beiden Slow Food-Projekte Geschmacksförderung bei Kindern und Schulgärten, berichten wir ausführlich in der nächsten Ausgabe zum Thema Geschmack (April 2009).

Was die Kinder ernten, kann in der schuleigenen Küche zubereitet werden

Projektleiter Schulgarten/Geschmacksförderung Jürgen Schnaithmann, Hotel Chesa Alpina, 7516 Maloja GR Tel. +41 81 824 31 12/E-Mail: info@chesa-alpina.ch Das lehnen viele ab. «Und schicken ihr Kind lieber zur Würstlibude», sagt Susanne Kehl. Marianne Ryf beobachtet im Aargau, dass es an den Mittagstischen, die nur fünf Franken pro Mahlzeit verlangen, markant mehr Kinder aus einkommensschwachen Familien gibt. Insbesondere in wohlhabenden Gemeinden kostet die Betreuung über Mittag das Doppelte, wobei sie auch umfassender ist. In einer reichen Aargauer Gemeinde werden die Kinder selbst am Mittwoch bekocht und den ganzen schulfreien Nachmittag betreut. Und zwar nicht wie anderenorts von engagierten Müttern im Stundenlohn von rund 25 Franken, sondern von Pädagoginnen. Der df

Mittagstisch-Verein der Begüterten zementiert damit die sozialen Unterschiede der Kinder eher, als sie zu mildern. Abhilfe könnten die Gemeinden schaffen, indem sie die Mittagstische stärker subventionierten. Doch das wollen die wenigsten. Nicht alle können und wollen es sich eben leisten, über die Hälfte der Betriebskosten zu übernehmen, wie dies im wohlhabenden Freienbach SZ der Fall ist. Die Kinder im Schulhaus Schwerzi spiessen mit der Gabel Salatblätter auf und kauen sichtlich vergnügt. Die Salatsauce ist der Renner bei den Kindern. Nicht selten kaufen Mütter dem Mittagstisch eine Flasche ab, «weil ihr Kind nur mit dieser Sauce Salat isst», erzählt Susanne Kehl stolz. Ein


kindermund älteres Mädchen lehnt allerdings den Salat kategorisch ab. Das wird nur akzeptiert, weil ihre Eltern schriftlich einen Antrag gestellt haben, ihrer Tochter das Salatessen zu ersparen. «Normalerweise müssen die Kinder von allem essen, zumindest probieren», stellt Susanne Kehl klar. Kaum hat Claudia Schuler allen Salat geschöpft, erheben sich die ersten Kinder vom Tisch und tragen den Teller zu Spüle. Kein Wort der Ermahnung ist nötig. Zwei Mädchen spielen am Tisch sitzend mit ihren Fäusten, bis der Hauptgang serviert wird: Poulet sweet and sour mit weissem Reis. «So fein!», kommentieren die Mädchen. Gemurmel und Besteckgeklapper erfüllen den Raum. Die Kinder essen ruhig, Futterneid scheinen sie nicht zu kennen, von einer «Essenschlacht», wie die Baslerin Yasmin befürchtet, kann keine Rede sein. Als die Uhr an der Wand des Essraumes mit Herd, Kühlschrank, Abwaschmaschine und Tischfussballkasten halb eins schlägt, stehen ein paar Kinder auf, stellen den Teller neben das Waschbecken und begeben sich ins Freie. Nach der halben Stunde Essenszeit dürfen sie das. Ein älteres Mädchen und ein paar der Jungen lassen sich jedoch in aller Ruhe ein zweites Mal schöpfen. Dann rennen auch sie auf den Pausenplatz. Nur der Kleine, der allein am Fenster sitzt, bleibt, um schliesslich die Schranktür mit den Spielsachen zu öffnen und dahinter zu verschwinden.

Gesetzlich verpflichtet Für Schülerinnen und Schüler der Christoph-Merian-Schule gibt es die Institution «Mittagstisch» noch nicht. Doch die Kinder können in der Stadt an 23 anderen Orten in der Nähe von Primarschulhäusern und in Baselland an 103 Orten unter Aufsicht gemeinsamen einen Tisch sitzen und essen. Fast überall in der Schweiz bieten private Vereine Mittagstische an. Dabei werden sie seit 2002 vom Bund in Form einer Anschubfinanzierung während drei Jahren unterstützt. Und die

Was Kinder

gerne essen, und wie man ihnen Ungeliebtes schmackhaft macht.

Kochen und Essen interessiere Kinder, schreibt die Lebensmittelingenieurin Marianne Botta Diener auf ihrer Homepage www.kinder-ernaehrung.ch. Sie empfiehlt, Kinder so früh wie möglich an der Essenzubereitung zu beteiligen. So lernten sie, dass in der Küche mit dem Essen «gespielt» werden dürfe, am Tisch hingegen nicht. Zudem fördere Tischdecken, Umrühren etc. die Motorik der Kinder. «Gesundes» Essen lasse Kinder kalt. Ihnen seien der Geschmack, der Biss und das Erlebnis auf der Zunge wichtiger. Knuspert, knackt, prickelt und schmeichelt etwas im Mund, essen sie viel und gerne. Einheitsbrei mögen Kinder hingegen gar nicht. Zudem haben die Kleinen insbesondere beim Gemüse gerne die Wahl – wie die Erwachsenen auch. Marianne Botta empfiehlt zum Beispiel, zwei Sorten aufzutischen. Oder rohe Gemüsestängeli mit einer Sauce zum Dippen. Verweigerten die Kinder eine Zeitlang Gemüse oder Früchte, gäbe es Alternativen wie Dörrobst oder Gemüsesäfte. Je abwechslungsreicher der Menuplan zuhause, desto offener seien die Kinder auswärts, sagt die Fachfrau. Und: Je lustvoller die Eltern essen, desto lieber greifen auch die Kinder zu.

Bildungs- und Volksschulgesetze der meisten Kantone schreiben ihren Gemeinden vor, dass sie für Kinder berufstätiger Eltern Tagesstrukturen anbieten müssen. In den Kantonen Bern und St. Gallen beispielsweise sind die Gemeinden seit dem Schuljahr 2008/09 explizit verpflichtet, Mittagstische einzurichten. Im Tessin ist diese Institution längst etabliert, und auch in der Romandie werden immer mehr Mädchen und Jungen über Mittag in der Schule verpflegt. Bedenken gibt es zwar immer noch. Etwa «das es kein Hausaufgaben raum hat», wie Mario richtig beschreibt. Oder «das ich mein bruder nicht sehe. das die alter gemischt sind», wie seine Klassenkameradin Anouschka kritisiert. Aber politische Opposition gibt es kaum mehr. «Vor 20 Jahren hat in Wädenswil ZH der Gemeinderat den Mittagstisch noch abgelehnt mit dem Argument, die Mütter sollen über Mittag für die Kinder da sein, statt Tennis zu spielen», erinnert sich Susanne Kehl, die Betriebsleiterin in Freienbach. Heute dg

gäbe es zumindest in ihrer Gemeinde kaum mehr solche Sprüche. Mit dem Argument, die Wirtschaft brauche die Frauen als Arbeitskräfte, stünde sogar die SVP dahinter. Über die letzten zehn Jahre habe sich der Mittagstisch als eine Art Konjunkturbarometer erwiesen, sagt Susanne Kehl. Kränkle die Wirtschaft, kämen weniger Kinder an den Mittagstisch, weil vorwiegend Mütter arbeitslos würden. Punkt 12.45 Uhr kehren drei Mädchen in den Essraum zurück. Es ist Dessert-Zeit. Die Betreuerin fragt: «Vanille oder Erdbeer?» Die Mädchen greifen sich ein Glacecornet, reissen das Papier weg und fangen an zu schlecken. Die Buben bleiben draussen. «Fussballspielen ist halt wichtiger,» sagt Claudia Schuler mit Augenzwinkern. Anouschka aus Basel würde nicht enttäuscht. Sie vermerkte unter «Pro»: «Das mann nicht so einen langen Weg hat. Und das es Süssigkeiten gibt.» Maja Peter ist Autorin und freie Journalistin


Sonja Nadalon, 9

Riccardo Proto, 9

Sidika Demir, 9

Udo Theumer, 9

Luca Ard端ser, 9

Vladimir Gajic, 9

Furkan Seng端n, 9

Isidora Nicolic, 9 dh


ideen-tavolata

Zu Tisch mit

Thom Held Feu sacré beseelt den Mann, wenn es um Genuss, Wissensdurst und Nachhaltigkeit geht. Über sein Engagement für eine «Tavolata der Ideen» erzählt Thom Held beim gemeinsamen Mittagessen.

Wer mit wem?

Thom Held, Autor und Raumplaner (held für planung und nachhaltigkeit) im Gespräch mit slow.ch-Redaktionsleiterin Stephanie Riedi und Jost Auf der Maur, Autor bei der NZZ am Sonntag, sowie Nadja Athanasiou, Fotografin.

Wo?

Im Restaurant Alpenrose, Fabrikstrasse 12, 8005 Zürich Tel. 044 271 39 19 www.restaurant-alpenrose.ch

Was gab es zum Mittagessen?

Thom Held wählte als Vorspeise die Zürcher Rieslingsuppe und als Hauptgang die Engadiner Pizzokkel mit Spinat und Speck. Dazu orderte er eine Flasche Walliser Cornalin 2004 der Winzer AnneCatherine und Denis Mercier.

Wie war die Gesprächsstimmung?

Von Beginn weg sprudelnd.

K

aum hat Thom Held federnden Schrittes das Zürcher Restaurant Alpenrose betreten, fliegen ihm die Blicke förmlich zu. Die Gastgeberinnen begrüssen und herzen den 45-Jährigen, als wäre Held ein Held. In gewissem Sinne ist er es auch: Der gebürtige Bündner hat sich nämlich als Kämpfer wider die Uniformität des Geschmacks schweizweit einen Namen gemacht. Im Buch «Berührt vom Ort die Welt erobern» (Helden Verlag) porträtiert der Biologe, Raumplaner und Autor Menschen, die sich dem «Terroir-Prinzip» verschrieben haben. Von der Winzerin Marie-Thérèse Chappaz über den Architekten Gion A. Caminada bis zum Käser Rolf Beeler handelt es sich um Wegbereiter, deren ethisch und nachhaltig produzierte Arbeiten das Charakteristische und Einzigartige des jeweiligen Ortes spiegeln. Anlass für das Tischgespräch an diesem Mittwochmittag ist jedoch Helds neuer Coup, mit dem er sozusagen vom Theoretiker zum Praktiker avanciert: Gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter will der Lokalmatador einen «Campus der Sinne und Reflexion» realisieren. Das Projekt «Viva! Der Stadtcampus» soll nach dem Terroirdi

Prinzip im Zentrum der Stadt Zürich umgesetzt werden, und zwar bis zum Jahr 2012. Prompt greift der Viva!-Projektleiter denn auch nicht zur Speisekarte, wie es um 12 Uhr üblich wäre, sondern in die Tasche, um einen Packen Papier neben dem Teller aufzutürmen. Eine Herausforderung für Hannah, die zuvorkommende Servicefachangestellte, muss sie doch die Bestellung drei Mal erfragen, zu sehr ist man bereits ins Gespräch verwickelt. Doch die Alpenrose-Gastgeberinnen nehmens gelassen; sie kennen eben ihren Helden Held. Womit sich die erste Frage schon fast von selbst beantwortet hat.

Slow.ch: Herr Held, Sie haben für das Mittagessen und unser Tischgespräch die Alpenrose gewählt. Warum? Thom Held: Das Lokal liegt keine Minute Velofahrt von meinem Büro entfernt und keine fünf von meiner Wohnung. Hier ist mein Terroir, mein Lebensraum. Der erwähnte Zeitfaktor klingt aber eher nach «fast» denn nach «slow food».



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«Es braucht so etwas wie eine subversive Mafia des Genusses» Die Qualität von Zürich besteht unter anderem darin, dass vieles auf kleinem Raum zu erreichen ist. Die Restaurants liegen in unmittelbarer Nähe zum Zentrum des Alltags, was natürlich die Effizienz erhöht. Da stecken wir schliesslich alle drin. Das hat aber nichts mit Fast-Food zu tun, sondern lässt einem gottlob mehr Zeit fürs Essenzielle, fürs Geniessen. Was aber noch nicht erklärt, weshalb Sie die Alpenrose bevorzugen bei den zig Alternativen, die Zürichs Gastroszene bietet. Was also zieht Sie hierhin? Mir gefällt es hier. Ausserdem entspricht die Philosophie des Hauses dem Terroir-Gedankengut, wie ich es auch in meinem Buch beschrieben habe. Die Gastgeberinnen machen nicht einfach in «Swissness», weil es zurzeit gerade en vogue ist, sondern pflegen seit Jahren eine sorgfältige und kreative Küche ausschliesslich mit Schweizer Produkten. Davon zeugen alleine schon die Speise- und Weinkarte mit exakt deklarierten Provenienzen, wodurch sich nicht nur die Konsumenten, sondern auch die Hersteller ernst genommen und in ihrer jeweiligen Rolle gewürdigt fühlen. ------------Wie aufs Stichwort erscheint die Servicefachfrau, um Thom Held die

Flasche Walliser «Cornalin 2004» der Winzer Anne-Catherine und Denis Mercier zu präsentieren. Nach Begutachtung der Farbe, des Duftes und des Geschmacks nickt Held; er lobt den Jahrgang 2004 als vielfach unterschätzt. Den Wein stütze ein schönes Säureskelett; er habe eine dunkle Feuchtigkeit sowie eine Dichte besonderer Güte, Cornalin eben. Auch die Zürcher Rieslingsuppe, die nun als Vorspeise aufgetragen wird, stösst auf Wohlgefallen. Für ein paar Minuten ist lediglich das Gebimmel von Löffeln auf Porzellan zu hören. ------------«Swissness» ist zum Modelabel avanciert. Hier jedoch hängen an den Wänden witzige Bilder, die eher ein Augenzwinkern hervorrufen statt einer stolz geschwellten Brust. Braucht es eine ironische Komponente, um sich vom Nationalismus einer SVP abzuheben? Sicher, Ironie muss sein auf dem Weg zur Glaubwürdigkeit. Und: «Du musst es leben!», ist das Motto aller, die ich in meinem Buch porträtiert habe. Sonst ist ein Lokalbekenntnis eben bloss ein Lippenbekenntnis, sprich eine Marketingstrategie – oberflächlich, schnelllebig, sinnentleert. Und purer Patriotismus – nämlich Schweizer Produkte für Schweizer Konsumenten – wäre zu engstirnig, kaum marktfähig. Wir leben ea

in einer urbanisierten, vernetzten Welt. Zürich ist durchzogen von Aussenbeziehungen, genährt von äusseren Einflüssen, sonst wäre die Stadt gar nicht existenzfähig. Also keine Antiglobalisierung? Nein. Es gilt, das Lokale international einzubetten: Wirtschaftliche, politische und kulturelle Isolation ist kein Zukunftsmodell. Alles andere wäre langweilig, wenn nicht gar gefährlich. Das versuche ich, in meinem Buch aufzuzeigen. Die offenen Grenzen, die eine globale Welt mit sich bringt, können gerade für kleine Produzenten eine Chance sein, im Verbund mit gleichgesinnten Herstellern, Händlern und Konsumenten «gross» zu sein. Entscheidend ist die Qualität und Glaubwürdigkeit lokal produzierter Erzeugnisse. Die Hauptwertschöpfung sollte vor Ort sein; der Vertrieb von regionalen Qualitätsprodukten kann aus Absatzgründen und zur «Inzuchtsvermeidung» jedoch oft nicht nur regional stattfinden. Eine nationale oder gar internationale Ausrichtung ist deshalb notwendig. Wie stellen Sie sich das vor in einer derart stark kommerzialisierten Welt? Gesunde lokale Produkte zu verkaufen ist auch Kommerz! Damits nicht über-


all auf dasselbe hinausläuft, brauchts so etwas wie eine «subversive Mafia des Genusses», eine Begriffskreation des Händlers und Winzers Christoph Künzli. Um sich parallel zu den gefrässigen Giganten auf dem Nahrungsmittelmarkt zu behaupten, ist Selbstbewusstsein der Kleinen gefragt und eben kreative Subversivität, um bisherige Handelsbeziehungen und einseitiges Regieren – «governare nell’interesse dei grandi» sagte Roberto Burdese von Slow Food Italia – zu unterwandern. Damit sich Ökologie, Kultur und Ökonomie ergänzen, benötigt es neu organisiertes Handeln, globale Netzwerke aus gleichgesinnten Leuten entlang der Wertschöpfungskette. Slow Food hat diesbezüglich ein Zeichen gesetzt. Terra Madre bietet Kleinproduzenten weltweit eine Plattform, um sich gegenseitig auszutauschen über Biodiversität, Produktion, Verarbeitung, Handel und Vertrieb bis hin zum Konsumenten. Ist Ihr geplanter Viva!-Stadtcampus als ein solches Netzwerk gedacht? Wenn, dann indirekt. Primär ist der Campus ein Ort der Sinne und Reflexion. Eine Begegnungsstätte, die zum Essen und Trinken, zum Denken und Diskutieren oder einfach zum Verweilen einlädt. Und eine Kreativwerkstatt. Wer übernachten will, als Kurz- oder

Langzeitgast, kann das auch. Stellen Sie sich einen Ort vor, der wie ein gedeckter Tisch in der Stadt wirkt und an dem Wissen ausgetauscht wird. Das ist Viva! Eine Tavolata der Ideen sozusagen? Genau. In der Beiz wurden schliesslich schon viele gute Ideen generiert. Aber Viva! ist mehr, nämlich ein Stadtkörper, der lebt, ausstrahlt und kulturstiftend ist, weil er nach dem Terroir-Prinzip erbaut und betrieben wird. Wir wollen neben dem Grundangebot der Beherbergung und des Bekochens auch Veranstaltungen der Genuss- wie der Denk-Kultur durchführen. Der Campus ist also kein Forschungsprojekt im eigentlichen Sinn, sondern will über Umwege etwas vermitteln. Beispielsweise, indem man übers Geniessen Essenzielles entdeckt, übers Erleben und Erfahren Wirkungszusammenhänge erkennt, um diese wiederum für den Alltag nutzbar zu machen. Bloss ideologischer oder auch politischer Natur? Wie Carlo Petrini einmal gesagt hat, ist jede Mahlzeit ein politischer Akt. Bis ein Gericht auf den Tisch kommt, wurde eine ganze Kette elementarer Entscheidungen getroffen: angefangen eb

bei den Nahrungsmittelherstellung über den Umgang mit Produzenten, die Wahl von Verpackungsmaterial und Transportweg bis hin zum Händler respektive Koch. Zu dieser politisch-ethischen Komponente kommt die Frage nach dem eigentlichen Glück hinzu, oder frei nach dem Philosophen Peter Sloterdijk formuliert: Das verführerisch Gute und Schöne zu geniessen, macht zwar Spass, glücklich stimmt es einen jedoch erst, wenn sinnstiftende Zusammenhänge erkennbar werden. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern für jeden Lebensbereich. Deshalb mein Grundmotto für Viva!: «Geniessen als Ausdruck von Lebensfreude schliesst das Streben nach Sinn und Gehalt, nach Gesundheit, nach nachhaltiger Entwicklung nicht aus, im Gegenteil!» Öko ist in, ebenso Rückbesinnung auf Würde und Werte. Mit andern Worten: Viva! liegt im Trend. Haben Sie keine Angst, dass Ihr Projekt dereinst auf der Müllhalde ausgemusterter Moden landet? Nein. Die Zeit ist reif, das stimmt. Endlich! Vor Jahren sah man mich schräg an, den Ökologen und den der Nachhaltigkeit verpflichteten Raumplaner, der auch dem Genuss nicht absagte. Und vor noch nicht allzu langer Zeit hätte ein solches Projekt


ideen-tavolata

wie Viva! keine Chance gehabt. Heute jedoch erkennen immer mehr Menschen, dass es so nicht weitergehen kann. Obwohl schon alles «nachhaltig» ist. Die Ewiggestrigen sehen in diesem Begriff den Untergang des bisherigen Lebensstandards. Für die anderen ist es primär ein Marketing-Vehikel. Insgesamt ein Ärgernis! Und ein fundamentales Missverständnis. Nicht-Nachhaltigkeit ist das Thema. Wir stehen am Anfang eines langen Prozesses, der weit über die Laufzeit einer Mode hinausgeht. Gerade die Nahrungsmittelindustrie und damit verbunden die Gastronomie kamen in den letzten Jahren arg unter Beschuss. Zu Recht: Es wurde gelogen und betrogen. Und wird es noch. Ungeachtet des notwendigen Paradigmawechsels hin zu einer generationenverträglichen Zukunftsgestaltung. Und doch hat sich einiges verändert. Zum Beispiel? Auf der einen Seite wird es weiterhin verantwortungsloses Wirtschaften geben, auf der anderen immer mehr Menschen, welche die lebensfeindlichen Aspekte des Profitdenkens zu unterwandern versuchen. Das zeigt bereits Wirkung! Das deutsche

«Zukunftsinstitut» prophezeit denn auch einen zwar schleichenden, aber substanziellen Wertewandel. Der Megatrend «neue Ökologie» wird stetig stärkeren Rückenwind bekommen aufgrund drohender Megaprobleme wie etwa dem Klimawandel, Energie, Wasser oder Meeresressourcen. Ich bin überzeugt, dass der Anteil jener Leute wachsen wird, die das Leben geniessen und dennoch ihren Teil dazu beitragen wollen, die Lebensgrundlagen für alle und für die Zukunft zu erhalten. Ich glaube an die Macht des Sinnhaften. Und ich setze auf jene «GenussMenschen», die sich nach Produkten und Prozessen sehnen, die eine Seele haben. ------------Apropos Genuss: Inzwischen wurden die Hauptspeisen aufgetragen: Engadiner Pizzockel mit Blattspinat und knusprigen Specktranchen für Thom Held, Kalbsbraten mit Gemüse und Spätzli respektive Schupfnudeln mit Eierschwämmli und ein Forellenfilet für die Gesprächsteilnehmer. Die Pizzockel schmeckten wunderbar, sagt Thom Held, auch wenn sie nicht aus Buchweizenmehl zubereitet seien wie im Veltlin üblich. Pizzockel seien eben keine Pizzoccheri. Und überhaupt: ec

«Damit Tradition weiterleben kann, muss sie sich ständig erneuern, sonst erstarrt sie oder verkommt zur Folklore.» Deshalb sei es wichtig, Brücken zu bauen zwischen dem kulturellen Erbe und zeitgemässen, neuen Ideen. ------------Sehen Sie sich selber als Brückenbauer? Sie stammen aus dem bündnerischen Zizers, also einer Weinbauregion, und sind damit quasi «weinaffin». Wurzelt ihr Engagement für «beseelte» Tropfen in Ihrem ureigensten Terroir? Eher nicht. Ich bin mit Beerliweinen aufgewachsen, konnte ihnen aber nie etwas abgewinnen. Mich störte, dass sie so brenntelig mundeten. Sobald ich die Weinwelt zu entdecken begann, mochte ich die Bündner definitiv nicht mehr. Als Student sparte ich, bis ich mir drei Flaschen Mouton Rothschild (Jahrgang 1986) leisten konnte. Die stehen übrigens immer noch im Keller. Erst mit der Besinnung der Schweizer Winzer auf das Verbinden von Tradition, Moderne und Qualität fand ich zurück zu einheimischen Gewächsen. In meinem Buch «Berührt vom Ort die Welt erobern» verneige ich mich denn auch vor dem pionierhaften Change-


«In der Beiz wurden schon zahlreiche Ideen generiert» Management, wie es Marie-Thérèse Chappaz sowie Martha und Daniel Gantenbein vorzeigten. Das sind echte Brückenbauer zwischen Ort und Welt!

Trinken sind Grundbedürfnisse, die eine stark geniesserische und emotionale Komponente haben können und nach Gesellschaft und vertieftem Gespräch rufen.

Worin sehen Sie dann Ihre Berufung? Meine Aufgabe als Autor oder als Campus-Entwickler sehe ich im Brücken bauen zwischen den Disziplinen sowie zwischen Genuss und sinnhaftnachhaltigem Tun. Im Zentrum steht dabei das Entdecken. Ein Beispiel ist «Lernen durch Trinken»: Ich bekomme heute noch Hühnerhaut, wenn ich an die neuen Riesling-Weine des Jahrgangs 2007 von Helmut Dönnhoff von der Nahe (D) denke, die nicht nur durch einmalige Klarheit überzeugten, die ausserordentliche Raffinesse des 2007ers zeigten, nein, gerade auch weil sich darin die Haltung, Demut und das Perfektionsstreben des feinsinnig fühlenden, denkenden und handelnden Menschen Dönnhoff spiegelten. Auch Briefmarkensammler können von einer solchen Passion erfüllt sein. Warum haben Sie den Zugang über die Tafelkultur gewählt? Weil ich selber ein sinnlicher, aber auch ernsthafter Mensch bin. Essen und

Haben Sie das Geniessen am Familientisch gelernt? Bei uns war es sehr einfach; wir hatten keine ausgeprägte Tischkultur. Für eine Grossfamilie waren die gemeinsamen Mahlzeiten oft die einzige Gelegenheit, um zusammenzukommen und sich auszutauschen. Manchmal gab es auch heftige Wortgefechte. Mittags spielte im Hintergrund immer das Radio; um halb eins gab es Nachrichten auf Beromünster. Alles war fast zu selbstverständlich. Bewusst zu geniessen begann ich erst als junger Erwachsener. Die wichtigste Ausnahme waren meine Geburtstage: Sie wurden von Klein auf – ausnahmslos – mit Maluns und Apfelmus oder anderem Früchtekompott zelebriert. Weshalb eröffnen Sie nicht einfach ein Restaurant wie die Alpenrose? Bei Viva! spielt die Gastronomie zwar eine wichtige Rolle. Aber sie ist Teil eines grösseren Ganzen. Ich sehe den ed

Campus als intermediäre Stadt-Infrastruktur, die vernachlässigte Zwischenräume ausloten und füllen kann. Wir haben heute weltweit Wissensinstitutionen wie die Universitäten und ETH und daneben Private wie beispielsweise Centre for Global Dialogue oder Avenir Suisse. Wir haben Politik und Wirtschaft, das Land und die Stadt. Dies alles funktioniert oft getrennt voneinander. Jeder zu sehr in seiner Welt. Weil nicht ausreichend Bindeglieder vorhanden sind, geht mit Sicherheit Wissen verloren oder wird Einiges bewusst weggelassen, auch Wichtiges. Mit Viva! wollen wir dazu beitragen, einige dieser Lücken zu schliessen. «Tavolata der Ideen» gefällt mir. Der Stadt-Campus soll einen konkreten Beitrag leisten für den bewussten Umgang mit wichtigen Facetten des Zusammenlebens, quasi als Labor eines genussvoll-nachhaltigen Lebensstils. Darum gehts doch im Leben, nicht? ------------Es ist 14.30 Uhr. Die Teller sind längst abgeräumt. Das Dessert folgt in Form eines kurzen Fazits: Tischgespräch und Mittagessen waren genuss- und gehaltvoll, also gleichermassen nährend für Kopf und Bauch. -------------


Tafelkultur

Mahlzeit mit Musse

Fastfood und Businesslunch sind für Gastrosophen der schiere Graus. Sie ziehen ein Mahl in Musse vor. Und das ist gut so. Plädoyer für die Rückkehr an den gemeinsamen Mittagstisch. Von Jost Auf der Maur Foto NadJa Athanasiou

E

s ist bereits zwei Uhr mittags. Noch immer sitzen sie bequem, sitzen im Wirtshaus Galliker in Luzern, im Casa del Popolo in Bellinzona, im Cardinal in Neuchâtel. Denn sie wissen, wie kostbar die Zeit ist. Sie verfallen nach dem letzten Bissen nicht gleich in fürchterliche Hast. Sie kennen die befreiende Kraft dieser Stunden über Mittag, wenn Geist und Körper eins sind. Wenn das Lächeln des gut genährten Leibes den Ideen Flügel wachsen lässt, wenn das Gespräch in der Thermik der erfüllenden Tagesmitte federleicht Höhen erreicht, die sonst verwehrt bleiben. Gastrosophen, die Weisen des Magens. Eine verfolgte Spezies, rar geworden. Ihre bevorzugten Restaurants muten an wie bedrohte Feuchtgebiete, wo Rohrdommel und Geburtshelferkröte überleben. Bei sonnigem Wetter sind einige Exemplare manchmal im Freien zu beobachten, etwa bei Weissbrot, Käse, mariniertem Fisch, und von der Chablis-Flasche rinnen Tränen der Kälte, verlieren sich im weissen Linnen. Sie haben sich abgesetzt, aus dem Bürostaub gemacht. Sie machen Ferien über Mittag. Um dann zurückzukehren mit diesem versonnenen Blick, der sie immun macht gegen die Hässlichkeit der Bürolandschaften und die Intrigen der Kollegen. Bereit, sich der anstehenden Arbeit klug und gelassen zuzuwenden, dabei dieselbe Sorgfalt und Sicherheit beweisend, die sie vorher beim Zerlegen einer Goldbrasse ausgezeichnet hat. Angeblich gibt es keine Studie, die besagt, dass Gastrosophen die wertvollsten Mitarbeiter sind. Wahr-

scheinlich aber wird diese Studie schlicht unterdrückt von der Weltverschwörung der Mediokrität. Wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren. Wir haben uns verändert. Wir picken. Wir schaufeln. Im Stehen und im Gehen. Wir rennen über Mittag ins Power-Yoga oder ins SpätFranzösisch. Schlenkern die Pet-Flasche draussen auf der Strasse; endlich ein Schoppen, der immer bei uns ist. Wir gehen zum Businesslunch, aber schön essen gehen wir nicht. Der Businesslunch ist eine verkommene Kreatur, eine Karikatur des gemeinsamen Tafelns. Denn der Ärger ist meistens zu Gast. Oder der Chef. Dann rächt sich unser Körper und sekretiert Stresshormone: Der Magen tritt in den Bummelstreik. Mitarbeitende mit Mägen im Bummelstreik gingen gescheiter nach Hause, sie sind unfähig zu einem originären Gedanken. Das ist

Wir gehen zum Businesslunch. Aber schön essen gehen wir nicht das eine. Das andere ergibt sich nach dem Ende des Kalten Krieges, als die Unternehmen von einer Ungeduld gepackt werden, die Spesenbudgets stutzen und die Weinflaschen wegsperren. Danach konnten sich dieVerlierer nicht einmal mehr sedieren. Wer sich mag, meidet Businesslunches. Es gibt kein Ereignis im Laufe des Tages, das so stark verbrämt ist mit Ritualen und Sitten wie das gemeinsame Essen. Die gelungene Sitzordnung, die Körperhaltung, das gemeinsame Beginnen, die Wünsche und deren Erwiderung zum guten Appetit, die Handhabung der Werkzeuge und der Serviette, die schickliche Art der ee

Zerkleinerung, das Kauen mit geschlossenem Mund, das parallel deponierte Besteck in der Position vier Uhr auf dem leeren Teller – die hundert Regeln sind nicht einfach lästiger Bürgerkram. Sie harmonisieren die Tischgemeinschaft in diesem delikaten Moment, da die Instinkte in uns so wach wie nur selten sind. Denn es muss friedlich bleiben, um bekömmlich zu sein. Die Handlung des Tafelns ist zwar auch eine Frage der Distinktion, und ungehobelte Manager werden in Kurse geschickt, um Verpasstes mühsam nachzuholen. Aber das gemeinsame Mahl ist, wir spüren es, frei von jeder Romantik, vor allem etwas «Heiliges», etwas, das heilt und stärkt und eint. Mit Religion hat das nichts zu tun, wenn auch die Religionen sich diesen starken Moment nicht haben entgehen lassen. Im Tischgebet scheint die Vereinnahmung auf. Unabhängig davon erkennen wir beim Essen demütig, wie abhängig wir sind und bald einmal wie hinfällig, wenn wir ohne auskommen müssen. Vor allem aber ist das Essen Genuss und Belohnung. In der durch filigrane Konventionen fein austarierten Ambiance des gemeinsamen Tafelns gedeiht das Gespräch, das Bonmot, die Freundschaft. Viel mehr als das bleibt uns am Ende ohnehin nicht. Das Essen und Einverleiben, das Schlucken, das Schlecken der Lippen, so intim das alles im Grunde ist, so archaisch, wir sollten das nicht als Nebensächlichkeit abtun. Wir verneinen sonst den Vertrag mit unserer Kultur. Das Mittagessen soll wieder gefeiert werden, so bedacht und erholsam wie die Ferien. Jost Auf der Maur ist Autor bei der NZZ am Sonntag, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist



essen ohne tisch

Vom Picknick

Das gepflegte Essen in freier Natur war stets eine Mélange aus Genuss, Gelassenheit und Geselligkeit. Ein Blick zurück aus kulturhistorischer Sicht.

von Andreas Morel Foto Jörg koopmann

S

elbst als die Familie noch regelmässig am Esstisch zusammenkam, führten gelegentlich aussergewöhnliche Umstände dazu, dass Mahlzeiten ausser Haus verlegt werden mussten. Schon immer waren viele Leute – Geistliche, Pilger, Kaufleute, Scholaren – unterwegs. Auch waren manche eines Vergehens wegen inhaftiert, andere krankheitshalber hospitalisiert, wieder andere leisteten Kriegsdienst in der Fremde. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass das Fernbleiben vom Familientisch nicht aus freien Stücken geschieht. Was hingegen mochte die Motivation, dem mittäglichen Familientisch fernzubleiben, dann fördern, wenn kein eigentlicher Zwang dazu bestand? Es liegt auf der Hand, dass wir in der Stadt und auf dem Land von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen müssen: So wird der Handwerker im Ort eher bereit sein, sich für eine Mahlzeit von der düsteren Werkstatt ins Freie zu begeben; der Bauer dagegen, der sein Tagwerk unter freiem Himmel ausübt, bevorzugt mit Sicherheit die Möglichkeit, im Hause verpflegt zu werden. Hinweise auf die Bereitschaft, aus den dunkeln Stuben und den engen Gassen ins Freie zu flüchten, gibt es zuhauf. Selbst in kleineren Siedlungen bot sich dafür seit dem ausgehenden Mittelalter ein Spazierplatz an. Diese Orte der Bewegung und der Lust verfügten stets über einen eg


Inszeniertes Picknick des Fotografen Jörg Koopmann nach dem berühmten Gemälde «Le déjeuner sur l’herbe» von Claude Monet aus den Jahren 1864/65 (Original S. 49) eh


essen ohne tisch Schatten spendenden Baumbestand, in späterer Zeit zusätzlich über Sitzbänke, einen Brunnen und schliesslich kleine Pavillons, Lusthäuschen genannt. Die Promenadenplätze gehörten mit Kirchen, Kuriositätenkabinetten, der Bibliothek, dem Rat- und dem Zeughaus zu den Sehenswürdigkeiten, die von Fremden auf der Durchreise bevorzugt aufgesucht wurden. Sie waren zudem der favorisierte Ort für den Empfang hochrangiger Gäste. Als die Stadt Basel 1473 Kaiser Friedrich III. (1415–1493) und dessen Sohn Maximilian auf dem Petersplatz zum festlichen Bankett empfing, war die Tafel für den Kaiser unter der grossen Eiche aufgeschlagen. Maximilian (1459–1519) war von der Besonderheit des Ortes so angetan, dass er zur Pflege des mächtigen Baumes 2000 Gulden gestiftet haben soll. Grund für die Begeisterung des jungen Fürsten war die besondere Zurichtung der grossen Eiche zu einem «zerlegten Baum». Durch gärtnerische Kunst waren ihre kräftigen Äste so in die Horizontale getrimmt, dass auf einer gezimmerten Plattform eine Laube mit Tisch und Bänken eingerichtet werden konnte. Aus Reiseberichten erfahren wir, dass die Gepflogenheit des Bäumezerlegens nicht nur in Basel, sondern während des 15. bis 18. Jahrhunderts auch im Süden Deutschlands und im Gebiet der deutschsprachigen Schweiz gepflegt worden war. In der Regel wurden ihres schnellen Wuchses wegen Linden dafür ausgewählt, die oft mit einem Platz für Schiessübungen verbunden waren; manche dienten darüber hinaus als Tanzlauben. Viele Basler Bürger der Mittelschicht verbrachten ihre Freizeit in den Gärten der Vorstädte. Diese Gärten waren weniger mit Gemüsen bepflanzt, hatten aber immer einen kleinen Weinberg in der Nähe und enthielten ausserdem ein «in schlechtem Geschmacke» gebautes Gartenhäuschen. Besonders an Sonntagen kam man hier mit der «Familie und guten Freunden für ein paar Stunden zusammen, um ein so genanntes

Abendessen (Gouté) abzuhalten, wobei gewöhnlich wacker getrunken» wurde. Überall, wo die Voraussetzungen klimatisch gegeben waren, scheinen die Menschen im 18. Jahrhundert ein Verlangen nach geselligen Zusammenkünften im Freien verspürt zu haben. Wie in Basel bildeten in Rom Reben die Kulisse für diese besonders von Frauen favorisierten Imbisse. Nicht Goutés nennt man sie hier, sondern Picknicks.

gehobene unterhaltung Die Herkunft dieses zweifellos originellen Wortes ist unklar, Pickenick, Picknick, Pique-nique, Piquenique, Picnic sind dessen Varianten. «Piquenique», die französische Version, setzt sich aus «piquer» «aufpicken» und «nique» «Kleinigkeit» zusammen. Diese Version taucht zum ersten (?) Mal 1692 in gedruckter Form auf. 1740 wurde das Wort im Dictionnaire de l’ Académie registriert und scheint in der zweiten Jahrhunderthälfte in die Sprache gehobener, Französisch sprechender Kreise eingeflossen zu sein. In dieser Form verwenden es zunächst auch deutsche Reiseschriftsteller: Keyssler 1751 bei der Schilderung von Eindrücken in Venedig, Andreae 1763 in Basel und Reichard 1793 in Rom. Das englische «Picnic» wird vor 1800 nur in Verbindung mit Anlässen auf dem Kontinent verwendet. Wir können somit davon ausgehen, dass damals in England keine Veranstaltung mit dieser Bezeichnung bekannt war. Das änderte sich 1802 mit der Gründung der «Picnic Society» in London. Die «Picnics», wie sich ihre Mitglieder untereinander nannten, trafen sich am späteren Nachmittag, um sich der gehobenen Unterhaltung zu

Basel verbietet anno 1763 «Piqueniques» als Massnahme gegen überbordenden Luxus ei

widmen. Es wurde Theater gespielt oder aus dem Kreis der Anwesenden ad hoc ein Musikensemble zusammengestellt. Das «Picnic Orchestra» mit Lady Buckinghamshire am Klavier und Lady Salisbury als passionierter Jagdhornbläserin wurde schnell legendär und nicht zuletzt aufgrund der Mitgliedschaft des Prince of Wales der Öffentlichkeit durch die Gesellschaftsnachrichten der Presse bekannt gemacht. Auf die künstlerischen Darbietungen folgte jeweils «a picnic supper, provided from a tavern». Picnic ist hier bedeutungsgleich mit von der Gemeinschaft produzierter gehobener Unterhaltung, kaleidoskopartig gestaltet mittels Musik, Schauspiel und Mahlzeit, an deren Zustandekommen sich jedes Mitglied mit einem Beitrag beteiligt.

mitgebrachte speisen Die Fokussierung des Begriffs auf eine Mahlzeit im Freien, dürfte im Rahmen des Romantic Movement erfolgt sein. Vor 1840 jedenfalls steht er für Anlässe, zu denen zwar Essen und Trinken gehört, die aber nur ausnahmsweise einmal unter freiem Himmel abgehalten werden. Schriftquellen rapportieren dazu Unterschiedliches. Der schon zitierte Keyssler erwähnt, dass in Venedig Gelegenheit bestehe, «mit einheimischen Damen ... in Wirtshäusern Piquenics zu veranstalten». In Basel werden sie 1763 im Kontext mit Massnahmen der Stadt gegen überbordenden Luxus genannt, dem Verbot, sich mit Juwelen und Brabanter Spitzen herauszuputzen, «Piqueniques», Maskeraden oder Tanzanlässe zu veranstalten. Weil in Hamburg 1770 «in einem gewissen öffentlichen Hause» der Koch, der die Speisen zurichten sollte, plötzlich krank geworden war, wurde in der Not ein «Pickenick» organisiert. Es sind dies Zitate, welche die Fantasie anregen. Auf jeden Fall weisen sie darauf hin, dass nicht selbstveständlich die Mahlzeit den Kern der Veranstaltung ausmachte. Ergänzendes zu den Funden in diesen Reisebeschreibungen des 18. Jh. lässt sich aus Untersuchungen des 19. Jh. zur Kulturge-


Fotos: Bibliothèque National, Puschkin Museum Moskau, Bridgman art Library

1) Die Wälder um Paris waren berühmt für Sonntagsausflüge: «Déjeuner sur l’herbe» von Claude Monet (1865/65).

schichte von Küche und Tafel entnehmen. Die Krünitzsche Enzyklopädie (1810) definiert «Pickenick/ Piquenique» mit «ursprünglich eine zum Genuss gesellschaftlicher Vergnügungen und des Tanzes zusammen gekommene Gesellschaft, von welcher jeder Teilnehmer eine Schüssel mitbringt ... Jetzt belegt man mit diesem Namen oft auch solche Gesellschaften, die der Reihe nach bey den Mitgliedern eines geschlossenen Zirkels herum gehen, wo denn der jedesmalige Wirt auch für die Bewirtung der Gesellschaft zu sorgen hat». Zu den bisher gewonnenen Erkenntnissen stehen die eingehenderen Forschungen Kudriaffskys (1880) nicht im Widerspruch: Unter Gasthöfen in England und Frankreich erwähnt sie eher zwielichtige Orte, die von Frauen niederen Ranges heimlich aufgesucht wurden, weil sie sich davon allerlei Kurzweil versprachen. Dazu gehörte selbstverständlich Essen und Trinken, ein Patchwork dessen nämlich, was jede von ihnen an Gerichten von zu Hause

2) Im Mittelalter verlustierte sich der Adel im Freien: «Mahlzeit nach der Jagd» (1387). ej


essen ohne tisch mitgebracht hatte. Im 16. Jh. waren auch Badstuben zu solchen Amusements bestimmt, wohin «jede Frau ihren Imbiss mitbrachte, Bretter über die Wannen gelegt wurden, und man das Essen während des Badens verzehrte». Zu Recht sieht die Autorin in diesen Stelldicheins eine der Keimzellen für die Entstehung des Picknicks.

privilegierter adel

3) Vergnügliches Mahl bei der Feldarbeit: «Bauernvesper» aus dem Jahr 1535.

Die Naturbegeisterung fand im Picknick ihre Ausdrucksform lassen, die stellvertretend für Tische auf den Boden gelegt sind. Eine Reihe von weiteren typischen Merkmalen mittelalterlicher Tafelkultur werden uns vor Augen geführt: Das Essbesteck ist auf wenige Messer beschränkt; drei Schankgefässe mit Wein – zwei Bauchkannen und eine Plattflasche mit Kette – sind zum Kühlen in einer Art Grotte ins fliessende Wasser gestellt; es steht eine ganze Auswahl verschiedenartiger Brote zur Verfügung; sehr schön wird uns in der Person des Dieners, der seinem Herrn eine Pastete präsentiert, vorgeführt, worin die Funktion der Serviette ursprünglich bestand.

vielerlei varianten Schriftliche und ikonografische Belege legen die Hypothese nahe, die Bezeichnung «Picknick» habe sich in den 1840er Jahren in der englischen Umgangssprache festgesetzt. Aus einem Wort, vielleicht beiläufig und im Scherz ausgesprochen, war ein Begriff geworden, eine Bezeichnung für eine neue fk

Form von Entertainement: die gemeinschaftliche Mahlzeit in der freien Natur. Im Gegensatz zu allen früheren Unternehmungen mit diesem Namen, zu Jagdmahl und zu Bauernvesper ist nun die Mahlzeit nicht Neben- sondern Hauptsache, und die Natur nicht Kulisse, sondern von Anfang an gezielt in das Konzept für die Landpartie einbezogen. Die Naturbegeisterung weiter Kreise fand in der Institution des Picknicks eine ideale Ausdrucksform. Eine Zusammenkunft unter Gleichgesinnten mit einer Mahlzeit als Mittelpunkt, die sich gegebenenfalls aus Produkten verschiedener Küchen zusammentragen liess, war ohne grossen Aufwand zu organisieren und konnte bezüglich der Kosten leicht den jeweiligen Umständen angepasst werden. Die Palette möglicher Varianten reicht vom Picknick zu dritt am Strassenrand mit Gurkensandwiches aus der Aluminiumbox und Tee aus der Thermosflasche bis zur Grossveranstaltung mit assortierten Weinen und kaum überblickbarem Speisenangebot. Berühmt, da im «Punch» in Wort und Bild bekannt gemacht, waren in den 1850er Jahren die Exkursionen, die Königin Victoria (1819–1901) mit ihrem Gemahl, Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha (1819–1861),

Foto: Oesterreichische Nationalbibliothek

Wenn wir diese schriftlichen Quellen um Erkenntnisse erweitern, die wir aus dem Studium von Bildern gewinnen, wird unser Blick auf ein Motiv gelenkt, das in der mittelalterlichen Buchmalerei häufig vorkommt: die «Mahlzeit auf der Jagd» (Abb. 2). Ikonografisch steht diese in geschwisterlicher Beziehung zu einem anderen Bildthema: zur «Bauernvesper auf dem Feld» (Abb. 3). Was beide Anlässe verbindet, sind die Voraussetzungen: die Mahlzeiten stehen nicht etwa in Zusammenhang mit einer aus freien Stücken unternommenen Landpartie, sondern sind, bedingt durch die jeweiligen Aktivitäten, für einmal ins Freie verlegt. Was in unserem bayerischen Beispiel von 1535 den Namen «Grasmahl» trägt, wird im Jagdbuch des Franzosen Gaston III Phoebus, comte de Foix, schlicht mit «Assemblée» bezeichnet. Im Mittelalter war die Jagd ein Privileg des Adels und des Herrn bevorzugter Zeitvertreib ausserdem. In der Miniatur von 1387 wird uns mit vielen aussagekräftigen Details vorgeführt, wie eine fürstliche Jagdmahlzeit in Frankreich vor über 600 Jahren vonstatten ging. Vor der Jagd sind alle Beteiligten auf einer Waldlichtung an einem Bach versammelt: der Graf und seine Begleiter, Jäger, Hundeknechte und weitere Diener sowie Pferde und eine ganze Rotte Jagdhunde. Obwohl von dem Bild eine heitere und vor allem ungezwungene Stimmung ausgeht, sind die Standesunterschiede der Akteure respektiert. Allein die Hauptperson, der Graf, sitzt bei Tisch. Alle übrigen haben sich an zwei weissen Leinentüchern niederge-


4) Königin Victoria pflegte mit einer kleinen Entourage im schottischen Hochland zu picknicken. «Queen Victoria» ca. 1850.

Drei Generationen – Grosseltern, Eltern und Kinder – haben sich an einem wunderschönen Herbsttag am Rande eines Weihers zum Picknick niedergelassen. «Holiday» hat der Künstler die Familienidylle genannt, womit ein Element des Picknicks an sich anklingt: die auf Müssiggang eingestimmte Ambiance.

besonderer moment

Fotos: Mansell Collection, Tate Gallery

5) Familienidylle im Freien: «Holiday» von James Tissot, anno 1877.

von Schloss Balmoral aus ins schottische Hochland unternahm (Abb. 4). Die königlichen Herrschaften waren zwar inkognito und «en petit comité» unterwegs, aber mit Picknick-Korb ausgerüstet und Klappstühlen als einzigem Luxus. Auch aufgrund ihres zwanglosen und frugalen Charakters hatten diese Picknicks eine Vorbildfunktion. Bald wurde jede Gelegenheit zum Vorwand für ein Picknick genommen: die Mittagspause in Colleges, die Pferderennen in Epsom und Ascot, die Ruderregatten in Henley-on-Thames. Der französische Malers James Tissot fing 1877 während seines Aufenthalts in England (Abb. 5) die zauberhafte Stimmung ein, die von der Landschaft ausgeht und sich auf die kaum agierenden Personen überträgt:

Friedliche Ferienstimmung ist typisch für viele Bilder von Tissots französischen Malerkollegen. Mit den Vorstellungen der Impressionisten, die vom Flirren des Lichts, vom Spiel der Sonne auf dem Wasser und vom fortwährenden Wandel des Kolorits der Landschaft so fasziniert waren, dass sie ihre Häuser verliessen und die freie Natur zu ihrem Atelier bestimmten, liess sich das Sujet «Mahlzeit im Freien» gut verbinden. Zwei Maler verdienen es, in diesem Zusammenhang zuerst genannt zu werden: Edouard Manet, dessen «Déjeuner sur l’herbe» 1863 einen Skandal auslöste, und Claude Monet, welcher der Öffentlichkeit wenig später ein Gemälde mit demselben Titel vorgestellt hat (Abb.1). Die Wälder um Paris bildeten am Sonntag ein beliebtes Ziel der Stadtbewohner. Hier suchten sie Erholung von der Hektik der Grossstadt, fanden fb

zurück zur Gelassenheit und entspannten sich bei reichlich Wein und delikaten Speisen. Alle Elemente, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwingend zum Inventar eines Picknicks gehören, sind vorhanden. Vergnügen: Lust ist der alleinige Grund dafür, dass für eine Mahlzeit das Haus verlassen wird. Ort: Bühne des Geschehens ist die freie Natur, wo ein geeigneter Platz mit Bedacht ausgewählt wird. Gemeinschaft: Die Zusammensetzung ist nicht zufällig, sondern verwandtschaftlich oder durch Freundschaft bedingt. Speis und Trank: Die Mahlzeit bildet den Schwerpunkt des Unternehmens. Die Gerichte sind reflektiert zusammengestellt, die meisten davon fertig zubereitet von zu Hause mitgebracht; einzelne werden auch einmal an Ort und Stelle zubereitet. Inszenierung: Sie schliesst das Besondere, Aussergewöhnliche mit ein; der Tag soll sich von anderen abheben. Spielt schliesslich noch das Wetter mit, ist es jedenfalls allerhöchste Zeit, den PicknickKoffer vom Speicher herunterzuholen! Andreas Morel ist Kunsthistoriker und Publizist. Der Beitrag wurde von der Redaktion gekürzt. Die vollständige Version, inklusive Literaturhinweise, finden Sie auf www.slow.ch


glosse tet. Und da erwartet uns das Undenkbare! Der Korkenzieher glänzt durch Abwesenheit. Doch die Rettung naht – in Form eines Schweizer Sackmessers, das die Mama (als würdige Nachfolgerin von Mac Gyver) aus der Tasche zieht. Wenn wir schon bei vergessenen Dingen sind,

Die Freuden des Picknicks

stühle zu erwähnen, die neben der Armada von Kinderspielsachen keinen Platz mehr im Koffer-

ei einem Familien-Picknick sitzt man ausnahmsweise mal «auf» der (Tisch)Decke und kann sich auch sonst von den

Zwängen lösen, nicht wahr? Nicht unbedingt, denn beim Picknick lauert die Anarchie … Die Kinder schwirren um den Grill und kommen den Flammen gefährlich nah, die wir so mühselig zum Leben erweckt haben. Plötzlich dieser Hungerschrei aus aller Munde. Aber die Grilladen sind noch nicht fertig. Und während das Fleisch brutzelt, erhitzen sich die Gemüter. Die Kinder üben sich in Geduld und im Ballspiel. Die Salate werden aus der Kühlbox genommen – dem unverzichtbaren Eisschrank eines jeden Picknickers. In einem pawlowschen Reflex rufen wir «zu Tisch!», und der Ball fliegt, wie vom Schicksal geführt, mitten in die Salate. Macht nichts, diesen Preis bezahlt man gern für einen

raum unseres Autos fanden. Nach zwei Stunden auf dem Boden fehlen uns diese Stühle nun schmerzlich und erinnern uns daran, wie schnell doch die Zeit vergeht. Man wird fast schon neidisch, wenn man an die Deutschen, Holländer oder Franzosen denkt, die ihren Klapptisch überallhin mitnehmen und selbst auf Autobahnraststätten aufstellen. Na ja, wenigstens ist das Wetter schön, oder zumindest war es schön. Eine grosse schwarze Wolke scheint uns nämlich ins Visier genommen zu haben. Jetzt muss alles schnell gehen, und schon sind wir wieder im Auto. Mit Genugtuung sehen wir die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe fallen. Auch wenn unser Ausflug nicht viel gemein hatte mit dem «Déjeuner sur l’herbe» von Édouard Manet, haben wir doch ein Abenteuer erlebt, das sich ins kollektive Gedächtnis der Familie einprägen wird. Das ist der wahre Grund,

besonderen Moment! Drei Würste später (die lieben Kleinen mögen ja nur Würste) wollen die Kinder natürlich, dass wir das Badminton-Netz aufspannen. Wir führen den Befehl aus, bevor die Sache zur Staatsaffäre wird. In der Hitze des Gefechts hätten wir fast vergessen, auf unseren Ausflug anzustossen. Wir nehmen also eine der in Reih und Glied in der Kühlbox wartenden Rosé-Flaschen. Beim Picknick ist es nämlich wichtig, genug Getränke dabeizuhaben, da man schnell mal etwas verschüt-

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warum man gerne picknickt und warum dieses Mal nicht das letzte Mal gewesen sein wird. Frédéric Rein ist freier Jounalist

Zum Lesen Le guide des places de pique-nique, herausgegeben von GeneralMedia, Fr. 19.–, www.pique-nique.ch Praktischer Führer mit 150 Picknickplätzen in der französischsprachigen Schweiz, die eine gute Infrastruktur aufweisen. Sowohl für Familien als auch für Verliebte empfehlenswert.

Foto: Jörg Koopmann

Beim Picknick werden sonst gültige Regeln meist missachtet. Es geht chaotisch zu und her, und vieles wird dem Zufall überlassen. Bericht über ein besonderes Erlebnis.

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freiwillig vergessenen diesmal, gilt es die Klapp-


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historie

Tafelgeschichte(n)

Tische prägen Geschichten, seit es sie gibt: Einige haben gar Geschichte geschrieben. Wissenswertes und Witziges querbeet durch die Jahrhunderte. Von Thomas Widmer es: «Leint iuch niht ûf den ellenbogen. Sitzt ûf geriht und niht gesmogen (geduckt).»

Der Opfertisch Unser Tisch stammt vom Opfertisch ab, sagen die Kulturwissenschaftler. «Der Mensch erhöht das Tier auf dem Altar, dem hohen Tisch, und teilt es im Opferschmaus mit den Göttern.» (Hajo Eickhoff)

Um 1000 VOR CHRISTUS Der Tisch des Odysseus König Odysseus gilt nach dem Trojanischen Krieg als verschollen. Dreiste Freier bedrängen seine Frau Penelope. Odysseus kehrt als Niemand zurück, keiner kennt ihn. Erst bei einem Festmahl gibt er sich zu erkennen und nimmt Rache an den Freiern, unter anderem an Antinoos: «Da fuhr dem Antinoos der Pfeil des Odysseus in die Gurgel, dass die Spitze aus dem Genick hervordrang. Der Becher entstürzte seiner Hand; dem Erschossenen fuhr ein dicker Blutstrahl aus der Nase, und

Mittelalter

Das Abendmahl

während er zur Seite sank, stiess er den Tisch samt den Speisen mit dem Fusse um, dass diese auf den Boden rollten.»

Erstes Jahrhundert VOR CHRISTUS Das Festbankett von Asterix und Obelix Die «Asterix und Obelix»-Geschichten enden gern mit dem rituellen Festbankett. Der griechische Universalgelehrte Poseidonios hat die Kelten und ihr Bankett beschrieben: «Sie essen anständig, aber mit dem Appetit eines Löwen, und sie packen die Gliedmassen mit beiden Händen fest und nagen diese bis auf die Knochen ab.»

Um das Jahr 30 Der Tisch des Abendmahls Ein letztes Mal speisen die 12 Jünger mit Jesus, es ist ein Donnerstag. Am nächsten Tag wird Jesus am Kreuz sterben. «Und während sie assen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach es und gab es ihnen und sprach: Nehmt, das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus.»

Mittelalter Tischzuchten Im Mittelalter entstehen Regelwerke des Benimms, die «Tischzuchten». In einer solchen heisst fe

Jagdtafel In der Jagdpause bekommt der Fürst einen Tisch. Die anderen Teilnehmer setzen sich an ein Tuch, das auf dem Boden ausgebreitet wird. (vgl. Abb. 2 S. 49)

Mittelalter Die mönchische Tafel In den Klöstern ist der Tisch, bzw. was auf ihm steht, das Abbild der Ordensregel. Die Bettelorden speisen bescheiden, während sich die Tafel bei den Benediktinern ob all der Speisen biegt.

Um 1150 Die Tafelrunde 12 bis 1600 Ritter sitzen an ihr versammelt, je nach Fassung der Geschichte von König Artus. Er soll die runde Tafel erfunden haben im Bemühen, Streitereien um den besten Platz

Geratenen tut und am meisten Abenteuer durchlebt.

1298 Der Tisch zu Nürnberg Als die deutschen Fürsten zusammenkommen, um dem neuen König Albrecht I. zu huldigen, verlässt der Erzbischof von Köln zornentbrannt den Speisesaal. Grund: Der Erzbischof von Mainz hat sich gewaltsam den Platz zur Rechten des Königs genommen.

um 1470 Der bürgerliche Tisch Verschiedene Quellen offenbaren: In der spätmittelalterlichen Bürgerstube deckt ein

Fotos: Bridgeman Art Library (3), Meret Oppenheim/Pro Literis, Keystone (2)

Vorzeit

zu verhindern. Der Sitz zur Rechten von Artus bleibt frei: Er soll jenem Ritter gehören, der am meisten für die in Not


Tuch den Tisch. An diesem säubert man nach dem Essen das Messer. Auch zerschneidet man es in der Mitte, sollte der Streit eskalieren und Genugtuung gefordert sein. Salzfässchen und Gewürzbehälter sind bereits vorhanden.

um 1650 Kinder am Tisch Bei Tisch herrschten vor allem für Kinder strenge Sitten: Die jüngeren dürfen sich nämlich nicht an die Tafel setzen, sie müssen am Tisch stehen beim Essen.

1756 Fürstliches Bankett Der Fürstbischof von Basel begibt sich nach Biel. Dort richtet man ihm im Hôtel de Ville ein Bankett aus. In der Ratsstube ist die grosse Tafel für 60 Personen gedeckt, das Silbergeschirr wiegt 15 Zentner und ist unter schwerer Bewachung herbeigeschafft worden.

So braucht es, zum Beispiel für den Haferbrei oder das Apfelmus, keine Teller oder Schalen. Vor allem auf dem Land ist diese rudimentäre Tischart verbreitet.

Gebratenem, so viel Platz hatten, und ein grosses Glas mit rotem Wein leuchtete, dass einem das Herz lachte.» So erzählt es das Märchen der Gebrüder Grimm.

1819

Ab 1901

Das Tischleindeck-dich Ein junger Mann geht bei einem Schreiner in die Lehre, und am Schluss besteht sein ganzer Lohn in einem unscheinbaren kleinen Tisch. Doch obacht! Wenn man spricht: «Tischlein, deck dich!», dann «war das gute Tischchen auf einmal mit einem saubern Tüchlein bedeckt, und stand da ein Teller, und Messer und Gabel daneben, und Schüsseln mit Gesottenem und

Nobelpreis-Tafel Das Bankett gibt es so lange wie den Nobelpreis. Seit den dreissiger Jahren wird es im Stockholmer Rathaus zelebriert. Im Beisein des schwedischen Königspaares nehmen gut 1300 Gäste an der fünfzig Meter langen Tafel sowie an zahlreichen Nebentischen Platz. 200 Lakaien tragen auf. Zum Schluss wird ein illuminiertes Eis, das «Glace Nobel», serviert.

Die Kaisertafel Wilhelm II. zu Gast in der Schweiz. Der Tisch im Zürcher Hotel Baur au Lac mit sieben Meter Durchmesser war eigens für den Anlass gefertigt worden und kostete damals 2500 Franken.

einspringen. Er serviert das Essen, bringt unzählige Trinksprüche aus, umkreist einige Male torkelnd den gediegenen Tisch und wird immer betrunkener.

1939 Kunst am Tisch Die Künstlerin Meret Oppenheim zeigt in Paris einen Tisch mit Vogelfüssen, ein poetisch-fantastisches Möbel.

1963 Die «Dinner for One»-Tafel Die deutsche Fernsehproduktion zeigt Miss Sophie an ihrem 90. Geburtstag. Für die (verstorbenen) Herren Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy und Mr. Winterbottom muss Butler James

18./19. Jahrhundert Der Muldentisch In die Tischplatte aus Holz sind tellergrosse Mulden eingelassen.

1912

Die Nobelpreis-Tafel ff

1989 Der Runde Tisch Davon gab es viele. Meist stehen auf ihm nur Kaffee und Mineralwasser, denn es werden an ihm gravierende Dinge verhandelt. Der berühmteste Runde Tisch: Jener, den man in der Wendezeit der DDR einrichtete, um den Nach-Sozialismus zu besprechen. Thomas Widmer ist Redaktor beim Tages-Anzeiger


Jean-François de Troy, «Die Austernmahlzeit», Musée Condé, Chantilly. fg

Foto: RMN/Harry Bréjat

Essgelage


kunstbetrachtung

Gestern und heute: Der Tisch in der Kunst

Künstlerische Darstellungen früherer Jahrhunderte fokussieren auf die Gesellschaft bei Tisch. Heutige fordern die Sinne der Betrachter heraus.

Foto: Keizo Kioku. Mit Genehmigung des Künstlers, Gallery SIDE 2, Tokyo Opera City Art Gallery.

Von Maja Baumgartner

tafelfreuden

Rirkrit Tiravanija, «Untitled, 2002 (the raw and the cooked)». Installation, Tokyo Opera City Art Gallery. fh


Kunstbetrachtung

L

ouis XV. beauftragt den Künstler François de Troy (1679–1752), ein Bild für den Speisesaal in Versailles zu malen. Der Speisesaal als solcher ist eben erst in Mode gekommen und nun gilt es natürlich, ihn prunkvoll auszustatten und entsprechend zu zelebrieren. Zuvor hat man nämlich am Hof an einer Tafel gegessen, die provisorisch auf einem Gestell aufgebaut war. Der Esstisch als festes Möbelstück etabliert sich erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. De Troy, ein Historien- und Genremaler, illustriert auf dem Gemälde «Die Austernmahlzeit» (1735), in welchem Rahmen die gehobene Gesellschaft damals gespeist hat, und verewigt damit Sitten und Gebräuche seiner Auftraggeber für die Nachwelt. Auf dem Tisch locken Austern und Champagner, selten so dargestellt wie hier. Auf beinahe humoristische Weise hält der Künstler die Überraschung einiger Gäste fest, als der Korken knallt und aus der Flasche springt – auf dem Gemälde ist er links über der stehenden Menschengruppe zu sehen. Die unbeschwerte Atmosphäre des Bildes spiegelt den bereits etablierten Ruf des Champagners als Muntermacher, der «die Augen zum Glänzen bringt, ohne das Antlitz zu entflammen». Die Form der Gläser, der Kleidungsstil und der pompöse Rahmen der Szene deuten ausserdem darauf hin, in welch privilegierten Kreisen das Getränk konsumiert wurde. Austern erfreuten sich ebenfalls grosser Beliebtheit zu Troys Zeit, der Adel delektierte sich häufig und mit Genuss daran. Serviert wurde die Delikatesse opulent, meistens auf Metalltellern – Porzellan war noch nicht verbreitet. Auch der Wandel von Geschmack und Manieren kommt in Troys Gemälde zur Geltung: Fülle und Üppigkeit sind passé, nun ist Qualität gefragt. Die

Speisen werden nicht mehr mit Saucen zugedeckt, wie dies bis Mitte des 17. Jahrhunderts üblich war. Was zählt, ist der Eigengeschmack. Zudem halten Etikette, Hygiene und Savoir-vivre Einzug: Serviermöbel dienen zur Abkühlung der Flaschen sowie als Ablage für saubere Teller. Schliesslich glänzen bei Troys Gelage die Frauen durch Abwesenheit. Vermutlich findet das Essen nach einer Jagdpartie statt. Dennoch manifestiert sich die Mahlzeit als sozialer Akt – und als Möglichkeit, Prestige und Luxus zur Schau zu stellen.

Der Esstisch als Möbel etablierte sich erst Ende des 18. Jahrhunderts Rirkrit Tiravanija, geboren 1961 in Buenos Aires, hat in Äthiopien, Thailand, Kanada und den USA gelebt und dadurch unterschiedliche Kulturen kennen gelernt. Seit den neunziger Jahren besteht seine charakteristische Arbeit darin, Rahmen und Anlässe zu schaffen, in deren Zentrum das Essen steht. Tiravanija hat sich vor allem damit einen Namen gemacht, in Kunstgalerien zu kochen, wo er seine (meist thailändischen) Kreationen den Besuchern kostenlos kredenzt. Sein künstlerisches Schaffen dreht sich vorwiegend um den Essensakt, um Besitz, Austausch und Kultur im weitesten Sinne. Seine Performances stellen gesellige, informelle Momente dar. Was am Ende bleibt, zeugt von der Beziehung zwischen Kunst und Leben. Tiravanija lädt den Zuschauer ein, einen Vorgang mitzuerleben (kochen und essen) und sich Gedanken zum kommerziellen und sozialen Aspekt der Kunst zu machen: Die meisten seiner Werke stehen nicht zum Verkauf, da es sich nicht um Objekte im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr

ermöglicht der Kontakt zwischen Künstler und Publikum, das Werk einen Moment lang zu «besitzen». Bei der Installation «Untitled, 2002 (the raw and the cooked)» arrangierte der Künstler Speisen und Getränke auf einem 18 Meter langen Tisch in einer japanischen Galerie. Er schuf also eine typische Situation, die zum Tafeln einlädt. Die offerierten Lebensmittel sind allerdings ungeniessbar: Es handelt sich um Plastik-Attrappen, die in japanischen Restaurants und Imbisslokalen gerne verwendet werden, um die Kreationen des Küchenchefs im Schaufenster zu präsentieren. Tiravanija schafft dadurch Distanz zwischen dem Objekt und den Emotionen des Betrachters. Zwar stellt er ein Element des täglichen Lebens als Momentaufnahme dar. Aber die Speisen werden nie konsumiert und verderben auch nicht. Ebenso bleibt der Tisch (ohne Essensdüfte) unverändert, er wird also nie von einer vergangenen Mahlzeit zeugen. Auf beinahe klinische Art und Weise – und im Kontrast zu seinen Koch-Ess-Performances – fordert der Künstler unsere Sinne heraus, indem er ein Bankett schafft, das nicht stattfinden wird. Diese Installation, aber vor allem das Gesamtwerk Tiravanijas erinnert an die «Fallenbilder» von Daniel Spoerri aus den siebziger Jahren. Der Schweizer Künstler klebte Essensreste und Geschirr auf der Platte des Tisches fest, an dem die Mahlzeit stattgefunden hatte. Beide Künstler thematisieren das Essen: Jean-François de Troy malt Personen, die ausgewählte Speisen geniessen, während Rirkrit Tiravanija mit seinem gedeckten Tisch ohne Gäste den Duft und Geschmack von Essen bildlich darstellt. Maja Baumgartner ist Kunsthistorikerin


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Gastrosophie

Ein Königreich für eine Tafelrunde

Von Véronique Zbinden

N

achdem man sich einen Platz ausgesucht hat, speist man inmitten von Unbekannten. (…) Die Erfahrenen und Schnellen ergattern die besten Stücke: Pech für die, die langsam kauen!» Mit diesen wenig einladenden Worten* wurden kurz vor der Französischen Revolution die ersten «tables d’hôtes» (Gemeinschaftstafeln) beschrieben, an denen sich die Gäste nach Ankunft ihrer Kutschen verköstigten … «Damals nahm man am Tisch Platz, wenn die Pferde gewechselt werden mussten. Die Vermögenderen bekamen auch mal ein Zimmer, um sich auszuruhen, die anderen begnügten sich mit dem Stall», erklärt der jurassische Chefkoch Georges Wenger. Die Zeit der Kutschen ist längst vorbei, doch die «tables d’hôtes» leben wieder auf. Der Trend begann in Frankreich und Österreich mit dem Aufkommen des Agrotourismus. Zum Teil wird auch ein gewisser Luxus geboten, und manchmal gehört sogar ein Sprudelbad in einem umgebauten Stall dazu. Auch in der Schweiz wird diese Gastronomieform zelebriert – für verschiedene Budgets und Bedürfnisse. Aufgekommen sind die heutigen «tables d’hôtes» im Zuge ländlicher Idylle mit «Schlafen im Stroh», das zuerst im Jura angeboten wurde. «Viele Bauern mussten sich neu orientieren, um ihr Überleben zu sichern», sagt

Nicole Houriet, Generalsekretärin des Vereins «laendlicher-tourismus.ch». Nun böten sie landhungrigen Städtern nicht nur ein Bett im Stroh, sondern auch Mahlzeiten an. «Sie haben eben erkannt, dass sie sich ohne grossen Aufwand ein zusätzliches Einkommen sichern können.» Der Bauernhof von Denise Philippona, ein dreihundert Jahre altes Kleinod aus kunstvoll gearbeitetem Holz im Herzen des grünen Greyerzerlandes, hat schon europäische Minister, einen Schweizer Bundes-präsidenten, zahlreiche diplomatische Vertreter aus China und Amerika sowie verschiedenste Vertreter der Handelskammer Freiburg beherbergt. Der Hof eignet sich aber auch für Firmenausflüge, Geburtstagsfeiern, für Familien, Freunde und Verliebte. Man kann sich voll und ganz der wunderschönen Landschaft hingeben, dem satten, mit schwarzen Kühen gesprenkelten Grün, dieser üppigen und endlos scheinenden Natur – und natürlich den köstlichen Meringues!

etwas eigenes schaffen Es ist ein einfacher und rustikaler Ort irgendwo auf halbem Weg zwischen Restaurant und Esstisch zu Hause. Der grosse Tisch lädt zur Ungezwungenheit, zur gemütlichen Runde mit Bekannten und Unbekannten. Meist gibt es ein einheitliches Menü, selten stehen verschiedene Speisen zur Wahl. Denise Philippona war eine der ersten in der Region, die vor gut zwölf ga

Jahren mit dieser Gastronomieform begonnen hat. Natürlich ging es ihr damals nicht zuletzt um das zusätzliche Einkommen, aber auch darum, etwas Neues, Eigenes zu schaffen, um die Leere auszufüllen, die ihre erwachsenen Kinder hinterlassen hatten. Sie wollte den Raum, in dem traditionsgemäss die Festessen serviert wurden, der Öffentlichkeit zugänglich machen. Besonders gefällt es ihr, Leute kennen zu lernen. «Ich muss dafür nicht mal mein Haus verlassen», sagt sie. Im Gesetz über öffentliche Gaststätten sind verschiedene Kategorien definiert, für die ein Patent erworben werden kann: «Die Lizenz für die Kategorie «table d’hôtes» berechtigt dazu, in einem Bauernhof oder Weingut einer Zahl von höchstens 20 Gästen Speisen sowie alkoholische und alkoholfreie Getränke zu servieren.» Die einzelnen Kantone sind bei der Auslegung des Artikels mehr oder weniger kleinlich. «Am Anfang war es eine grüne Bewegung», sagt Michèle Zuffrey von

Foto: CINETEXT

Die «tables d’hôtes», eine ungezwungene und gesellige Gastronomieform, wurde im 18. Jahrhundert geprägt. Jetzt feiert sie Urständ – dank Agrotourismus.


Table d’hôtes, zelebriert im dänischen Film «Babettes Fest».

Die Zahl der «tables d’hôtes» ist hierzulande schwierig zu beziffern Agridea, der Schweizerischen Vereinigung für die Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums. Heute stellten die «tables d’hôtes» jedoch eine Ergänzung zu anderen traditionellen Restaurationsformen dar. «Ursprünglich wurzelten sie in der ländlichen Gastronomie.» Damit unterstreicht Zuffrey, welch wichtige Funktion die Bäuerinnen seit jeher in unserer Gesellschaft hatten, sind sie doch die Hüterinnen des alten Wissens. Aber nicht nur Bauern versuchen sich in der Kunst der «tables d’hôtes», sondern auch andere, die sich neu orientieren wollen: Hausfrauen, die *Louis Sébastien Mercier, zitiert aus «Dictionnaire amoureux de la cuisine», Alain Ducasse, Plon, 2003.

etwas Eigenes auf die Beine stellen wollen, Kochverrückte oder Städter, die sich in renovierten Bauernhöfen niedergelassen haben. Da ist zum Beispiel Michel, der früher ein renommiertes Restaurant geführt hat und heute einen medizinischen Beruf ausübt. Wenn er Lust hat, kreativ zu arbeiten und seiner Passion, dem Kochen, zu frönen, organisiert er eben «tables d’hôtes».

verlockende vielfalt Was wird an einer solchen Gemeinschaftstafel denn so aufgetischt? Bei den «tables d’hôtes» geht es um Kreativität. Dadurch entsteht eine unglaubliche Vielfalt: Jeder Bauernhof, jeder Gastgeber, jedes Lokal stellt sein eigenes Angebot zusammen. Man findet also, wie auch sonst in der Gastronomie, unzählige Variationen und regionale Färbungen. Da gibt es geräuchertes Fleisch, traditionelle Speisen (wie die Meringues im Greyerzerland), Wild- und Fischspezialitäten, aber gb

auch «gesunde» Biokost sowie Gerichte mit Blumen und Wildkräutern oder fremdländische Spezialitäten aus Marokko, Asien und Afrika. Auch ist es schwierig zu sagen, wie viele «tables d’hôtes» in der Schweiz existieren: Tourismusorganisationen gehen von über 200 Bauernhöfen aus, auf denen man sich bekochen lassen kann. Wahrscheinlich betreiben aber die meisten ihre Gaststätten nicht ganz legal, um die Bürokratie zu umgehen. Denn was springt bei einer «table d’hôtes» schon heraus? «Ein Butterbrot», sagt Michel schmunzelnd. Normalerweise braucht er drei Tage für die Vorbereitung seiner massgefertigten Menüs. «Nicht viel», bestätigen andere, die ihre Spezialitäten selber zubereiten und sogar das Tischbrot backen – und dies alles zu einem unschlagbaren Preis. Ach, und diese Bricelets … einfach köstlich! Véronique Zbinen ist freie Journalistin


Dekoration

Das Auge isst mit

Christophe Laurent, Professor an der Hotelfachschule Lausanne, über «arts de la table» – den Tisch als gastro-kulturelles Gesamtkunstwerk. Von Frédéric Rein Illustration adrian hablützel

J

emanden am Tisch zu empfangen, bedeutet, den Alchemisten zu spielen: feinfühlig und gekonnt mit Geschmäckern, Umgangsformen und Ästhetik zu jonglieren und eine Atmosphäre mit grossem emotionalem Mehrwert zu schaffen. Willkommen in der Welt der «arts de la table»! Gemäss Christophe Laurent, der dieses Fach an der Ecole hôtelière de Lausanne lehrt, könnte man den Begriff etwa so umschreiben: «Es geht um das gewisse Etwas, das bei einem gastro-kulturellen Erlebnis den Wow-Effekt auslöst.» Slow.ch: Herr Laurent, bei Kunst geht es per Definition um Kreativität. Wie vermitteln Sie das? Christophe Laurent: Ich spreche lieber von innovativer Kraft als von Kreativität. In der Modewelt ist alles schon einmal erfunden worden. Man kann jedoch Produkte und Ideen der heutigen Welt anpassen. In dieser Hinsicht ist jeder gefordert, auf seine eigene Art künstlerisch tätig zu werden. Um dies aber voll und ganz ausschöpfen zu können, muss man sich zuerst eine Basis aneignen. Bei diesen Grundlagen geht es zuerst einmal um die Motivation. Ausserdem sollte man flexibel sein, also entsprechend den eigenen Grenzen und Ressourcen handeln. Zu guter Letzt sind minimale technische Kenntnisse erforderlich, beispielsweise einen Wein richtig temperiert zu servieren. Das klingt nach wenig Spielraum – erst recht, weil Etikette wieder gefragt ist ...

Ganz im Gegenteil! Bei uns gibt es keine Leitlinien, darin liegt die Stärke der «arts de la table». Demnach sollte das Messer nicht immer rechts des Tellers platziert werden? Dieser Brauch stammt aus dem Mittelalter, als die Ritter den Dolch zu ihrer Rechten platzierten. Er ist nicht unumstösslich. Warum das Messer nicht mal links oder horizontal hinlegen, wenn dadurch eine Einheit entsteht? Wenn es einen Grund dafür gibt, kann selbst mit den Fingern gegessen werden. Heisst das, Sie setzen keinerlei Grenzen? Wenn es um Kreativität geht, ist es besser, Konventionen zu sprengen als den «gewohnten Rahmen» nie zu verlassen. In jedem Fall ist es aber wichtig, seine Gäste gut zu kennen, damit man weiss, wie weit man gehen kann, ohne sie in geschmacklicher oder visueller Hinsicht zu schockieren … Einmal mehr sprechen wir über subjektive Wahrnehmung … Was empfinden Sie persönlich als peinlich? Ein Waadtländer Wein zu einem scharfen Curry beispielsweise. Diese Kombination ist schlichtweg nicht zu Ende gedacht. Oder eine winzige Portion auf einem riesengrossen Teller, aber auch trendiges Geschirr, das überhaupt nicht zur Inneneinrichtung eines traditionellen Restaurants passt. Vor einigen Jahren war es noch üblich, sich zuerst um die Tischdekoration zu kümmern und danach um das Essen. Dabei sollte genau umgekehrt vorgegangen werden! Man wählt eine Dekoration, die zu den Speisen passt und die Atmosphäre entsprechend stimmungsvoll untermalt. Was zählt, ist die einheitliche Gesamtwirkung. gc

Dennoch gibt es Moden. Was sind zurzeit die aktuellen Trends? Die Zeit der randvollen Teller ist vorbei. Die Portionen werden vernünftiger und die Gefässe kleiner, wodurch sie flexibler verwendbar sind. Ein schlichter, schnörkelloser Stil ist en vogue. Auch wird weniger geprotzt. Weinschwenker, die an Aquarien erinnern, weichen kleineren Gläsern, die sowohl für Rot- als auch Weisswein einsetzbar sind. Wasser serviert man heute meist in becherartigen Trinkgefässen.


oder Provence geniessen kann. Ausserdem denke ich, das Essen wird wieder bewusster auf die Jahreszeiten abgestimmt werden. Welche Zukunft ist der Molekularküche beschieden? Diese Zubereitungsart ist zwar für Köche, die damit arbeiten, sehr lukrativ, hat aber in Sachen Kreativität ihren Höhepunkt bereits überschritten. Molekularküchenkits, die mittlerweile gar im Supermarkt erhältlich sind, mögen zwar amüsant sein, aber mehr als eine Spielerei sind sie nicht.

Warum das Messer nicht horizontal oder links hinlegen?

Und die transparenten Teller, die so modern waren, sind die nun out? Ja, es werden wieder rein weisse Teller verwendet, auf denen die Farben der Speisen besser zur Geltung kommen. Alle Formen sind möglich: oval, eckig, oder dreidimensional gewölbt. Gleichzeitig lässt sich ein Trend zurück zu guten Manieren beobachten ... Das stimmt. Sogar die jungen Frauen der «virtuellen Generation» schätzen ein galantes Benehmen. Und «Guten

Tag, Herr Sowieso» hört sich einfach besser an als das simple «Guten Tag». Es besteht ein starkes Bedürfnis, Werte wieder zu pflegen, die wir vernachlässigt, ja, beinahe verloren haben. Wie werden die «arts de la table» ihrer Meinung nach in zehn Jahren aussehen? Ich sehe kleine Gefässe mit immer vielfältigerem Inhalt. Eine Rückkehr zur traditionellen Küche, die mit einfachen Geschmäckern und Produkten auskommt, wie man sie in der Toskana gd

Dieses Beispiel zeigt, wie sehr die «arts de la table» heute Allgemeingut sind. Das haben wir den Grossverteilern zu verdanken. Eigentlich wäre es eine positive Entwicklung, doch die Konsumenten fallen immer wieder Modegags zum Opfer, worunter natürlich die Originalität zu leiden hat. Denken Sie bloss an die Löffel mit gebogenen Stielen, die am Tassenrand hängen! Was raten Sie uns? Man sollte nie vergessen, mit Formen und Licht zu spielen, um den Tisch grösser, prachtvoller erscheinen zu lassen. Allerdings sind Kerzen auf Augenhöhe zu meiden, weil sie die Gäste blenden. Mit Materialien kann hingegen frei, nach eigenem Gusto umgegangen werden: Ein knittriges Tischtuch aus Leinen beispielsweise sieht genau so originell aus wie ein absolut faltenfreies Tuch. Ein origineller Trick bei der Tischdecke ist übrigens auch, einen Draht an den Enden der Tischüberdecke zu befestigen, so dass diese nach oben ragen. Als Tischdekoration können durchaus auch Katzengras oder verschiedene Kräuter verwendet werden. Grossartig ist, wenn es gelingt, einen Überraschungseffekt zu erzielen und verschiedene Dinge erst nach und nach zu enthüllen. Doch die Hauptsache resepektive was am Ende zählt, ist die gute Stimmung bei Tisch. Frédéric Rein ist freier Journalist


wein

Die Revanche der Tafelweine

Günstig im Preis, minder in der Qualität, so die Vorurteile gegenüber Tischwein. Tempi passati. In Italien und Frankreich verhelfen innovative Winzer dem simplen Tropfen zu neuen Ehren.

T Von Patricia Briel

afelwein, vin de table, vino da tavola, vino de mesa – ein Begriff, der in den meisten Weinländern Europas existiert. Er steht für einfache Weine, die keine richtige Identität haben, weil sie die Kriterien für die offiziellen Gütesiegel nicht erfüllen. Minderwertige Ware also? Jein. «Tafelwein» bezeichnet je nach Land unterschiedliche Realitäten und Qualifikationen – was unsere Nachbarn im Süden und Westen weinbautechnisch geradezu zu kreativen Höhenflügen angespornt hat. Hauptargument für den önologischen Paradigmenwechsel in Italien und Frankreich ist die amtliche Auszeichnung DOC respektive AOC (Denominazione di Origine Controllata/Appellation d’Origine Contrôlée), die innovativen Winzern zu eng gefasst ist. In Italien vermochten die neuen «vini da tavola» gar eine qualitative Revolution zu generieren, was anno 1992 zu Reformen führte. In Frankreich hingegen galten AOC-Weine – zumindest bis vor kurzem – immer als absolute Spitzenerzeugnisse und Tafelweine als Billigverschnitt. Doch nun hat sich auch in Frankreich eine neue Generation von Weinbauern der untersten Güteklasse verschrieben, um unter diesem Prädikat ebenfalls Qualitätsweine zu produzieren und damit ganz nebenbei die Auswüchse des AOC-Systems anzuprangern. Die Galionsfigur im Klassenkampf des Weinbaus heisst Marchese Piero Antinori. Der Toskaner kreierte 1974 den Tignanello, eine Mischung aus ge

80% Sangiovese und 20% Cabernet Sauvignon. Er nannte den Wein «vino da tavola», da die Bezeichnung «DOC Chianti» aus dem Jahr 1967 die Beimischung von Cabernet Sauvignon verbot. In den Augen des Marquis versagte das DOC-System jedoch völlig, denn die Regeln waren nicht auf die Produktion von Qualitätsweinen ausgerichtet – man denke bloss an die wenigen wirklich guten Chianti-Weine der siebziger Jahre! Piero Antinori hegte andere Ambitionen. Und die liessen sich eben nur unter der Bezeichnung «vino da tavola» verwirklichen.

super-toskaner Prompt löste der Tignanello im Weinbau einen Flächenbrand aus: Zwischen 1975 und Anfang der neunziger Jahre kamen die meisten Weine aus der Toskana als Tafelweine auf den Tisch; die Journalisten nannten sie «SuperToskaner». Mit Verkaufspreisen weit über denjenigen der DOC-Weine legten sie das grossartige Potenzial Italiens zu einer Zeit offen, als einzig den Franzosen Spitzenweine zugetraut wurden. Wen wunderts, dass die Toskaner zahlreiche Nachahmer fanden in fast allen Regionen Italiens? Seit 1992 werden die «vini da tavola» unter der Bezeichnung IGT (Indicazione Geografica Tipica) vertrieben, was dem französischen Landwein, dem «vin de pays», entspricht. Seit Einführung der Qualitätsstufe IGT und der qualitativen Neuausrichtung des DOCSystems wird die Bezeichnung «vino da tavola» kaum mehr verwendet.



wein

Sogar berühmte Bordeaux-Produzenten wagen sich neuerdings an den Tafelwein Die Renaissance des italienischen Weins konnte sich unter dem Banner des «vino da tavola» vollziehen, weil bei der Schaffung des DOC-Systems im Jahre 1963 die Aspekte Terroir, Typizität und Qualität zweitrangig waren. Obwohl es dem französischen AOCSystem nachempfunden war, hielt es lediglich die bestehenden Praktiken fest, die zwangsläufig zu mittelmässigen Weinen führten: Überproduktion, Anbau auf nicht idealen Böden, starre Züchtungsvorschriften etc. In Frankreich hingegen ist die Herkunftsbezeichnung AOC seit der Einführung im Jahre 1935 an den geografischen Ursprung und an das Terroir gebunden. Sie steht seit jeher für Qualitätswein und stellt eine Authentizitätsgarantie dar. Eine im September 2007 veröffentlichte Umfrage der Konsumentenschutzorganisation «UFC-Que Choisir» ergab denn auch, dass in den letzten vierzig Jahren «der Konsum von gewöhnlichem Wein (hauptsächlich Tafelwein) auf ein Viertel gesunken ist, während sich der Konsum von Qualitätsweinen (vor allem AOC-Weine) verdreifacht hat». Die Autoren der Studie stellen aber ebenso fest, dass «sowohl Konsumenten als auch Experten seit den siebziger Jahren eine stete Verschlechterung der Typizität und geschmacklichen Qualität gewisser AOC-Weine bemerkt haben». «UFC-Que Choisir» hat 75 Experten

(Produzenten, Händler, Önologen) zu rund zwanzig französischen AOC-Weinen (darunter Corbières, Beaujolais, Bordeaux und Bordeaux supérieurs) befragt. Dabei gaben 40% der Befragten an, das AOC-Siegel sei keine Qualitätsgarantie mehr. Zudem fanden 65%, dass «die AOC nicht die Typizität eines Terroirs wiedergibt». Die Gründe: uneinheitliche und ineffiziente Anerkennungsverfahren, Standardisierung von anerkannten Weinen sowie höhere Produktionsmengen von AOC-Weinen, die 44% der Weinproduktion ausmachen – verglichen mit 25% bei den Tafelweinen. Zahlreiche Winzer, die Wert auf eine qualitativ hochstehende Weinproduktion legen, was beispielsweise die Einschränkungen von chemischen Zusätzen anbelangt, konstatieren, das AOC-Zulassungsverfahren bestrafe die ursprünglichen und authentischen Weine mit Regionalcharakter – wie etwa beim Winzer Jean-Paul Brun vom Weingut Terres Dorées: Ein Teil seines Beaujolais l’Ancien wurde aufgrund fehlender Typizität zum Tafelwein herabgestuft. Die Autoren der Studie bilanzieren deshalb: «Beim Produktionswettkampf der letzten dreissig Jahre wurde der Markt am Ende von standardisierten Weinen überschwemmt. Dies zeigt, dass das AOC-System völlig versagt hat.» Vor dem Hintergrund dieser Glaubwürdigkeitskrise des AOC-Systems gewinnen die Tafelweine in einigen Regionen Frankreichs immer mehr Liebhaber. Bei den Produzenten lassen sich vier Kategorien unterscheiden, die sich dem «vin de table» verschrieben haben: jene, denen das Prädikat aufgrund einer Herabstufung ihrer Weine aufgezwungen wurde; jene, die es aus Protest gegen die Auswüchse der AOC gewählt

gg

haben; jene, die neue Wege beschreiten, und schliesslich jene, die bekannt genug sind, um ohne Risiko einen Tafelwein auf den Markt zu bringen. Heute ist es also geradezu en vogue, einen Tafelwein guter Qualität zu produzieren – und aufzutischen. Der Markt dafür besteht, sogar für teure Tropfen. So hat sich der junge Winzer Reynald Héaulé im Gebiet um Orléans einen Namen gemacht, indem er die qualitative Messlatte hoch gelegt hat. Seine Weine verkaufen sich für das Zwei- bis Dreifache der regionalen AOC-Weine. Ausserdem sind gewisse Tafelweine in Regionen wie Languedoc-Roussillon zur Legende geworden, da die AOCWeine dort nicht über das gleiche Ansehen wie beispielsweise im Burgund oder Bordeaux verfügen. Der Erfolg der Tafelweine des Weinguts Terre Inconnue von Robert Creus im Languedoc zeugt vom Potenzial dieser Region. Sogar berühmte BordeauxProduzenten wagen sich an den Tafelwein, etwa das Weingut Château PavieMacquin, das jüngst einen Rosé lanciert hat. Trotz Missständen «bleibt das AOCSystem Frankreichs Massstab», sagt Experte Eric Duret, seines Zeichens bester Sommelier Europas im Jahr 1998. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Frankreich eine Bewegung wie diejenige der «vini da tavola» in Italien erlebe, zumal die Reform des AOCSystems in Angriff genommen worden sei. «Sollte dies jedoch nicht zur Anhebung der Qualitätsstandards führen», sagt Weinfachmann Duret, «hätten die Tafelweine durchaus eine Zukunft.» Patricia Briel ist Journalistin bei der Tageszeitung Le Temps


meinung

Roger Staub

Food gehört auf den Teller und das Auto in die Garage!

Lehrer, Autor. Schreibt regelmässig für Slow.ch

Tramanschluss haben, werden von überdimensionierten Bildschirmen herab von ausgehungerten Mädchen in Billigkleidern aus dem fleischhungrigen China angelächelt,

G

surfen von Dorf- zu Stadtfest, von Jodlermeisterschaft zu rad konnte man der Zeitung eine weitere Diffe-

Open-Air und bringen unsere Kinder mit dem Geländewa-

renzierung in der Frage nach der Schuld für die

gen sicher zum Geigenunterricht, damit sie nicht vom

Preissteigerungen bei Lebensmitteln entnehmen:

Stadtfuchs gebissen werden.

Ausgerechnet die Weltbank hat herausgefunden, dass v. a.

Reden wir offen: Die absolute Freiheit des Marktes führt

die rasante Produktion von Biotreibstoffen für die Steige-

höchstens zur Selbstregulierung der Gewinne derjenigen,

rung der Lebensmittelpreise verantwortlich ist – bis zu 75%

welche sowieso schon genug oder zu viel haben. Sie sind die

und nicht wie von der US-Regierung behauptet lediglich

Pionierpflanzen in unseren Gärten, die alles andere überwu-

3%. Bravo! 7:6 für die Wahrheit, doch warten wirs ab, bis die

chern, weil wir sie nicht zurückstutzen und im Gegenteil

nächste mediale Vernebelungsaktion für eine Neutralisie-

noch tüchtig düngen. Der deregulierte Markt führt zur

rung der Wahrheit sorgt. Ich weiss, es liegt noch viel Land

Freiheit der schrankenlos Machthungrigen, Unersättlichen,

brach, das für C02-neutralen Biotreibstoff genutzt werden

und zu einer Umverteilung sowie zur Konzentration der

kann, ich weiss, ich benütze auch kompostierbares Gartenge-

Vermögen in immer weniger Händen und somit zur Aufhe-

schirr, ich weiss, mit dem Öl gehts zu Ende, ich weiss, jede

bung der Freiheit. Es stimmt, das Konzept «Sozialismus» hat

neue Technologie hat ihren Preis. Gegen diese Differenzie-

nicht funktioniert, der Mensch scheint – mindestens so wies

rungen ist wenig einzuwenden, aber leider weiss ich ebenso-

angepackt wurde – nicht geschaffen dafür. Aber was wir für

gut, dass für die Treibstoff-Monokulturen rücksichtslos

die Kritik am real nicht mehr existenten Sozialismus in

gerodet wird, ich weiss auch, dass eben Lebensmittel und

Anspruch nehmen, muss auch für den global entfesselten

nicht Pflanzen (z. B. Hanfblätter) hierfür verwendet werden

Kapitalismus gelten, nämlich, dass sowohl schrankenlose

und dass die grossen Konzerne im Verbund mit rücksichtslo-

wirtschaftliche Kontrolle wie schrankenlose wirtschaftliche

sen Börsenmaklern zünftig an der Preisspirale drehen.

Freiheit zur Freiheit von Wenigen und zu Zwang und Elend

Inzwischen wird kräftig weitergehungert, mit oder ohne

von Millionen führen.

Illustration: grafilu.ch

Biotreibstoff verenden die Leute in Afrika wie die Tiere. Bei

Etwas Gutes hat die Teuerung: Es geht uns Mitteleuropä-

allem Respekt für die Errungenschaften des menschlichen

ern ans Portemonnaie und somit auf den Sack, dass wir uns

Geistes sei angesichts der drückenden Beweislast die Frage

nicht mehr die Ferien, das Auto oder den Breitbildfernseher

erlaubt: Sind wir noch bei Verstand?

leisten können, den wir begehren. Jetzt müssen wir nur noch

Wir fahren in klimatisierten Bussen durch blank polierte Strassen, erfahren aus Anzeigetafeln, wann wir den nächsten

die richtigen Konsequenzen ziehen. Wünschen wir uns hierzu viel Glück! gh


Philosophie

In der Schweiz gibt es bisher zehn Förderkreise Zincarlin, ein Käse aus dem Val

Slow Food Förderkreise

√ √

di Muggio im Tessin, 2006 Cicitt, eine Bratwurst aus Ziegenfleisch aus dem Locarnese im Tessin, 2006

Altes Wissen erhalten und regionale Wertschöpfung fördern.

kulinarisches erbe Herausragende gastronomische Produkte, die durch die industrielle Standardisierung, die Bedingungen der Grossdistribution mit ihren Hygienevorschriften und durch die Umweltverschmutzung bedroht sind, werden in die symbolische Arche des Geschmacks aufgenommen (vgl. S. 85). Um jedoch die Zukunft dieser Produkte zu sichern, werden in einem zweiten Schritt die wirtschaftlichen Massnahmen geplant und umgesetzt, indem ein Förderkreis gegründet wird. Die konkreten Ziele eines Förderkreises können ganz

unterschiedlich sein: Es kann zum Beispiel darum gehen, die übriggebliebenen Produzenten zusammenzubringen und ihnen durch Kommunikationsmassnahmen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Oder das Wissen über alte handwerkliche Produktionsmethoden und damit lokale Arbeitsplätze mit fairer Entlöhnung zu bewahren und Abwanderung zu verhindern. Oder mit dem traditionellen Wissen ein neues absatzfähiges Produkt zu entwickeln, um ein lokales Ökosystem zu erhalten oder wieder wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen. Oder auch Qualitätsprodukte durch eine Verbreiterung des Absatzmarktes zu erhalten, indem sie einem grösseren Publikum bekannt und schmackhaft gemacht werden und ihm so die Wichtigkeit der Geschmacksvielfalt und unseres reichen kulinarischen Erbes wieder bewusst wird. Allen Zielen gemeinsam ist, dass eine lokale und wirtschaftlich nachhaltige Wertschöpfung gesichert oder wieder geschaffen wird. Produkte können nur erhalten werden, wenn es einen Absatzmarkt gibt. Hier ist die Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop zentral und eröffnet den Produzenten mit dem nationalen Verkauf ihrer Produkte in Coop-Läden die notwendigen wirtschaftlichen Perspektiven. Da ein Förderkreis schön aufzeigt, worum es Slow Food geht und wie die Philosophie gut, sauber, fair umgesetzt und gelebt werden kann, stellen wir in jeder Ausgabe von slow.ch einige Beispiele von schweizerischen Förderkreisen vor. gj

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Pastefrolle della Valle Bedretto, ein Mürbteiggebäck aus dem Tessin, 2007 Paun sejel Val Müstair/Paarl, ein Roggenbrot aus dem Engadiner Münstertal, 2007 Ur-Roggenbrot aus dem Wallis, 2007 Farina bóna, ein Mehl aus gerösteten Maiskörnern, Tessin, 2008 Zwetschgenlandschaften im Tafeljura, Produkte aus Hochstammzwetschgen, Baselbieter und Fricktaler Jura, 2008. Schweizer Brenzer-Kirsch aus einheimischen dunklen Hochstammkirschen, Region Innerschweiz und Baselbiet, 2008 Einheimische Dunkle Biene Schweiz, in Zusammenarbeit mit ProSpecieRara, Landrassen-Bienenhonig, schweizweit, 2008 Dörrbohnen aus reinen Schweizer Biobohnen, schweizerisches Mittelland, 2008

Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop 2006 wurde eine Zusammenarbeit zwischen Slow Food Schweiz und Coop vereinbart, um den Aufbau von schweizerischen Förderkreisen und die Vermarktung von schweizerischen und internationalen Förderkreis-Produkten zu ermöglichen. Coop unterstützt Slow Food mit Mitteln aus dem Naturaplan-Fonds, heute Fonds für Nachhaltigkeit. Durch diese Partnerschaft mit Slow Food kann Coop einerseits sein Engagement für biologische und traditionelle Vielfalt im Lebensmittelangebot verstärken und bietet andrerseits den FörderkreisProdukten den notwendigen Absatzmarkt, damit sie zu fairen Bedingungen produziert werden können und damit erhalten bleiben. Die Förderkreis-Produkte sind in ausgewählten Coop-Läden und in Abhängigkeit von ihrer Verfügbarkeit erhältlich (Liste der Verkaufsstellen siehe www.coop.ch/slowfood).

Foto: Véronique Hoegger

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ines der Hauptziele der weltweiten Slow Food-Bewegung ist, die Vielfalt bei Nutzpflanzen und Tierrassen, bei Grundprodukten und Lebensmitteln, bei Düften und Farben – kurz bei Genuss und Geschmack unseres Essens zu erhalten. Diese Vielfalt ist die Essenz unserer Lebensqualität, nämlich unseres Wohlbefindens und letztlich unserer Gesundheit. Diese Vielfalt erhalten verlangt Respekt für die natürlichen Ressourcen und Sorgfalt im Umgang mit dem Wissen, das die Menschen durch jahrzehnte- manchmal jahrhundertelange Erfahrung in der Nutzung dieser Ressourcen entwickelt haben. Slow Food hat deshalb bereits in den neunziger Jahren zwei grosse Initiativen lanciert: Die Arche des Geschmacks und die Förderkreise, um angesichts der globalisierten Nahrungsmittel-Industrialisierung die Zukunft der lokalen, hochwertigen Agrar- und Lebensmittelproduktion zu sichern.

Aufbau mit Unterstützung aus dem Coop-Fonds für Nachhaltigkeit:



Förderkreis

Mais, Mühle, Mehl

Eine alte Spezialität aus dem Onsernonetal soll wiederbelebt werden. Zur Freude kreativer Hobbyköche.

sättigend und nährend Das hervorragende Produkt aus dem Onsernoneral, einem der ärmsten Gebiete des Kantons Tessin, wurde ursprünglich «farina sec’a» (getrocknetes Mehl) genannt im Unterschied zur «farina verda» (normales Maismehl aus ungerösteten Körnern). Um 1920 bekam es seinen heutigen Namen «farina bóna», eben «gutes Mehl». Einerseits natürlich, weil es gut mundete. Andererseits, weil es sättigend und nährend war und man die farina bóna essen konnte, ohne sie vorher zu kochen. In den sechziger Jahren kam die Produktion des «guten Mehls» immer mehr zum Erliegen, bis es in den Siebzigern fast gänzlich aus der Tessiner Küche verschwand.

Die letzte Produzentin war notabene die erwähnte Annunziata Terribilini aus Vergeletto. Wie sie auf die Idee kam, den Mais zu rösten und erst dann zu mahlen, darüber kursieren mehrere Hypothesen. Die eine steht in engem Zusammenhang mit der StrohhutIndustrie, die von 1600 bis ca. 1890 im Onsernonetal florierte. Für die Flechtarbeit musste unreifer Roggen geerntet werden, weil die Halme biegsamer waren. Die noch grünen Körner wurden zu Brot und Brei verarbeitet. Damit sie sich besser mahlen liessen, mussten sie vorab geröstet werden. Folglich begann Nunzia, die neue Spe-

Farina bóna lässt sich roh geniessen – zum Wein beispielsweise zialität im Tal, den Mais, ebenso zu verarbeiten, wie sie es vom Roggen gewohnt war: Zuerst in der Pfanne rösten, dann mahlen. Die zweite Hypothese ist eng mit der Emigration verknüpft: Durch den Zerfall der Strohhut-Industrie sahen sich viele Einwohner ab Anfang des 19. Jahrhunderts gezwungen auszuwandern. Nicht wenige suchten ihr Glück in Amerika, wo das Popcorn gerade in Mode kam. Demnach könnten einige Heimkehrer Nunzia vorgeschlagen haben, Popcorn zu produzieren. Zu Nunzias Zeiten vermengte man die farina bóna einfach mit Milch oder Wasser und genoss sie so zu frischen Beeren oder Wein. Auch als Suppe war sie beliebt. Heute verarbeiten Hobbyköche die farina bóna selbst zu Glace, Bier, Bisquits, Mousse, Grissini oder

ha

«Spätzli»-Teig – Schnabulierfreuden eben, bei denen der charakteristische Röstgeschmack und der feine Mahlungsgrad gut zur Geltung kommen.

Der Förderkreis Der Zweck des Förderkreises ist es, die Herstellung und die Verwendung der farina bóna im Onsernonetal wieder besser zu verankern. Deshalb sollen traditionelle und innovative Rezepte sowie die Produkte aus farina bóna schweizweit der Öffentlichkeit vorgestellt – und natürlich schmackhaft gemacht werden. Durch die Förderung der farina bóna kann die ökonomische Situation in diesem armen, aber wunderschönen Tal verbessert und der Tourismus in abgelegenen Ortschaften leicht angekurbelt werden. Im unteren Talabschnitt wurde früher Mais kultiviert. Der Wiederanbau von diversen lokalen Maissorten, zusammen mit den Bauern ist ein weiteres Ziel. Ebenso die Unterstützung und Förderung des Projekts «Quattro mulini» in Vergeletto: Eine der vier Mühlen, nämlich jene von Nunzia, soll restauriert werden, um sie wieder für die Herstellung der farina bóna nutzen zu können. Farina bóna kann regional (www.farinabona.ch) oder in ausgewählten Coop-Filialen als Slow Food-Produkt gekauft werden (www.coop.ch/slowfood).

Kontakt

Referente del Presidio Slow Food: Ilario Garbani, 6654 Cavigliano Tel. 091 796 29 67, gila@ticino.com

Fotos: Véronique Hoegger

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ot macht erfinderisch, wusste schon Grossmutter. Vielleicht hatte sie Nunzia gekannt, pardon, Annunziata Terribilini aus Vergeletto (1883–1958). Die Tessinerin verhalf dem Onsernonetal nämlich zu einer wahren Delikatesse, als die Hungersnot in den zwanziger Jahren besonders gravierend war. Und das kam so: Als Nunzia die Mühle aus dem Familienbesitz erbte, begann sie, Mais zu mahlen – eine neue Spezialität, die soeben ins Tal gekommen war. Doch die Müllerin malte die Körner nicht einfach wie beispielsweise den Weizen. Sie packte vielmehr eine grosse Bratpfanne, um den Mais auf dem Holzherd vorab zu rösten, bis die Körner platzten und ihr weisses Inneres nach aussen kehrten. Erst dann liess Nunzia die schweren Mühlsteine ihre Arbeit verrichten – voilà: Die farina bóna war «erfunden».


Die Maiskörner werden zu Popcorn geröstet, bevor sie in der Mühle zur schmackhaften farina bóna verarbeitet werden.


Förderkreis

Zwetschgen und Landschaft Hochstammbäume prägen die Landschaft des Tafeljuras. Damit das so bleibt, sollen vermehrt Zwetschgen-Spezialitäten gezaubert werden.

Zwetschgen-Delikatessen Die «Mutter» des Projektes ist Dora Meier. Als engagierte Geschäftsführerin der Organisation «Erlebnisraum Tafeljura» liess sie sich 2005 von SlowFood-Gründer Carlo Petrinis Prinzip leiten: «gut, sauber und fair». Der Förderkreis dient nämlich auch dazu, den Bauern der Region attraktivere Bedingungen für ihre Arbeit zu bieten. «Wir zahlen den Produzenten für ein

Kilo frische Zwetschgen einen Franken», sagt Dora Meier. Bis anhin hätten sie für ein Kilo Obst zur Schnapsproduktion bloss 23 Rappen bekommen. «Zudem sichern das Entkernen von Hand und das Trocknen der Früchte den Bäuerinnen ein zusätzliches Einkommen.» Majestätische Zwetschgen-Hochstammbäume (Hauszwetschgen, Bühler, Fellenberg) finden sich vor allem in den Baumgärten der Dörfer, entlang von Bächen und in Talmulden. Die charakteristische Kulturlandschaft wurde in der Selbstversorgungsära

Das Entkernen von Hand bringt Bäuerinnen einen Extrabatzen geprägt, als die Bauernfamilien den Boden noch in Doppelnutzung urbar machten. Die Zeitzeugen sind eine Augenweide sowie ökologisch äusserst wertvoll. Deshalb steht der Tafeljura mit seinen Hochstammgewächsen denn auch auf der Liste der national bedeutenden Kulturlandschaften. Nach alten Rezepten und herkömmlichen Herstellungsmethoden, nämlich grösstenteils von Hand, wurden diverse Zwetschgenspezialitäten entwickelt wie eben die Posamentertörtli mit der typisch herbsäuerlichen Füllung aus Dörrzwetschgen. Eben so überraschend im Gaumen ist das Prune d’Or, dessen Aussehen zwar an Confi erinnert, geschmacklich aber eher einem Chutney entspricht mit süss-sauren und würzigen Noten. Prune d’Or brilliert besonders zu Gschwellti mit Käse, Fleischpasteten, Braten, Suppenfleisch,Wildgerichten oder zu asiatischen Speisen. Fast schon anarchistisch muten Bäcker hc

Ernst Schmids Läckerli an: Statt kandierte Früchte knetet der Baselländler gedörrte Zwetschgen in die zähe Masse des Läckerliteigs und konkurrenziert damit den Baselstädtischen Klassiker aufs Köstlichste. Bäcker Schmid, Dora Meier und andere Mitglieder des Förderkeises hoffen, dass die Konsumenten dank den süssen Versuchungen wieder auf den Geschmack von HochstammZwetschgen kommen. Schliesslich ist eine steigende Nachfrage der beste Garant, dass die Bäume wieder gepflegt und die Baumbestände verjüngt werden. Nur so lässt sich letztlich der Charme dieser prächtigen Kulturlandschaft bewahren.

Posamentertörtli gibts als Slow Food-Produkt in ausgewählten CoopFilialen der ganzen Schweiz. Sie können aber auch wie die anderen PosamenterProdukte über www.posamenter.ch bezogen werden. Ausserdem werden die Hochstamm-Spezialitäten vom 25.10 bis 11.11.08 an der Basler Herbstmesse auf dem Petersplatz feilgeboten.

Kontakt

Slow Food Förderkreis-Referent: Dr. Jürg Ewald, Convivium Baselland Ziefnerstrasse 28, 4424 Arboldswil juerg.ewald@slowfood.ch

Fotos: Véronique Hoegger

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ie sehen aus wie ihre berühmten Schwestern aus dem österreichischen Linz, prangte da nicht ein Baslerstab respektive ein Schweizerkreuz auf dem Deckel: Die Zwetschgentörtchen von Bäcker Ernst Schmid aus Zunzgen, Kanton Baselland. Genau genommen heissen die gluschtigen Backwaren «Posamentertörtli». Der Name würdigt eine Epoche, in der die Posamenterei im Tafeljura von grosser Bedeutung war; jene Bauernfamilien, die damals in Heimarbeit Seidenbändel woben, lebten vorwiegend als Selbstversorger. Womit auch schon fast geklärt ist, warum die Zwetschentörtchen so wunderbar intensiv fruchtig schmecken: Das Obst im Innern des Mürbteiggebäcks stammt ausschliesslich von Hochstammbäumen aus dem Baselbieter und Fricktaler Tafeljura. Die Früchte sind kleiner als solche von Niederstammkulturen, konzentrieren jedoch eine Aromenfülle im Fleisch, dass es eine Freude ist. Dies und die Tatsache, dass die landschaftsprägenden Bäume immer mehr vernachlässigt, wenn nicht gar abgeholzt werden, um lukrativeren, leichter zu bewirtschaftenden Niederstamm-Anlagen zu weichen, führte zum Projekt «Produkt-Förderung von Hochstammbäumen aus dem Tafeljura».


Zwetschgen von Hochstammb채umen aus dem Tafeljura sind klein. Getrocknet liefern sie eine unvergleichliche Aromenf체lle.

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brauchtum

Geschmackvolles Geheimnis Heuer wird das Jahr der Baumnuss gefeiert. Grund genug, dem sagenhaften Tessiner «Nocino» nachzuspüren.

Von Roger Staub Foto Martina MeIer

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m 24. Juni – am Tage des San Giovanni – ist im Tessin der Teufel, d.h. die ganze Familie los und irgendwo in der Pampas anzutreffen, beim Sammeln der begehrten, noch grünen Baumnüsse nämlich. Wer einmal – versehentlich oder aus übermässigem Hunger – in eine grüne Nuss gebissen und mit verzerrtem Gesicht ausgespieen hat, der fragt sich zu Recht, warum die Leute nicht warten können, bis die Frucht verholzt und die Schale abgefallen ist. Die Antwort ergibt sich, wenn man die Tessiner Sammler noch etwas beobachtet. Die volle Schürze wandert zuhause nämlich zuerst auf den Rüsttisch, wo die grünen Nüsse je nach «Geheimrezept» ganz gelassen, gevierteilt, gehäckselt, geschält oder ungeschält in eine riesige Flasche Grappa geleert werden. Diese stellen sie an einen warmen Ort – beispielsweise auf den Balkon – und lassen ihn ca. 40 Tage wirken. Dann würzen sie das Ganze und geben Zucker dazu. Jede Familie schwört auf ihre Ingredienzien und auf die «Tricks», die natürlich geheim sind und die doch alle kennen; einige sammeln die Nüsse bei Vollmond, andere lassen den Grappa nur 20 Tage ruhen, wieder andere legen die Nüsse nicht in Grappa, sondern in puren Alkohol und behaupten, nur diese Zubereitungsart verdiene die wahre Bezeichnung «Nocino». Etwas für sich hat die Idee, nur gute, vollwertige Ingredienzien (qualitativen Grappa und Vollrohrzucker) zu verwenden

und – im Zeichen der Klimaerwärmung – die Nüsse schon ein bis zwei Wochen früher zu sammeln. Die Wurzeln des Nocino reichen weit ins Mittelalter und finden sich in Sassuolo bei Modena. Der San Giovanni oder der Tag des Sankt Johanni am 24. Juni gilt als das religiöse Fest der Sonnenwende und wurde früher mit zahlreichen christlichen Riten begangen, die keltisch-germanisch geprägt waren. Hitzige Tänze unter der Sonne oder am Feuer nach einem erntereichen Tag, an dem nicht nur die begehrten Nüsse, sondern auch Kräuter und Blüten gesammelt wurden. Wenn man im Tessin von «dem Nocinorezept» spricht, fällt immer wieder der Name «Fra Roberto» aus

Der «Nocino» soll vor allem auf Frauen betörend wirken dem Kapuzinerkloster Santa Maria in Bigorio, wo die Herstellung seit 1535 nachgewiesen ist. Fra Roberto soll durch seine Nachforschungen das beste Rezept gefunden haben (s. Kasten). Einmal mehr erweisen sich die «enthaltsamen» Mönche als wahre Künstler des Geschmacks – Entbehrung treibt die schönsten Blüten. Wessen Fastenkatalog lang war und selbst Geflügel und Fisch beinhaltete, weil diese nicht unter die Kategorie «Fleisch» fielen, der ist auf einen verdauungsfördernden Digestif angewiesen. Und diese Wirkung wird dem Nocino nachgesagt. Übrigens soll er besonders auf Frauen betörend wirken, die ihn dem scharfen Grappa der Männer vorziehen und vielleicht deshalb beim Sammeln und Herstellen zuvorderst anzutreffen sind. Der Streit um die richtige he

Bezeichnung ist kaum zu schlichten und am besten lässt man den «Nocino» neben dem «Ratafià» bestehen. Während die Bezeichnung «Nocino» (Nussschnaps) für sich selbst spricht, soll sich der Begriff «Ratafià» laut Professor Ovavio Lurati von der Universität Basel von «rata fiat» (die Sache ist ratifiziert, sprich besiegelt) herleiten. Der Name ist im ganzen Mittelmeerraum vertreten und bezeichnet je nach Region einen anderen Digestif. Mag sein, dass der Tessiner «Ratafià» nach Vertragsabschlüssen serviert wurde oder halt, um die Mädchen anstatt mit Süssigkeiten mit Nocino zu übertölpeln – sicher ist, dass sich um diesen «Nussgrappa» unzählige Mythen ranken, die in ihrer Gesamtheit alle Ausdruck dafür sind, dass Essen und Trinken beim Menschen immer mehr bedeutet als pure Ernährung – nämlich Liebe, Geselligkeit, Abgrenzung und Verbrüderung, Zusammenhalt und Selbstbehauptung – Salute! Roger Staub ist Lehrer. Er schreibt regelmässig für slow.ch

Nocino (Ratafià)-Rezept 300 g grüne Walnüsse (sie müssen so weich sein, dass sie mit einer Nadel durchstochen werden können) schälen und vierteln und in 1 Liter Grappa einlegen. 40 Tage an einem warmen, sonnigen Ort gären lassen. Dann herausnehmen, Nüsse auspressen. Dem dadurch gewonnenen grünlichen Saft gibt man nach Belieben Gewürze (Macis, Nelken, Zimt, Vanille, Muskat) und 200 g Zucker bei und lässt alles drei weitere Wochen ziehen. Danach filtern und abfüllen.


Der genussreiche Schatz ist verborgen und geschützt, wie es sich für eine königliche Frucht gehört. hf


Special

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Das Convivium Tessin feierte seinen 20. Geburtstag. Ein Blick zurück zeigt, was die erste Slow Food-Regionalgruppe der Schweiz bisher erreichte. Carlo Petrini, Präsident von Slow Food International, war zu Gast am Fest. rückschau hält Gründungsmitglied Luca Cavadini ..................................................

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Kongress Der internationale Beirat tagt in Cadro ..................................................... ic Interview mit Carlo Petrini ........................................................................................... id

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Foto: Véronique Hoegger

Tessiner Förderkreis-Produzenten stellen sich vor .................................................. ig



special

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☞ Slow Food Ticino

blickt auf eine bewegende und bewegte Zeit zurück. Der Präsident schildert den Werdegang des ältesten Schweizer Conviviums. von LuCA CAVADINI

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nvorstellbar, aber seit der Gründung von Slow Food Ticino sind tatsächlich schon 20 Jahre vergangen! In Locarno fängt alles an, und zwar am 25. Januar 1988: Unter der Leitung von Giorgio Canonica stellen einige italienische Vereinsmitglieder die Statuten auf und legen den Grundstein für das Tessiner Convivium. Damit hat sich das Tessin der Arcigola- bzw. Slow Food-Vereinigung angeschlossen, die Carlo Petrini 1986 gegründet hat. Drei Jahre später wird am Pariser Kongress von 1989 offiziell die Internationalisierung der Vereinigung und die Namensänderung in Slow Food beschlossen. Slow Food Ticino folgt der stetigen Weiterentwicklung der Vereinigung und versucht seine Aktivitäten dem Arcigola-Programm anzugleichen. Ab 1991 wird die Bezeichnung Arcigola nicht mehr verwendet. Anfang der neunziger Jahre arbeitet das Convivium am Weinführer «Vini d’Italia» mit, insbesondere am Kapitel über die Tessiner Weine. 1996 beschloss der Herausgeber Gambero Rosso aus redaktionellen Gründen, das Kapitel über das Tessin wegzulassen. Eine Zusammenarbeit, die noch heute weitergeführt wird, ist diejenige mit den Osterie d’Italia, einem Guide für italienische Ess- und Trinkkultur. In dieser Zeit findet auch ein reger Austausch mit anderen italienischen

Convivien statt, und es werden Partnerschaften geschlossen wie zum Beispiel mit dem Convivium von Jesi unter der Leitung von Herrn Mancini oder demjenigen von Vercelli unter der Leitung von Gabriele Varalda. Dank dieser Kontakte können nicht nur neue Gegenden entdeckt werden, es ergeben sich auch Freundschaften, die immer noch bestehen. Die Gründung von Slow Food Schweiz im Jahr 1992 auf dem Zürcher Uetliberg hat eine teilweise Ablösung von Slow Food Italien zur Folge. Das

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Der erste Schweizer Förderkreis wird für den Zincarlin gegründet Tessiner Conivivium nimmt an diesem Anlass teil, weil es, wie die ganze Slow Food-Bewegung, an die Internationalisierung und an die Gründung von Länderorgnisationen wie Slow Food Deutschland oder USA glaubt. Ungeachtet aller guten Vorsätze misslingt jedoch die Umsetzung des Beschlossenen. Vorübergehend entstehen entsprechend den Schweizer Sprachregionen, drei parallele Vereinigungen mit direkter Verbindung zum Sitz in Bra. Dieser Zustand besteht bis 2003. Erst dann wird erfolgreich eine einzige Schweizer Vereinigung auf die Beine gestellt, was 2004 am Kongress von Mendrisio besiegelt wird. In der ersten Zeit des Bestehens gelingt es Slow Food Schweiz dennoch, in Bellinzona eine Veranstaltung auf hi

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10 Fotos: Reza Khatir, Ursula Hasler


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nationaler Ebene zu organisieren, an der Vertreter aller Schweizer Convivien teilnehmen. Nach einem erfolgreichen Treffen der Regionen Trentino, Tessin und Langhe 1997 in Rovereto wird ein ähnliches Projekt für Mendrisio ins Auge gefasst, zu dem die Provinz Ivrea und die Bündner Herrschaft (Malans, Zizers) eingeladen werden. Während zweier Tage stehen Geschmackserlebnisse mit Produkten aus den drei Regionen auf dem Programm. Unsere guten Beziehungen zu Slow Food Italien ermöglichen auch die Organisation einiger thematischer Schulungen, beispielsweise über Käse, über Wurstwaren oder Fisch. Auch dürfen wir an allen von Slow Food Italien organisierten «Giochi del Piacere» mitwirken. Im Jahr 1998 nehmen wir eine erste, wichtige Hürde, nämlich die des 10-jährigen Bestehens. Dies muss gebührend gefeiert werden. In Zusammenarbeit mit den Tessiner «Circoli del Cinema» wird ein kleines Filmfestival organisiert, das im Zeichen cineastischer Tafelfreuden steht.

gründung der arche

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9 1 Internationales Publikum am Jubiläumsmarkt in Mendrisio. 2 Luca Cavadini und Carlo Petrini (v. l.). 3 Rafael Perrez und Vandana Shiva. 4 Giuseppe Domeniconi und Rafael Pérez (Mitte, rechts). 5 Carlo Petrini, Rafael Pérez und Meret Bissegger. 6 Paolo di Croce und Vandana Shiva. 7 Stand der «farina bóna». 8 Paul Forni. 9 Angeregte Diskussionen. 10 Marialuce Valtulini.

In der Zwischenzeit überlässt Giorgio Canonica, nachdem er 1996 in die Tessiner Regierung gewählt worden ist, seinen Posten als Conviviumsleiter Marco Barana, der ein Jahr später von Luca Cavadini abgelöst wird. Slow Food beginnt immer mehr, Aufklärungsarbeit zu leisten. Gastronomie bedeutet schliesslich mehr als einfach «gut essen». Genauso wichtig ist es, die Geschichte dessen zu kennen, was auf den Teller kommt. Bald schon merken wir, dass bestimmte alte Rezepte verschwinden, weil es die dafür benötigten Zutaten nicht mehr gibt. Aus diesem Grund wird 1996 die Arche ins Leben gerufen, später dann die Förderkreise. Die Arche-Arbeitsgruppe katalogisiert potenzielle Arche-Produkte – unter anderem jene aus dem Tessin. Kurz darauf wird der erste Schweizer Förderkreis gegründet für den Zincarlin aus dem Muggiotal. 2001 startet Slow Food eine Unterschriftenhj

sammlung zur Erhaltung von Rohmilchkäse und gegen neue Gesetze, die innerhalb der EWG vor der Einführung stehen. Das Tessiner Convivium sammelt 323 Unterschriften, darunter 65 von 90 Grossratsmitgliedern und 4 von 5 Landesregierungsvertretern. Schliesslich wird die Kommunikation mit den Mitgliedern sowie Interessierten verbessert. Der Newsletter löst die «Epistula» ab, die erstmals im Oktober 2003 erscheint. Darin sind neben den mit Fotos ergänzten Berichten über die Veranstaltungen des Conviviums auch Artikel zu Themen in Zusammenhang mit der Entwicklung der Vereinigung zu finden. Anfang 2004 geht die Website online, die mit Hilfe des «Laboratorio Laser» der «Diamante»-Stiftung erstellt worden ist und weiterhin betrieben wird. Mit kleineren Veranstaltungen in Schulen und einem Projekt für einen Schulgarten in Chiasso engagiert man sich in den letzten Jahren auch für die Jugend und Kinder. Nach diesem Rückblick auf unsere 20-jährige Geschichte halten wir nun inne und fragen uns: Wie viel wurde schon getan? Und was kann noch getan werden im Hinblick auf die Weiterentwicklung von Slow Food International, Terra Madre und die Beschlüsse, die am Kongress von Puebla gefasst worden sind und die den Ideen von Slow Food neue Impulse gegeben haben? Im Sinne des in Mexiko eingeschlagenen Weges und als erstes Convivium, das ausserhalb Italiens gegründet worden ist, haben wir uns zur Feier des 20. Geburtstages dafür eingesetzt, Gastgeber des nach Mexiko ersten Kongresses des internationalen Beirates zu werden. Leider ist es für die Convivien, die von Anhängern der Slow Food-Philosophie ehrenamtlich geleitet werden, in schwierigen Zeiten nicht einfach, Carlo Petrinis explosive Ideen umzusetzen. Aber: CARLIN A’RIVUM!


Special

T ici n o

Anlässlich des 20-jährigen Bestehens von Slow Food Ticino, dem ersten Schweizer Convivium und des ersten Conviviums ausserhalb Italiens, wurde der Kongress des internationalen Beirates vom 14./15. Juni 2008 in Cadro TI abgehalten.

A

m Kongress anwesend waren neben Carlo Petrini, dem Präsidenten von Slow Food International, auch 47 Beiräte aus allen Teilen der Welt. Zur Schweizer Delegation gehörten Rafael Pérez, Markus Gehri und Giorgio Romano. Neben der Genehmigung der Geschäftsbilanz 2007 und der Präsentation des Budgets 2008 standen die Gründung von Slow Food Australien und Slow Food Holland auf der Traktandenliste. Die beiden neuen Vereinigungen wurden einstimmig angenommen und schliessen sich den bereits existierenden nationalen Leitungen an: Italien, USA, Deutschland, Schweiz, Frankreich, Japan und Grossbritannien. Für die Terra Madre im Oktober ist die Teilnahme einer Delegation von 900 Jugendlichen (Studenten, Köche, Bauern usw.) geplant. Sie vertreten das Jugend-Netzwerk, das anlässlich des 5. Slow Food-Kongresses von Puebla 2007 ins Leben gerufen worden ist. Mittels eines elektronischen Newsletters für Slow Food und Terra Madre wird die Kommunikation modernisiert. Ausserdem soll zur Eröffnung des Salone del Gusto am 23. Oktober ein Slow Food-Almanach in den wichtigsten vertretenen Sprachen herausgegeben werden. Ein weiteres Thema war die Anwerbung von neuen Mitgliedern in den verschiedenen Ländern bzw. den einzelnen Convivien. Slow Food Italien hat eine neue Art der Mitgliedschaft vorgestellt: Die «Tessera di Progetto» (Projektmitgliedschaft) richtet sich an

des internationalen Slow Food-Beirates in Cadro TI

Personen, die zwar nicht als Mitglieder eingeschrieben sind, aber zu einer Gemeinschaft gehören oder bei einem Projekt mitwirken (Studierende, Lehrpersonen, Produzenten usw.). Auch bezüglich der Förderkreise sind Änderungen geplant. Die Slow Food-Stiftung für biologische Vielfalt koordiniert die Arbeit der internationalen Arche-Kommission und definiert die allgemeinen Kriterien für die Produktauswahl. Geplant ist die Schaffung einer Marke «Slow Food» für die Förderkreise. Die Rahmenbedingungen hierfür werden noch ausgearbeitet. Der nächste Punkt waren die Aktivitäten der im internationalen Beirat vertretenen Länder (Italien, USA, Deutschland, Schweiz, Grossbritannien, Frankreich, Japan, Australien, Holland, Kanada, Spanien, Österreich, Schweden, Irland, Kenia, Mexiko, Brasilien, Indien und Bulgarien). Dies ermöglichte, einen allgemeinen Eindruck zu gewinnen über die weltweiten Entwicklungen von Slow Food International. Bezüglich GVO (gentechnisch veränderte Organismen) wurde Kritik laut, unter anderem von der Wissenschaftlerin Vandana Shiva, der VizePräsidentin von Slow Food International und Gründerin der NavdanyaBewegung, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung von natürlichen Ressourcen beschäftigt. Slow Food verzichtet jedoch auf die Einnahme einer politischen Haltung betreffend gentechnisch veränderter Organismen und setzt auf konkrete Opposition vor Ort. Wie Carlo Petrini sagt, soll der Schutz der biologischen Vielfalt pragmatisch und im Dialog erlangt werden, nicht mit ideologischen Kämpfen, die zu einer Verhärtung der Fronten führen würden. Giorgio Romano, Vize-Präsident Slow Food Schweiz ia

Organisation von Slow Food International

Die internationale Leitung

Der internationale Beirat

Die internationale Leitung bilden: a) Der Präsident von Slow Food International: Carlo Petrini b) Das internationale Direktorium (für die Schweiz: Rafael Pérez) c) Der internationale Beirat Der internationale Beirat ist die Versammlung der Slow Food-Vertreter aus den nationalen Vereinigungen und stellt innerhalb der Organisation die grösste Plattform für Dialoge dar. Seine Mitglieder werden nach jeweils 4 Amtsjahren neu bestimmt. Der Beirat besteht aus Mitgliedern einzelner nationaler Leitungen und weiteren ausgewählten Mitgliedern, deren Anzahl auf den Mitgliederzahlen des entsprechenden Landes bzw. der entsprechenden Region basiert. Ausserdem sind darin die Slow Food-Stiftung für biologische Vielfalt sowie die Universität der gastronomischen Wissenschaften durch je ein Mitglied vertreten. Der internationale Beirat wird vom internationalen Direktorium mindestens einmal pro Jahr für die Genehmigung der jeweiligen Geschäftsbilanz einberufen. Die Hauptaufgaben des internationalen Beirates sind die Bestimmung der politischen Strategien sowie der aktuellen Vereinsthemen, die Einsetzung eventueller internationaler Beratungsorgane, neuer nationaler Leitungen oder deren Auflösung und die Genehmigung der Jahresbilanz.

Foto: Reza Khatir

Jährlicher Kongress


Die Landwirtschaft lokal verankern!

Carlo Petrini über weltweite Miseren im Nahrungsmittelbereich und Lösungsansätze. Interview simona picco Foto Reza Khatir

B

ei den Feierlichkeiten zum 20jährigen Jubiläum des Conviviums Ticino in Mendrisio sprach Carlo Petrini, Präsident von Slow Food, mit Simona Picco, Redaktorin beim Tessiner Fernsehen und Absolventin der Slow Food Universität der gastronomischen Wissenschaften in Pollenzo. Slow.ch: Was ist Slow Food heute, und wie hat sich die Bewegung in den letzten 20 Jahren entwickelt?

Die Entwicklung von Slow Food steht in direktem Zusammenhang mit diesem historischen Moment heute, denn die Sensibilisierung der Bevölkerung für Themen wie Verlust der biologischen Vielfalt, für Umweltprobleme und den Schutz traditioneller Lebensmittel war noch nie so gross wie heute. Also konnten auch wir nicht tatenlos zusehen. Ein riesiges kulinarisches Erbe stand auf dem Spiel, und es durfte nicht sein, dass die Gastronomie unbekümmert weiter Nabelschau betrieb. Der langsam, aber kontinuierlich vollzogene Wandel von einer önogastronomischen zu einer ökogastronomischen

Carlo Petrini pausiert während des Kongresses in Cadro. ib


special

T ici n o

Vereinigung ist eine der Hauptentwicklungen von Slow Food in den letzten 20 Jahren.

aufgabe ist, das weiterzugeben, was schon unsere Vorfahren uns weitergereicht haben.

In einem Bericht der DEZA¹-Zeitschrift «Eine Welt» steht, dass schätzungsweise noch 15 Pflanzen und 8 Tierarten weltweit 90% der menschlichen Nahrung liefern. Was sind die Gründe, die zu dieser Situation geführt haben?

Anfang Juni fand in Rom der umstrittene FAO-Gipfel zur Welternährungskrise statt. Medien in aller Welt bezeichneten ihn als gescheitert. Wie haben Sie den Gipfel erlebt, und was halten Sie davon?

Viele Länder hatten Schwierigkeiten, die wachsende Nachfrage nach Lebensmitteln zu decken. Dafür war eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion notwendig, und diese wollte man seltsamerweise mit dem Anbau von Monokulturen und besonders robusten Arten bewerkstelligen. Durch diese Überproduktion wurden die weniger standfesten Tier- und Pflanzenarten systematisch zerstört. Die Bevorzugung der stärkeren Spezies war eine Entscheidung zugunsten der globalen Wirtschaft. Das hat aber die Artenvielfalt unwiederbringlich reduziert. Diese Entscheidung war ein grosser Fehler, denn von wenigen Produkten abhängig zu sein, birgt ein grosses Risiko. Sollte uns Mutter Natur eines Tages ein Virus oder irgendein anderes Problem schicken, könnte dies für einige dieser superproduktiven Tieroder Pflanzenarten das endgültige Aus bedeuten. Und wir wären nicht in der Lage, einen Ersatz dafür zu finden. Ich bin der Meinung, dass die Lebensmittelvielfalt unser grösster Reichtum auf der Erde ist. Die Biodiversität hat einen immensen Wert, und in ihre Erhaltung zu investieren sowohl aus biologischen wie auch kulturellen Gründen, ist eine sehr wertvolle Investition für die Menschheit. Wer zur Zerstörung dieser Vielfalt beiträgt, ist dafür verantwortlich, dass unsere Nachkommen nicht mehr von diesem Reichtum profitieren können. Unsere Haupt-

Treffen von internationalen Organisationen dieser Grösse sind per se paradox, weil dort nur die Mächtigen das Sagen haben. Die direkt Betroffenen, die zwar Nahrungsmittel produzieren, aber Hunger leiden müssen, werden nicht einbezogen. DieAnwesenheit der politischen Elite an solchen Treffen, unter anderem wegen diplomatischer Beziehungspflege, trägt dazu bei, dass der eigentliche Zweck eines solchen Anlasses verloren geht. Genau dies geschah auch am FAO-Gipfel in Rom. Die Interessen der Teilnehmer waren so unterschiedlich, dass viele Fragen offen blieben und keine konstruktiven Lösungsansätze gefunden werden konnten. Die Welternährungssituation ist momentan besonders kritisch. Im letzten Jahr verursachte eine ganze Reihe von Ereignissen eine Krise von historischem Ausmass, gegen die es dringend anzukämpfen gilt: die «Finanzialisierung» landwirtschaftlicher Produkte verbunden mit höheren Preisen, die Herstellung von Treibstoff aus Nahrungsmitteln und die Veränderung der Lebensgewohnheiten in den asiatischen Ländern – allein in China ist der jährliche Fleischkonsum in den letzten fünf Jahren von 20 kg auf 50 kg pro Kopf gestiegen. All diese Umstände treiben

Die Biodiversität hat einen immensen Wert für die ganze Menschheit

¹DEZA: Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Ausgabe Nr. 2, Juni 2008. www.deza.admin.ch

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die Preise von Nahrungsmitteln wie Weizen, Reis und Mais in die Höhe. In den westlichen Ländern, wo die Lebensmittelkosten 14% des Einkommens ausmachen, kann der Preisanstieg aufgefangen werden. In Ländern, wo 60–70% des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben werden, ist eine solche Verteuerung eine Katastrophe. Ich bin davon überzeugt, dass die Wiederaufwertung der lokalen Landwirtschaft und die Förderung des lokalen Handels strategisch die einzig mögliche Lösung ist. Wird diese Art der Wirtschaft nicht gestärkt – ganz egal, wo auf dieser Welt –, sind katastrophale Folgen für die Umwelt garantiert. Der Lösungsvorschlag von Slow Food, den zahlreiche Menschen auf der ganzen Welt teilen, ist die Wiederaufwertung der lokalen Landwirtschaft und ihre Integration in eine gesunde lokale Wirtschaft, die weltweit vernetzt ist. Am Gipfel zur Welternährungskrise wurde das Thema der Bio-Treibstoffe behandelt. Die aktuellen, die so genannten Bio-Treibstoffe der ersten Generation, werden aus essbaren Teilen von Pflanzen hergestellt. Es heisst, erst diejenigen der zweiten Generation könnten ohne Nahrungsmittelquellen hergestellt werden. Die Technologien dafür stehen aber frühestens in 10 bis 15 Jahren zur Verfügung.

Keine einzige Hektare, kein einziger Zentner eines landwirtschaftlichen Produktes darf für die Herstellung von Treibstoff verwendet werden! Das ist eine absolute Bedingung. Treibstoffe können aus irgendwelchen andern Materialien hergestellt werden, aber nicht aus Nahrungsmitteln. Dies würde die Preise in die Höhe schnellen lassen und so die ärmsten Länder in grosse Schwierigkeiten bringen. Nahrung in Treibstoff zu verwandeln, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, und zwar gegen jenen Teil der Menschheit, der für das tägliche Brot hart arbeiten muss. Wir dürfen


dieses Problem nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern müssen ganz klar Stellung beziehen: Wenn es darum geht, dass der reiche Westen die Tanks seiner Geländewagen mit «grünem» Treibstoff füllen kann, soll er Alternativen finden. Das Recht auf Nahrung muss geschützt werden, es ist ein Grundrecht jedes Menschen. Welche Rolle spielt die Gastronomie in diesem Gesamtbild?

Foto: Ursula Hasler

Die Gastronomie beschränkt sich nicht auf Rezepte oder die Benotung eines Menüs. Schon immer war sie eine komplexe und mehrere Disziplinen umfassende Angelegenheit. Man denke nur an die Väter der heutigen Medizin: Für sie war gutes Essen die Grundlage unserer Gesundheit. Während des ganzen Mittelalters und bis gegen Ende der Renaissance waren Gastronomie und Medizin eng miteinander verbunden. Das zeigt sich heute noch im Wort Rezept, das sowohl in der Medizin als

²Die nächste Ausgabe der Terra Madre findet vom 23. bis 27. Oktober 2008 in Turin statt. Terra Madre ist das internationale Treffen der Lebensmittelbündnisse und wird von Slow Food in Zusammenarbeit mit dem italienischen Landwirtschaftsministerium, der Organisation für Entwicklungszusammenarbeit, dem Aussenministerium sowie der Region Piemont und der Stadt Turin organisiert.

Früher waren Gastronomie und Medizin eng miteinander verbunden auch in der Küche verwendet wird. Darum müssen wir ein ganzheitliches und multidisziplinäres Verständnis von Gastronomie haben. Denn sie bedeutet auch Landwirtschaft, Viehzucht, Gesundheit, Geschichte, Identität, Anthropologie und Wirtschaft. Im Grunde leben wir in dieser Welt ja nur, weil wir uns ernähren. Die Ernährung aber nur als Energiezufuhr für unseren Körper zu betrachten, wäre ein Armutszeugnis. Essen sollte etwas sein, das wir bewusst und mit Verantwortung tun, ein Akt des Teilens und der Grosszügigkeit. Dies ist eine ganzheitliche Sicht der Gastronomie. Die aktuelle Situation in unserer immer enger werdenden Welt ist zweifellos nicht einfach. Das Beispiel von Terra Madre² zeigt uns, dass die Globalisierung eventuell eine positive Rolle spielen könnte. Ist das so?

Wir müssen uns dafür einsetzen, eine andere, eine virtuose Globalisierung zu entwickeln. Es besteht kein id

Zweifel, dass die negativen Aspekte der Globalisierung grosse Spannungen verursachen. Versuchen wir darum, Virtuosität in die Beziehungen zu den Lebensmittelbündnissen und auch in die Lebensmittelbündnisse selbst zu bringen, und zwar indem wir die lokale Wirtschaft stärken – nicht um sie zu isolieren, sondern um sie zu vernetzen. Diese neue Strategie rückt für einmal diejenigen in den Vordergrund, die bei der Herstellung von Lebensmitteln die wichtigste Rolle spielen. Nämlich die Produzenten, Züchter, Bauern, Nomaden, aber auch die Konsumenten, die mit der gut überlegten Wahl beim Kauf eines Produktes über deren Schicksal entscheiden. Der Begriff Konsument ist für mich deshalb veraltet und abschätzig, ich verwende lieber die Bezeichnung Ko-Produzent. Ko-Produzenten sind sich bewusst, dass die Wahl des Lebensmittels die Art der Landwirtschaft bestimmt. Wendell Berry vertritt die Ansicht: Essen ist ein landwirtschaftlicher Akt. Ich füge hinzu, dass die Lebensmittelproduktion ein gastronomischer Akt ist. Wenn wir Konsumenten uns zu Ko-Produzenten entwickeln und unsere Lebensmittel bewusst wählen, unterstützen wir eine nachhaltige Landwirtschaft. Und wenn die Produzenten auf die Qualität ihrer Produkte achten, kann sich eine qualitativ hochstehende Gastronomie entwickeln. Dieser Pakt zwischen Produzenten und Ko-Produzenten ist die wirkliche Revolution, die unsere ganze Erde erfassen soll. Auch wenn es hier um eine weltumspannende Sache geht, so dürfen wir doch den Wert der lokalen Artenvielfalt und damit auch die lokale Wirtschaft nicht vergessen. Diese Aufgabe verlangt einen grossen Einsatz von uns allen, doch schon jetzt sind grossartige Resultate zu sehen.»


Special

T ici n o

Das Ringen um alte Rezepte hat sich gelohnt. Viele der einst bedrohten Nahrungsmittel finden sich heute wieder auf den Speisezetteln. Eine Erfolgsgeschichte, die grösstenteils auf Hartnäckigkeit beruht. Von Thomas Schenk

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m Anfang», sagt Luca Cavadini, «waren wir einfach ein paar Geniesser.» So beschreibt der Präsident von Slow Food Ticino den Beginn einer Bewegung, die sich bald über die ganze Schweiz erstrecken sollte. Vor 20 Jahren beschlossen nämlich einige Tessiner nach dem Vorbild von Carlo Petrini, eine eigene Regionalgruppe zu gründen – die erste ausserhalb Italiens und damit auch die erste hierzulande. «Die Nähe zu Italien war natürlich von Vorteil», sagt Cavadini, «kulturell wie sprachlich». Dass er gerne isst, glaubt man Luca Cavadini sofort, wenn man ihn sieht. Doch das Vereinsleben blieb nicht auf den Genuss beschränkt. Im Rahmen des Projektes «Arche des Geschmacks» (vgl. Kasten S. 85) begannen die Tessiner schon bald damit, nach Gerichten und Nahrungsmitteln zu fahnden, die gefährdet waren oder die bereits nicht mehr hergestellt wurden. Das Ergebnis dieser Arbeit wurde Mitte Juni in der Markthalle von Mendrisio gezeigt: Anlässlich des 20-Jahre-Jubiläums lud Slow Food Ticino einige Hersteller der traditionellen Produkte ein, sich und ihre Produkte der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Ort war nicht zufällig gewählt: Die Stadt im Sottoceneri ist soeben als Schweizer Debütantin zur «Cittàslow» erkoren worden. Die Auszeichnung wird Städten verliehen, die ihren Bewohnern mehr Lebensqualität bieten wollen. Eines der ersten und inzwischen auch berühmtesten Tessiner Förderkreis-Produkte ist der Zincarlin, ein Rohmilchkäse aus dem Valle di ie

Muggio, Luca Cavadinis Heimat notabene. Früher stellten alle Bauern im Tal den Käse her, denn auf diese Weise liess sich überschüssige Milch verarbeiten. «Aber alle machten es ein bisschen anders», erinnert sich Marialuce Valtulini. In ihrer kleinen Käserei auf der Südseite des Monte Generoso, in Morbio Superiore, produziert sie die von Slow Food ausgezeichnete Delikatesse in Handarbeit, wie es sich für einen echten Zincarlin gehört. Rund 180 der kegelförmigen Käse vermag Marialuce Valtulini monatlich anzufertigen. Während der achtwöchigen Lagerzeit muss sie die 400 Gramm schweren Zincarlin jeden zweiten Tag mit Weisswein einreiben – ebenfalls von Hand. Bis sich die Bauern im Tal auf eine verbindliche Art der Zubereitung einigen konnten, waren jedoch zähe Verhandlungen nötig. «Als wir nicht mehr weiterkamen, musste ich meine Mutter bitten, ein paar Käse nach ihrem Rezept zu produzieren», sagt Marialuce Valtulini. Die Einheimischen liessen sich prompt von der Qualität überzeugen, und so werden jetzt alle Zincarlin nach Art der Familie Valtulini hergestellt. Ausdauer brauchte auch Paul Forni, bis er seine Pastefrolle backen konnte. Der ehemalige Hotelier servierte früher das typische Mürbteiggebäck aus dem Bedrettotal seinen Gästen zum Kaffee. Als der lokale Bäcker die Produktion einstellte, bemühte sich Forni um das Rezept – wobei das

Manche hüten ihre Rezepte bis ins Grab, statt sie preiszugeben


Geheimnis der Pastefrolle nicht in den Zutaten liegt. «Es kommt darauf an, mit welcher Geschwindigkeit und bei welcher Temperatur Mehl, Eier, Butter und Zucker vermengt werden», erklärt Forni. Es sollte insgesamt vier Jahre dauern, bis sich die beiden handelseinig waren. Dennoch blieb Forni das Pastefrolle-Glück verwehrt: Der ehemalige Bäcker zog in letzter Minute sein Angebot zurück. In der Not versuchte Forni, die Guetsli aus der Erinnerung zu zaubern – allerdings ohne Erfolg. Zwei Jahre später wagte er einen neuen Anlauf. Diesmal zahlte sich die Hartnäckigkeit aus. «Insgesamt waren über fünfzig Versuche nötig, um zu verstehen, worin das Geheimnis liegt», sagt der frischgebackene PastefrolleSpezialist. Die Hotellerie hat Forni inzwischen aufgegeben, um sich ganz auf die Herstellung von Backwaren zu konzentrieren. Ausserdem kann Forni über das Integrationsprojekt «Fondazione Diamante» Menschen mit Handicaps Arbeit bieten.

beschränkte ressourcen Ganz in Vergessenheit geraten war die Farina bóna. Bis Ende der fünfziger Jahre hatte eine Frau im Onsernonetal das Mehl aus gerösteten Maiskörnern hergestellt. Nach ihrem Tod verschwand das vielseitige Rohprodukt. Mit der Renovation der Mühle anno 1990 in Loco, dem Hauptort des Tals, sollte die Produktion der Farina bÓna wieder aufgenommen werden. Doch weil ein schriftliches Rezept und das Geschick oder die Geduld fehlten, erreichte das Mehl weder den Feinheitsgrad noch den besonderen Röstgeschmack von anno dazumal. Das sollte sich erst ändern, als Ilario Garbani, Lehrer und Musiker, mit seiner Klasse ins Tal kam. «Meine Schüler befragten die Leute, die das Mehl noch aus den fünfziger Jahren kannten», erzählt er. Basierend auf den Rechercheergebnissen fing Garbani an zu experimentieren, röstete die

Maiskörner und mahlte sie. Unzufrieden mit dem Resultat reiste er nach Italien, um einen Kaffeeröster aufzusuchen. Zig Proben waren nötig, «bis ich ein Ergebnis erreichte, das den Erinnerungen der Einheimischen ganz nahe kam», sagt Garbani. Mit 100 Kilo pro Monat ist die Produktion zwar noch bescheiden, soll aber sukzessive gesteigert werden: Einige Bauern im Tal wollen künftig wieder Mais anbauen. Und bereits ab Herbst werden Grissini, Biskuits und Glace aus Farina bóna in den Handel kommen. Das Engagement, alte Rezepte zu erhalten, geht weiter. «Es gibt noch viele Produkte, die gefährdet sind», sagt Luca Cavadini, Präsident von Slow Food Ticino, «aber als Verein von Freiwilligen sind unsere Ressourcen beschränkt.» Kommt hinzu, dass gewisse Einheimische es vorziehen, ihre Geheimnisse kulinarischer Prägung mit ins Grab zu nehmen, statt sie publik zu machen – etwa die Käser des «formaggio della paglia», des Strohkäses aus dem Maggiatal. Gerade noch zwei Bauern, Brüder übrigens, stellen den Käse aus Kuhund Ziegenmilch her. Cavadini würde gerne einen Förderkreis schaffen, um den Käse besser zu verankern sowie die Herstellung und den Vertrieb zu fördern. Doch dazu müsste das Rezept des «formaggio della paglia» offen gelegt und festgehalten werden. «Das wollen die beiden aber nicht», sagt Cavadini. Die über 70-jährigen Sturköpfe behalten das Rezept für ihren Strohkäse lieber für sich. Thomas Schenk ist freier Journalist

förderkreis

Mehr Informationen über die Farina bóna auf Seite 70.

Arche des Geschmacks Die Arche des Geschmacks wurde 1996 in Turin als Projekt der internationalen Slow Food-Bewegung gegründet, um vom Aussterben bedrohte Pflanzensorten, Tierrassen und handwerkliche Produkte zu katalogisieren. Um in die Arche des Geschmacks aufgenommen zu werden, müssen die Produkte eine überragende geschmackliche Qualität haben, einen starken geografischen, historischen und volkskundlichen Bezug zu einer bestimmten Region aufweisen, von handwerklichen Produzenten hergestellt werden und akut oder potenziell vom Aussterben bedroht sein. Das Ziel ist, durch geeignete Kommunikationsmassnahmen solche Produkte Konsumenten und Köchen wieder vermehrt bekannt zu machen, um so den Produzenten eine neue ökonomische Zukunft zu geben. Die Arche des Geschmacks umfasst heute weltweit über 500 Produkte aus Dutzenden von Ländern, davon 30 Produkte aus der Schweiz, die von der Schweizerischen Kommission für die Arche des Geschmacks betreut werden. Raphael Pfarrer, Vizepräsident Stiftung Slow Food Schweiz

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convivien

Die Siegerin: heisse Mortadella di Poschiavo.

Wenn es um die Wurst geht Slow Food würdigte am nationalen Degustationsspiel die Wurst. Bericht über die Veranstaltungen der Convivien und Porträts der feinen Probanden. Text und Foto ursula Hasler

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lljährlich findet zu Jahresbeginn schweizweit ein Slow Food-Anlass als nationales Degustationsspiel statt. 2008 ging es um die Wurst, genauer um sechs Schweizer Würste, jede typisch für eine Region: nämlich La Longeole (Saucisson genevois), Berner Zungenwurst, Mortadella (heisse Puschlaver Wurst), Wyländer Nebelwurst, Engadiner Rauchwurst und natürlich die echte St. Galler ig

Bratwurst. (Ausführliche Beschreibung im folgenden Beitrag.) Alle Convivien, die mitmachen wollten, organisierten am gleichen Abend, am 26. Januar 2008, ein Essen mit diesen Würsten, jedes Convivium auf seine Art. Ziel war, die beliebteste Wurst pro Convivium auszuwählen und aus den Ergebnissen die nationale Siegerwurst zu erküren. Es ging dabei keineswegs um die Qualität der Würste, die alle in bester handwerklicher Tradition gefertigt werden, sondern um ein völlig subjektives Geschmackserlebnis der TeilnehmerInnen. Während ein Convivium den Degustationsanlass in einer Waldhütte als Selbstkochevent durchführte, organisierten andere Convivien die Degustation in einem Restaurant. Bedingung war natürlich, einen Küchenchef zu


finden, der sich von der Idee begeistern liess und die Würste mit kreativen Beilagen begleitete. So wurden zum Beispiel die Teilnehmenden aus dem Raum Zürich vom Zentraleck-Koch, Herr Jann Hofmann, mit fantastischen Gaumenfreuden überrascht. Sechs ungemein verführerische Kreationen wurden aufgetischt. Stets mit der jeweils vorhergehenden Erklärung, welche Wurst mit welcher Geschichte aus welcher Zusammensetzung wieder um einen Platz kämpft. Eine der Wettbewerbsregeln war jedoch, nur die Wurst selbst und nicht die raffinierte Kombination zu bewerten. Für einige Teilnehmenden war die Lieblingswurst schnell klar, weil vermutlich gewisse Wurstinhaltsstoffe auf Entzücken der Gaumensensoren stiessen oder wiederum gleich von Anfang an nicht zu den Vorlieben gehörten (nach dem Bericht von Denise Buchser Hardmeier).

heisse siegerin Die Teilnehmenden aus dem Convivium Aargau/Solothurn trafen sich im Hirschen in Lenzburg, wo Rosmarie und Markus Roth immer drei Würste zusammen mit ausgesuchten kulinarischen Beilagen wie Pastinaken-Kartoffelpüree, Dörrbohnen oder Ofenkartoffeln mit Sauerkraut präsentierten. Auch hier fiel es schwer, nur die Wurst und nicht das Gesamtgeschmackserlebnis zu bewerten. Es zeigte sich auch, dass Hintergrundwissen über die Wurst das Geschmacksempfinden beeinflusst. In Lenzburg stimmte ein ausgewiesener Kenner von Schweizer Würsten die Gaumen der Teilnehmenden auf das zu erwartende Geschmackserlebnis ein: Der NZZ-Journalist Andreas Heller las aus seinem Buch «Um die Wurst. Meistermetzger der Schweiz» (siehe Box) ein paar witzige Anekdoten seiner Schweizer Wurstreise vor, bei der er auch drei Metzger unserer Degustationswürste besucht hatte. Insgesamt 214 Personen aus 11 Convivien degustierten an 9 verschiedenen Events die sechs Würste. 5 der 9 Gruppen wählten die heisse Mortadella di Poschiavo zu ihrer Lieblingswurst

und machten sie zur nationalen Siegerin. Dicht gefolgt von der mysteriösen Wyländer Nebelwurst – der Geschmack von Nebel ist uns SchweizerInnen eben sehr vertraut. Die weiteren Ergebnisse waren in den Convivien jedoch so unterschiedlich, dass die nationale Rangierung nicht mehr aussagekräftig ist, jede der andern Würste war in einen Convivum mal an der Spitze und bei einem andern das Schlusslicht. Was klar beweist, dass es bei der Wahl gar nicht um regionalkämpferisches Supporten der eigenen Wurst ging, sondern wirklich um «Was euch gefällt». Und das zeigt wiederum, dass in der Schweiz jede Wurstart ihre LiebhaberInnen findet (nicht nur Cervelats) und dass Würste halt doch unser liebstes Nationalgericht sind. Ursula Hasler ist Mitglied der Geschäftsleitung Slow Food Schweiz und Ko-Präsidentin Convivium Aargau/Solothurn

zum lesen Seit vier Jahren guckt Andreas Heller im NZZ FOLIO Monat für Monat einer Schweizer Wurst unter den Darm. Er reist in alle Winkel des Landes, immer einem Metzgermeister hinterher, der Fleisch, Fett und Gewürze in Därme stopft – bis die Köstlichkeit glänzt, drall und prall. Kompetent und pointiert porträtiert er Klassiker wie die St. Galler Bratwurst oder den Cervelat und fast vergessene Spezialitäten wie die Cicitt aus dem Maggiatal (Slow Food-Förderkreis) oder die Churer Beiwurst (Slow Food-Förderkreis im Aufbau). Der Zürcher Fotograf Helmut Wachter porträtierte die 42 Metzgermeister. Andreas Heller: Um die Wurst. Meistermetzger der Schweiz. Echtzeitverlag,128 S., Fr. 34.–. ISBN 3-905800-06-7 ih

Wurst

ist nicht gleich Wurst. Was sie unterscheidet, sind die Zutaten und die Würze.

Von denise buchser hardmeier

Berner Zungenwurst Metzgerei Steiner in Bern Inhalt: Schweine- u. Rindfleisch, Halsspeck, Salz, Pfeffer, Macis, Kardamom, Piment, Muskatnuss, Knoblauch Räucherung: Brühwurst gekocht, kalt oder warm zu essen ei der sinnvollen Verwertung des Schlachtkörpers ist rgendwann auch die Zunge verwurstet worden. Irgendwann wurde wieder auf die Zugabe von Zunge verzichtet. Der Grund ist nirgends belegt – also ein kleines Wurstgeheimnis. Fazit: 1999 wurde im amtlich besiegelten Schweizerischen Lebensmittelbuch festgehalten, dass die Zungenwurst keine Zunge enthält. Der Name jedoch bleibt, weil dieser eine untrennbare Verbindung zur «Berner Platte» bildet. Der Ursprung der Zungenwurst und der Berner Platte ist somit auf Vermutungen gebaut, aber nicht minder spannend. Zur Berner Platte gibt es da noch eine amüsante Geschichte: Als 1712 die bernischen Hilfstruppen, vor allem Waadtländer, nach siegreich geschlagener Schlacht bei Villmergen heimwärts zogen, kehrte ein Trupp im Bären in St. Niklaus bei Koppigen ein. Ein Offizier, der kein Deutsch konnte, deutete dem Wirt, der kein Französisch konnte, mit wenigen Worten und lebhaften Gesten, dass die Mannen sich mit Speis und Trank zu stärken wünschten. Der Wirt, der sich das Begehren der müden Schar schon bei deren Eintreten hätte reimen können, verstand die Worte des

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Convivien Offiziers: «Bernois…sont…plat, ont faim!» – auf seine Weise nämlich «Berner… Platte…, fein!» Also bot er als solide Berner Mahlzeit Sauerkraut und Dörrbohnen, beladen mit Hamme, Rippli, Speck, Bauernwürsten, Siedfleisch, Zunge und Gnagi an.

Engadiner Wurst Metzgerei Hatecke, Zuoz Inhalt: Schweine- u. Rindfleisch, Rotwein, Salz, Pfeffer, Hauswürzmischung Räucherung: Brühwurst, angeräuchert rüher wurde die Engadiner Brühwurst mit Sagmehl, Tannenkries und Wachholderstuden geräuchert – die ganze Nacht über. Heute passiert dies innerhalb 2–3 Stunden mit Buchensagmehl. Mehr dazu bleibt das Geheimnis der Wurst.

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La Longeole Boucherie du Palais, Carouge Inhalt: Schweinefleisch, Speck, Salz, Weisswein, Fenchel, Knoblauch, Muskat, Pfeffer, Anis, Genfer Weisswein Räucherung: Rohwurst mit abgebrochener Reifung, gekocht zu essen ’Escalade ist ein traditionelles Fest, das tief in der Genfer Geschichte wurzelt. 1602 wollte Karl Emanuel von Savoyen Genf unter seine Herrschaft bringen, was ihm schliesslich misslang. Seither feiern die Genfer die Zugehörigkeit zum eidgenössischen Bund alljährlich am 11. Dezember. Auf den grossen Plätzen verkündet ein berittener Herold vom entscheidenden historischen Erfolg. Dann werden am offenen Feuer Wildschweine grilliert und zu diesen wird dann die deftige Longeole gegessen. Heute wird jede Longeole mit einem Band in den Genfer Farben geschmückt und mit einem Ursprungsgarantie-Zertifikat plombiert.

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Mortadella di Poschiavo Macelleria Zanetti, Poschiavo Inhalt: Schweinefleisch, Speck, Leber,

Geschichtsträchtige Longeole aus Genf.

Wein, Knoblauch, Pfeffer, Nelken, Zimt, Muskatnuss Räucherung: Luftgetrocknet, warm oder kalt zu essen eit 4 Generationen wird im Puschlav das Geheimrezept weitergegeben. Ebenso die Kenntnisse über das Handwerk und die Bearbeitung der erstklassigen Zutaten, die ausschliesslich aus dem Puschlav kommen. Erwähnenswert ist, dass die Familie Zanetti auch immer die Zucht der Alpschweine beobachtet, damit diese gut und aufrichtig erfolgt.

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St. Galler Bratwurst Metzegerei Gemperli, St. Gallen Inhalt: Schweine- u. Kalbfleisch, Speck, Milch, Gewürze Räucherung: keine en St. Gallern ists nicht Wurst, wenn’s um ihre Wurst geht. Im Mittelalter wurden Würste ausschliesslich aus Schweinefleisch hergestellt – ausser in St. Gallen. Da wurde schon im 15. Jahrhundert Kalbfleisch zugefügt, und zwar vom jungen kastrierten Ochsen, der seine Milchzähne noch nicht verloren hatte. Um die Qualität

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zu besiegeln, wurde schon damals Qualitätsmanagement betrieben, indem das Rezept vom Metzger-Zunftmeister in dessen Satzungen besiegelt wurde. Dazu gehört das Gewicht: Die St. Galler Bratwurst muss exakt 125 Gramm wiegen. Sie wird uneingeschnitten gebraten oder gegrillt, und wer dazu Senf isst, verrät sich als Banause …

Wyländer Nebelwurst Hans und Wurst, Rheinau Inhalt: Schweinefleisch, Pfeffer, Estragon, Salz, Nelken, Grappa vom eigenen Hof Räucherung: leicht kalt geräuchert über Nacht s ist ziemlich neblig im Thurund Rheintal und auch um die Wyländer Nebelwurst. Der Name ist aufgrund der geografischen Lage des Metzgers entstanden und begründet auch die Zugabe von Grappa: «So kommt man aus dem Nebel raus.» Der Rest bleibt Wurstgeheimnis.

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Denise Buchser Hardmeier, Präsidentin Convivien Zürich Unterland, Wein- und Rheinland


convivien Erlebnisberichte diverser Regionalgruppen der Schweiz

u a h c s k c Rü Aarau/Solothurn Von Walter Hess

„Wenn Fischers Fritz …“ Fischessen 24. Mai 2008 Hallwilersee- und Frutigerfische Essen ist eine nicht nur lebenserhaltende, sondern auch lustvolle Tätigkeit. Der Genuss wird noch gesteigert, wenn man sich zu gastroposofischen Höhenflügen hinreissen lässt, sich also in der Kunst übt, Tafelfreuden weise zu geniessen. In diesem Sinne war der Frühlingsanlass von Slow Food Aargau/ Solothurn, von Wolfgang Byland organisiert, der Weisheit letzter Schluss. Der Berufsfischer Heinz Weber aus Birrwil AG zeigte detailliert auf, wie viele Fachkenntnisse nötig sind, bis ein Hallwilersee-Felchenfilet auf dem Teller auftaucht. Im Hallwilersee wird eine «passive Fischerei» betrieben, das heisst, die unsägliche Schleppnetzfischerei, mit der Böden von Seen und Meeren verwüstet werden, gibts im Seetal nicht. Die Fische sind angehalten, aus eigenem Antrieb ins Netz zu schwimmen, wenn es zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist – und sie tun es, genau wie wir Menschen uns auch immer wieder im Internetz verfangen. Für das Fischmenü war der Koch Willy Keller vom Wilden Mann in Schönenwerd SO besorgt.

Schon die exzellenten Fischsülzchen zum Apéro waren vielversprechend. Als bemerkenswert erwies sich die Geschichte rund um die sanft geräucherten Störfilets aus Frutigen BE zu Zucchiniblinis und einer Meiringer Pfefferminzglace: Beim Bau des Lötschberg-Basistunnels kam etwa 22 °C warmes Wasser zum Vorschein, welches die Bergbäche zu stark erwärmt und die darin lebende Forelle gefährdet hätte. So musste man sich eine vernünftige Verwendung fürs Warmwasser einfallen lassen. Weil sich der Stör in genau solch einem temperierten Wasser wohlfühlt, entschloss man sich zur Erstellung eines Störaquariums und zur Produktion von tropischen Früchten. Der erste Schweizer Kaviar soll demnächst auf den Markt kommen. Anschliessend waren die Frischpralinen an der Reihe. Die mit Mohnsamen und Kernen umhüllten Pralinen bestanden aus Frischkäse mit kleinen Hechtstücklein. Es hätte mich nicht gewundert, wenn auch das Dessert aus Fisch bestanden hätte, wenn man schon in dieses Thema abtauchte. Doch beim Dessertteller «Jean-Jacques Rousseau» mit den Panna-cotta-Köpfchen als Inseln der Glückseligen musste man sich mit einem Blaustich begnügen, wie er am Hallwilersee oft zu beobachten ist. Er rührte vom Curaçao-Likör her.

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Basel – Stadt und Land Von Jürg Ewald

„Matjes, Matjes …!“ Matjesessen 19. Juni 2008

Im Juni trafen sich 36 Slowfooders aus dem Convivium Basel, die sich für das nordisch-niederländische kulinarische Thema der Matjes interessierten, bei Wilfried Dammann im Ochsen zu Oberwil BL. Matjes heissen die jungfräulichen (ja, auch die «jungmännlichen»!) Heringe, die von Mai bis Mitte Juni gefangen werden, bevor sie überhaupt ein erstes Mal gelaicht haben. Daher muss ein solcher Anlass eben auch im Juni stattfinden. Die Ursprünge des weit herum bekannten Küchenchefs Wilfried Dammann liegen in der Lüneburger Heide, und obwohl er seit bereits 38 Jahren in der Schweiz wirkt, ist er nach wie vor die erste Adresse in der Region für Matjes. Diese seine Spezialität hat er schon früher im Radisson, dann im Quatre Saisons und zuvor im Binninger Schloss kultiviert. Seit September 2007 wirtet Dammann nun im Ochsen, den er von einer «Beiz» zu einem Gourmet-Tempel umformuliert hat (siehe auch seine wunderbare Website www.ochsen-oberwil.ch). Dammann bereitete uns diese Spezialität auf die verschiedensten Arten zu (kalt und warm) und mit


convivien

Lustvolles Matjes-Essen des Basler Conviviums.

diversen Beilagen – à discrétion! Aber ohne ein Bierchen und (ab und zu) einen Aquavit geht ein Matjes-Essen nicht. Daher offerierte das Convivium diese Getränke. Ist es verständlich oder verwunderlich, dass die Kosten für die «Bierchen» und den Aquavit schliesslich einen Viertel der Gesamtrechung ausmachten!?

Bern Von Flavio Turolla

„Burezvieri aus hofeigenen Erzeugnissen“ Besuch des Garo-Hofs in TschuggMullen 24. Mai 2008 Wie lebt eine junge Bauernfamilie im Seeland heute? Mit welchen Fragen muss sie sich auseinandersetzen? Welches sind ihre Sorgen und ihre Erfolge, ihre Zukunftsperspektiven und ihre Visionen? Ende Mai haben sich über 20 Mitglieder und Freunde des Slow FoodConviviums Bern auf dem Hof der

Familie Garo eingefunden, um eine Bauernfamilie in ihrem Umfeld näher kennen zu lernen. Ein Willkommenstrunk mit hofeigenem weissem Traubensaft oder Tschugger war der Auftakt zum 3-stündigen Besuch. Nach dem recht heftigen Willkommensgebell der beiden Hunde lernten wir die etwas weniger forsch auftretenden Tiere der Bäuerin und Tierhomöopathin Heidi kennen: glückliche Hühner, alle mit einem Namen aus der Homöopathie versehen, Enten, unter ihnen eine Wildentenmutter, die sich mit ihren 7 Jungen für einen Zwischenhalt bei Garos Badeteich entschieden hatte, Gänse, alle im oder um den Badeteich gackernd und schnatternd. Und gleich daneben die «ruhigen» Hofbewohner wie die Kaninchen oder die beiden mit dem Schoppen aufgezogenen Schafe, mit denen Heidi nach Erlach spazieren geht. Und dann gings ins Reich von Beat Garo, der uns mehr an einen Cowboy als an einen biederen Bauern erinnerte. Unübersehbar und eindrücklich seine über 90-köpfige Herde Limousinrinder mit Mutterkühen, Kälbern, Rindern und dem stattlichen Muni. Sie ist die wichtigste Einnahmequelle der Familie Garo. Der Fleischverkauf ab Hof (Natura Beef)

ja

erlaubt ihr eine gewisse Unabhängigkeit von Grossverteilern und stark schwankenden Preisen. Trotzdem hat es die Bauernfamilie nicht leicht, sich in einem ständig verändernden Umfeld zu behaupten. Die Liberalisierung und Globalisierung der Landwirtschaft mit dem damit verbundenen Preis- und Konkurrenzdruck führen auch im Seeland zu einer Intensivierung der Produktion und zu einem Druck auf das Pachtland. Dieses wird heute zu Preisen gehandelt, die sich nur wenige leisten können. Die schwierigen Rahmenbedingungen erschweren auch eine naturnahe Produktion, wie sie die Familie Garo anstrebt. Trotz der unsicheren Zukunft der schweizerischen Landwirtschaft sind die innovativen Bauernleute Heidi und Beat zuversichtlich, dass sie es schaffen werden. Nach dem preisgekrönten Dokumentarfilm «Greina», mit dem der Bogen zum Berggebiet mit seinen besonderen Herausforderungen geschlagen wurde, fand der Anlass mit einem währschaften Burezvieri mit hofeigenen Produkten (Burebrot, Trockenfleisch und Wurst, Eier etc.) sowie Käse von der Alp Greina seinen Abschluss. Nach einem herzlichen Abschied ging es mit einer TschuggerFlasche heimwärts: Ein gelungener Anlass, der uns eindrücklich vor Augen geführt hat, wie stark wir als KonsumentInnen mit unserer Wahl die Produktionsbedingungen beeinflussen. Interessieren Sie sich für den GaroHof, für Natura Beef und weitere Hofspezialitäten? Oder möchten Sie sich mit Bildern und einem Film ein genaueres Bild machen? Dann besuchen Sie die Website www.garohof.ch. Informationen über alle Anlässe des Conviviums Bern finden Sie im Newsletter «Carte Blanche», www.slowfoodbern.ch


Züri-Oberland Von Markus Baumgartner

„Alles Käse! Aber nur vom Feinsten“ Besuch der Städtlichäsi 12. April 2008 An einem schönen Tag im April trafen wir uns um 10.30 Uhr auf dem Dorfplatz zu einem Exkursionstag rund um den guten und speziellen Schweizer Käse. Durch eine enge Gasse kommen wir auf den kleinen Vorplatz der versteckten Städtlichäsi des innovativen Ostschweizer Käsers Willi Schmid. Schmid zählt zur Elite der Schweizer Käsehersteller. Sein Sortiment umfasst nur Eigenproduktionen aus Kuh- oder Ziegenmilch. Und es sind allesamt Rohmilchkäse. Die ganze Produktion betreut der Chef persönlich, assistiert vom Lehrling, und alles wird von Hand gefertigt. Er empfängt uns natürlich ganz in Weiss – in seinem Arbeitsgewand, denn er hat bereits mit seinem Lehrling und einer Praktikantin die Tagesproduktion verarbeitet. Eindrücklich erklärt er, wie er zu dieser kleinen Chäsi kam, und dass er erst seit zwei Jahren selbstständig seine eigenen Käse produziert. Auch probiert er immer wieder Neues aus und stösst so auf neue spezielle Käsesorten. Die Milch der Braunviehrassen stammt von einigen wenigen Bauern aus der Region. Jene der Jersey-Kühe kommt vom Hof des Bauern Hansruedi Giger. Vom Schmidberg ist es nicht weit. So kommt die Milch ganz frisch in die Städtlichäsi. Die Jersey-Kuh stammt ursprünglich von den gleichnamigen Inseln im Ärmelkanal. Ein wichtiges Rassemerkmal sind der hohe Fettgehalt von 5–6% und der hohe Eiweissgehalt um 4%. Diese Milch gibt dem «Jersey Blue» und anderen Käsen die charakteristi-

sche gelbliche Farbe. Willi Schmid kennt fast jede Kuh beim Namen und ist überzeugt, dass nur gute Milch guten Käse gibt. Auch die Ziegenmilch bezieht er vom Schmidberg, wo die Tiere in seinem Sinne gehalten werden. Nach dieser Einführung und der Besichtigung der Chäsi degustierten wir verschiedene Käsesorten in unterschiedlichem Alter und Reife zu den passenden Weiss-, Rot- und Süssweinen – serviert von seiner Frau Bea. Die Degustation zog sich in die Länge, so dass wir viel zu spät zum Mittagessen in der Bodega Noi in Lichtensteig eintrafen, wo uns Lamm aus dem Toggenburg mit einheimischem Gemüse kredenzt wurde. Es war herrlich. Zum Dessert waren wir bei Hansruedi Giger auf dem Schmidberg verabredet. Er zeigte uns die Jersey-Kühe und die Ziegen. Alles prächtige Tiere, die sich in der bezaubernden Umgebung sicher wohl fühlen. Zum Abschluss gabs original «Schlorzifladen», den Frau Giger gebacken hatte. Dazu reichte die Tochter Kafi Schnaps. Wir durften einen wunderschönen Tag im Toggenburg erleben, an dem uns Willi Schmid den Kreislauf der Käseproduktion näherbrachte. www.willischmid.com

Ostschweiz Von Michael Higi

„Von Würsten, Tomaten und Biberfladen“ Genusstour durchs 2008

Das Jahr begann gemütlich mit dem Nationalen Slow Food Anlass zum Thema Würste. In der neu eröffneten Spezialitäten-

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Brauerei Kornhaus Bräu in Rorschach SG, assen wir uns durch die Schweizer Wurstwelt und machten nebenbei Bekanntschaft mit den süffigen Biersorten vom Kornhaus Bräu.

Am 12. April erfolgte ein Paukenschlag: Wir empfingen die Delegierten von Slow Food Schweiz zur DV in Arbon TG.Und Sie kamen in Scharen! Für einmal war die Ostschweiz der Nabel der Slow Food Schweiz.

Gemächlicher ging es am 21. Mai mit einer «Geschmackswerkstatt» weiter. Im Restaurant des WinWinMarktes der sozialpädagogischen Stiftung Tosam in Herisau AR testeten wir uns durch diverse Geschmacksrichtungen. Was unterscheidet eine Horssol-Tomate von einer Bio-Tomate? Industrie- von Holzofenbrot? Der Chemiker Patrick Good führte uns in das Geheimnis der verschiedenen Geschmäcke ein, so dass wir uns auch durch Lebensmittelfarben nicht täuschen liessen.

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Am 31. August betrieb Slow Food Ostschweiz zum 7. Mal die Saft-Bar am Slow Up in der Region Romanshorn. Zur Sache ging es am 6. September: In der Landbäckerei Fässler, Sammelplatz Appenzell AI, buken wir unsere eigenen Biberfladen. Wir erfuhren alles über die Herstellung und Herkunft der Appenzeller Biber und mutierten temporär zu Bäckergesellen.

Vom 12.–14. September nahm Slow Food Ostschweiz an den Toggenburger Käsetagen teil. Wir stellten den Tessiner Zincarlin vor (Förderkreisprodukt) und den Schlipferkäse (Archeprodukt) aus Appenzell Innerrhoden.

Auch am St.Galler Genusstag, 20.9., waren wir präsent. Am Genusstag betrieben wir in Zusammenarbeit mit Slow Food Schweiz und Coop den Genussparcours und einen Stand. Weitereführende Informationen über www.slowfood-ost.ch.


convivien Adressen und Termine der Regionalgruppen

léman Von Jean-Noël Blanchon

„Rituale und Legenden um Absinth“ Geniessen in der Romandie 2008 Unsere zahlreichen und begeisterten Mitglieder haben sich seit Anfang Jahr zu diversen Anlässen getroffen. Im Februar besuchten wir die Destillerie Sacconnex d’Arve, wo uns Herr Wanner die Absinth-Produktion erläuterte und so manche Anekdote über die Legenden und Rituale im Zusammenhang mit dem Wermut zu erzählen wusste, der auch nach der Aufhebung des Brauverbots nichts von seinem Mythos eingebüsst hat. Im April öffnete die Brasserie des Murailles ihre Pforten, und wir können nun gut nachvollziehen, warum kleine Brauereien – auch im Zeitalter von multinationalen Getränkeherstellern – dabei bleiben, traditionelle Biere nach althergebrachten Rezepten zu produzieren. Im Mai besuchten wir im Vorfeld unserer Generalversammlung eine Ziegenfarm in Cartigny. Frau Gribi und ihr Bruder züchten dort Ziegen und stellen köstlichen Käse her, den wir in verschiedenen Reifestadien probieren durften. Die wichtigste Entscheidung, die an der GV gefällt wurde, betrifft die neue Bezeichnung unseres Conviviums. Der alte Name «Slow Food Genève» entsprach nicht mehr der Realität, da wir auch viele Mitglieder aus dem Waadtland zu uns zählen dürfen. Die Wahl der neuen Geschäftsstelle gab auch Anlass dazu, den Vorstand zu verstärken. Er besteht nun aus

zehn aktiven Mitgliedern. Für den 2. September organisierten wir zusammen mit unseren Freunden vom Club des Passionnés de Chocolat (Club der Schokoladenfans) einen Workshop. Er beschäftigte sich mit verschiedenen Arten von Schokoladen-Glaces und Sorbets. Am 9. Oktober steht ein Besuch der Gesellschaft La Mère Gaud an. Dort werden Gänse und Enten gezüchtet und Produkte wie Foie gras hergestellt. Das industrielle Stopfen gilt als Grausamkeit gegenüber dem Tier und wird von Slow Food nicht unterstützt. Bei La Mère Gaud stopft man die Gänse jedoch fachmännisch und auf traditionelle Weise – die Tiere werden respektiert und es entstehen dadurch viel bessere Produkte. www.slowfood-leman.ch

InfoS Adressen der Convivien CV Aargau / Solothurn Giuseppe Domeniconi / Ursula Hasler Im Roggebode 2 5400 Baden Tel 056 222 89 15 Fax 056 222 89 14 slowfood-aargau(at) hispeed.ch CV Basel Stadt und Land Jürg Ewald Ziefnerstrasse 28 4424 Arboldswil Tel 061 931 20 12 Fax 061 933 90 70 juerg.ewald(at)slowfood.ch CV Bern Raphael Pfarrer Champ du Brez 39 1797 Villars-les Moines Mob 078 614 29 27 raphael.pfarrer(at)slowfood.ch CV Bündner Herrschaft Rainer Riedi Poststrasse 22 7000 Chur Tel 081 252 29 59 Fax 081 252 29 54 info(at)slowfood-grischa.ch www.slowfood-grischa.ch CV Engadin Marc Arni Hotel & Residenza Belvair 7524 Zuoz Tel 081 854 20 23 Fax 081 854 20 55 marc.aerni(at)bluewin.ch CV Léman Jean-Noël Blanchon 14, rue Champ Blanchod

jc

1228 Plan-les-Ouates Tel +41 22 794 78 10 info(at)slowfood-geneve.ch www.slowfood-geneve.ch CV Ostschweiz Michael Higi Rüti 621 9036 Auslikon Tel 071 891 54 16 michael.higi(at)slowfoodost.ch info(at)slowfood-ost.ch www.slowfood-ost.ch CV Pays de Vaud Sekretariat Bern Tel 031 311 82 21 info(at)slowfood.ch CV Säuliamt Kurt & Yvonne Schmutz Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil Tel 044 700 32 07 Fax 044 700 32 07 k.schmutz(at)printcolor.ch CV Ticino Luca Cavadini 6837 Bruzella Tel 091 684 18 16 info(at)slowfood-ticino.ch www.slowfood-ticino.ch CV Wallis Sekretariat Bern Tel 031 311 82 21 info(at)slowfood.ch CV Weinland/Rheinland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at)slowfood.ch CV Zentralschweiz René Kneubühler


Schützenfeld 4 6280 Hochdorf Tel 041 910 63 92 slowrene(at)slowfood.ch CV Zürcher Oberland Markus Baumgartner Zelglisteig 2 8127 Forch Tel 044 391 38 24 Fax 044 391 61 00 markus.baumgartner(at) slowfood.ch CV Zürcher Unterland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at)slowfood.ch CV Zürich linkes Seeufer Kurt & Yvonne Schmutz Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil Tel 044 700 32 07 Fax 044 700 32 07 k.schmutz(at)printcolor.ch CV Zürich Stadt Raymond Marti Apfelbaumstrasse 39 8050 Zürich Tel 044 318 80 00 Mob 079 401 50 29 raymond.marti(at)slowfood.ch

Termine Oktober 08 CV Ticino Dreitägiger Besuch des Conviviums Treviso zum 20. Geburtstag Geschmackswerkstatt zum Thema Bier 10.–13.10.08 National Gourmesse, Kongresshaus Zürich: Slow Food ist mit Arche-würdigen Produkten vertreten und an der Kinder-Gourmesse 24.10.08 CV Engadin Besuch der höchstgelegenen Kaffeerösterei Badilatti in Zuoz. Anschliessend «Chochete» in der Residenza Belvair

16.11.08 CV Säuliamt CV Zürich linkes Seeufer Käse- und Wein-Degustation 29.11.08 CV Bündner Herrschaft Pflanzensilvester – «Boogie Woogie and Food» – Speisen und Wein 13.12.08 CV Bern Traditionelles wohltätiges Weihnachtsessen Januar/Februar CV Ticino Seefische 21.02.09 National Nationales Degustationsspiel in allen Convivien: Thema Kartoffeln

29.10.08 CV Bern Laboratorio del gusto: Förderkreis Produkte mit passenden Getränken

International 23.–27.10.08 Salone del gusto und Terra Madre in Turin

Salone del gusto Die grösste Gourmetmesse der Welt lockt jedes zweite Jahr rund 200 000 Besucher in die Turiner Messehallen. Im Zentrum steht ein genussreicher Markt mit Delikatessen aus Dutzenden von Ländern sowie Tausenden zu verkostenden Weinen. (www.salonedelgusto.com)

Terra Madre Die dritte Terra Madre findet parallel zum Salone del Gusto in Turin statt. Sie ermöglicht Kleinproduzenten aus allen Teilen der Welt in Workshops zu erörtern, wie Umweltressourcen, die Würde der Produzenten und die Gesundheit der Konsumenten gleichermassen geachtet werden können. (www.terramadre.info)

hinweis

Bitte beachten Sie auf jeden Fall die aktuellen Termine der Convivien-Anlässe auf der Slow FoodWebsite www.slowfood.ch

GROSSISTE: LE GLACIER DES ALPES

06.11.08 CV Basel Stadt und Land Bauernbuffet zur Feier des 10-Jahre-Jubiläum CV Basel

Glaces et sorbets de fabrication artisanale plus de 150 parfums vente aux professionnels de la gastronomie

01.11.–30.11.08 CV Weinland/Rheinland Metzgete in Rheinau 08.11.08 CV Aargau / Solothurn Herbstliche Pilzvariationen CV Ostschweiz Arche-Dinner im Appenzellerhof AR CV Ticino Besuch einer Schokoladenfabrik inklusive Geschmackswerkstatt während der Schokolade-Tage in Bellinzona

Rue Champ-Blanchod, 14 1228 PLAN LES OUATES Téléphone 022 794 78 10 jd


Engagement für die vielfalt

Gitzi für Geniesser

Gitzipasteten, Gitzibraten – Feinschmeckern läuft beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Muss es aber Ostergitzi sein? Alpgitzi sind eine leckere und ökologisch sinnvollere Alternative.

ProSpecieRara setzt sich zusammen mit 2500 ehrenamtlichen Tierhaltern und Anbauern für die Erhaltung von 26 Nutztierrassen, 900 Sorten von Garten- und Ackerpflanzen, 450 Beeren- sowie 1800 Obstsorten ein. Die Stiftung setzt eigene Projekte um, schafft den Zugang zu Zuchttieren und Saatgut, sensibilisiert für die Gefährdung der Vielfalt und stärkt diese über die Förderung der Vermarktung von Spezialitäten mit dem ProSpecieRara-Gütesiegel. www.prospecierara.ch

Das Beispiel Stiefelgeissen Die Stiefelgeiss stammt aus dem Sarganserland. Karge Futterbedingungen und extreme Witterungsverhältnisse formten eine Ziege, die dem rauen Leben in den Bergen gewachsen ist. Vitalität und Berggängigkeit waren wichtig. Auch sollten die Tiere unter unwirtlichen Bedingungen Fleisch und Milch liefern. Laien verwechseln die Stiefelgeissen gerne mit den sehr verbreiteten gemsfarbigen Gebirgsziegen. Typisch für die Stiefelgeissen sind aber die langen Grannenhaare auf dem Rücken, das «Mänteli», und an den Beinen die «Hösli». Anfang der 80er Jahre war die Stiefelgeiss beinahe ausgestorben, konnte aber durch das Engagement der Stiftung ProSpecieRara im letzten Augenblick gerettet werden. Heute meckern in der Schweiz wieder mehr als 600 Stiefelgeissen.

Gitzi ausschliesslich mit Milch zu ernähren, ist wider die Natur je

Ihre Robustheit und Widerstandsfähigkeit machen die Stiefelgeissen zu geeigneten Partnern für die Landschaftspflege, wo sie vor allem gegen die Verbuschung und Verwaldung eingesetzt werden. Hier bedient man sich des grossen Appetits der Stiefler auf Blattwerk, Knospen und Rinden. Ihre dicke Haut schützt die Tiere bei extremen klimatischen Bedingungen; die wenig voluminösen Euter erleichtern das Bewegen im Buschwerk. Bei der Sömmerung auf der Alp können sie in gigantischen Höhen und zuweilen gar zusammen mit Steinböcken beobachtet werden. In der Schweiz werden Ziegen vorwiegend zur Produktion von Ziegenmilch und -käse gehalten. Der jährliche Pro-Kopf-Konsum von Ziegenprodukten ist mit 100 Gramm allerdings sehr gering. Doch lässt sich eine wachsende Nachfrage beobachten. Zur Fleischproduktion wird in der

Fotos: ProSpecieRara

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iegen gehören zu den ältesten Haustieren. Bereits um 8000 v. Chr. begann die Domestikation der Hausziege im Gebiet des fruchtbaren Halbmondes. Allmählich verbreitete sie sich über ganz Asien und Afrika und fand schliesslich im 2. Jahrtausend v. Chr. ihren Weg nach Mitteleuropa. Sie wurde wegen ihrer Wolle, ihrer Milch und ihres Fleisches geschätzt. Weltweit werden über 800 Millionen Ziegen gehalten, die meisten in Asien und Afrika. Ihrer Genügsamkeit wegen werden sie dort als «Kühe des armen Mannes» bezeichnet. In der Schweiz werden Ziegen vor allem im Berggebiet gehalten. Bezeichnend sind Neugier und ausgeprägte Vorliebe fürs Klettern. Sie haben einen starken Bewegungs- und Entdeckungsdrang und gelten als klug, lebhaft und naschhaft. In der Auswahl des Futters sind sie sehr wählerisch, besonders schmecken ihnen saftige Alpkräuter, feines, blattreiches Grünzeug sowie die Baumrinde von jungem Holz. Die drei bekanntesten Schweizer Ziegenrassen – Gemsfarbige Gebirgsziege, Saanenziege und Toggenburger Ziege – machen 75% des Schweizer Ziegenbestandes aus. Daneben gibt es acht weitere einheimische Rassen, deren Bestände mit Gesamtzahlen um 1000 weibliche Tiere als gefährdet eingestuft werden müssen. Dank den gemeinsamen Anstrengungen von ProSpecieRara und vielen Züchtern

erfreuen sich diese alten Rassen wieder steigender Beliebtheit. Bei Rassen mit nur noch sehr wenigen Tieren, wie zum Beispiel der Kupferhalsziege, konzentriert sich ProSpecieRara auf die Suche nach neuen Tieren und Züchtern, während bei Rassen mit etwas grösseren Beständen begonnen wird, über die Vermarktung ihrer Spezialitäten unter dem ProSpecieRara-Gütesiegel den Erhalt zu fördern. Denn mit der steigenden Nachfrage nach Ziegenspezialitäten wächst notabene auch der Zuchttierbestand.

vielfalt erhalten


Stiefelgeissen sind die perfekten Partner für die sanfte Landschaftspflege. Sie liefern zudem aromatisches Gitzifleisch und Milch für gesunden Alpkäse.

Ziegen haben einen starken Bewegungsdrang und sind genügsam

Heute bereichern wieder vermehrt alte Rassen die Ziegenvielfalt in der Schweizen Gebirgslandschaft.

Schweiz fast ausschliesslich Gitzifleisch verwendet. Ältere Tiere werden in der Regel zu Wurst und Trockenfleisch verarbeitet. Der Nährwert von Ziegenfleisch entspricht ungefähr dem von Lammfleisch.

Delikatesse Ostergitzi? Das milde und sehr zarte Fleisch der Gitzi gilt als besondere Delikatesse an Ostern. Damit sie ihr weisses Fleisch bewahren, werden die Gitzi ausschliesslich mit Milch ernährt. Im Alter von sechs bis acht Wochen, wenn sie ein Körpergewicht von bloss 9 Kilogramm erreicht haben, werden die Jungtiere bereits geschlachtet – passend auf Ostern. Je älter und schwerer sie werden, desto kräftiger rot wird ihr Fleisch – was im Ostergeschäft Preisabzüge bedeutet. Aus ökologischen und ökonomischen Gründen sind Ostergitzi fragwürdig: Ziegen gehören zu den Wiederkäuern; Gitzi ausschliess-

lich mit Milch zu ernähren, ist wider ihre Natur. Ausserdem müssen die Geissen sehr früh gedeckt werden, wenn Ostern beispielsweise wie in diesem Jahr sehr früh stattfindet. Das entspricht jedoch nicht dem natürlichen Zyklus der Ziegen. Als Alternative böten sich Alpgitzi an, aber leider sind die Vorzüge erst wenig bekannt. Alpgitzi haben einen vollen Sommer auf den saftigen Alpweiden verbracht. Das Klettern in den Berghängen entspricht ihrem Verhalten und führt zu gesunden, robusten und nicht übermästeten Jungtieren. Sie bleiben in der Nähe der Muttertiere und wachsen auf natürlichste Art auf. Erst nach dem Alpsommer werden sie geschlachtet. Ihr dunkelrotes Fleisch ist fettarm, hat eine feste Struktur und weist dank den Alpkräutern ein ausgewogenes Verhältnis an Fettsäuren auf sowie einen aromatischen Geschmack, ohne aber zu «böckeln». jf

Setzen auch Sie ein Zeichen! ProSpecieRara setzt auf die nachhaltige Förderung gefährdeter Ziegenrassen. Ob die Gitzi zur Osterzeit oder aber als Alpgitzi in den Handel kommen, entscheiden Sie mit. Damit die Alpgitzi-Saison geplant werden kann, müssen die Tierhalter wissen, wie viele Jungtiere als Alpgitzi zu veredeln sind. Interessierte Privatkunden und Gastronomen können Ihren Bedarf für den Herbst 2009 bis Ende Jahr bei ProSpecieRara melden. Die Stiftung kann so zusammen mit den Ziegen-haltern die ökologisch sinnvolle und kulinarisch reizvolle Spezialität für Sie zugänglich machen. Anmeldungen bis Ende 2008 an: info@prospecierara.ch oder Tel. 062 832 08 20


Publireportage

Feinschmecker als Entwicklungshelfer Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO setzt sich für nachhaltigen Handel mit Biodiversitätsprodukten aus Entwicklungsländern ein.

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as haben die Inkanuss Sacha Inchi aus Peru, Kaimanleder und -fleisch aus Bolivien, Kosmetik- und Speiseöle aus dem südlichen Afrika oder Heilkräuter aus Vietnam gemeinsam? All diese Produkte werden unter dem Konzept des Biotrade (Biodiversitätshandel) durch die Schweiz gefördert. Am Weltnachhaltigkeitsgipfel 2002 in Johannesburg hat das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, zusammen mit der UN-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD und dem internationalen Handelszentrum ITC (Genf) das BioTrade Facilitation Programme lanciert. Dieses hat zum Ziel, den nachhaltigen Handel mit Biodiversitätsprodukten und -dienstleistungen aus Ländern des Südens zu fördern. Die Beteiligung des SECO beläuft sich auf $ 3,8 Mio. Mittlerweile wird das Vorhaben auch von Holland, Dänemark und der Weltbank unterstützt. Das SECO fördert den Biodiversitätshandel im Einklang mit den drei Zielsetzungen der Biodiversitätskonvention: (1) Schutz der Biodiversität, (2) nachhaltige Nutzung ihrer Komponenten und (3) gerechte und ausgewogene Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile. Die Idee dahinter ist, dass dank nachhaltiger Nutzungen die Ökosysteme besser gepflegt und gleichzeitig der Lokalbevölkerung Einkommensmöglichkeiten eröffnet werden. Exotische, innovative Nahrungsmittel sind immer wieder mit denselben

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Problemen konfrontiert: Nebst den im Export üblichen technischen Qualitätsstandards, Logistik, Verzollung und Vermarktung sind es häufig Handelseinschränkungen aufgrund des Artenschutzes (CITES), gesundheitliche und Hygienebestimmungen, aber auch die latente Gefahr, dass bei effektivem Markterfolg die Ressourcen rasch geplündert würden. Das Biotrade-Programm hilft darum Entwicklungsländern, potenziell marktfähige Produkte zu identifizieren. Dabei können traditionelles Wissen und bewährte Nutzungsformen indigener Bevölkerungsgruppen einen wesentlichen Beitrag leisten. Regierungen werden beraten, geeignete rechtliche Rahmenbedingungen für nachhaltige Nutzung und Handel mit Biodiversitätsprodukten zu schaffen. Dies beinjg

Traditionelles Wissen und bewährte Nutzungsformen erhalten haltet oftmals auch den nötigen Schutz geografischer Herkunftsbezeichnungen. Und schliesslich wird auf Ebene Exporteure das notwendige unternehmerische Wissen – nachhaltiges Management von biologischen Ressourcen, Marketing, Produktentwicklung – vermittelt, und Kontakte zu Importeuren in den Industrieländern werden geknüpft. Durch gezielte Ausbildungsmodule werden Exporteure auf eine erfolgreiche Teilnahme an Fachmessen vorbereitet, unter dem Swiss Import Promotion Programme SIPPO beglei-


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Für den Süsswasserfisch Paiche besteht auch in der Schweiz eine Nachfrage. Tropische Früchte – wie hier aus Brasilien – schmecken nicht nur köstlich, sondern sind wertvolle Vitaminspender. Wie andere, weniger bekannte Heilkräuter stammt auch der Sternanis aus Vietnam.

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tet und bei den Follow-up-Arbeiten wie Verkaufsmissionen und Verhandlungen unterstützt. Vorgängig entwikkelte Ressourcenmanagementpläne und ein Monitoringsystem stellen sicher, dass es auf Grund der neuen Anreize nicht wieder zur Übernutzung einzelner Biodiversitätsressourcen kommt. Dank dieser Initiative konnten wichtige Erfolge erzielt werden: So überarbeitet die EU gegenwärtig – nicht zuletzt dank dem hartnäckigen Lobbying der UNCTAD – ihre allzu strenge Novel-Food-Regelung, welche die Zulassung von neuartigen Nahrungsmitteln bisher sehr aufwändig gestaltete. Und aus den nationalen Produzentengruppen aus Lateinamerika und Afrika hat sich ein weltweiter Dachverband für Biodiversitäts-

handel gebildet: Die Union for Ethical Biotrade. Dieser Interessenverband wird sich der Fragen rund um Zertifizierung und Labelling von Bio- diversitätsprodukten annehmen. Dabei wird erwogen, sich je nach Produkt an bestehende Labelsystemen anzubinden. Im Bereich Nahrungsmittel könnte dies in geeigneten Fällen Slow Food sein. In diesem Sinne möchten wir Sie ermuntern, auf Ihren kulinarischen Exkursionen in der Welt des Slow Food auch ab und zu eine exotische Rarität zu geniessen. Als Feinschmecker können Sie so zur Erhaltung von bedrohten Ökosystemen beitragen, und gleichzeitig helfen Sie, den Handel mit Entwicklungsländern zu stimulieren und einen Beitrag zur Armutsreduktion zu leisten.

jh

Nützliche Links: www.seco-cooperation.ch Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Ressort Handelsförderung www.biotrade.org Biotrade Initiative der UNCTAD www.uebt.ch Union for Ethical Biotrade, Dachverband von Biodiversitätsexporteuren www.intracen.org Internationales Handelszentrum ITC, Genf www.osec.ch/internet/osec/de/ home/import.html Swiss Import Promotion P rogramme SIPPO Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an: Hans-Peter Egler (SECO) Tel. 031-324 07 99 Mail: hans-peter.egler@seco.admin.ch


Für echten Geschmack mit Tradition.

Presidio: Farina bóna Ein kulturelles Erbe des OnsernoneTals im Tessin. Ein Biskuit hergestellt mit dem traditionellem Mehl «Farina bóna» aus gerösteten, fein gemahlenen Maiskörnern.

Presidio: Dunkle Biene Schweiz/Avieul nair swizzer Schweizer Bienenhonig, cremig oder kristallin, von der bedrohten, einheimischen dunklen Biene.

Presidio: Pastefrolle della Valle Bedretto Zartes Mürbeteiggebäck aus dem Bedrettotal. Nur im Tessin erhältlich.

Presidio: Ur-Roggenbrot aus dem Wallis Auf ursprüngliche Art hergestelltes Roggenbrot. Ohne Hefe. Nur in der Nordwestschweiz, im Kanton Bern und im Wallis erhältlich.

Guter Geschmack soll auch in Zukunft zur Tradition gehören. Darum ergänzt Coop das Angebotssortiment ausgewählter Verkaufsstellen mit über 30 saisonalen und ganzjährlichen Produkten. Diese Produkte haben ihren Ursprung in Förderkreisen, welche von der Slow Food Stiftung für biologische Vielfalt unterstützt werden. Denn auch zukünftige Generationen haben ein Recht auf guten Geschmack. Filialverzeichnis finden Sie unter: www.coop.ch/slowfood


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