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Uf u dervo: Chrigu Huber

«YB gibts hier nicht – das vermisse ich»

Interview Michèle Freiburghaus; Fotos zvg

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Chrigu Huber kannte man in der Berner Szene als Tontechniker bei Live Sound, und seine Frau Chessy Weaver war Sängerin bei der Berner Band Phon Roll. Bereits vor längerer Zeit hatten die beiden beschlossen, zusammen mit ihrem Mops Bobby in die USA auszuwandern. Nachdem die Entscheidung für eine Gegend gefallen war, fanden sie rasch ihr Traumhaus und wagten 2017 schliesslich den Schritt über den grossen Teich. Das Anwesen liegt ca. 1½ Stunden nördlich von New York, in der Nähe des Hudson River. Das Städtchen Stanfordville gehört zum Dutchess County mit dem Hauptort Poughkeepsie.

Chrigu, Chessy stammt ursprünglich aus New York und ist dort «hippiemässig» aufgewachsen, wie Sam Mumenthaler einst schrieb. War sie die treibende Kraft für die Auswanderung?

Ja, die ursprüngliche Idee stammt von Chessy, ich war sofort mit an Bord. Zu Beginn hatten wir diverse Ideen, wo in den USA wir hinziehen sollten; zur Diskussion stand auch, an einen klimatisch wärmeren Ort zu ziehen. Nach einem zweiwöchigen Road Trip durch Kalifornien merkten wir aber, dass uns dieser Staat zu weit weg war. Rasch wurde uns dadurch bewusst, dass wir doch am liebsten an der Ostküste leben wollen, da dort Chessy ihre Wurzeln hat. Auch ihre gesamte Verwandtschaft lebt dort. Als dann die Gegend feststand, machte sich Chessy an die Haussuche und wurde innert kurzer Zeit fündig.

Was bewog euch zu diesem Schritt?

Nachdem Chessys Mutter gestorben war, war es meiner Frau einerseits ein Anliegen, in die Nähe ihrer Familie, der Schwester Antonia und ihrer Cousins zu ziehen. Die Mutter hatte den beiden Töchtern ein Haus in den Hamptons vererbt. Dies war der eine Grund, nach Amerika auszuwandern. Für mich war es ein guter Zeitpunkt, nach 50 Jahren mal etwas Neues zu erleben. Ein zusätzlicher Grund war sicher auch, dass wir gerne ein eigenes Haus mit Umschwung haben wollten und das in den USA einfacher ist als in der Schweiz.

Chessy und Chrigu mit Bobby vor ihrem Haus in Stanfordville; den Link für mehr Fotos vom Anwesen finden Sie auf www.baernblog.com.

Fiel es dir nicht schwer, von Bern – und damit auch von deinen Töchtern – Abschied zu nehmen?

Nein, mir fiel der Abschied nicht sonderlich schwer. Sicher, man lässt die Familie zurück, aber New York ist ja in der heutigen Zeit gut erreichbar. Dank dem Internet ist auch der Kontakt zur Schweiz mit meiner Familie und meinen Freunden kein Problem. Es war ja das erste Mal, dass wir zusammen auswanderten, so überwog die Freude, mit etwas Neuem zu starten, die Abschiedstrauer.

Was vermisst du – ausser deinen Töchtern – von Bern?

Meine Töchter vermisse ich am meisten … sonst vermisse ich Bern lustigerweise viel weniger als Chessy, sie hat ziemliches Heimweh nach ihrer ehemaligen Wahlheimat und nach ihren vielen Freunden. Aber klar, auch ich werde manchmal melancholisch, wenn ich im Internet Neuigkeiten aus Bern sehe – und YB gibts halt hier nicht, das vermisse ich natürlich. Sonst? Die Berner Musik kann ich bestens übers Internet verfolgen, mit meinen Schweizer Freunden bin ich noch immer im Kontakt, und die einen oder andern waren schon hier und haben uns besucht. Zudem fliege ich ja auch immer mal wieder in die Schweiz.

Wovon lebt ihr in den USA?

Ich habe mich vom Musikbusiness-Menschen zum Schulbusfahrer gewandelt. Es war für mich nach all den Jahren irgendwie auch Zeit, etwas Neues zu wagen. Der Fahrerjob gefällt mir sehr gut, es macht Spass, mit den Kids unterwegs zu sein. Chessy hat sich selbstständig gemacht und ist nun eine Property-Managerin: Hier in der Gegend gibt es viele Weekendhäuser, die zum Teil auch als Bed and Breakfast vermietet werden. Chessy übernimmt alle Aufgaben für die Besitzer; es gilt, das Haus in Schwung zu halten, für neue Gäste vorzubereiten, kleinere Reparaturen zu erledigen, Termine mit lokalen Handwerkern zu organisieren usw.

Wie lief es mit der Integration?

Ich würde sagen, das ist ein laufender Prozess. Je länger wir hier sind, desto mehr Leute lernen wir kennen. Ich habe durch meinen Job sehr viel Kontakt zur lokalen Bevölkerung, zu den Kindern, den Eltern, Lehrern, Busfahrerkollegen usw. Für Chessy war es ja ein Heimkommen, trotzdem findet sie immer wieder, ich sei mittlerweile mehr Amerikaner als sie. Sie hat ja auch länger in der Schweiz gelebt als je in Amerika.

Zu Zeiten des Lockdowns hast du mit dem Schulbus Essen verteilt (siehe Youtube, COVID-19-Schulbusfahrer in NY: Statt Kinder fahren sie Essen) – wie war diese Erfahrung für dich?

Wir sind noch immer mitten im Lockdown (Anmerkung d. Redaktion: das Interview erfolgte am 5. Mai). Wenn es gut läuft, haben wir erste Lockerungen Mitte bis Ende Mai. Die Schulen im Staat New York nehmen den Betrieb frühestens auf Beginn des neuen Schuljahres – Anfang September – wieder auf. Ich werde also noch eine ganze Weile Essen ausliefern. Bei uns in Upstate ist die Situation während des Lockdowns viel erträglicher als in der Stadt. Dennoch bin ich mit meinem Job fast täglich mit den schlimmen Seiten dieser Pandemie Chrigu ist Schulbusfahrer.

konfrontiert. Familien werden unter Quarantäne gestellt, da jemand positiv getestet wurde, Angehörige, Bekannte oder Freunde von Arbeitskollegen sind am Virus gestorben.

Das Ausliefern der Essen wird immer wichtiger, desto länger das Ganze dauert. Die Leute sind uns auch sehr dankbar, dass wir das machen und dass die Schule diesen Service anbietet. Viele haben wegen des Lockdowns ihre Arbeit ganz oder teilweise verloren. Es ist eine wichtige Sache, und ich mache das sehr gerne.

Im Staat New York haben wir das Glück, dass die Pandemie von unseren lokalen Politikern (Gouverneur Andrew Cuomo, New York State und Mayor Bill di Blasio, NYC) sehr gut gemanagt wird. Man hat wirklich das Gefühl, dass sie es ernst nehmen und sich um ihre Einwohner im Staat New York kümmern. Für uns ist das so wichtig, weil die amerikanische Staatspolitik, wie sie von ausserhalb des Landes wahrgenommen wird, nicht diesen Anschein macht.

Da wir hier oben aber sowieso relativ weit auseinander wohnen, ist das Social Distancing nicht wirklich schwer einzuhalten, und wir haben genügend Platz, um uns im Freien zu bewegen, ohne gleich auf Menschenmassen zu treffen. Wir finden, dass wir für uns einen guten Ort gefunden haben, auch für diese wirren Zeiten.

Links:

Youtube-Video: «COVID-19-Schulbusfahrer in NY: Statt Kinder fahren sie Essen» Fotos: «Unser Heim in Stanfordville» siehe www.baernblog.com

Neue Serie: Uf u dervo

In lockerer Folge werden wir im BÄRN! Magazin ausgewanderte Bernerinnenund Berner vorstellen. Sie kennen jemanden? Schreiben Sie uns eine Mail an mail@baernbox.ch.

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