Nils Mönkemeyer & William Youn

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Nils Mönkemeyer & William Youn Einführungstext von Wolfgang Stähr Program Note by Harry Haskell


NILS MÖNKEMEYER & WILLIAM YOUN Mittwoch

27. November 2019 19.30 Uhr

Nils Mönkemeyer Viola William Youn Klavier

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Suite für Violoncello solo Nr. 1 G-Dur BWV 1007 (um 1720) Bearbeitung für Viola von Nils Mönkemeyer I. Prélude II. Allemande III. Courante IV. Sarabande V. Menuett I – Menuett II VI. Gigue Capriccio sopra la lontananza del fratello dilettissimo für Klavier BWV 992 (um 1705) I. Arioso (Adagio). Ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten II. Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen III. Adagiosissimo. Ist ein allgemeines Lamento der Freunde IV. Allhier kommen die Freunde (weil sie doch sehen, daß es anders nicht sein kann) und nehmen Abschied V. Aria di Postiglione. Allegro poco VI. Fuga all’imitatione di Posta

Morton Feldman (1926–1987) The Viola in My Life III für Viola und Klavier (1970)


Johann Sebastian Bach aus der Sonate für Flöte und Cembalo Es-Dur BWV 1031 II. Siciliano Bearbeitung für Klavier von Wilhelm Kempff „Nun komm, der Heiden Heiland“ Choralvorspiel BWV 659 Bearbeitung für Viola und Klavier von Nils Mönkemeyer und William Youn

Pause

Konstantia Gourzi (*1962) nine lullabies for a new world – Hommage à J. S. Bach für Viola solo op. 49 (2012)

Johann Sebastian Bach aus Die Kunst der Fuge BWV 1080 Contrapunctus I Canon alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta Contrapunctus IX alla Duodecima Contrapunctus inversus à 3 „Vor deinen Thron tret’ ich hiermit“ Choralvorspiel BWV 668 Bearbeitung für Viola und Klavier von Nils Mönkemeyer und William Youn

Johannes Brahms (1833–1897) Sonate für Viola (Klarinette) und Klavier f-moll op. 120 Nr. 1 (1894)

I. Allegro appassionato II. Andante un poco adagio III. Allegretto grazioso IV. Vivace

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Aus der neuen Welt Musik von Bach bis Gourzi

Wo l f g a n g S t ä h r

Am liebsten die Bratsche Als „Deutschlands größter Kirchenkomponist“, als „Erzkantor“ und „Spielmann Gottes“ sollte Johann Sebastian Bach in die Geschichte der Musik eingehen. Nicht von ungefähr: Den Maßstab setzte das Amt des Leipziger Thomaskantors, das er am längsten, wenngleich nicht am liebsten innehatte. Seine musikalisch anspruchsvollste und gewiss auch dankbarste Aufgabe aber fand Bach als Hofkapellmeister im anhaltischen Köthen, als er dort eine Elite der exzellentesten Virtuosen und „CammerMusici“ um sich versammelte. In Köthen schuf Bach um 1720 die sechs Suiten für ­Violoncello solo: Sie dienten als Lehr- und Studienwerke, Exempel und Exerzitium, zur Selbstprüfung und Selbstüberwindung. Die Idee dieser sechs Suiten erscheint ebenso radikal wie unerhört kühn: Musik für eine Stimme, die gleichwohl allen Klangraum und Reichtum der Mehrstimmigkeit in sich trägt. Dabei setzt Bach die Doppel-, Tripel- und Quadrupelgriffe auf dem Violoncello nur sparsam ein. Ihm genügt die einfache Linie, um polyphone Verflechtungen zu suggerieren, Mittel- und Gegenstimmen anzudeuten, harmonische Zauberbilder in Kadenzen und gebrochenen Akkorden zu projizieren, Standorte zu wechseln und Perspektiven zu schaffen. Die Musik ist niemals reicher geworden in ihrer Geschichte, selbst wenn Hundertschaften das Konzertpodium bevölkerten. Bachs Suiten gründen ausnahmslos auf der seit den 1670er Jahren in Deutschland etablierten Standard-Satzfolge Allemande – Courante – Sarabande – Gigue. Überdies rückte Bach, wie es

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Brauch war, vor die Gigue zwei Modetänze ein, „Galanterien“, wie man diese Sätze leichteren Charakters gelegentlich nannte: Menuette, Bourrées oder Gavotten. Am Beginn einer jeden Suite aber erklingt ein Prélude, und das allererste Vorspiel, das den Zyklus eröffnet, der Einleitungssatz der G-Dur-Suite BWV 1007, ruft mit seinen munteren Akkordbrechungen, mit seinem improvisatorisch-spielerischen Gestus geradezu das Bild, ja die Situation des Präludierens herauf, eine private Szene: der Musiker, der mit heiterer, unschuldiger Neugierde sein Instrument zu erproben beginnt. Und so ­beginnt das heutige Konzert. Doch nicht mit dem Violoncello, sondern auf der Viola. „Als der größte Kenner u. Beurtheiler der Harmonie spielte er am liebsten die Bratsche mit angepaßter Stärcke u. Schwäche“, wusste Carl Philipp Emanuel Bach über seinen Vater zu berichten. Ein Posthorn klingt Bachs Capriccio B-Dur BWV 992 teilt uns seinen Anlass im Titel mit: „sopra la lontananza de il fratro dilettissimo“ (nach Bachs Tod in „del fratello dilettissimo“ verkleinert). Die besagte „Abreise des innig geliebten Bruders“ wird zumeist mit dem ­beklagten Abschied von Johann Jacob Bach identifiziert, der sich 1704 von den Werbern der schwedischen Armee rekrutieren ließ und Familie und Heimat für eine ungewisse Zukunft aufgab. Sein jüngerer Bruder Johann Sebastian nahm sich die gerade erschienenen Sonaten J­ohann Kuhnaus zum Muster (den er eines ­Tages im Amt des Leipziger Thomaskantors beerben sollte), die ­Biblischen Historien, deren deskriptive Tonkunst er kurzerhand und ziemlich respektlos vom Alten Testament auf seine Privatsphäre übertrug. Jeden der sechs Sätze versah Bach mit einer programmatischen Überschrift. Das einleitende Arioso „ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten“. Der zweite Satz gibt „eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum ­[Unglücksfälle], die ihm in der Fremde könnten vorfallen“, demonstriert in einer harmonisch unberechenbaren g-moll-Fuge mit „falschen“ Themeneinsätzen und entlegenen Tonarten. Das „Adagiosissimo“ im Zentrum des Werkes beschwört mit seufzer­ reicher Melodik und chromatisch ­fallendem Bass „ein allgemeines Lamento der Freunde“: Die Tonart f-moll galt den Zeitgenossen als Ausdruck „tödlicher Hertzens-­Angst“. Über den vierten Satz

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mit seinen auffahrenden Akkorden und auseinanderlaufenden ­Achtelketten heißt es: „Allhier kommen die Freunde (weil sie doch sehen, daß es anders nicht sein kann) und nehmen Abschied.“ Die „Aria di Postiglione“ drängt mit ­Signalrufen des Posthorns zum Aufbruch, ehe eine muntere „Fuga all’imitatione di Posta“, abermals kontrapunktiert vom Ruf des Postillions, das Capriccio beschließt. Vorspiel zum Jüngsten Tag Orgelchoralvorspiel: ein langes deutsches Wort. Worauf ließe sich verzichten, ohne das Wesentliche zu verlieren? Auf die Orgel, schweren Herzens, denn ein häusliches Clavichord oder ein veritabler Konzertflügel bieten sich alternativ als Instrumente an, nicht nur zur Not. Wenn auch das Vorspiel entfiele, bliebe immer noch der Choral, das reformatorische Kirchenlied, der Gemeindegesang. Doch nimmt man hingegen den Choral aus dem Spiel, steht am Ende nur die Musik, nichts als Musik, ohne liturgische Bindung, ohne theologische Belehrung: zwecklos, aber keineswegs sinnlos. Wenn Musik das „Vergehen“ der Zeit ins Bewusstsein hebt, gilt ­offenbar auch das Gegenteil: In Bachs Orgelvorspiel zu Martin Luthers Adventshymnus Nun komm, der Heiden Heiland BWV 659 kehrt sich der Lauf der Dinge um, mehr als nur sinnbildlich, und aus der Vergangenheit schreitet hörbar der Bote an die Gegenwart heran: die Botschaft des antiken Evangeliums, musikalisch be­ glaubigt und fortgetragen durch die Epochen, die Weltbilder und Wechselfälle der Frömmigkeit. Sie alle stellen sich ein: Luther, Bach und mit ihnen oder zwischen ihnen die namenlosen Generationen, die das Kirchenlied gesungen, die Bachs Vorspiel aus Weimarer Zeit nachgespielt und beides am Leben erhalten haben. Die Legende erzählt, dass Bach auf dem Sterbelager einem guten Freund (nach anderer Überlieferung seinem Schüler und Schwieger­ sohn Johann Christoph Altnickol) einen letzten Choral in die Feder diktiert habe, sein „Sterbelied“, wie es auch im Evangelischen ­Gesangbuch ausdrücklich genannt wird: Vor deinen Thron tret’ ich hiermit BWV 668. Carl Philipp Emanuel Bach hielt diese musikalische Eingebung seines todkranken Vaters für die Nachwelt fest, als er die postume Erstausgabe der Kunst der Fuge vorbereitete und mit eben jenem „vierstimmig ausgearbeiteten Kirchenchoral“ als Schluss ­be­siegelte. Ob Bach aber diese Choralbearbeitung tatsäch-

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lich im Angesicht des Todes erdachte und diktierte, blieb in der Forschung – wie überhaupt die Legende vom „Sterbelied“ – naturgemäß umstritten. Andererseits sind auch die Einwände selbst, die gegen jene Überlieferung vorgebracht werden, keineswegs über jede Kritik ­erhaben. „Vor deinen Thron tret’ ich hiermit“, die Worte eines Morgengebets aus dem 17. Jahrhundert (die zu der ­wesentlich älteren Melodie des Chorals Wenn wir in höchsten Nöten sein gesungen werden), könnten Bach durchaus in seinen schwindenden Lebenstagen gefesselt und getröstet haben. Namentlich die letzte Strophe musste ihm ganz aus der Seele sprechen: „Ein selig Ende mir bescher, / am Jüngsten Tag erweck mich, Herr, / daß ich dich schaue ewiglich. / Amen, Amen, erhöre mich.“ Alles aus Einem Mit der Kunst der Fuge hinterließ Bach ein Monument und Kompendium, ein Lehrwerk und Denkmal höchster Kompositionswissenschaft, Zeugnis einer Musikanschauung von universalem ­Anspruch und Inbegriff der strengen gedanklichen Disziplin, Alles aus Einem abzuleiten: aus einer Stimme, einer Linie oder Tonfolge. In einer Kollektion von Fugen und Kanons erschließt Bach am Beispiel eines einzigen, sämtlichen Sätzen zugrundeliegenden Themas die schier unermessliche Geisteswelt seiner kontrapunktischen Künste. Die erste Fuge – in der Fassung des postumen Erstdrucks als Contrapunctus I bezeichnet – stellt das Thema in seiner ruhevollen, klar umrissenen Grundgestalt vor; die Doppelfuge (Contrapunctus IX) verarbeitet es zusammen mit einem neuen Thema im doppelten Kontrapunkt „alla Duodecima“. Im „Contrapunctus à 3“ wird es umgedeutet in eine spielerisch belebte, ausgesprochen ­klavieristische Bewegungsart mit Oktavsprung, Sechzehnteltriolen und punktiertem Rhythmus. Formal handelt es sich um eine dreistimmige Spiegelfuge über das (wie beschrieben) abgewandelte Thema und dessen Umkehrung. Bach führte sie in zwei Fassungen aus, die er im Autograph nicht nacheinander, sondern unterein­ ander notierte: zuerst oder zuoberst die Inversus-Version, danach oder ­darunter das „thema rectum“. Die Spiegelung erfolgt durch einen zyklischen Ringtausch zwischen den drei Stimmen, indem sich mit jeder Antwort die Richtung verkehrt, nach oben, nach ­unten, ­aufwärts und abwärts. Und doch sind diese Gegensätze im selben Ursprung vereint: ein theologischer Hintersinn im Spiel und

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Spiegel der Musik. Und welche Symbolik bietet erst der Kanon: eine ­Stimme, die sich verdoppelt, die sich selber folgt, die von ihrer ­eigenen Vergangenheit begleitet, von ihrer Vorgeschichte kommentiert wird. Vier Kanons gehören zur Erstausgabe der Bachschen Kunst der Fuge. Im „Canon alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta“ spielt der Bass acht Takte lang allein, bevor der Diskant im Abstand einer Duodezime (Oktave plus Quinte) einsetzt; ab der Mitte ändert sich die Priorität, der Letzte wird der Erste, indem der Bass nun dem Diskant nachfolgt mit freudigen Schritten, im Intervall der Oktave (Duodezime minus Quinte). Aus der Stille Als Hommage à J. S. Bach komponierte Konstantia Gourzi 2012 die nine lullabies for a new world op. 49 für Viola solo. Für Nils Mönkemeyer, um genau zu sein, der das Werk, die „neun Wiegenlieder für eine neue Welt“, in Auftrag gegeben hatte und im Mai 2013 bei den Schwetzinger Festspielen zur Uraufführung brachte. „Konstantia Gourzi traut sich, einfach zu sein“, sagt ­Mönkemeyer. „Sie hat sich auf die Stille konzentriert, aus der Bachs Musik tritt – und auf die Radikalität, dass sich Bach in den Cellosuiten auf ein Instrument beschränkt. Das greift sie auf, wobei sie sich auf die erste Suite bezieht, wie die Tonart und einige Intervalle zeigen.“ Die griechische Komponistin und Dirigentin, die in B ­ erlin studiert hat, Assistentin bei Claudio Abbado in der Philharmonie war und seit 2002 in München lebt und dort als Professorin an der Musikhochschule lehrt, vergleicht das Komponieren dieser neun Miniaturen mit „einem farbigen Übermalen der ersten Bach-Suite auf Transparentpapier“. Die nine lullabies ­erinnern, aber woran? Sie klingen nach Vergangenheit, aber aus welcher Zeit, nach Volks­ musik, doch aus welchem Land? Gourzi spricht von einem „Hauch der Erinnerung an Gesänge aus einer Fantasiewelt“. Und die ist auf keiner Landkarte verzeichnet, diese „neue Welt“, die aus der Stille tritt wie Bachs Musik oder Gourzis Lieder. Doch darf man einer derart leisen Musik überhaupt trauen: Ist es nicht eine trügerische Stille, ein falsches Versprechen, die Ruhe vor dem Sturm? Der Amerikaner Morton Feldman konnte von ­einer Begegnung mit der Frau des polnischen Komponisten Witold ­Lutosławski berichten: „Wir tranken zusammen Kaffee, und sie erzählte mir, wie sie in Warschau zum ersten Mal ein Stück von mir

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hörte. Jemand hatte ihr gesagt, dass es in dem Stück, das sie hören werde, keinen einzigen lauten Ton gäbe. Das ist unmöglich, ent­ gegnete sie und bemerkte, sie sei sehr schreckhaft. Während sie dasaß und der Musik zuhörte, klammerte sie sich an ihrem Stuhl fest in Erwartung eines lauten Tons.“ Doch der blieb aus. Die ­Musik, Morton Feldmans Musik, wird nicht laut, und zwar aus ­einem ebenso frappierenden wie einleuchtenden Grund: „Wenn sie laut ist, kann man den Klang nicht hören“, befand Feldman. „Man hört den ­Anstoß, den Klang hört man dann aber nicht, nur sein Ausklingen.“ Feldmans Ideal bezeichnete einen Klang, der sich ent­faltete und wieder verschwand, „ohne Attacke und Abklingen“. Außerdem stünde die kontrastierende Dynamik, laut und leise, für eine Differenzierung, die seiner Musik fremd sei. Er schreibe­Monologe, erklärte Feldman, die keine Ausrufezeichen und keinen Doppelpunkt benötigten. Seine Kunst sei wie ein Gebet: „Sich dem zu nähern, was nicht existiert. Genau das empfinde ich, wenn ich arbeite. Das Unmögliche versuchen durch Konzentration. Statt es zu suchen.“ Um 1970 komponierte Feldmann vier Stücke unter dem gemeinsamen Titel The Viola in My Life, aber in wechselnden Besetzungen, von der namensgebenden Hauptdarstellerin natürlich abgesehen. Das dritte und kürzeste der vier kombiniert Akkorde (Mehrstimmig­­ keit) im Klavier mit lang ausgehaltenen Einzeltönen oder flüchtigen, wie einmontiert wirkenden Melodien (Einstimmigkeit) in der ­Viola. Feldman sprach von „motivischen Fragmenten“ über einer „statischen Klangwelt“. Oder umgekehrt von ­einem „leeren, ­weißen Raum“, in dem er „einige ausgewählte ­Möbelstücke“ aufgestellt habe. Der Eindruck von Isolation, von Einsamkeit oder ­Alleinsein, den Feldmans Musik wachrufen kann, hängt gewiss an der dynamischen Unterschwelligkeit – der laute Ton, die Expression bleibt aus – und am bewussten Verzicht auf jegliche Rhetorik, aber auch am fehlenden Zeitmaß, den langen Pausen, dem Schweigen einer Musik, die ­keine Ausrichtung kennt, keinen Verlauf, keinen ­Diskurs, und die mit nichts sinnvoll zu vergleichen wäre. Nach bald 50 Jahren ist sie zwar nicht mehr neu, doch noch immer ­unvertraut: musikalisches Niemandsland. „Ich halte mich nicht an den Weg“, sagte Feldman.

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Ein selig Ende Im Sommer 1894, keine drei Jahre vor seinem Tod, schuf J­ohannes Brahms seine letzten oder beinahe letzten Werke: die ­beiden unter der gemeinsamen Opuszahl 120 vereinten Sonaten in f-moll und Es-Dur für Klarinette (oder Bratsche) und Klavier. Das Allegro appassionato, mit dem die f-moll-Sonate beginnt, dieser erste Satz ist ganz Fülle, Erfindung, Reichtum, Überschwang – in der Coda aber schreibt Brahms einen Spiegelkanon in der Nach­ folge Bachs. Er wählt die Strenge einer anachronistischen Tonkunst, weshalb auch spätestens in diesem erhellenden Moment das hohe Maß an Reflexion ins Bewusstsein steigt, die gedankliche Schärfe, der baumeisterliche Zug, der dieses mitreißende Allegro im Innersten zusammenhält: ein „Appassionato“, das nicht von Leidenschaften zerrissen wird, weil es der Formverstand des Komponisten ist, der die Musik denkt und lenkt. Selbst das „wienerische“ Ländlerthema im Allegretto grazioso ist wohl überlegt und austariert mit jeder Note und jedem Taktstrich, ohne deshalb die Musizierlaune je zu trüben. Brahms nimmt Abschied: von Wien, der Wahlheimat des Hamburgers; vom deutschen Volkslied, das ohnehin eine ­Erfindung der Romantiker war, Natur aus zweiter Hand, abstrakte Folklore, aus der sich wunderbar die verzweigten und verwinkelten Sonatensätze gestalten ließen, die der Komponist so liebte, bis ­zuletzt. Seine späten Klavierstücke nannte Brahms einmal die „Wiegenlieder ­meiner Schmerzen“, ein privater, poetischer Titel, der auch zum Andante un poco adagio passt, dem zweiten Satz der f-moll-Sonate: nicht zu langsam, nicht zu schwermütig, in der Paralleltonart As-Dur. Und das Finale steht gar in F-Dur, eine Wendung zum Licht. Nicht zu vergessen: Diese ­Sonate war ein Geschenk, ein Nachtrag oder Nachspiel. Brahms komponierte sie, nachdem er eigentlich mit seinem Lebenswerk ­bereits abgeschlossen hatte. Und hinterließ somit die menschenfreundliche Lehre, dass kein Ende endgültig sei, nicht hier und nicht heute.

Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur für Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, Schallplattengesellschaften und Opernhäuser. Er verfasste mehrere Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption, über Haydn, ­Schubert, Bruckner und Mahler.

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Avant-gardes Past and Present Music from Bach to Gourzi

Har r y Haskell

The avant-garde is a moving target: one generation’s musical maverick or cutting-edge style may seem tamely conservative to the next, and the long arm of history sooner or later brings yesterday’s rebels to heel. Consider the four composers represented on tonight’s program. Morton Feldman was one of the 20th century’s most intrepid musical innovators, a friend and soulmate of the arch-experimentalist John Cage and the pathbreaking artists of the Abstract Expressionist school. Konstantia Gourzi’s avant-garde ­credentials are equally impeccable, as reflected in her long associations with a raft of contemporary-music ensembles in Berlin and elsewhere. Bach, on the other hand, from our perspective appears to be a quintessentially conservative musician, even though generations of forward-looking composers, from Mozart to Gourzi herself, have turned to him for inspiration. As for Brahms, no less an authority than the radical traditionalist Arnold Schoenberg considered him one of the great “progressives” in music history. Novelty, like beauty, is in the ear of the beholder. Baroque Exuberance and Minimalist Quietude Unlike Bach’s sonatas and partitas for unaccompanied violin, which were known and performed in the 19th century, the six Suites for Solo Cello were virtually forgotten until Pablo Casals ­resurrected them in the early 1900s. Although presumably intended as technical studies, the suites are neither as difficult to play nor as

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musically sophisticated as Bach’s violin solos. It is likely that he wrote them for one of the cellists in the court orchestra at Köthen, where he served as Kapellmeister from 1717 to 1723. By then the model of the multi-movement, dance-based instrumental suite had been more or less standardized. The G-major Cello Suite—heard tonight in an arrangement for viola by Nils Mönkemeyer—comprises a stately Allemande, a vivacious Courante, a broadly lyrical Sarabande, a pair of minuets of contrasting characters, and a bouncy Gigue. Preceding these is a majestic prelude, an unbroken chain of 16th notes based largely on arpeggiated chords. Although from time to time the player is called upon to execute double and triple stops, the harmonies are for the most part implied rather than expressed. As in his solo violin music, Bach ingeniously manipulates the instrument’s melodic line to conjure an illusion of polyphonic ­r ichness. Bach was probably in his late teens when he wrote the Capriccio sopra la lontananza del fratello dilettissimo (Capriccio on the Departure of a Most Beloved Brother) for solo keyboard. The theory that BWV 992 was inspired by his older brother Johann Jacob’s departure for military service in the Swedish army in 1704 has been questioned, so the identity of the composer’s titular sibling remains a mystery. Although the work’s title suggests a lament, the mood the music projects is on the whole anomalously upbeat, leading some commentators to suggest that Bach was making some kind of ­private joke. The capriccio is divided into six sections, each of which bears a descriptive rubric alluding to the purported leave-­taking. It opens with a serene arioso in B-flat major; not until the second section does pathos enter the picture, as the brother’s friends speculate on the “sundry misfortunes that might befall him in ­foreign lands.” This heartfelt meditation leads to a more or less conventional lament, built on an inexorably descending bass pattern, to which Bach affixes the whimsical tempo marking “Adagiosissimo.” But the clouds quickly blow over and the capriccio concludes with a spirited aria and fugue, both featuring energetic octave leaps characteristic of the post horn. American composer Morton Feldman was a minimalist avant la lettre; starting in the mid-1940s, he created a large body of work ­distinguished by its spareness, stillness, and sonic subtlety, music that often seemed to nestle in the interstices between sound and silence, movement and stasis. Early in his career Feldman expressed his ­disdain for compositional orthodoxy, both mainstream and

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avant-­garde, by experimenting with indeterminacy, graphic notation, and other innovations. But in 1970—the year he began work on the c­ ycle of four ensemble pieces for viola and other instruments titled The Viola in My Life—he was poised for change. “I still had a preference for very soft sounds,” he recalled, “but I began to notate the music again precisely, if not more precisely than before. The music also became, for lack of a better term, ‘motivic.’” A case in point is the third installment of the cycle, scored for viola and piano. The six-minute essay consists of a series of soft chordal exhalations ­(decrescendos) and inhalations (crescendos), punctuated by long ­silences and a thrice-repeated rising motive for the muted viola that hovers in the air at the end like an unanswered question. Building “Sound Bridges” Like many contemporary musicians, Greek composer and conductor Konstantia Gourzi has focused much of her creative energy on a search for her musical roots—for what she calls “a ­connective line between yesterday and today.” The next segment of tonight’s program juxtaposes a recent Bach-inspired work by Konstantia Gourzi with a clutch of the Baroque composer’s late masterpieces. The collection of 18 organ chorale preludes, sometimes called “Leipzig Chorales,” that Bach compiled in the decade before his death are among the greatest and most deeply felt of his sacred works. Like The Art of Fugue, BWV 651–68 are the fruits of a lifetime of study and devotion, both as a practical musician and as a Christian whose faith was central to his artistic life. Sensitively transcribed by Mönkemeyer and William Youn, the solemn strains of the Lutheran chorales Nun komm, der Heiden Heiland (Now come, savior of the heathens) and Vor deinen Thron tret’ ich hiermit (Before your throne I now appear) lend themselves admirably to the dark, velvety timbre of the viola and the piano’s unobtrusively supportive harmonies. Currently based in Munich, Gourzi has been a fixture on Berlin’s new-music scene since the 1990s. Motivated by a desire to “combine my Greek roots with Western influences,” she has long sought to fuse sounds and ideas from disparate cultures, ­religions, and historical eras. Gourzi’s ongoing quest for what she calls “a transcendent sonic coexistence” is manifest in her series of “homages” to composers such as Bach, Mozart, and Mompou. The viola solo nine lullabies for

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a new world, written for Nils Mönkemeyer in 2012, was originally designed to “function as a sound bridge between two Bach suites.” Yet Bach’s music is present only in the deep background of Gourzi’s ten-minute-long work. She explains that “all nine miniatures are moments of a certain mood that do not correspond to the character of major or minor modes, but to a distant remembrance of chants from a fantasy world.” In the first lullaby, for example, a shimmering, chant-like melody—marked “sacred” in the score—languorously rises and falls above an unchanging pitch that evokes one of Bach’s organ pedal points. Elsewhere Gourzi combines drones with ­harmonic overlays, a process she likens to “painting colorfully over the first Bach suite on transparent paper.” The Art of Fugue, on which Bach labored intermittently during the 1740s, was to have been his final word on the complex contrapuntal procedures that had occupied him throughout his career and of which he was the acknowledged supreme master. The posthumously published collection consists of 14 fugues and four ­canons, all based on a boldly striding melody that begins with an arpeggiated D-minor triad. The Art of Fugue is usually played on the organ, but no instrumentation is prescribed in the score and performances by other ensembles, such as we will hear tonight, are not uncommon. Each contrapunctus (the Latin word for fugue that the academically minded Bach used by preference) in the ­collection illustrates a ­different aspect of contrapuntal technique. Contrapunctus I, for example, is a straightforward four-voice fugue in which each entrance of the majestic D-minor theme, or subject, can be clearly heard. Fugues III, VI, and VII add the techniques of inversion (turning the subject upside-down), augmentation (lengthening note values), and diminution (shortening note values) to the mix. In Contrapunctus XI, a so-called triple fugue, Bach weaves together not one but three subjects in a spellbinding display of compositional virtuosity. He was at work on the culminating quadruple fugue when he died in 1750. Autumnal Romance Originally conceived for clarinet and piano, the Sonatas Op. 120 in F minor (No. 1) and E-flat major (No. 2) constitute Brahms’s swan song in the field of instrumental chamber music. In both their burnished instrumental colors and their thematic

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material, the sonatas epitomize the “autumnal” spirit that emerged ever more forcefully in the composer’s twilight years. Like Brahms’s Clarinet Trio and Clarinet Quintet, both written in 1891, they were inspired by the artistry of Richard Mühlfeld, the principal clarinetist of the excellent court orchestra in Meiningen. With the composer’s blessing, violists have enthusiastically laid claim to them as well. The Allegro appassionato of the F-minor Sonata opens with a lyrical but portentous theme enunciated by the piano in parallel octaves, which the viola picks up and elaborates in broad, sweeping phrases. The music’s growing urgency soon dissolves into plaintive introspection, and the fluid interplay between these contrasting moods gives the movement much of its richness and poignancy. In the slow movement, the viola sings a sweetly sighing melody that descends stepwise, then climbs back valiantly before resuming its downward trajectory. The soft pulses in the piano accompaniment blossom into cascading arpeggios and rocking figures. Brahms might well have continued to mine this vein of tender resignation. Instead, he charted a new course in the Allegretto grazioso: the winsome theme radiates warmth, with its lilting triple meter and phrase endings that bend upward hopefully, like flowers stretching toward the sun. The final Vivace is similarly lighthearted, as playful harmonically as it is rhythmically. A bright peal of repeated notes in the piano ushers in a buoyant, swaggering viola melody in duple time that is repeatedly interrupted by contrasting episodes in swaying triplets. By the end of the movement, the sonata’s somber F-minor tonality has been left far behind, transmuted into a joyous major-key affirmation.

A former music editor for Yale University Press, Harry Haskell is a program annotator for ­Carnegie Hall in New York, the Edinburgh Festival, and other venues, and the author of ­ several books, including The Early Music Revival: A History, winner of the 2014 Prix des Muses awarded by the Fondation Singer-Polignac.

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