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Einführung: Der Macht die Wahrheit entgegenhalten

Der Macht die Wahrheit entgegenhalten

Die Edward W. Said Days 2021

Prof. Dr. Mena Mark Hanna

„Die Zombies, glauben Sie mir, sind viel schreckenerregender als die Kolonialherren“,1 schrieb Frantz Fanon, der martiniquische Psychiater und politische Theoretiker in Die Verdammten dieser Erde. Das ist eine ernüchternde Auffassung, mit vernichtender Präzision in Worte gefasst. Diejenigen, die nicht mehr selbstständig denken und sich vom kolonialen Kampf ins Mythische und Religiöse zurückziehen, sind gefährlicher als diejenigen, die als Feinde oder Eindringlinge erkannt werden. Fanon drängt: Überlassen Sie der Vergangenheit keinen Zentimeter, sondern treiben Sie die Gegenwart in Richtung Unabhängigkeit und Gleichberechtigung. Als wäre das nicht schon Herausforderung genug, muss der Kampf für Fanon nicht nur zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, sondern auch zwischen Kolonisierten und Zombiekolonisierten ausgefochten werden, wodurch eine binäre Machtstruktur, die sich üblicherweise als holzschnittartiges Wir-gegen-die-anderen darstellt, vervielfacht und zu einem Jeder-gegen-jeden immanenter Bedrohungen verwandelt wird.

Auch Edward W. Said mahnt eindringlich und aus einer gemäßigten philosophischen Haltung heraus grundlegende Gerechtigkeit für alle Menschen an. Die Umrisse und Argumente für dieses Grundrecht findet er in den kulturellen Produkten der Vergangenheit, in den Seiten viktorianischer Romane, den Theorien der

französischen Geschichtsschreibung, den Szenen der großen italienischen Oper und den Theorien der deutschen Metaphysiker. Man könnte fälschlicherweise vermuten, Saids Arbeit in Bezug auf Kultur und Macht sei historiografisch. Das ist nicht der Fall. Obgleich die Hochphase des Imperialismus im 19. Jahrhundert vorbei ist, wie Said 1993 in seinem Buch Kultur und Imperialismus betont, ist die imperiale Vergangenheit – als politische, soziale, kulturelle und psychische Realität – immer noch äußerst präsent. Sie „hat in die Lebenswirklichkeit Hunderter Millionen Menschen Eingang gefunden, wo sie als gemeinsame Erinnerung und als höchst konfliktuöses Gewebe von Kultur, Ideologie und Politik noch immer schreckliche Macht ausübt.“2

Für Said ruht die Verantwortung für das Einklagen grundlegender menschlicher Gerechtigkeit in unangemessener Weise auf den Schultern der Intellektuellen. Dabei unterscheidet er im Hinblick auf diese Aufgabe sehr genau zwischen Spezialisten und Intellektuellen: Ein Spezialist ist jemand, der über Insiderwissen und ein entsprechendes Vokabular verfügt, der „auf der Höhe der Zeit“ ist und seiner Umgebung Loyalität signalisiert; Intellektuelle, die durch keine übermäßige Spezialisierung eingeschränkt sind, haben die Freiheit, abweichende Meinungen zu äußern, Schlichtungsversuche zu unternehmen und, was am wichtigsten ist, sich dafür zu entscheiden, solche Angelegenheiten und Vorstellungen zu unterstützen, die den Prinzipien und Werten entsprechen, an die sie sich gebunden fühlen. In seinen Reith Lectures von 1993, die in deutscher Sprache unter dem Titel Götter, die keine sind: Der Ort des Intellektuellen veröffentlicht wurden, erklärt Said: „Der Macht die Wahrheit entgegenzuhalten ist kein hochtrabender Idealismus. Es bedeutet vielmehr, sorgfältig Alternativen abzuwägen, die richtige auszuwählen und sie dann dort intelligent zu vertreten, wo sie am meisten Positives bewirkt und die richtigen Veränderungen herbeiführt.“3

Fast drei Jahrzehnte nach seinen Reith Lectures und der Veröffentlichung von Kultur und Imperialismus könnte man vielleicht einen Schritt weiter gehen. Wir beschäftigen uns nicht nur mit dem Erbe unserer imperialen Vergangenheit, sondern diese Vergangenheit – und insbesondere unsere Unfähigkeit, damit umzugehen – schlägt in den Metropolen politisch zurück. Sowohl „Make America Great Again“ als auch der Brexit sind Bewegungen, die einem unbestimmten Blick auf eine glorreiche Vergangenheit nachhängen, und in beiden Fällen werden kulturelle Hervorbringungen, Debatten und Diskurse mit politischer Macht verknüpft und von Politikern instrumentalisiert. Anstelle von Fanons Zombies des Mythischen oder des Religiösen sind wir zu Zombies der wortgewandten, spontanen

Reflexion geworden, mit technologischen Überwachungsinstrumenten und Falschinformationen, die für unser kulturelles und politisches Ökosystem weitaus verheerender sind, als Fanon oder Said es sich jemals hätten vorstellen können.

Die diesjährigen Edward W. Said Days stehen unter der Überschrift Culture and Power und sind vielleicht die bisher am breitesten angelegte und am stärksten extrapolierende Ausgabe des Festivals. Während die vergangenen Jahrgänge der Said Days ein vergleichsweise eng umgrenztes Thema hatten,4 versuchen wir mit Culture and Power einen Blick auf das Verhältnis zwischen Kultur und Macht zu werfen, das Said erstmals in seinem Buch Die Welt, der Text und der Kritiker von 1983 beschrieben hat. Er spricht dort von der „Macht der Kultur, kraft ihrer erhabenen oder überlegenen Stellung zu autorisieren, zu dominieren, zu legitimieren, zu degradieren, zu verbieten und zu bestätigen. Kurz gesagt: Kultur ist eine und vielleicht die wichtigste Macht, die sowohl innerhalb wie außerhalb ihres Bereichs für eine nachhaltige Differenzierung sorgt.“5

Es ist mir keineswegs entgangen, dass Konzertsaal und Konservatorium als Veranstaltungsort nicht außerhalb der hier untersuchten Beziehung stehen. Konzertsäle sind an und für sich Repräsentanten einer Kultur in „erhabener oder überlegener Stellung“. Konservatorien dienen als Vermittler und Verfechter einer sakrosankten, exklusiven Aufführungstradition, die durch eine strenge technische Ausbildung entwickelt und gesteuert wird. Gibt es einen besseren Ort als diese Institution, um solche Strukturen in Frage zu stellen und zu unterlaufen?

Wir haben gezielt Musik und Kunst kuratiert, die mit politischer und staatlicher Autorität verflochten ist. Werke der rein elektronischen Musik von Karlheinz Stockhausen und Sofia Gubaidulina und Klangkunst von Alvin Lucier sind eher Kunstwerke, die über Kopfhörer gehört und nicht in Konzertsälen „aufgeführt“ werden. Der Position Richard Wagners als radikaler Nationalist des 19. Jahrhunderts wird ein Komponist zur Seite gestellt, den er wegen seiner jüdischen Wurzeln verunglimpfte: Felix Mendelssohn. Wir untersuchen Werke von György Ligeti, György Kurtág und Dmitri Schostakowitsch, Komponisten, die sich mit Regimes auseinandersetzten – und ihnen im Falle Ligetis entkamen –, die versuchten, den künstlerischen

Ausdruck im Sinne einer autoritären Persönlichkeit zu verfälschen. Abdo Shanan geht in seiner Ausstellung Dry Fragen der algerischen Identität nach, die unter der von der Regierung aufgezwungenen Zwangshomogenisierung auseinanderbricht. Leyla Bouzid portraitiert in ihrem Film À peine j’ouvre les yeux („Sobald ich meine Augen öffne“) eine junge Tunesierin, die kurz vor dem Aufstand, der den Arabischen Frühling einleitete, in der Punkrock-Szene des Landes zu ihrer Stimme findet. Den Abschluss bildet die Musik von Julius Eastman, einem Schwarzen, schwulen Komponisten, der den Kanon der klassischen Musik zu unterlaufen suchte und unbemerkt von der Öffentlichkeit vereinsamt starb.

Vergessen wir nicht, dass auch das Werk Edward W. Saids Bestandteil des Kanons geworden ist. Seine Ideen – obgleich notwendiger Impulsgeber für die Inklusivität von Diskursen – wurden essenzialisiert, falsch angewendet und ihrer eigenen Orthodoxie unterworfen. Said scheint einige der in seinem Namen geforderten Maßnahmen vorhergesehen zu haben, als er seinen Beitrag zur „Kritik des Eurozentrismus“ reflektierte, „die Leser und Kritiker in die Lage versetzt hat zu erkennen, wie armselig die Identitätspolitik ist, wie unsinnig die Behauptung ist, es gebe einen ‚reinen‘ Wesenskern, und wie falsch es ist, einer Tradition einen Vorrang gegenüber allen anderen zuzuschreiben, der in Wahrheit nicht den Tatsachen entspricht.“6

Wenn man 18 Jahre nach dem Tod des palästinensischen Exilanten im Jahr 2003 eine Lehre aus seinem Leben ziehen kann, dann ist es sein Drängen zur Gelassenheit, sein Plädoyer dafür, auch die anderen Seite der Dinge zu sehen und „ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit verschiedener Dimensionen zu entwickeln, ein Bewusstsein, das – um eine Formulierung aus der Musik zu entlehnen – kontrapunktisch ist“.7 Aber auch, die Dinge mit Stil, mit Souveränität und weltlicher Aufgeklärtheit zu betrachten.

Berlin, den 1. September 2021

1 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, [1961], Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1966, S. 47. 2 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, Fischer, Frankfurt a.M. 1994, S. 47. 3 Said, Edward W.: Götter, die keine sind. Der Ort des Intellektuellen, Berlin-Verlag,

Berlin 1997, S. 111. 4 On Late Style (2018) konzentrierte sich fast ausschließlich auf Vorstellungen über künstlerische Spätzeit und Reife, wie sie Said in seinem letzten kritischen Werk

On Late Style darlegte. On Counterpoint (2019) untersuchte Saids Anwendung des

Konzepts des Kontrapunkts über den Bereich der Musik hinaus. 5 Said, Edward W.: Die Welt, der Text und der Kritiker, Fischer, Frankfurt a.M. 1997, S. 17. 6 Said, Edward W.: Reflections on Exile and Other Literary and Cultural Essays, Granta,

London 2000, S. 25. 7 Ebd., S. 186.

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