9 minute read
Essay: Wagnerismus und Stockhausen-Syndrom
Wagnerismus und Stockhausen-Syndrom
Zum Konzertprogramm
Felix Mendelssohn habe „uns gezeigt, daß ein Jude von reichster specifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartestempfindende Ehrengefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten“.1 Diese Worte finden sich in einem 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik2 veröffentlichten Artikel mit dem Titel Das Judentum in der Musik. Der mit K. Freigedank unterzeichnete Beitrag gilt inzwischen als ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Antisemitismus.
Heutigen Lesern mag es merkwürdig erscheinen, dass ein Artikel in einer Musikzeitschrift – die nie mehr als 2000 Abonnenten hatte – heute als ein Wegbereiter des rassistischen Nationalismus angesehen wird, der Deutschland im 20. Jahrhundert erfasste. Doch der Angriff auf Mendelssohn zielte auch auf den weitreichenden und befreienden Nationalismus des späten aufklärerischen Vormärz, derjenigen Phase der deutschen Geschichte, die der gescheiterten Revolution von 1848 vorausging. Mendelssohn, der als Sohn einer sehr prominenten jüdischen Familie geboren und im Alter von sieben Jahren christlich getauft wurde, war eine wichtige Figur im deutschen Musikleben der 1840er Jahre. Seine Position zeigt, dass prominente Juden sozial und kulturell so in die deutsche Kultur eingebunden waren, dass sie wie Mendelssohn auch begeisterte Kulturnationalisten sein konnten. Felix Mendelssohn, dessen Großvater der jüdische Aufklärungs-Philosoph Moses Mendelssohn war, leitete mit einer Aufführung der Matthäus-Passion die Neubelebung des allgemeinen Interesses an Bach ein und war der Komponist des Paulus, eines Oratoriums, das mit der Steinigung des Heiligen Stephanus durch die Juden beginnt.
Freigedank gab sich 1869 mit der Veröffentlichung einer etwas abgeschwächten Version des Essays als Richard Wagner zu erkennen. Für Wagner offenbart sich in einigen Aspekten der Musik Mendelssohns dessen „Judentum“: in Mendelssohns Wahl von Bach als Höhepunkt anstelle von Beethoven, dessen Musiksprache, so Wagner, „nur von einem vollkommenen, ganzen, warmen Menschen gesprochen werden“ kann; in Mendelssohns Bevorzugung von Oratorien, die Wagner als „geschlechtslose Opernembryonen“ bezeichnet, gegenüber der Oper;3 in Mendelssohns angeblicher Unfähigkeit, mehr als nur oberflächliche Musik zu schreiben – mit Ausnahme seiner Solo-Klavierstücke, angesichts derer Wagner eine echte Gefühlsregung zu empfinden vorgab, denn die Stücke waren für Wagners Ohren Sinnbilder für Mendelssohns Einsicht in seine rassische Minderwertigkeit.
Das Judentum in der Musik ist eine überaus abstoßende Schrift. Wenn man sie liest, spürt man eine glühende Feindseligkeit, einen persönlichen Hass, der den Autor anstachelt. Wagner schrieb den Artikel im Jahr 1850, während er nach seiner Teilnahme am gescheiterten Dresdner Aufstand von 1849 im Zwangsexil in der Schweiz lebte. Seine Geringschätzung des kurz zuvor verstorbenen und allseits bewunderten Mendelssohn, eines gebürtigen Leipzigers wie er selbst, ist unverhohlen; seine Schrift vermischt Antisemitismus mit heftigem persönlichem Neid. Aufgrund des Verlaufs von Wagners Karriere – im Vergleich zu den erstaunlichen jungen Wunderkindern der Musik des 19. Jahrhunderts war er ein Spätzünder – wird oft vergessen, dass der Komponist nur wenige Jahre jünger war als diejenigen, die man gemeinhin zu einer früheren Generation zählt: Felix Mendelssohn, Frédéric Chopin und Wagners späterer Schwiegervater Franz Liszt. Wagners Abscheu gegen Mendelssohn hat ein enormes Beharrungsvermögen gezeigt; diese Verdammung Mendelssohns hängt uns bis heute nach, wie Tom Service hervorhebt: „Das Tragische ist, dass Wagners Kritik – bis auf einen Großteil des Rassismus – zur üblichen Einstellung gegenüber Mendelssohn geworden ist. Seine technischen Fähigkeiten, die treibende Kraft hinter seiner Musik, werden als seichter Akademismus angesehen; der kommerzielle Erfolg, den er genoss, gilt als Beweis dafür, dass er nur schrieb, um seinem Publikum zu gefallen.“4
Ein Argument gegen den „seichten Akademismus“ Mendelssohns ist sein Streichquartett e-moll op. 44 Nr. 2. Nicht nur finden sich darin Anklänge an das spätere Violinkonzert des Komponisten in derselben Tonart – Mendelssohns Quartett hat Gewicht und durch-
läuft eine beachtliche emotionale Entwicklung. Im ersten Satz erklingen Ausbrüche von liedähnlichem Material, das in eine streng gefasste kontrapunktische Struktur integriert ist. Der zweite Satz ist ein spielerisches und schwindelerregendes Scherzo. Obgleich es kürzlich in einem Programmhefttext des Los Angeles Philharmonic mit der Bemerkung, es enthalte „wieder diese charakteristischen herumhüpfenden Elfen – sonst wäre es ja nicht Mendelssohn“5 , verunglimpft wurde, besitzt dieses Scherzo mit einer in ein Sonatenrondo verschränkten dreigliedrigen ABA-Form eine raffinierte Struktur. Der dritte Satz erinnert in seiner verdichteten Sonatenform an Mendelssohns „Lieder ohne Worte“, und der Schlusssatz ist ein bemerkenswertes Lehrstück in wechselnder kompositorischer Gestaltung.
Zweiundzwanzig Jahre nach Mendelssohns Tod schrieb Richard Wagner das Siegfried-Idyll, ein für das Schaffen des Komponisten ungewöhnliches Werk. Es wurde als kammersymphonische Tondichtung komponiert und war ein Geschenk an seine Frau Cosima anlässlich der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Siegfried. Zu diesem Zeitpunkt gehörten Wagners Tage des revolutionären Kampfes der Vergangenheit an. Der Komponist hatte sich die Unterstützung Ludwigs II. von Bayern gesichert, brachte Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg zur Uraufführung und war in die Komposition seines Ring-Zyklus vertieft. Sein Status als „Herrscher der deutschen Musik“, wie Carl Dahlhaus prägnant resümierte, war so gut wie gesichert.6
Das Siegfried-Idyll wurde am Weihnachtsmorgen 1870 uraufgeführt, als ein kleines Ensemble unter der Leitung von Wagner das Stück in der Villa des Komponisten in Tribschen (Schweiz) spielte. Cosima Wagner erzählt von der Geburtstagsüberraschung: „Wie ich aufwachte, vernahm mein Ohr einen Klang, immer voller schwoll er an, nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen, Musik erschallte, und welche Musik!“7 Ursprünglich hatte das Siegfried-Idyll den Titel „Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang8 und OrangeSonnenaufgang als symphonischer Geburtstagsgruß seiner Cosima dargebracht von ihrem Richard, 1870“ und war als privates, ausschließlich für den Familiengebrauch bestimmtes Stück gedacht. Auch wenn ein Teil der Musik sich schließlich im Ring wiederfand – das Hauptthema des Siegfried-Idyll singt Brünnhilde im dritten Akt des Siegfried zu den Worten „Ewig war ich…“ – , zwang finanzieller Druck den Komponisten, die Besetzung des Stückes auf 35 Musiker zu erweitern und es 1878 an den Verleger Schott zu verkaufen. Es
ist kein privates Stück mehr, aber wir können es zweifellos als Bemühen Wagners um häusliches Glück hören.
Im Jahr 1974 verfasste der englische Komponist Cornelius Cardew eine kritische Abhandlung über den deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen und seinen amerikanischen Kollegen John Cage mit dem Titel Stockhausen Serves Imperialism („Stockhausen dient dem Imperialismus“). Cardew, ein ehemaliger Schüler Stockhausens, prangert die musikalische Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg scharf als von der bürgerlichen Klasse kommerziell vereinnahmt und kommerzialisiert an: „Verkäufer wie Stockhausen wollen Ihnen einreden, dass Sie durch das Hineingleiten in ein kosmisches Bewusstsein den schmerzhaften Widersprüchen der realen Welt entgehen. Letztlich ist die mystische Vorstellung, dass die Welt eine Illusion sei, aber nur eine Idee in unseren Köpfen. Sind die Millionen unterdrückter und ausgebeuteter Menschen auf der ganzen Welt dann auch nur ein Teil dieser Illusion in unseren Köpfen? Nein, das sind sie nicht. Die Welt ist real, und ebenso die Menschen, und sie kämpfen für einen tiefgreifenden revolutionären Wandel. Der Mystizismus sagt: ‚Alles, was lebt, ist heilig‘, also lauft nicht über den Rasen, und vor allem krümmt keinem Imperialisten ein Haar.“9
Obwohl Cardews Worten eine gewisse Desillusionierung innewohnt, lässt sich seine beißend scharfe Bewertung in einem größeren historisch-kulturellen Rahmen nachvollziehen. Nach den 1968er-Protesten wurde Stockhausens Musik, die zur Speerspitze des Experimentellen und der Avantgarde gehörte, als elitär verurteilt und der Komponist als abgehoben angesehen.10 Seine universalistische Komposition Hymnen, ab 1966/67 entstanden und 1969 erweitert, wurde genau zu dem Zeitpunkt geschrieben, als diese kulturellen Kräfte in den Vordergrund traten.
Hymnen besteht aus vier Teilen, die Stockhausen jeweils als „Region“ betitelt hat, und ist ein Stück für elektronische Musik, Musique concrète11 und Orchester, das auf Nationalhymnen aus aller Welt basiert. Region II wurde ursprünglich als elektronische Musik und Musique concrète zusammen mit einer instrumentalen Liveaufführung realisiert; Stockhausen zog diese Version zurück und revidierte sie als Montage aus ausschließlich elektronischer Musik und Musique concrète. Region II ist seinem avantgardistischen belgischen Komponistenkollegen Henri Pousseur gewidmet und
basiert auf vier „hymnischen“ Zentren: der deutschen Nationalhymne, dem Anfang der russischen Nationalhymne, einer Gruppe von Nationalhymnen afrikanischer Länder12 und einem „subjektiven Zentrum“, das als Quelle einen Abschnitt aus der Aufführung des Stücks im Studio für elektronische Musik verwendet. Dieses „subjektive Zentrum“ ist letztlich der philosophische Kern des Stückes. Stockhausen beschreibt es als einen Augenblick, „worin zweite Gegenwart, Vergangenheit und Vorvergangenheit gleichzeitig werden“.13
Stockhausen betrachtet Hymnen als eine Metapher für internationale, ja sogar universelle Zusammenarbeit: das heißt für die Zusammenarbeit mit den Sternen und anderen himmlischen Wesen. Ähnlich wie Wagner von seinen Anhängern absolute Hingabe verlangte, wurde Stockhausen im späten 20. Jahrhundert zu einer Art spirituellem Guru. Doch anders als Wagner, den Richard Taruskin beschrieb als „Künstler von größter und unstrittiger Bedeutung …, [der zu einem] ebenso großen und unstrittigen Problem [wurde]“14, lässt sich das Problematische an Stockhausen – wie seine umstrittenen Äußerungen nach den Anschlägen vom 11. September15 – als künstlerische Dummheit oder politische Naivität entschuldigen und scheint nicht ganz so unstrittig.
—Prof. Dr. Mena Mark Hanna
1 Wagner, Richard: „Das Judenthum in der Musik“, in Neue Zeitschrift für Musik, 3./9. September 1850. 2 Die Neue Zeitschrift für Musik wurde in Leipzig von dem Komponisten Robert
Schumann, seinem zukünftigen Schwiegervater Friedrich Wieck und dem Pianisten und Komponisten Ludwig Schuncke gemeinsam begründet. Ihre erste Ausgabe erschien am 3. April 1834, und von 1835 bis 1843 war Schumann Herausgeber der
Zeitschrift. Sie existiert bis heute und wird vom Schott-Verlag herausgegeben. 3 Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft [1849] in ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. 3, Siegel, Leipzig 1907, S. 101. 4 Service, Tom: „Clash of the Composers“, in The Guardian, 5. Mai 2009, https://www.theguardian.com/music/2009/may/05/felix-mendelssohn-richard-wagner-classical-music (zuletzt abgerufen am 16. September 2021). 5 https://www.laphil.com/musicdb/pieces/4884/string-quartet-no-4-in-e-minorop-44-no-2 (zuletzt abgerufen am 16. September 2021). 6 Dahlhaus, Carl: Richard Wagners Musikdramen, Piper, München 1988, S. 10. 7 Wagner, Cosima: Die Tagebücher, Bd. 1, hrsg. v. Martin Gregor-Dellin und Dietrich
Mack, Piper, München 1976–1978, S. 329.
8 Fidi war ein Kosename für Siegfried Wagner, Richards und Cosimas Sohn. 9 Cardew, Cornelius: Stockhausen Serves Imperialism, veröffentlicht auf ubu.com: http://www.ensemble21.com/cardew_stockhausen.pdf (zuletzt abgerufen am 16. September 2021), S. 49–50. 10 Es scheint nicht allzu weit hergeholt, Stockhausen als abgehoben zu bezeichnen, bedenkt man, dass er verschiedentlich und wiederholt behauptet hat, auf dem
Sirius geboren oder ausgebildet worden zu sein, einem Sternensystem, das 2,64
Parsec von unserem Sonnensystem entfernt ist. 11 Unter Musique concrète versteht man Musik, die technisch fixierte Klänge (Tonaufnahmen) als Quelle der Komposition verwendet. 12 Die einzelnen afrikanischen Staaten, deren Hymnen verwendet werden, sind in den Beschreibungen des Stückes kaum vermerkt, doch ich habe sie mit etwas
Detektivarbeit ermitteln können: Guinea, Mali, Südafrika, Äthiopien, Gambia,
Liberia, Sierra Leone, Niger, Kamerun, Elfenbeinküste, die Republik Obervolta (heute Burkina Faso) und die Republik Dahomey (heute Benin). Man kann
Stockhausen durchaus den Vorwurf machen, den Süden zu globalisieren und
Afrika als „das Andere“ zu identifizieren, indem er die Staaten als unbedeutende
Einheiten bündelt und in einem größeren Ganzen zusammenfasst. 13 Stockhausen, Karlheinz, Texte zur Musik Bd. 3 1963–1970, hrsg. v. Dieter Schnebel,
Verlag DuMont Schauberg, Köln 1971, S. 96. 14 Taruskin, Richard: The Oxford History of Western Music, Vol. 3: Music in the
Nineteenth Century, Oxford University Press, Oxford 2005, S. 481. 15 Auf einer Pressekonferenz in Hamburg am 16. September 2001 beschrieb
Stockhausen die Anschläge vom 11. September als „das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos“ und bewunderte, „dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert, und dann sterben“. Er verteidigte sich später auf seiner Website und erklärte, sein Kommentar sei metaphorisch gemeint gewesen und falsch interpretiert worden. (https://www.haz.de/
Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Die-grausame-Schoenheit-des-11.-September; https://www.welt.de/print-welt/article476671/Welle-der-Empoerung-ueber-Stockhausen.html).