Edward W. Said Days - Culture and Power

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Wagnerismus und Stockhausen-Syndrom Zum Konzertprogramm

Felix Mendelssohn habe „uns gezeigt, daß ein Jude von reichster specifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartestempfindende Ehrengefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ­ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten“.1 Diese Worte finden sich in einem 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik2 veröffentlichten Artikel mit dem Titel Das Judentum in der Musik. Der mit K. Freigedank unterzeichnete Beitrag gilt inzwischen als ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Antisemitismus. Heutigen Lesern mag es merkwürdig erscheinen, dass ein Artikel in einer Musikzeitschrift – die nie mehr als 2000 Abonnenten hatte – heute als ein Wegbereiter des rassistischen Nationalismus angesehen wird, der Deutschland im 20. Jahrhundert erfasste. Doch der Angriff auf Mendelssohn zielte auch auf den weitreichenden und befreienden Nationalismus des späten aufklärerischen Vormärz, derjenigen Phase der deutschen Geschichte, die der gescheiterten Revolution von 1848 vorausging. Mendelssohn, der als Sohn einer sehr prominenten jüdischen Familie geboren und im Alter von sieben Jahren christlich getauft wurde, war eine wichtige Figur im deutschen Musikleben der 1840er Jahre. Seine Position zeigt, dass prominente Juden sozial und kulturell so in die deutsche Kultur eingebunden waren, dass sie wie Mendelssohn auch begeisterte Kulturnationalisten sein konnten. Felix Mendelssohn, dessen Großvater der jüdische Aufklärungs-Philosoph Moses Mendelssohn war, leitete mit einer Aufführung der Matthäus-Passion die Neubelebung des allgemeinen Interesses an Bach ein und war der Komponist des Paulus, eines Oratoriums, das mit der Steinigung des Heiligen Stephanus durch die Juden beginnt.

Freitag 1. Oktober

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