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Über Kultur und die Macht der Besitzlosen
Ein Gespräch mit Abdo Shanan und Walid Aidoud
Die dynamische Beziehung zwischen Kultur und Macht, sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht, ist für das Schaffen von Edward W. Said von zentraler Bedeutung. Kultur wird häufig als Mittel der Unterdrückung, Kontrolle und Dominanz eingesetzt, sie kann aber ebenso ein Instrument des Widerstands und der Subversion sein, dem eine eigenständige Macht innewohnt. Wie verhält sich diese Begriffsbestimmung zu Ihrer Realität?
Abdo Shanan Bei der Arbeit an Dry wurde mir klar, dass die heute in der algerischen Gesellschaft zu beobachtende Identitätskrise auf die
Gründung des algerischen Nationalstaates im Jahr 1962 zurückgeht.
Nach der Unabhängigkeit vom imperialen Frankreich versuchte die neue algerische Regierung, die heterogene Bevölkerung zu homogenisieren, indem sie eine nationale Identität schuf, die „algerisch“ mit „muslimisch“ und „arabisch“ gleichsetzte und damit die nichtarabischen und nichtmuslimischen Minderheiten aus der algerischen
Nation ausschloss. Ironischerweise basiert diese konstruierte kollektive Identität auf genau den Zuschreibungen, die die Kolonisten nutzten, um die von ihnen kolonisierten algerischen Untertanen zu beschreiben, zu spalten und zu beherrschen. Die Algerier hatten acht Jahre lang für ihre Menschenwürde und ihr Recht auf Selbstbestimmung gekämpft, und als es darum ging, die „algerische
Identität“ neu zu erfinden, zeigte sich, dass wir in kolonialen Fremdzuschreibungen gefangen waren. In dieser Hinsicht sind wir glaube ich noch immer nicht entkolonialisiert.
Später wurde diese wieder aufgegriffene Idee des „Algeriertums“
für die algerische Regierung zum Instrument, um die Bevölkerung zu kontrollieren, indem sie durch das nationale Bildungssystem und das Monopol im gesellschaftlichen Diskurs die kulturelle Identität und kulturelle Verhaltensweisen diktierte. Als ich für Dry unterschiedliche Menschen interviewte, erkannte ich, wie viel Schmerz und Einsamkeitsgefühle dieses nationale Projekt der Homogenisierung bei denjenigen, die keine Beziehung zu diesen Identitätsmerkmalen haben, verursacht hat. Nachdem jedoch heute durch die sozialen Medien und allgemein das Internet alternative Wissensquellen besser zugänglich sind, experimentiert die jüngere Generation mit verschiedenen Möglichkeiten des persönlichen Ausdrucks, was mit einer Neuerfindung der Sprache, der Ästhetik und der allgemeinen Lebenseinstellung einhergeht. In Algerien gibt es jetzt Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller und Fotografinnen, die alternative Ansichten und Sehnsüchte vermitteln, sich aber gleichzeitig der Fallstricke des Neoliberalismus bewusst sind und genug von ihnen haben.
Walid Aidoud Die Etablierung einer neuen algerischen Kultur und die
Entwicklung der algerischen Gesellschaft nach der Unabhängigkeit von Frankreich insgesamt kann nur vor dem Hintergrund dieser äußerst grausamen kolonialen Erfahrung verstanden werden. Die neue algerische Regierung hätte nach der Unabhängigkeit versuchen können so zu tun, als stellte sie sich in Opposition zur Kolonialherrschaft, um sich von der katastrophalen sozioökonomischen
Situation zu distanzieren, die unter der französischen Kolonialherrschaft aus dem Raubbau an Land und Menschen entstanden war.
Diese unbedingte Notwendigkeit, auf die ökonomischen Realitäten zu reagieren, ist das Wesen von Politik, ihre Schwachstelle. Kunst,
Kultur und jede kulturelle Praxis sind in dieser Hinsicht widerstandsfähiger. Sie bestehen selbst in einem so feindseligen Umfeld wie dem Kolonialismus weiter und bleiben schöpferisch produktiv.
In Algerien gibt es heute kulturelle Verfahren, die dem Kolonialismus 130 Jahre lang widerstanden haben, trotz der Versuche der
Kolonisten, jedes kulturelle Erbe zu zerstören, um die algerische
Bevölkerung besser unter Kontrolle zu haben. Und das wirkt auch heute noch nach. Das in dieser historischen Widerstandsfähigkeit verwurzelte Selbstverständnis manifestiert sich in verschiedenen künstlerischen Disziplinen: Musik, Theater, Fotografie, bildender
Kunst. In Algerien aufzuwachsen bedeutet, zu jeder Zeit von Postkolonialismus und Postsozialismus umgeben zu sein, nicht nur
theoretisch, sondern auch praktisch. Jeder einfache Bauer, der nie eine Schule besucht oder an irgendeiner Art künstlerischer Darbietung teilgenommen hat, wird all diese Vorstellungen und Ideale der postkolonialen und antikapitalistischen Theorien intuitiv praktizieren und leben. Und er oder sie tut dies, ohne irgendeiner Art von Extremismus zu verfallen, denn für sie ist es eine aufrichtige Überzeugung, kein gekaufter Lebensstil.
Die postkolonialen Theorien, die im Norden populär geworden sind, sind im Süden seit Hunderten von Jahren Realität. Aber wenn wir vom subversiven Potenzial der Kultur sprechen, von Kultur als Mittel zur Infragestellung von Macht – halten Sie das für einen elitären Ansatz? Wer hat in Algerien Zugang zur Kultur?
AS Wie überall auf der Welt eignen sich in Algerien die politischen und wirtschaftlichen Eliten die künstlerische und kulturelle
Produktion an und sichern sich durch Ausgrenzung ihre Privilegien und ihre Macht. Ein Hauptmittel der Ausgrenzung ist die Sprache:
Ein bedeutender Teil der algerischen Kultur und Kunst findet auf
Französisch statt, also der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, obwohl fast das gesamte öffentliche Bildungssystem in den 1970er
Jahren arabisiert wurde und daher nur die wenigen, die sich eine
Privatschule leisten können, die französische Sprache beherrschen.
Mit dem Internet, das nun einem größeren Teil der Bevölkerung zur Verfügung steht, haben die Kunstschaffenden unserer Generation jedoch Zugang zu Wissen erlangt, das es ihnen ermöglicht zu überleben und sich künstlerisch auszudrücken. Ich habe Fotografie autodidaktisch mithilfe von YouTube und online verfügbarer Software erlernt. Ebenso meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, von denen die meisten aus der Arbeiter- oder unteren Mittelschicht kommen und nie an einer Kunstschule waren. Die Herausforderung wird sein, den Bereich der kulturellen Produktion und des kulturellen
Lebens zu dezentralisieren und diese auch in die ländlichen Gebiete des Landes zu bringen, während sich derzeit alles auf die Hauptstadt
Algier und Großstädte wie Oran konzentriert.
WA Zugang zum kulturellen und künstlerischen Raum sowie Sichtbarkeit sind an Opportunitätsstrukturen gebunden, die unter anderem von der sozialen Schicht und dem Milieu abhängen. Wer sagt denn, dass die Verarbeitung von Wolle, wie sie von den Frauen der Amazigh in den Dörfern seit Jahrhunderten betrieben wird, keine kraftvolle
künstlerische Praxis sein kann? Diese Frauen treffen sich mit ihren Nachbarinnen, um für diese Tätigkeit ein Lied zu verfassen und vorzutragen, sie wählen Ort und Zeit dafür. Es handelt sich um eine künstlerische Darbietung, die sich angeeignet wird, um sie in repräsentativen Galerien im Globalen Norden auszustellen, und die als exklusive Kunstform gilt, die das gemeine Volk wie diese AmazighFrauen in ihren Dörfern nicht verstehen würde. Es gibt in den entlegensten Gebieten des afrikanischen Kontinents viele Beispiele für diese Art künstlerischer Praktiken, doch leider wird der Ruhm nicht ihnen zuteil, sondern denjenigen, die sich ihr kulturelles Eigentum aneignen.
Ich habe in verschiedenen Teilen Algeriens gelebt, in kleinen Städten auf dem Land ebenso wie in der Hauptstadt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung würde ich sagen, dass es in Algerien immer schon Widerstand gegen elitäres Denken und Vereinnahmung im kulturellen Bereich gegeben hat. Ob in Oran, Annaba oder in der Sahara, es hat immer Initiativen von Kunstschaffenden gegeben, die sich für die Förderung von Inklusion und Vielfalteingesetzt haben. Eine solche Initiative ist der Kunstraum Box24, den wir als Kollektiv algerischer Künstlerinnen und Künstler gegründet haben. Er zielt darauf ab, die diskriminierenden Auswirkungen sozialer Klassen zu beseitigen, um den kulturellen Bereich in Algerien integrativer und vielfältiger zu gestalten.
AS Ein gutes Beispiel für das kreative und subversive Potenzial der „Schwächsten“ der Gesellschaft ist der Hirak, die soziale Bewegung hunderttausender Algerierinnen und Algerier, die jede Woche auf der Straße gegen die algerische Regierung und ihre Exekutive protestiert. Die Benachteiligten und Bildungslosen, die in den Fußballstadien politisiert wurden, waren die ersten, die auf die Straße gingen. Sie haben sich Slogans ausgedacht, um ihre Unzufriedenheit mit den politischen und sozioökonomischen Verhältnissen auszudrücken. Diese Slogans waren nicht nur ein kreatives Element, sondern fanden auch bei großen Teilen der Bevölkerung Anklang, die in den letzten 20 Jahren eine fundamentale Machtlosigkeit gegenüber einer allmächtigen Regierung empfunden hatten. Die
Slogans wurden zu Zeichen und Liedern, denen man heute bei den wöchentlichen Demonstrationen auf den Straßen verschiedener
Städte in ganz Algerien begegnen kann. Was als verzweifelter Akt der Selbstdarstellung begann, ist zur Kunst geworden, und zwar zu
Kunst mit revolutionärem Potenzial.
Abdo, was treibt Sie bei Ihrer Arbeit an – verfolgen Sie bestimmte übergeordnete Ziele?
AS Es sind vor allem Fragen. Schon als Kind hatte ich viele Fragen, aber ich war zu schüchtern, um sie zu stellen. Auch als ich älter wurde, fühlte ich mich beim Sprechen nicht wohl, ich hatte immer das Gefühl, meine Stimme würde brechen, andere erschienen mir lauter, präsenter, ihre Ideen kraftvoller. Die Fotografie wurde das
Medium, das mir erlaubte, Fragen zu stellen, meine Gedanken zu befreien und mich auszudrücken. Im Jahr 2009 kam ich mit 28 Jahren nach Algerien zurück. Ich hatte in Libyen keine Arbeit finden können, was wohl auch daran lag, dass ich keine libysche Staatsbürgerschaft habe. Wieder in Algerien, dachte ich, ich käme zurück in ein gesellschaftliches Umfeld, das ich als mein eigenes betrachtete. Ich war enttäuscht, als mir klar wurde, dass ich auch dort zum Außenseiter geworden war. Das führte dann zu der Frage, wer ich bin, und das wiederum führte zu Diary: Exile und später zu Dry, womit ich diese Frage anderen Menschen stellte, die mir über den Weg liefen.
Bei der Vorbereitung eines Projekts verlasse ich mich nicht gerne nur auf Studien. Ich spreche lieber mit Leuten, um mir ihre
Gesichter und die Gefühle, die ich mit der Begegnung verbinde, einzuprägen. Das bereichert meine Fantasie, meinen visuellen Stil und den Prozess der Entstehung und Gestaltung von Fotos. In diesem
Sinne könnte man sagen, dass ich vages, nicht festgeschriebenes
Wissen der Intellektualisierung von Erfahrungen und Empfindungen vorziehe. Und ich schätze auch das Kollektive und Interaktive an diesem Verfahren.
Was hat Sie bewogen, diese Einladung in die Barenboim-Said Akademie anzunehmen?
AS Musik in ihrer Vielschichtigkeit begleitet mich seit meiner Kindheit.
Mein Vater hörte häufig klassische westliche Musik, und ich weiß noch, wie ich irgendwann Rachmaninows drittes Klavierkonzert entdeckte. Es hat mich emotional so stark angesprochen, dass ich es
Tag und Nacht gehört habe. Als ich aufwuchs im ländlichen Libyen, hatte ich zu Büchern nicht den gleichen Zugang wie zur Musik, und das hat meine Arbeit schon sehr früh beeinflusst. Ein weiterer
Grund war der Ansatz der Barenboim-Said Akademie, ihren
Studierenden eine Ausbildung in klassischer Musik und in den
Geisteswissenschaften zu bieten. Ich glaube, als Künstler muss man sich in so vielen verschiedenen Lebensbereichen wie möglich auskennen. Es ist ja gerade die Aufgabe von Kunstschaffenden zu versuchen, Ideen aus unterschiedlichen sozialen Wirklichkeiten und Ästhetiken zu erfassen und weiterzuentwickeln.
WA Ich kann nicht sagen, dass ich mich im Bereich der Musik besonders gut auskenne. Ich schätze Musik sehr, ebenso sehr wie Dichtung und Literatur, aber durch die Sensibilität, mit der man arbeitet, wird man für alles unempfindlich… Ich würde mich jedoch für jede Disziplin und Praxis einsetzen, die alternative Ideen und Mittel der Selbstdarstellung anbietet. Die Arbeit mit Abdo an der Ausstellung Dry in diesem speziellen Raum, der sich in das intellektuelle
Vermächtnis von Edward W. Said einschreibt, ist für mich also genau das Richtige.
Die Fragen stellte Amel Ouaissa.