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Essay: Generationsverlust

Generationsverlust

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Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King, Friedensnobelpreisträger und prominentester Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, im Lorraine Motel in Memphis, Tennessee, erschossen. Knapp einen Monat später fand am Bowdoin College in Maine die Uraufführung von O King für Mezzosopran und fünf Instrumente des italienischen Komponisten Luciano Berio statt. In seiner Programmbeschreibung heißt es: „… dieses kurze Stück ist eine Hommage zum Andenken an Martin Luther King. Der Text besteht schlicht aus dem Namen des schwarzen Märtyrers. Die einzelnen Wörter und ihre Bestandteile werden einer musikalischen Analyse unterzogen, die in das Gefüge des Stückes integriert ist. Die Stimme spricht die unterschiedlichen phonetischen Elemente des Namens aus, der zum Ende hin allmählich wieder zusammengefügt wird: „O Martin Luther King.“

Später orchestrierte Berio O King und integrierte es in sein Hauptwerk, die 1968/69 komponierte fünfsätzige Sinfonia, die vom New York Philharmonic zu seinem 125-jährigen Jubiläum in Auftrag gegeben worden war. Durch die Sinfonia, ein einzigartiges, politisch und gesellschaftlich engagiertes Experimentierfeld mit musikalischen und außermusikalischen Bezügen, gelang es, Berios Elegie für Martin Luther King einem breiteren Publikum nahezubringen.1 Ruhig und eindringlich gedenkt O King des Mannes, der den Versuch unternahm, soziale und politische Veränderungen für die afroamerikanische Bevölkerung zu bewirken und die Mechanismen der Rassendiskriminierung und Rassentrennung in den Vereinigten Staaten – ein Erbe der Sklaverei – durch Gewaltlosigkeit und zivilen Ungehorsam zu bekämpfen.

Etwa zur selben Zeit schuf Alvin Lucier sein unaufdringlich gegenkulturelles Klangkunstwerk I Am Sitting in a Room. Man kann dieses experimentelle Werk kaum als „musikalische Komposition“ bezeichnen; eher handelt es sich um eine Installation. Es ist ein

Werk der Kontemplation, der Wiederholung und des Zuhörens, das mit einem einfachen Trick arbeitet: Im Konzertsaal wird eine Aufnahme von Lucier, der einen Text liest, abgespielt; die in den Raum hineingespielte Aufnahme wird erneut aufgenommen; diese neue Aufnahme wird abgespielt und wieder aufgenommen; dieses Verfahren wird weiter wiederholt. Schließlich ist der Text des kopierten Originals durch das Abspielen und Wiederaufnehmen, Abspielen und Wiederaufnehmen usw. unverständlich geworden, überlagert von den Resonanzfrequenzen des Raumes. Der absichtlich banale Text, den Lucier liest, ist im Grunde genommen eine Beschreibung dieses Vorgangs (das englischsprachige Original ist auf Seite 67 abgedruckt).2

I Am Sitting in a Room wird häufig als das erste Werk angesehen, das sich mit dem Generationsverlust, dem Qualitätsverlust zwischen aufeinanderfolgenden Kopien von Daten befasst.3 Mitten in den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen der späten 1960er Jahre wendet sich Lucier nach innen und schafft das, was Tom Parkinson beschreibt als „die vielleicht tiefgründigste Aussage darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein und Ohren zu haben, die jemals produziert wurde“.4

Julius Eastman starb am 28. Mai 1990 im Alter von 49 Jahren vereinsamt im Millard Fillmore Hospital in Buffalo, New York. Der Tod des Komponisten hatte so unbemerkt von der Öffentlichkeit stattgefunden, dass der erste Nachruf erst acht Monate später erschien. Eastman nimmt in der amerikanischen Musik des späten 20. Jahrhunderts eine etwas ungewöhnliche Stellung ein. Als offen schwuler afroamerikanischer Komponist, dessen Musik und Lebensweise vollkommen in seiner Identität aufging, provozierte Eastman nach außen hin – durch seine Musik und seine Präsenz – das Establishment und die Kulturindustrie, von der er abhängig war.

Eastman studierte Klavier und Komposition am Curtis Institute of Music und wurde in den 1970er Jahren als Komponist und Sänger bekannt. Mit seiner markanten und beweglichen Baritonstimme nahm er 1973 bei Nonesuch Peter Maxwell Davies’ Eight Songs for a Mad King auf; dies führte 1976 zu einer Aufführung desselben Stücks mit Pierre Boulez im Lincoln Center. 1970 war Eastman Mitbegründer des S.E.M. Ensembles für zeitgenössische Musik und

kam als Creative Associate (ein bezahlter Posten ohne Lehrverpflichtung) ans Center for the Creative and Performing Arts der SUNY Buffalo.

Nachdem er während einer Aufführung von John Cages aleatorischen Song Books, in deren Verlauf Eastman einen jungen Mann auf der Bühne entkleidete, mit Cage in Konflikt geraten war, verließ Eastman Buffalo und zog nach New York City, wo er für den Rest der 1970er und bis in die 1980er Jahre hinein lebte, tourte durch die USA und Europa und absolvierte 1980 einen Gastaufenthalt an der Northwestern University. Dort brachte er drei Werke für vier Klaviere zur Erstaufführung, die eine musikalisch-politische Apotheose seines postminimalistischen Kompositionsstils darstellen: Evil Nigger [sic!], Crazy Nigger [sic!] und Gay Guerrilla. 5 Es sind die Werke, mit denen Eastman heute am stärksten in Verbindung gebracht wird, Werke mit enormer Schubkraft und fiebriger Energie, die eine frappierende performative Qualität sowohl in Bezug auf ihre Einheitlichkeit als auch ihre jeweilige Individualität aufweisen.

Die kompositorischen Besonderheiten dieser an der Northwestern University entstandenen Werke münden in The Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc für Solostimme und The Holy Presence of Joan d’Arc für zehn Celli. Eastman versucht, der Autorität von Regierung und Religion durch eindringlichen, repetitiven, semi-tonalen Lyrismus zu begegnen. In seiner Beschreibung dieser Werke klingt Frantz Fanons Furcht vor Zombies an: „… [sie sind] eine Mahnung an alle diejenigen, die glauben, sie könnten Befreiungskämpfer durch Heimtücke, Bosheit und Mord ausschalten […]. Wie alle Organisationen, insbesondere Regierungen und religiöse Organisationen, unterdrücken sie, um ihre eigene Position zu behaupten. Ihre Unterdrückungsmethoden sind Legion. Doch wenn sie merken, dass ihre subtileren Methoden scheitern, entscheiden sie sich für Mord. Selbst heute, in meinem eigenen Land, meinem eigenen Volk, meiner eigenen Zeit, gibt es immer noch massive Unterdrückung und Mord.“

Nach der Premiere von The Holy Presence of Joan d’Arc im Jahr 1981 im Kitchen in New York City geriet Eastman in eine Abwärtsspirale. Von beruflichen Möglichkeiten ausgeschlossen, wurde er drogenabhängig und zur Räumung seiner Wohnung im East Village gezwungen, wobei das Sheriff’s Office in New York City seine Kompositionen beschlagnahmte und fortwarf. Seine letzte Hoffnung auf eine Anstellung, ein Lehrauftrag an der Cornell University, erfüllte sich nicht.

Als Opfer des Systems, das er bekämpfte, geriet Eastman in seinen letzten Lebensjahren immer wieder in die Obdachlosigkeit und lebte am Rande der Gesellschaft. Dank der mühevollen Kleinarbeit derer, die seine Musik gesammelt und transkribiert haben,6 ist neues Interesse an seinem Werk entstanden – ein Interesse, das, in den Worten Hilton Als’, hoffentlich einhergeht mit „einer weitgehend weißen männlichen Avantgarde, die lernt, anderen Geschichten und anderen Visionen Raum zu geben“.7

Prof. Dr. Mena Mark Hanna

1 Die Sinfonia verwebt Claude Levi-Strauss’ Theorien zur Mythologie, etliche

Aspekte aus Samuel Becketts Roman Der Namenlose aus dem Jahr 1953, Graffiti von den 1968er-Protesten in Paris, Regieanweisungen des sowjetischen Dichters

Wladimir Majakowski und – was vielleicht am erstaunlichsten und widersprüchlichsten ist – fast das gesamte Scherzo aus Mahlers Zweiter Symphonie (sowie zahllose weitere musikalische Referenzen) miteinander und deutet auf die Postmoderne mit ihrem außermusikalischen Engagement und ihrer Selbstbezogenheit voraus. 2 Mit den „Unebenheiten“ beim Sprechen, auf die sich der Text bezieht, ist Luciers

Stottern gemeint. Es ist zu vermuten, dass Luciers langsames, bedächtiges Lesen des aufgezeichneten Textes dem Versuch entspringt, das Stottern zu vermeiden. 3 Seither hat es zahllose künstlerische Experimente gegeben, die sich mit dem

Generationsverlust beschäftigen. Das visuell und akustisch vielleicht skurrilste ist „VIDEO ROOM 1000“, in dem ein YouTuber namens „Ontologist“ durch

Hochladen und Rippen eines selbst aufgenommenen Videos auf YouTube einen tausendfachen Generationsverlust herbeiführt: https://www.youtube.com/watch?v=icruGcSsPp0 4 Parkinson, Tom: „Sitting in a Room with Alvin Lucier“, in The Guardian, 25. Juni 2014, https://www.theguardian.com/music/musicblog/2014/jun/25/ sitting-in-a-room-with-alvin-lucier (zuletzt abgerufen am 16. September 2021).

5 Ich verwende „[sic!]“, wenn ich Aussagen, Begriffe oder Werktitel zitiere, die außerhalb des konkreten Zusammenhangs, über den ich schreibe, möglicherweise triggernd oder rassistisch sind. Damit möchte ich die Titel dieser Werke nicht herablassend behandeln oder diskreditieren, sondern den Vesuch machen, diese

Begriffe in ihrem jeweiligen historischen, kulturellen und politischen Kontext zu verorten. Ich bin mir auch durchaus der Tatsache bewusst, dass Eastman seine

Werke so benennt, um gezielt und mit Absicht ein Nachdenken über den Zusammenhang zwischen diesen Worten, die Geschichte ihrer Verwendung und die ideologischen Strukturen und Machtstrukturen, die die Verwendung dieser Wörter verbieten oder ihr widersprechen, anzustoßen. So erklärte er in seiner Einleitung zur Uraufführung dieser Werke an der Northwestern University: „Der Grund dafür, dass ich dieses spezielle Wort benutze, ist, dass es für mich etwas an sich hat, was ich als ‚Grundsätzlichkeit‘ bezeichne … ich meine [mit diesem Wort] … etwas, was grundlegend ist, eine Person oder Sache, die zu einer Grundsätzlichkeit, einer Grundlegendheit gelangt und dasjenige scheut, was oberflächlich oder, wie man vielleicht sagen könnte, zu vornehm ist.“ Vgl. Hanson-Dvoracek, Andrew:

Julius Eastman’s 1980 Residency At Northwestern University, MA-Arbeit, University of

Iowa 2011, S. 97. 6 Mary Jane Leach begann Eastmans Musik zusammenzutragen und vor dem Verlust zu retten, weil sie The Holy Presence of Joan d’Arc 1998 am California Institute of the

Arts aufführen wollte. Seitdem ist sie die wichtigste Impulsgeberin für die Wiederbelebung des Interesses an Eastmans Kompositionen. Zusammen mit René Levine

Packer hat Leach Gay Guerrilla. Julius Eastman and His Music, die maßgebliche

Biographie über Eastman herausgegeben. 7 Als, Hilton: „Avant-Garde Pioneer. The Work of an Overlooked Composer Gets

Unearthed at the Kitchen“, in The New Yorker, 12. Januar 2018, https://www.newyorker.com/magazine/2018/01/22/the-genius-and-the-tragedyof-julius-eastman (zuletzt abgerufen am 16. September 2021).

66 Thursday September 30

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