Nathalia Milstein

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Nathalia Milstein Einführungstext von Wolfgang Stähr Program Note by Richard Bratby


NATHALIA MILSTEIN Samstag

14. Dezember 2019 19.00 Uhr

Nathalia Milstein Klavier


Franz Liszt (1811–1886) Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata aus Années de Pèlerinage – Deuxième Année: Italie S 161 (1838–58) Andante maestoso – Presto agitato assai – Tempo I – Allegro moderato – Tempo rubato e molto ritenuto – Presto

Anton Webern (1883–1945) Variationen für Klavier op. 27 (1936) I. Sehr mäßig II. Sehr schnell III. Ruhig fließend

Sergej Prokofjew (1891–1953) Visions fugitives op. 22 (1915–17)

Nr. 1 Lentamente Nr. 2 Andante Nr. 3 Allegretto Nr. 4 Animato – Più sostenuto Nr. 5 Molto giocoso Nr. 6 Con eleganza Nr. 7 Arpa. Pittoresco Nr. 8 Commodo Nr. 9 Allegretto tranquillo Nr. 10 Ridicolosamente Nr. 11 Con vivacità Nr. 12 Assai moderato Nr. 13 Allegretto Nr. 14 Feroce Nr. 15 Inquieto Nr. 16 Dolente Nr. 17 Poetico Nr. 18 Con una dolce lentezza Nr. 19 Presto agitatissimo e molto accentuato Nr. 20 Lento

Pause

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Frédéric Chopin (1810–1849) 24 Préludes op. 28 (1836–39)

Nr. 1 C-Dur. Agitato Nr. 2 a-moll. Lento Nr. 3 G-Dur. Vivace Nr. 4 e-moll. Largo Nr. 5 D-Dur. Molto allegro Nr. 6 h-moll. Lento assai Nr. 7 A-Dur. Andantino Nr. 8 fis-moll. Molto agitato Nr. 9 E-Dur. Largo Nr. 10 cis-moll. Molto allegro Nr. 11 H-Dur. Vivace Nr. 12 gis-moll. Presto Nr. 13 Fis-Dur. Lento Nr. 14 es-moll. Allegro Nr. 15 Des-Dur. Sostenuto Nr. 16 b-moll. Presto con fuoco Nr. 17 As-Dur. Allegretto Nr. 18 f-moll. Molto allegro Nr. 19 Es-Dur. Vivace Nr. 20 c-moll. Largo Nr. 21 B-Dur. Cantabile Nr. 22 g-moll. Molto agitato Nr. 23 F-Dur. Moderato Nr. 24 d-moll. Allegro appassionato


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Die reinste Musik Klavierwerke von Liszt, Webern, Prokofjew und Chopin

Wo l f g a n g S t ä h r

Zum Mittelpunkt der Erde In Italien, „diesem von der Sonne verwöhnten Land“, wurde ihm alles klar. „Die Kunst bot sich meinen Augen in ihrer ganzen Herrlichkeit dar; sie enthüllte sich mir in ihrer Universalität und Einheit. Mit meinem Fühlen und Denken drang ich jeden Tag ­tiefer in die verborgene Verwandtschaft ein, welche die Werke des Genies verbindet“, bekannte Franz Liszt. „Raffael und Michelangelo ließen mich Mozart und Beethoven besser verstehen“, schrieb er im Oktober 1839 in einem offenen Brief, den die Pariser Revue et Gazette musicale im französischen Original veröffentlichte. „Das ­Kolosseum und der Campo Santo stehen der Eroica und dem ­Requiem nicht so fern, wie man denkt. Dante fand seinen bild­ lichen Ausdruck in Orcagna und Michelangelo; vielleicht findet er eines Tages seinen musikalischen Ausdruck in einem Beethoven der Zukunft.“ Mit diesem Satz erhebt sich der Brief zum Manifest, allerdings auch zu einer Art „self-fulfilling prophecy“, denn „le Beethoven de l’avenir“, den Liszt für künftige Zeiten heraufbeschwört, war kein messianisches Phantom, sondern ein reger und realer Komponist: er selbst. In den Tagen zuvor hatte er ein „fragment ­dantesque“ für Klavier skizziert, unter dem Eindruck der Lektüre von Dantes ­Divina Commedia. Noch im Dezember 1839 brachte er das Stück oder „Bruchstück“ bei einem Konzert in Wien zur Aufführung: die Urfassung der „Dante-Sonate“, wie dieses spätere

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Werk verkürzt, aber nicht verkehrt genannt wird. Ein work in ­progress – die Suche nach der Form, dem inneren und äußeren ­Zusammenhalt und nicht zuletzt nach dem Titel ging noch ­annähernd zwei Jahrzehnte weiter. Einem Gedicht aus der Feder Victor Hugos „entlieh“ Franz Liszt schließlich die sachliche Überschrift: Après une lecture du Dante. Doch ergänzte er den literarischen Bezug noch um einen musikalischen und schrieb darunter: „Fantasia quasi Sonata“. „Sonata quasi una Fantasia“ – so hatte Beethoven an der Jahrhundertwende seine Klaviersonaten op. 27 bezeichnet, aber die wechselseitige Attraktion zwischen Sonate und Fantasie blieb für die jüngeren und nachrückenden Komponisten ohnehin ein ­Problem, eine Versuchung, eine Rechtfertigung und ein Spiel mit dem Feuer. Auch für Franz Liszt, der im Zeichen Dantes und im Namen Beethovens die geprüfte Ordnung der Sonate als Höllenfantasie in Flammen setzte. Er zog die Umrisse eines „Hauptsatzes“ nach, mit Introduktion und Coda, Durchführung und Reprise, und belebte sie mit Themen, trügerischen Themen von teuflischer Verwandlungsfähigkeit. Denn die „Dante-Sonate“ spielt im Inferno, dem zum Mittelpunkt der Erde hinab reichenden Höllentrichter, wie er im ersten Teil der Divina Commedia geschildert wird. Eine schaurige Fanfare, eine abstürzende Folge übermäßiger Quarten – der einstmals verbotene Tritonus, der „diabolus in musica“ – ­eröffnet die Lisztsche „Dante-Lektüre“ mit dem gebieterischen Ruf des Höllenfürsten an die auf ewig Verdammten. Ein majestätisch sich überhebender Choral setzt ihn abermals in Szene, Luzifer, „die Kreatur, die herrlich war zuvor“, der höchste, der gefallene Engel, der gegen Gott aufbegehrte und in die Hölle verbannt wurde. Wenn Liszt in unwirklich überirdischen Klängen die ferne Musik des Paradieses herübertönen lässt, ist dieser ätherische Gesang nichts anderes als eine entrückte Variante des vordem infernalisch triumphierenden Chorals: ein musikalisch verschlüsselter Hinweis auf Luzifers göttlichen Ursprung und abgrundtiefen Fall. Franz Liszt nahm Après une Lecture du Dante als letztes Werk in den zweiten, 1858 publizierten Band seiner Années de Pèlerinage auf, bei dem es nicht allein um die Spurensuche einer italienischen Reise geht, sondern vor allem um die Idee der „Universalität und Einheit der Kunst“. Malerei, Bildhauerei, Dichtung und Musik sind in diesem Album vereint: Raffael, Michelangelo, Petrarca und Dante, die „Werke des Genies“ in geistiger Verwandtschaft und medialer Ungebundenheit.

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Es ist alles aus Einem „Meine Melodien wird noch einmal der Briefträger pfeifen!“ sagte – nicht etwa Franz Schubert, dem ein jeder dieses Zitat ­zutrauen würde, oder Giuseppe Verdi, auch nicht Franz Lehár, sondern (wer hätte das gedacht) Anton Webern. Seinen späten Schüler, den Komponisten Karl Amadeus Hartmann, überraschte Webern eines Tages mit dieser überaus optimistischen Prognose. „Ich glaube zwar eher, daß der Briefträger auf seine Melodien ­pfeifen wird“, schrieb Hartmann in einem Brief an seine Frau. „Zumindest wird der Briefträger ihm die Post der Bewunderer aus aller Welt zu bringen haben, was immer er auch dabei pfeift.“ Karl Amadeus Hartmann war im Kriegsjahr 1942 in das österreichische Maria Enzersdorf gereist, unweit von Wien, um dort den völlig ­isolierten und vereinsamten „Zwölftöner“ zu treffen und Privat­ lektionen zu erbitten. Aber naturgemäß suchte er in Weberns Musik nicht Melodien für Millionen, ihm ging es um eine denkbar andere Art von Pfiff. Gemeinsam analysierten sie Weberns Klaviervariationen op. 27. „Ein Klangwunder sind diese Variationen, von höchster Konstruktion“, begeisterte sich Hartmann. „Er legt den drei Sätzen eine Zwölftonreihe mit ihren vier Grundformen und den 12 Transpositionen zugrunde. Dadurch erhält das Werk ­einen konstruktiven Zusammenhalt, in dem jede Note ein wohl­ kalkuliertes Glied innerhalb der Kanons und Variationen bildet. Könnte ich doch über den Aufbau dieser Zopfgeflechte hinaus ­erfahren, wie er es anstellt und worauf es beruht, daß seine Musik göttlichen Hauch enthält!“ Weberns Opus 27, komponiert in der Zeit von Oktober 1935 bis September 1936, eine Sonatine oder, wie der Komponist sagte, eine Suite in drei Sätzen, bezieht sich mit dem Titel auf den letzten Satz, die eigentliche Variationenfolge, der ein dreiteiliger Kopfsatz (Webern verglich ihn mit den späten Brahmsschen Intermezzi) und ein knappes scherzoartiges Mittelstück vorangehen. „Was bedeutet das alles? – Das Bestreben höchster Zusammen­ fassung. Es ist alles aus Einem abgeleitet“, lehrte Webern in einer Vortragsreihe über den Weg zur Neuen Musik. Aber Webern blickte nicht von Berges­höhen auf seine Vorgänger herab, ein solcher Hochmut hätte seinem Naturell widersprochen, aber auch seinem Weltbild, in dem alles mit allem zusammenhing und gegenwärtig war. „Also das wollen wir festhalten: über die Formen der Klassiker sind wir nicht hinaus“, schärfte Webern seinen Zuhörern ein.

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„Was später gekommen ist, war nur Veränderung, Erweiterung, Verkürzung.“ Mit einem Wort: Variation. Nur Flüchtigkeiten Zur selben ominösen Zeit, im Jahr 1936, als Anton Webern seine Zwölftonvariationen flocht, komponierte sein russischer ­Kollege Sergej Prokofjew eine bombastische Kantate „zum zwanzigsten Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“. Prokofjew war gerade erst aus dem Exil zurückgekehrt in die Sowjetunion und übte sich sogleich in Lobgesängen und Jubelhymnen. Und auch die gelangen ihm, wie ihm überhaupt alles gelang, was er begann, wenn schon nicht im Leben, so doch in der Kunst, und selbst als Propagandist ließ er sich von keinem übertrumpfen. Bald 20 Jahre zuvor allerdings, als die besagte Revolution über die Weltbühne gegangen war, stand Prokofjew mitnichten im Zentrum des Geschehens, sondern abseits, sogar weit abseits, im idyllischen kaukasischen Kurort Kislowodsk. Und dort, in einem nahezu ­menschenleeren Kursaal, spielte er zum ersten Mal alle seine Visions fugitives für Klavier, von denen er einzelne früher bereits als Zu­gaben in seinen Konzerten vorgestellt hatte. „Flüchtige Erscheinungen“ – es mag durchaus nicht seine Absicht gewesen sein, aber diese pianis­ tischen Miniaturen kommen einer subtilen bis subversiven Absage an die Große Geschichte gleich, an das Weltanschauungstheater, an die eine, einzige Wahrheit der Ideologen. Insofern wiegen die ­frühen, „flüchtigen“ Visionen schwerer als die sowjetische Kantate mit ihrem Pathos der Eindeutigkeit. „Ich setzte mich ans Klavier und beschloss, einige kleine, aphoristische Stücke zu schreiben“, vermerkte Prokofjew im Juni 1915 in seinem Tagebuch. „Sie nahmen unglaublich leicht Gestalt an, ich mochte sie sehr, und sie waren rasch in tadellosem Zustand.“ Fünf der später so genannten Visions fugitives brachte Prokofjew gleich zu Papier, danach „verfiel das neugeborene Opus vorübergehend in Schweigen“. Im Folgejahr erdachte und erprobte er sechs weitere „Visionen“; 1917 konnte er die Sammlung mit am Ende zwanzig Stücken beschließen. Den russischen Titel Mimolëtnosti, der mit Drucklegung von der französischen Variante Visions fugitives ersetzt wurde, entnahm Prokofjew einem Gedicht seines Landsmanns und Zeitgenossen Konstantin Balmont, den er aus dem Petersburger Künstlerlokal „Zum streunenden Hund“ kannte, einem Treffpunkt

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der Symbolisten, Futuristen und Akmeisten. Balmonts Poem beginnt mit den Zeilen: „Ich habe keine Weisheit, die für andre taugt, / Nur Flüchtigkeiten bringe ich in meinen Vers, / In jeder Flüchtigkeit sehe ich Welten, / Erfüllt vom Wechselspiel des Regenbogens.“ Darin liegt auch ein Motto für Prokofjews 20 Klavierstücke, die ebenso irrational, flüchtig, unfassbar und fragil sind, schillernd in ­allen Farben des Regenbogens – ein Augenblick, ein Widerschein, ein Aufflackern aus surrealen Gegenwelten, ohne Botschaft und Bekenntnis. Prokofjew behauptete zwar später, die vorletzte ­„Vision“ unter dem Eindruck der Februarrevolution von 1917, dem Aufstand in Petrograd, dem Straßenkampf, der Schießerei geschrieben zu haben, aber das war eine nachgetragene Erklärung, vielleicht sogar ein Fall von sozialistischer Legendenbildung. Obgleich unter Prokofjews „Flüchtigkeiten“ auch einzelne ­­ Sätze von stahlharter physischer Attacke und brutaler pianistischer „Pranke“ zu hören sind, mit Assoziationen an die „Maschinen­ musik“, ­bleiben die meisten der Stücke doch lyrisch, delikat, ­zwielichtig, impressionistisch – wie die Nummer 7 mit ihren ­Reminiszenzen an die Äolsharfe und von fern herüberwehende Glockenschläge. Einige pflegen einen linear ausgesparten Satz, sie gleichen Inventionen; ­andere ähneln stilisierten Tänzen aus ­barocken Suiten oder einer Ballettszene en miniature oder einer Chopinschen Mazurka. Prokofjew erfindet freche, mokante, kar­ nevaleske, provokante Stücke; wieder andere verfremdet er mit ­sonderbar entlegenen und verzogenen Melodien, mysteriösen, ­undefinierbaren Akkorden, grotesken Vorschlagnoten oder monotonen Rhythmen. Vor allem und in allem aber herrscht ein Klima der Uneindeutigkeit, der Verschwiegenheit, der Verheimlichung, der Ungewissheit. Prokofjew sollte später Werke komponieren, die seine Anfänge fortschrieben, und Werke, die seine Anfänge verleugneten. Auch im Leben dieses Emigranten, der Russland 1918 verließ, um 1936 reumütig in die Sowjetunion zurückzu­ kehren, herrschte niemals Eindeutigkeit. Nie eine Oper komponiert Was steht am Anfang? Das fieberhafte Warten auf die Geliebte? Der glückliche Moment des Wiedersehens? Oder ein beschauliches Bild aus der Natur, ein sanftes Wogen, ein ruhiges Fluten? Es sind denkbar widersprüchliche Assoziationen, die Frédéric Chopins

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C-Dur-Prélude wachgerufen hat, wie ohnehin der ganze 24-teilige Zyklus seit jeher die Phantasie der Interpreten zu den ausgefallensten Vorstellungen reizte. Was gibt es da nicht alles zu hören in Chopins Opus 28: das Meer, zerstäubende Feuerwerkskörper, eine polnische Tänzerin, spielende Najaden, ein Duell, einen Erstickungsanfall, Verzweiflung und Selbstmord, Sturm und Schnee und natürlich – Regentropfen. Chopin selbst allerdings wurde, wie seine Lebens­ gefährtin George Sand verriet, höchst ärgerlich, wenn von Ton­ malerei die Rede war, und er „verwahrte sich heftig und mit Recht gegen solche einfältigen musikalischen Nachahmungen“. Das ­änderte aber nichts daran, dass gerade in den Préludes wie in einem klingenden Tagebuch geblättert wurde, wusste man doch, dass Chopin diese Werkreihe in jenem „Winter auf Mallorca“ geschrieben hatte, in den Wochen, die er 1838/39 gemeinsam mit George Sand in der Einsamkeit des Klosters Valldemossa verbrachte. Liebesglück und Todesnähe, Lebensgier und Fieberschübe, ist das der Stoff, aus dem die Préludes geschaffen sind? Leere Klostergänge und schaurige Friedhöfe, sind dies die Bilder, die Chopins Musik ­evoziert, hallt sie wider von Totenglocken und Chorälen, Vogel­ rufen und Sturmesbrausen? Wie anders dachte doch der greise Abt von Montecassino, den André Gide einmal besuchte und der ihm gestand, in schweren Stunden, auf dem Krankenlager, zu seiner Erbauung in Notenheften zu lesen. „Und was glauben Sie wohl, was ich mir da bringen lasse?“, fragte er seinen Gast. „Keineswegs Bach, nicht einmal Mozart – sondern Chopin. Das ist die reinste Musik.“ Die reinste Musik, frei von allen Bildern, Programmen und romanhaften Zutaten. Der Stoff der 24 Préludes, deren Komposition Chopin auf Mallorca abschloss – ihre Entstehungszeit reicht jedoch zurück bis in das Jahr 1831 –, sind die Tonarten, die er nach der Ordnung des Quintenzirkels durchmisst, charakterisiert und por­ trätiert: C-Dur und die parallele Molltonart a-moll, G-Dur und e-moll bis F-Dur und d-moll. Bereits Johann Nepomuk Hummel war in seinen Préludes dans tous les 24 tons majeurs et mineurs diesem Aufbauprinzip gefolgt, abweichend von Bachs Wohltemperiertem ­Klavier, dessen Präludien chromatisch voranschreiten und die gleichnamigen Tonarten nebeneinanderstellen: C-Dur, c-moll, Cis-Dur, cis-moll etc. Freilich befand sich das Wohltemperierte ­Klavier in Chopins mallorquinischem Reisegepäck, und barocki­ sierende Momente lassen sich in seinen Préludes durchaus erkennen, in manchen figurativen, linearen und kontrapunktischen Eigenarten

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dieser Werke. Ihr erstaunlicher Formenreichtum – sie geben sich als Impromptu, Nocturne oder Tarantella, Etüde oder Perpetuum mobile, Lied ohne Worte oder Rezitativ – erschließt sich nur bei einer zyklischen Aufführung, wie sie erst lange nach Chopins Tod der Liszt-Schüler Arthur Friedheim und später auch Ferruccio ­Busoni unternahmen. Aber für jeden, der sie spielt, der sie hört, der ihnen nachsinnt, bleiben die Préludes ein unerschöpflicher musi­ kalischer Kosmos, verstörend in ihren harmonischen Kühnheiten, unauslotbar in ihrer seelischen Tiefe. „Wer je bestimmte Präludien / von ihm hörte“, sagt Gottfried Benn in einem Gedicht über Chopin, „sei es in Landhäusern oder / in einem Höhengelände / oder aus offenen Terrassentüren / beispielsweise aus einem Sanatorium, / wird es schwer vergessen. // Nie eine Oper komponiert, / keine Symphonie, / nur diese tragischen Progressionen / aus artistischer Überzeugung / und mit einer kleinen Hand.“

Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur für Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, Schallplattengesellschaften und ­Opernhäuser. Er verfasste mehrere Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption, über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler.

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“Preludes to What?” The Many Worlds of the Piano Miniature

Richard Bratby

The World in a Dewdrop The art of the miniature contains multitudes. “The world in a dewdrop” was how it was described by the Viennese cultural historian Hilde Spiel, and that idea—that a small artistic form can distil vast truths—was elegantly articulated by the great Viennese essayist (and friend of Alban Berg) Peter Altenberg. “I put store in the little things of life, in neckties, parasol handles, cane handles, discrete remarks, pearls that roll under the table and no-one ever finds!” he wrote in 1909. “The momentous things have no significance at all!” Did Arnold Schoenberg have Altenberg’s words in mind when, in 1924, he wrote a preface to the newly published score of Anton Webern’s Six Bagatelles of 1913? They had frequented the same cafés, after all. Certainly, in doing so, he neatly summarized Webern’s ­mature aesthetic—as well as an entire philosophy of the artistic miniature: “Consider what moderation is required to express oneself so briefly. You can extend every glance into a poem, each sigh into a novel. But to express a whole novel in a single gesture, a joy in a single indrawn breath—such concentration is only possible when there is a corresponding absence of self-indulgence.” Novels, poems: such are the worlds that have been perceived to lie behind the few perfectly-chosen notes of a musical miniature. By the time of Webern’s Variations of 1936, the idea was so well-­ established that a set of variations—the form which, in the hands of Bach and Beethoven, could fill more than an hour—could plausibly

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be accommodated in slightly more than four minutes of music. There were precedents aplenty: while the pianist Anton Rubinstein compared Chopin’s 24 miniature Preludes Op. 28 (1839) to “pearls,” other pianists have sought to open out these condensed worlds by giving them poetic titles. Alfred Cortot heard “Homesickness” (No. 6), “Funerals,” and “Water Faeries” (No. 23). Hans von Bülow detected “The Dragonfly” (No. 11), “The Polish Dancer” (No. 7) and, most famously, “Raindrops” (No. 15). There’s no documentary evidence to suggest that Chopin ever thought anything of the sort. But the idea of a miniature as a key to an imaginative universe quickly took root, with Chopin’s Preludes as hugely popular exemplars. It could be a metaphor for the evanescence, beauty, and intensity of life itself (an interpretation that fit rather well with Chopin’s own famously tragic and truncated biography: and if he ever was spitting blood onto the keys, it was during the winter of 1838, while he composed the Preludes in the damp and chilly climate of Majorca). Take the lines by Alphonse de Lamartine that Franz Liszt, in 1854, appended to his most celebrated symphonic poem, tellingly called Les Préludes: “What is our life but a series of preludes to that unknown song of which the first solemn note is sounded by Death?” Divine Comedies Liszt might seem at first like the odd man out in this program. Après une lecture du Dante (subtitled “Fantasia quasi Sonata”) was originally published in 1858 as one of a series of poetic miniatures, the second set of Années de pèlerinage, but it quickly acquired an independent life of its own. This 17-minute span of music, as epic in its demands upon the performer as it is in emotional range, sits oddly, perhaps, alongside the supreme concentration of Webern, or Chopin’s perfectly placed brushstrokes. The subject, too, is immense. But Liszt had been refining and performing the work in various forms since 1839. Two movements had been condensed into one. And it was Victor Hugo’s vision of Dante, rather than the Divine Comedy itself, that supplied the final title: “When the poet painted hell, he painted his life, / His own life, a shade pursued by harried phantoms…” Some commentators have heard a narrative in this tempestuous music: the anguish of the Inferno set against memories of Liszt’s own

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passion for Marie d’Agoult. Liszt offered no explicit clue. He is ­distilling a mood and crafting the single-movement form—“Fantasia quasi Sonata”—that it suggests. In 1854, the single-movement sonata or symphony was still a revolutionary concept. And compared to Liszt’s later expansions of the concept and the theme—the B-minor Sonata (1854), the orchestral symphonic poems, and the massive Dante Symphony (1857)—it is a miniature of sorts: condensing the epic into the bare minimum of notes required to imply a still vaster and deeper world, just as Hugo’s poem condenses Dante’s 34 cantos into 31 lines. It’s a powerful imaginative springboard. Supreme Concentration Webern’s Variations for Piano might actually have been an enlargement of the composer’s original conception. He composed the three movements in the house in the quiet outer-Viennese ­suburb of Maria Enzersdorf where he and his wife had lived since early 1932. The third movement was completed first, on July 8, 1936; it had taken him nearly ten months. A few days later, he wrote to his publishers, Universal Edition: “The completed part is a variations movement; the whole will be a kind of ‘Suite.’” With that r­esolution, the remaining two movements seem to have followed swiftly: the first was finished on August 19 and second on November 5, 1936. The exact form of Webern’s “suite” has prompted divergent interpretations, not helped by his decision to describe the entire work as Variations. The truth, of course, is that Webern’s meaning lies in whatever these three painstakingly crafted sonic jewels reveal to the individual listener and performer; whatever facets catch the light. That ambiguity, as well as that precision, fulfils the traditional role of the miniature: to open up huge imaginative worlds. In preparation for the premiere, Webern travelled for several weeks into Vienna to coach the young Austrian pianist Peter Stadlen (Eduard Steuermann, the work’s dedicatee and Webern’s preferred interpreter, was Jewish, and had already fled Austria). Stadlen recalled that, “Even when I asked [about the Variations’ structure], he refused to talk about it—what mattered, he said, was to learn how the piece ought to be played, not how it is made.” It is enduring advice. Meanwhile the premiere, on October 26, 1937, would be the last occasion that Webern’s music was performed in public in Vienna in his lifetime.

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Worlds Remade The very title of Sergei Prokofiev’s Visions fugitives, suggests fragments or glimpses—flashes of something elusive and vast. It was not original, and it was added only after the composition was complete. In August 1917 Prokofiev had played the new suite at a soirée attended by the Symbolist poet Konstantin Balmont. He recalled how Balmont, after hearing the music, rose to his feet and, in what Prokofiev termed “a magnificent improvisation,” declaimed a sonnet: “In every fugitive vision I see worlds, / Full of the changing play of rainbow hues…” It wasn’t actually an improvisation; the poem was several years old. But then, St. Petersburg in the years immediately before the Bolshevik Revolution was a place of dazzling illusions and dark prophecies—the era of Rasputin, of Fabergé and of Scriabin’s impossible, apocalyptic Mysterium. As the young Prokofiev cut his brilliant, bristling swathe through late imperial society, small pointed forms seemed to come naturally to him. The steel-toothed Toccata Op. 11, the Five Sarcasms Op. 17 of 1912—the names say it all. The Visions fugitives (1915–17) share the conciseness of his ­earlier piano works, as well as their eccentricities (expression markings like “Ridicolosamente” were intended to tweak whiskers). Yet there is also a new melancholy and gentleness to much of this music—a wistful, dreamlike quality, as well as Prokofiev’s trademark grotesqueries. After the fall of the Tsar in February 1917, Prokofiev had retreated to the countryside where, confronted with the terrors of real revolution, the young radical experienced depression. He became obsessed with stargazing. Only the 19th of the Visions ­fugitives, he wrote later, directly reflects what he had witnessed in 1917: “more a reflection of the crowd’s excitement than of the inner essence of revolution.” The music’s instability, as well as its haunted sense of transience, is the true inner reflection of an era of dissolution and change. These miniatures, once again, offer a glimpse into a bigger, stranger, and more uncertain world. To the Regions of the Ideal Might Prokofiev—had he not met Balmont—have called them Preludes? His sense of classical propriety would surely have rebelled against it. “Preludes to what?” asked André Gide in his

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Notes on Chopin. It is a valid question. The piano prelude predates Chopin’s Op. 28, and it had a particular meaning and function. It was the warming-up exercise of the virtuoso: the preliminary flourish before the main work was performed. In the 24 Preludes that Joseph Kessler had dedicated to Chopin a decade earlier, the essential form was that of a short improvisatory piece, concluding with a shift of tone as the final cadence approached—ready to move on into another work. Chopin dedicated his own 24 Preludes to Kessler (the German edition, that is; the French edition was inscribed to the French ­piano-maker Camille Pleyel, who had commissioned the set for a handsome fee of 2,000 francs). There is every sign that he, too, intended them as literal preludes to other works, and that he used them as such in his own recitals (he certainly never played them as a cycle, despite the skill of contemporary musicology in finding motivic links between the 24 miniatures). But while Chopin ­frequently retained key elements of the traditional romantic keyboard prelude—such as the numerous tiny postludes, or the fingersacross-the-keys figuration of, say, Nos. 3, 12, and 23—he was also working from a different model: the self-contained preludes of Bach’s Well-Tempered Clavier, which he took with him to Majorca in the autumn of 1838. And there is also the fact that as he finalized the Preludes— and a he and George Sand found themselves first evicted from the draughty and murderously unhealthy house at So’n Veut, and then settled at the smaller but more comfortable Valldemossa—he was for a long period without an adequate piano. His imported Pleyel piano was impounded by Spanish customs for the best part of a month. When it was released in mid-January, the Preludes were all but complete, though on January 22, 1839 he wrote, tactfully, to Pleyel that “I am sending you my Preludes. I finished them on your little piano, which arrived in best condition despite the sea.” In ­reality, he was imagining the Preludes—a form traditionally born out of the touch of fingers on keyboard—from a wholly free ­perspective: each piece a potent, unenlargeable embodiment of a mood, an emotional world. So it is valid enough to let the imagination roam: to remember that Nos. 4 and 6 were played on the organ at Chopin’s funeral; to savor the delicate Polish flavor of No. 7; to hear No. 24 as both tempest and call to revolution; and to imagine the winter raindrops trickling gently down the panes of Frédéric and George’s troubled

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Majorcan idyll in the insistent repeated notes of No. 15. These are works of emotion and imagination, first; of the keyboard only ­second. “I confess I imagined them differently,” wrote Robert Schumann in September 1839, momentarily baffled by a collection of works whose shortest item was just 12 bars long. “They are sketches, beginnings of Etudes, or so to speak, ruins, individual eagle pinions…” He at least sensed Chopin’s new conception of the keyboard miniature: as gateways to limitless imaginative possibilities. But it took Franz Liszt, as early as 1841, to perceive their full, transcendent scope: “They are poetic preludes, analogous to those of a great contemporary poet, who cradles the soul in golden dreams and elevates it to the regions of the ideal.”

Richard Bratby lives in Lichfield, UK, and writes about music and opera for The Spectator, ­Gramophone, BBC Music Magazine, and The Arts Desk. He is the author of Forward: 100 Years of the City of Birmingham Symphony Orchestra.

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