Stuttgart SÜD

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Stuttgart SÜD

eine Expedition an den Grenzen des Privaten

Landschaftslabor Stadt- Seminar SS 2011 Nina Schaal; Oliver Teiml;Peter Schick; Pavel Shcherbakov Uni Stuttgart Institut für Landschaftsplanung und Ökologie - Prof. Antje Stockman Institut Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen- Prof Gerd de Bruyn



DIE STADT ZU LESEN UND ZU VERSTEHEN IST NICHT NUR FÜR ARCHITEKTEN UND STADTPLANER NOTWENDIG. JEDER WOHNT IN EINEM BEBAUTEN UMFELD, IN DEM ER AGIERT, DAS ER NUTZT, DURCHQUERT, BELEBT UND SOMIT SELBST ZU EINEM TEIL DES URBANEN WIRD. DIE DABEI HINTERLASSENEN SPUREN SIND ÜBERALL IN DER STADT ZU FINDEN UND MACHEN SIE SPANNEND UND LEBENSWERT.

nach Benjamin Frick, www.stadtinderstadt.tumblr.com



Stuttgart SÜD eine Expedition an den Grenzen des Privaten

Wir erkunden die Stadt ohne erkennbares Ziel. Die Neugier und der Drang nach Erfahrungen lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die charakteristischen Zwischenräume der Stuttgarter Blöcke. Welche Räume verbergen sich innerhalb? Wir suchen nach Lücken, die Zugang bieten und finden private, abgezäunte Innenhöfe, Betonwüsten, Grünoasen, Parkplätze und ungeahnte Architekturen. Der ständige Wechsel zwischen privatem und öffentlichem Freiraum, die sich dadurch verändernde Perspektive und Raumeindrücke vermitteln die Vielschichtigkeit der urbanen Struktur, die man als Fußgänger auf gewohnten Wegen nicht kennt. Das Bild der Stadt als Ganzes vervollständigt sich so ein wenig mehr. Der erste Spaziergang diente der Erarbeitung der Route und dem Ausfindigmachen der Variablen. Die Weiteren zeigen die Wirkungen der Wegmodifikationen auf. Nina, Pavel, Peter und Oli


FEHLENDE GEMEINSCHAFT UND INTERNE ABGRENZUNG ALS SCHUTZ VOR EINDRINGLINGEN


Übersicht

Die folgenden Seiten zeigen einen chronologischen Ablauf des Spaziergangs vom 14.07.2011. Sie vermitteln Hintergrundwissen zu einzelnen Aspekten und Gedanken der Tour. Auf den linken Seiten wird mit Hilfe von Überbegriffen die jeweilige Situation erklärt. Die rechten Seite beinhalten nähere Erklärungen und Informationen zu einzelnen Stationen. Die Fotografien stammen von Moritz Bellers, Nina Schaal und Pavel Shcherbakov.


ERFAHREN DES URSPRÜNGLICHEN, DES WILDEN DURCH DAS STUDIEREN VERSCHIEDENER PERSPEKTIVEN


Blockinnenbereich - das ist im Stuttgarter Baurecht der überaus sperrige und bürokratische Begriff für das, was anderswo schlicht ein Hinterhof ist. Es ist ein Allerweltswort- einen Hinterhof kann es grundsätzlich auf jedem Grundstück geben. Gewöhnlich bringen wir ihn aber mit der Blockbebauung in Verbindung, wie sie für Gründerzeitviertel typisch ist. Auch wenn der Hinterhof als solcher in der Stadtplanung keine Rolle spielt - er ist eigentlich ein Produkt der Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts -, versuchen Städte wie Stuttgart, bei Quartierssanierungen auf die Eigentümer einzuwirken, diese Räume attraktiv zu gestalten und nicht nur als Abstell- oder Parkplatz zu nutzen. Die Städte legen mittlerweile Wert darauf, dass bei Sanierungen dieser Quartiere auch der Hinterhof aufgewertet wird, und verlangen nicht selten, dass bei neuen Wohnprojekten auch Landschaftsgärtner in die Planungen mit einbezogen werden. Allerdings ist dies nicht immer einfach, da man das Einverständnis aller Anlieger braucht, da diese schließ-

lich für die gemeinschaftliche Fläche einen Teil ihres Grundstücks abgeben müssen. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist haben Hinterhöfe durchaus ihren Charme, da diese Blockinnenbereiche interpretierbare Räume sind. Für das, was in einem Hinterhof passiert, gibt es keine Planung. Manchmal bieten sie sogar Möglichkeiten für Dinge, die man sich zuvor gar nicht hat vorstellen können. Spielen, gärteln, grillen: Wer dies in Stuttgart in seinem Hinterhof möchte, muss allerdings Regeln beachten. Was in einem Hinterhof erlaubt ist und was nicht, das ist von der sogenannten Baustaffel abhängig. Die Baustaffel ist ein Überbleibsel aus der Vorkriegszeit, das nach dem Prinzip “wenn es kein neues Planungsrecht gibt, dann gilt das letzte” funktioniert. Je höher der Wohnanteil in einem Gebiet ist, desto weniger darf dort gemacht werden. Andrea Jenewein: „Blockinnenbereich oder Hinterhof? Fremder Begriff für eine vertraute Welt“ , Stuttgarter Nachrichten


ZWECKENTFREMDUNG

SCHWELLE ZUGLEICH GRENZLINIE UND VERBINDUNGSRAUM


Überwindung permanenter Schwellen physische und psychische Schwellen überschreitung, um das Betreten eines Grundstückes auf ander Weise zu erfahren.

Verwaltungsgebäude (Marienhospital) Das ehemaligen Trikotagenabrikgebäuden Lange & Bumiller (Böheimstr. 46, 1890), ist heute so gut wie für jedermann von der Strassenseite aus zugänglich. Trotz des offenen Einganges dominiertiniert hier noch das Gefühl des Privatgrundstückes. Dies wird gesteigert durch die Art des Eintretens auf das Grundstück- man kommt vom Hinterhof des Nachbargrundstück über eine 2,5 Meter hohe Abgrenzung.


GESTALTUNG, VERWENDETE MATERIALIEN UND SYMBOLE ÜBERHÖHEN UND VERDEUTLICHEN DIE JURISTISCHEN, FUNKTIONALEN UND SOZIALEN DIFFERENZIERUNGEN DER RÄUME


Materiell/symbolisch: Ein breites Repertoire an architektonischen und städtebaulichen Elementen signalisiert Zugänglichkeit respektive Exklusivität von Räumen. Gestaltung, verwendete Materialien und Symbole überhöhen und verdeutlichen die juristischen, funktionalen und sozialen Differenzierungen öffentlicher und privater Räume (Wagner 1999).

Funktional: Dem öffentlichen Raum von Platz und Strasse sind die Funktionen Markt und Politik, den privaten Räumen von Betrieb und Wohnung die Funktionen der Produktion und der Reproduktion zugeordnet.


GRENZE ZWISCHEN PRIVAT UND ÖFFENTLICH


Juristisch: Öffentlicher Raum steht unter öffentlichem Recht, privater Raum unter dem privaten Hausrecht des Eigentümers - und dementsprechend unterscheidet sich die Definitionsmacht darüber, wer Räume wofür nutzen kann.

Sozial: Der öffentliche Raum als «Vorderbühne » (Goffman 1973) ist Ort stilisierten, distanzierten Verhaltens und Ort der Anonymität. Der private Raum dagegen ist «Hinterbühne» (ebenda), Ort von Intimität, Emotionalität und «verhäuslichter Vitalfunktionen» (Gleichmann 1976).


PERMANENTER WECHSEL DER STADTSCHICHTEN


Krankenhaus (Marienhospital) ein öffentliches Gebäude, für jederman zugänglich. Doch ohne Anliegen kommt man sich schnell fehl am Platz vor. Das Verweilen/ Durchqueren an Orten, bei denen die Funktion im Vordergrund steht, wird meist als störend empfunden. Verzicht auf alle bisherigen Bewegungs- und Handlungsmotive der funktionalisierten Zwangstrukturen der Stadt.


ÖFFNEN UND SCHLIEßEN VON SCHLUPFLÖCHERN


Spielplatz (Lehener-/ Filderstrasse) Der Spielplatz versteckt im Hinterhof. F端r die Anwohner eine gr端ne Oase mit Kommunikationsecken zur Pflege der Nachbarschaft.


DAS ENTSTEHEN UND WEGFALLEN VON WEGEN


Überwindung temporärer Schwellen beim Ablaufen des Weges können vereinzelt temporäre Schwellen auftreten, diese zu überwinden oder nicht, ist die Entscheidung des derzeitigen Wegleiters.


AUFZEIGEN DER MÖGLICHKEITEN DURCH VERBOTE

PROTEST


Hinweisschilder sie sind billig, sie sind schnell platzierbar und sie weisen darauf hin, wie man sich an ihrem Ort zu verhalten hat. Gleichzeitig informieren sie uns aber auch dar端ber, wof端r dieser Ort gut geeignet ist, wenn man 端ber das Verbot hinwegsieht.


GESCHLOSSENE GEMEINSCHAFT ALS GARANT DER BEWEGUNGSFREIHEIT FÜR DIE MITGLIEDER UND EINDRINGLINGE



NEUVERKNÜPFEN DER URBANEN ZUSAMMENHÄNGE


Depot der Zahnradbahn (Zacke) der Weg als eine Art Neuverknüpfung des urbanen Zusammenhangs. Man erschließt neue Wege, verbindet vorhandene Strecken und nähert sich bekannten Sachen aus anderen Perspektiven an.

Theater (Rampe) Das ungewöhnlichen Betreten durch die Hintertür, hier durch die Zahnradbahneinfahrt löst ein kurzes Gefühl der Orientierungslosigkeit aus. Dieses verschwindet aber wieder rasch, wenn man sich im Innenraum befindet und den Weg zur Haupttür kennt bzw. die Beschilderung sieht. Dies macht ein Durchlaufen des Gebäudes von dieser Seite einfacher, als andersherum.


BEEINFLUSSUNG DER WIRKUNG EINES ORTES DURCH ANWESENHEIT FREMDER


Der Hinterhof für Kleinunternehmer (Rich. Rapp Söhne, Parkett und Fussbodentechnik) In Stuttgart ist es heute noch typisch, dass Hinterhöfe zum überwiegenden Teil noch gewerblich genutzt werden. Allerdings beschränke sich die gewerbliche Nutzung heute auf Kleinhandwerk und vor allem Dienstleister.

Der Hinterhof als Abstell- und Parkplatznutzung - es ist ein Raum, in dem Menschen die oftmals fast nichts voneinander Wissen, Arragements eingehen müssen. In Form von Hausordnungen werden Zugang und Nutzung geregelt.

Der Hinterhof als Erholungs- und Frischluftort - er zieht Fremde durch seine Qualitäten an und stösst sie gleichzeitig ab, er kann das eine nicht ohne das andere. Durch Minderung des Öffentlichkeitscharakters, z.B. durch Zierpflanzen und private Gegenstände versucht man diese Unsicherheit zu entfernen.


SENSIBILISIERUNG DURCH GEFAHR

VERZICHT AUF ALLE BISHERIGEN BEWEGUNGSUND HANDLUNGSMOTIVE DER FUNKTIONALISIERTEN ZWANGSTRUKTUREN DER STADT



VERÄNDERUNG DER WAHRNEHMUNG DES ORTES JE NACH ART DES BETRETENS


Friedhof (Fangelsbachfriedhof) - von oben betrachtet wirken Sie wie durchweg grüne Parks/ Erholungsgebiete mitten in der Innenstadt. Jedoch erkennt man nach näherem hinsehen das sich ein Friedhof darunter befindet. Selten von Bewohner zum enspannen/ erholen genutzt, sind es eigentlich öffentliche Orte, die für jeden zugänglich sind. Doch hat man trotzdem Hemmungen bzw. spürt eine Schwelle, die man überschreitet wenn man einen Friedhof betritt. Daher meist unbekannt und selten im Zusammenhang mit dem Stadtbild verbunden. (Ausnahme: “Père Lachaise”, Paris)


DURCH EINEN KONFLIKT ERZEUGTE IDENTITÄT DES ORTES ALS EINE ART VON BERÜHRUNG DER STADT


Beobachtungsfenster Informelle Kontrolle durch Nachbarschaft. Jegliche Vorfälle werden von den Anwohnern genauestens inspiziert, um anhand der Verhaltensweise der “Eindringlinge” eventuelle Beabsichtigungen ablesen zu können. Grundloses Aufhalten einer Person im Hinterhof wirkt suspekt. “Die Angst vor Gewalt und Kriminalität wird gerade auf die Figur des Fremden projeziert, und zwar umso mehr, je sozial und kulturell fremder der Fremde ist.” Walter Siebel, Jan Wehrheim: “Öffentlichkeit und Privatheit in der überwachten Stadt”


DIE STADT ANFASSEN.

DURCH DIE AUFGEBRACHTE MÜHE BEIM ENTDECKEN RÜCKT DIE STADT NÄHER ALS BEI REIN VISUELLER BETRACHTUNG.



VERLUST UND WIEDERLANGEN DER ORIENTIERUNG

NEUVERKNÜPFEN DER URBANEN ZUSAMMENHÄNGE


Marienplatz Das Erfahren der zwei Extreme - das Private und das Öffentliche im Kontrast. Der “Hausdurchgang” als Schleusen aus der Orientierungslosigkeit des menschenleeren Innenhofes inmitten eines Eiscaféausenbereiches auf dem wohl bekannten, belebten Marienplatz.


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