MAX JOSEPH Nr. 1 2015/16

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MAX JOSEPH

#1 Vermessen: Der Mensch

BAYERISCHE STAATSOPER

D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF

René Pape und Roland Schwab über das Böse – Premiere Mefistofele Evelyn Herlitzius über Dämonen und Freiheit – Premiere Der feurige Engel Donna Leon erforscht Bienen


MAX JOSEPH 1  2015 – 2016 Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

Tony Oursler, Less-than-perfect, 2014, Courtesy of the Artist and Lisson Gallery


EDITORIAL Etwas vermessen: etwas verstehen, beherrschen, urbar machen wollen Sich vermessen: etwas falsch ausmessen, ein falsches Bild gewinnen Vermessen sein: dem erliegen, was seit der griechischen Antike als Hybris beschrieben wird; das Denken des Menschen, größer zu sein als er ist … und die eigenwillige Tatsache, dass dies im Deutschen durch ein und dasselbe Wort aus­gedrückt wird. Dies wird uns als Thema in der Spielzeit 2015 / 16, die wir mit eben diesem Wort „Vermessen“ überschrieben haben, beschäftigen. Die Stücke unserer Neuproduktionen geben dies vor: Vermessen mag schon das Vorhaben des Komponisten Arrigo Boito gewesen sein, beide Teile von Goethes Faust in einer Oper zu erzählen. Sein Interesse galt ­indes hauptsächlich der Figur des Mephisto als Verkörperung des Bösen. Er, nicht Faust, beherrscht die Oper und fasziniert, weil er eine Seite in uns zeigt, die der Mensch ausklammert und als nicht existent wissen möchte – so formuliert es Bass René Pape, der die Titelpartie in Mefistofele singt, im Gespräch mit Regisseur Roland Schwab. Das Ausklammern von Abgründen lässt sich aktuell auch an der Praxis der großen Social Media-Unternehmen sehen, die allzu verstörende Inhalte entfernen lassen, weil sie vor allem anderen die Profitabilität ihrer Seiten gefährden – abseits jedweder Dis­ kussion um unangemessene, illegale oder fremdenfeindliche Meinungsäußerungen. Ein US-Journalist berichtet in dieser Ausgabe davon, dass dies nicht automatisch ­geschieht, sondern nur, indem eine Armee von Hilfsarbeitern sich diese Inhalte ­ansieht und bewertet. Nicht weniger vermessen das zweite Werk dieser Saison: Im bayerischen Ettal komponiert, thematisiert Sergej Prokofjews Der feurige Engel eine Amour Fou, in der Frau, Mann und Umfeld alle Facetten einer aus den Fugen geratenen Leidenschaft ­heraufbeschwören. Dass die Oper auf einem Roman basiert, in dem der Autor eine ­unerfüllte Liebe verarbeitet, und diese begehrte Frau sich genau zu der Zeit in Paris das Leben nimmt, als Prokofjew dort vergeblich versucht, sein Werk zur Uraufführung zu bringen: vielleicht nicht vermessen, aber mit Sicherheit niemals plan- und vor­aus­ rechenbar. Die Partie der Renata jedenfalls geriet zur Zumutung und ist gerade ­deshalb eine lustvolle Herausforderung für Sopranistin Evelyn Herlitzius, die mit V ­ erve über diese einnehmende Figur spricht. Die Vermessung des Menschen schließlich und die Idee, diesen wie eine ­Ansammlung von Daten zu verstehen und zu analysieren, ist der große Paradigmenwechsel unserer Zeit. Keine Wissenschaft und auch nicht unser Verstand hält mit ihm Schritt. „Wo das Messbare ins Unwägbare umschlägt, ist die Kunst gefordert, dem ­Unmessbaren Ausdruck zu verleihen“, schreibt Anna Mitgutsch in ihrem Essay für diese Ausgabe. Begleiten Sie uns und alle Vermessenheit der Künstler, mit hoffentlich neuen Perspektiven aus dieser MAX JOSEPH-Ausgabe, zu unseren beiden packenden Münchner Erstaufführungen!

Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper


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Vorstellungsank端ndigung


WIR, BÖSE? René Pape singt die ­Titelpartie in ­Arrigo ­Boitos Oper Mefistofele, ­Roland Schwab inszeniert. Für MAX J­OSEPH unter­ nahmen sie vorab e ­ inen ­Oster­spaziergang der anderen Art: eine ­Karussellfahrt. Und ­unterhielten sich darüber, wie sie den Mephisto anlegen wollen. Rubrikentitel Premiere Mefistofele

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Roland Schwab


René Pape


MAX JOSEPH Herr Pape, Herr Schwab, Sie haben sich eben beide in ein Kettenkarussell begeben. Hat ein Opernbesuch nicht auch etwas von einer Karussellfahrt? ROLAND SCHWAB Das Karussell hatte den netten Namen „Wellenflug“, und ein Wellenflug ist ein Opernbesuch ge­ wiss, zumal bei einem Stück wie Mefistofele. Wir haben ei­ nen Wechsel zwischen Höhen und Tiefen, zwischen Him­ melfahrten und Abgründen, das ist sicher ein Trip, auf den der Zuschauer mitgenommen wird. Gleichzeitig ist das Ka­ russell ein so schöner Ort von Understatement. Mephisto, der Teufel, wenn er in einer Oper schon personifiziert wird, wird nur interessant, wenn er mit Understatement auf der Bühne erarbeitet wird. Wenn er nicht wie der große Ange­ ber oder der große Zampano daherkommt, sondern man sein abgründiges Potenzial durch dezentes Verschweigen umso stärker ahnbar macht. Und das ist eine tolle Heraus­ forderung, es verlangt eine Denkraffinesse, und da müssen wir, René und ich, unsere Köpfe zusammenstecken und un­ ser abgründiges Denken zusammenlegen, dass wir den Teufel nicht an die Karikatur verkaufen oder verschenken, sondern dass er wirklich eine dämonische Qualität hat, die man so nicht unbedingt oft auf der Opernbühne antrifft. MJ Besonders an dieser Oper ist auch, dass die Basspartie die Titelpartie ist. Der Böse, der Antagonist von Faust steht im Zentrum. Geht man an diese Rolle von vornherein anders ­heran? Ist das überhaupt eine menschliche Figur, oder ist das der Teufel, den man ohnehin anders spielen muss? RENÉ PAPE Die Frage ist: Was ist böse? Für mich ist Mephisto einfach ein starker Charakter. Er ist nicht böse für meine Begriffe, sondern er ist einfach nur das, was wir sind, jeden Tag. Er hält uns den Spiegel vor und sagt: Hey, was willst Du von mir? Du bist doch genauso. Und dann sage ich eben: Ich bin Mephisto, also ich, René Pape, ich fühle mich als Mephisto, auch im wirk­ lichen Leben. Diese Einteilung in „wer ist gut, wer ist böse“ – da habe ich überhaupt keine Lust drauf. Mephis­ to ist nicht böse. Er ist nur böse, weil wir denken, dass er böse ist. Ich will ihn auch so anlegen … Er soll dieses Nette, Hintertriebene haben, diese Coolness (zieht ein harmloses Gesicht, hinter dem es diabolisch funkelt). Und er ist sich seiner Macht, seiner Stärke sehr be­ wusst. Er hat die Fäden in der Hand. Alle anderen be­ wegen sich wie Marionetten. Aber von selbst. Nicht, weil er sie so spielt. RS Aber das ist doch schön, diese Selbstverständlichkeit dabei. RP Eben. Er ist einer von uns. Wir können alle Gott spie­ len und nett sein, wir können tausend Kinder in die Welt setzen, das ist alles super. Wir können aber auch das andere, aber das andere blenden wir immer aus. Wir sa­ gen: Nein, ich bin nicht so böse, nein, ich steh auf in der Straßenbahn für eine alte Frau. MJ Machen Sie das denn nicht? RP Doch, natürlich. So hab ich’s gelernt.

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„Mephisto hat die Fäden in der Hand. Alle anderen bewegen sich wie Mario­ netten. Aber von selbst. Nicht, weil er sie so spielt.“ – René Pape

„Wo ‚Mephisto‘ draufsteht, sollte man kein humani­ täres Rettungspaket erwar­ ten.“ – Roland Schwab


René Pape (r.) und Roland Schwab (l.) bei ihrer nicht nur metaphorischen, sondern wirklichen Karussellfahrt auf der Münchner Auer Dult.

MJ Der Teufel, das Böse kann auf der Bühne schnell etwas Lä­ cherliches bekommen. Kommt man mit den Mitteln des Theaters überhaupt an das ran, was man das eigentlich Böse nennt? RS Das Böse ist immer: Man sieht die Eisbergspitze, und darunter ist unsichtbar der Rest. Und das muss immer ein Geheimnis bleiben, auch und gerade im Theater. Das darf nicht ausformuliert werden. Die Aura eines Diabolos macht man kaputt im Ausformulieren, das Mysterium muss aufge­ spannt werden. Es ist eine absolut packende Herausforde­ rung. Mir kommt entgegen, die Hölle als unseren Ort zu be­ greifen: Wir sind alle in der Hölle geparkt, der Himmel ist uns nur als utopische Sehnsucht gegeben. MJ Kann man ausformulieren, was unter dem Eisberg ist? RS Es gibt ja eine ganze Sekundärliteratur, die sich mit dem Bösen beschäftigt, die uns aber keinen Deut weiterbringt. Das Böse entzieht sich uns, es wird nie greifbar. Die Präsen­ tation der Spielzeit 2015/16 an der Bayerischen Staatsoper mit dem Titel „Vermessen“ im März dieses Jahres war über­ schattet von dem Germanwings-Absturz. An dem Tag hieß es: Absturz, alle ums Leben gekommen, Piloten wie die Pas­ sagiere haben uns alle gleich leid getan. Ein paar Tage später hieß es, es gebe eine Ausnahmerolle: einen Co-Piloten, der bewusst Mannschaft und Passagiere in den Tod mitgerissen habe. Dann, Wochen später, die Message: Bereits der Hinflug nach Barcelona habe als Testflug fungiert. Es hatte sich hier etwas ausgeweitet, und man weiß nicht, wo sind die Gren­ zen? Haben wir alle schon solche Testflüge mitgemacht,

Fotografie Martin Fengel

möglicherweise Wochen und Monate vorher? Es gibt nur eine Ahnung, was da noch ist. Aber das Vermessen des Bösen ist eine Hybris, es ist nicht möglich. Man vermisst die Eisberg­ spitze, aber des Mysteriums wird man nicht habhaft. MJ Als die Informationen über den Co-Piloten bekannt wurden, stand seine Person wochenlang im Zentrum der Medien. Ist es grundsätzlich das Böse, das uns besonders fasziniert, das Dunk­ le, die Abgründe der Menschen? RP Ja. Für mich das Beste, was ich gelernt habe in den 26 Jahren meiner Laufbahn: sich mit Sachen auseinanderzu­ setzen. Ich habe gelernt, dass Philipp in Verdis Don Carlo nicht der gute Philipp ist, ich habe gelernt, dass Marke in Tristan und Isolde nicht der gute Marke ist. Und genau das ist es, was sie zu so faszinierenden Figuren macht. Wir sind mitten im Leben. Egal, ob wir über die Straße gehen, ob wir hier ein Bier trinken, ob wir Kunst machen, ob wir Straßen­ bahn fahren: Ich lebe mit Menschen zusammen, und jeder hat unterschiedliche Meinungen. Aber ich verurteile Men­ schen nicht wegen ihrer Meinung. Ich verurteile Men­ schen nicht, weil sie so und so gepolt sind. Ich bin Dresd­ ner, mir ist schon peinlich, was da mit Pegida läuft. Das ist auch schwierig. Aber wie gesagt: „böse“, dieses Wort, gibt es für mich nicht. Ich versuche so zu leben, dass … ich die­ ses Wort „böse“ möglichst irgendwie wegschiebe. MJ Wenn wir nun annehmen, dass der Begriff des Bösen uns nicht hilft, weil es alltäglich und in uns allen ist, dann muss man trotz­ dem fragen: Kommen wir ohne Werturteile aus?

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RS Mit dem Bösen, da gebe ich René recht, klammert man im­ mer etwas aus, was man nicht sein will. Die simple Unterschei­ dung von Gut und Böse hat uns nie geholfen. Was dagegen hilft ist, die Unterscheidung in sich selbst zu sehen, was für einen Anteil hat man am Bösen? Wir befragen, siehe German­ wings, die Atteste: Welche psychische Krankheit hat der? Bei­ des bringt uns nicht weiter. Dann enden wir irgendwann bei dem Wörtchen „Warum“. Das ist immer das kapitulative letzte Wort, weil wir es meist auf andere beziehen und nie die Sonde in uns selbst setzen. Wir denken, anormal sind die anderen. Aber wir sind nicht solitär. Wir haben alle Anteil an allem. Die Akzeptanz des eigenen Schattens, des eigenen Abgrunds, be­ haupte ich, ist präventiv, ist Krisenprophylaxe. Zu erkennen, wie viel man Anteil hat. Und diejenigen, die immer verdrängen: Irgendwann schafft sich das Verdrängte sein Recht, bricht sich Bahn. Und da sind viele Menschheitskatastrophen festzuma­ chen in diesem Themenkomplex. MJ Würde das auch beinhalten, dass ich sage: Mein Anteil war schlecht, war böse, war nicht richtig? Oder würde es heißen: Mein Anteil hat diese Ursache und es gibt das Böse nicht? RS Wie man es auch nehmen will – es gibt natürlich eine Ska­ la der seelischen Schwärze, ja. Luzifer, behaupte ich mal, hat sich vom Himmel abgekehrt aus Langeweile. Hier kommt das Spaßprinzip ins Spiel. Das Böse, ob man es jetzt in Anfüh­ rungszeichen setzt oder nicht, ist ein Lustprinzip. Böse, das ist gleichzeitig Wettkampf und Dilemma, das ist, sich toppen zu müssen. Eine Figur auf der Bühne, die sich permanent sou­ verän fühlt, ist auch nicht interessant. Man muss bei aller Ver­ suchung auch zeigen, wie Mephisto selbst versucht wird, in welche Klemmen er gerät. Aber wo „Mephisto“ draufsteht, soll­ te man kein humanitäres Rettungspaket erwarten. MJ Es gibt ja ein Wort, das so ganz entscheidend ist für Mephisto – das Wort „nein“. Er ist der Geist, der stets verneint. Boito hat Me­ phisto eine große Arie komponiert, die sich um dieses Wort dreht. RP Wenn ich da einhaken darf: Wie sind Sie Dramaturg ge­ worden? Durch Ja- oder durch Neinsagen? MJ Gute Frage. Nun, als Dramaturg ist man ohnehin immer der Teufel der Produktion. Man stärkt ja die Produktion, indem man den Finger in die Wunde legt. RP Na also. Neinsagen ist immer gut. MJ Ja, würde ich auch sagen. (lacht) Ich stimme zu.

René Pape wurde beim Dresdner Kreuzchor sowie an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden ausgebildet. Seit 1988 ist er im Ensemble der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, wo er auch zum Kammersänger ernannt wurde. Zu seinem Repertoire gehören Partien wie Rocco (Fidelio), Méphistophélès (Faust), König Heinrich (Lohengrin), Banquo (Macbeth), Pogner (Die Meistersinger von Nürnberg), Gurnemanz (Parsifal), Sarastro (Die Zauberflöte), König Marke (Tristan und Isolde) und Philipp II., König von Spanien (Don Carlo) sowie die Titelpartien in Don Giovanni und Boris Godunow. Gastspiele führten ihn u.a. an die Metropolitan ­Opera New York, die Opéra National de Paris, d ­ as Royal Opera House Covent Garden in London, an die Wiener Staatsoper sowie zu den Festspielen von Bayreuth und Salzburg. An der Bayerischen Staatsoper ist er in dieser Spielzeit als Orest ­­­(Elektra) und in der Neuinszenierung als ­Mefistofele zu erleben.

Roland Schwab, geboren in Paris, studierte nach einem Studium der Germanistik und Physik Musik­ theater-Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg unter Götz ­Friedrich. 1994 wurde er Meisterschüler von Ruth Berghaus und schuf seine ersten Inszenierungen, u.a. Frank Alert meets Brecht am Berliner Ensemble. Ab 2002 wirkte er als Oberspielleiter am Meininger Theater, wo er Così fan tutte und Le nozze di Figaro inszenierte. Weitere Opernproduktionen führten ihn u.a. an das Tiroler Landestheater, das Landes­ theater Linz, an die Oper Bonn, die Oper Dortmund sowie an das Staatstheater Braunschweig. Seine wichtigsten Arbeiten schuf er für die Deutsche Oper Berlin: Mozart-Fragmente, Tiefland sowie Don Giovanni. In der Spielzeit 2015/16 inszeniert er an der Bayerischen Staatsoper Boitos Mefistofele und gibt damit sein Hausdebüt.

Das Gespräch führten Daniel Menne und Maria März.

Mefistofele Oper in vier Akten mit Prolog und Epilog Von Arrigo Boito Premiere am Samstag, 24. Oktober 2015, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag, 15. November 2015

Weitere Termine im Spielplan ab S. 93

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EINE GROSSE INNERE FREIHEIT

Die Figur der Renata aus Sergej Prokofjews Der feurige Engel wird oft auf eine sexuell obsessive Frau reduziert – sagt So­pranistin Evelyn ­Herlitzius, die diese aberwitzige Partie in der Neuins­zenierung von Barrie Kosky singt. Ein Interview zum ­Rollendebüt.


Rubrikentitel Premiere Der feurige Engel

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MAX JOSEPH Renata ist für Sie ein Rollendebüt. Wie nähert man sich einer solchen Figur? EVELYN HERLITZIUS Von möglichst vielen Seiten! Ich bin noch mitten in der Forschungsarbeit … Die Handlungsstränge des Feurigen Engels sind komplex, das Personal bunt gemischt. Momentan beschäftigen mich spirituelle Fragen. Was ist ein Engel? Gibt es so etwas, oder nicht? Wie unterscheiden sich Engel in den unterschiedlichen Religionen? Oder Dämonen: In unserer Kultur herrscht eine Polarität von Gut und Böse. Bei den alten Griechen wurden Dämonen aber differenzierter gesehen. Ein Daimonion war eher eine Art Begleiter durchs Leben. Für mich ist es wichtig, eine Haltung zu finden. Vordergründig ist Der feurige Engel ja unglaublich katholisch, mit der Inquisitionsszene am Ende der Oper und der Bezeichnung Renatas als Besessene. Aber ich sage bewusst „vordergründig“. Für mich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser Katholizismus nur eine Folie ist, auf der Prokofjew seine Themen abbilden konnte. Die Inquisitionsszene ist natürlich ungeheuer theaterwirksam, und man kann sich vorstellen, wie stark sie Prokofjew als Musiker inspiriert hat. Bei der Entwicklung der Figur hat mir die Beschäftigung mit dem Katholizismus aber nicht wirklich weitergeholfen. Für mich ist Renata per se ein Mensch, der sehr anders ist als seine Umgebung, provokativ anders lebt, dies auch zeigt und davon nicht abweicht. Man könnte sagen, Renata lebt in einer anderen Realität – aber dies wirft gleichzeitig die Frage auf, was Realität überhaupt ist. Ist es mein Garten, in den ich gerade blicke, oder gibt es eine Realität dahinter, die Renata eben wahrnimmt? Fakt ist, dieses Anderssein zerstört Renata, weil ihre Umgebung damit nicht umgehen kann. Diese Umgebung, die vor allem eine männliche ist, will Renata bändigen. MJ Gilt das auch für Ruprecht? EH Ja, und für die heilige Mutter Kirche! MJ Ist Ruprecht von Renata fasziniert, weil sie Eigenschaften hat, die ihm fehlen? EH Ganz am Anfang findet Ruprecht Renata vor allem schnuckelig, er möchte mit ihr schlafen. Das Ziel verfolgt er im Laufe der Oper zwar weiterhin, aber es gibt auch etwas an dieser Kindfrau, das ihn fasziniert. Renata hat eine große innere Freiheit, eine Wildheit, Begeisterungsfähigkeit, Ungebärdigkeit – die Prokofjew grandios in Musik umsetzt. Dazu scheint sie eine Schutzbedürftigkeit auszustrahlen, die Ruprecht antriggert. Und sie hat eine starke erotische Ausstrahlung. Obwohl sie noch jung ist, hat sie zu ihrer Sexualität einen sehr direkten Zugang, sie besitzt die Fähigkeit zur absoluten Hingabe. Das zeigt ihr Verhältnis zu Madiel und dann später zu Heinrich.

Fotografie Martina Hemm

MJ Ist es wichtig, eine Vorstellung davon zu haben, wer oder was Madiel, der „feurige Engel“, sein könnte? EH Für ein erweitertes Verständnis der Oper finde ich es wichtig. Unsere Kultur ist ja voll von Engeln. Im Hebräischen gibt es zwei Übersetzungen für „Engel“. Die eine lautet sinngemäß „Gestalt gewordenes Wesen im Licht“, die andere „bestimmter Bewusstseinszustand“. Madiel geht wieder, er entzieht sich. Vielleicht kann man „Licht“ mit „Seligkeit“ gleichsetzen. Was Renata passiert, worin sie sich verrennt, ist zutiefst menschlich: sie möchte Seligkeit, Freude, Liebe festhalten. MJ Ist die Erarbeitung einer so intensiven Rolle wie die der Renata nicht auch eine Belastung? EH Nein. Es ist eine Herausforderung, eine große Lust. Ich brauche diese Forschungsarbeit, sonst lerne ich Töne und Text, aber ich weiß nicht, wer ich bin. Wie ich eine Phrase gestalte, zum Beispiel, ist natürlich in der Musik vorgegeben durch Tempo- oder Dynamikangaben, durch die Instrumentation. Das sind Puzzleteile, ich suche aber das Gesamtbild. Dafür lese ich querbeet – über Religion oder das Mittelalter zum Beispiel. Ich befrage Freunde, die sich in Psychologie oder Spiritualität auskennen, schaue mir Bilder, Gemälde an. So entsteht ein innerer Film, zusätzlich zum Diskurs mit dem Regisseur und der gemeinsamen Probenarbeit mit den Kollegen. Für die Renata wollte ich zunächst unter den tausend Baustellen des Werks ein oder zwei Punkte finden, auf die ich mich konzentrieren möchte. Zum einen ist das eben dieser Umgang der Gesellschaft mit ihrem Anderssein, zum anderen ihre offen ausgelebte Sexualität, die Art, mit der sie ihre Bedürfnisse so klar und entschieden formuliert. Der arme Ruprecht muss im Verlauf des Stückes ganz schön einstecken. Ich finde es aber falsch, Renata auf eine sexuell obsessive Frau zu reduzieren, wie es oft geschieht. Was Renata an Madiel so beeindruckt, ist ja gerade die spirituelle Nähe, von der sie möchte, dass sie sich auch auf einer körperlichen Ebene ausdrückt. Man spricht ja auch in der Liebe von „sich erkennen“. MJ So, wie Sie über Renata reden, erscheint sie als durch und durch positive Figur. Hat sie denn überhaupt keine Abgründe? EH Doch. Sie hat eine Tendenz zu – ich möchte nicht sagen: Selbstzerstörung, aber zur Selbstauflösung in ihrer Unbedingtheit. Ich bin mir auch noch nicht schlüssig, wie ich ihr späteres Verhalten Ruprecht gegenüber, ihren scheinbaren Sinneswandel, sehe. Liebt sie ihn wirklich, oder setzt sie bewusst ihre weiblichen Mittel ein? Das werden wir auf den Proben klären.

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Fotografie Martina Hemm Haare, Make-up Gülsen Tasch

MJ Was ist die größte musikalische Herausforderung? EH Das Parlando. Es ist nicht leicht, diesen Text ­adäquat in russischer Sprache zu gestalten. Ich habe die Katerina Ismailowa in Lady M ­ acbeth von Mzensk gesungen, die Partie ist viel großzügiger, arioser, sie hat nur ein Drittel des Textes der Renata. Sicherlich auch die stimmliche Exaltiertheit, die Ausbrüche, die gleich wieder zurück­ genommen werden. Die L ­ agenwechsel fallen mir nicht so schwer, weil ich viel zeitgenössische Musik gesungen habe. Es gibt auch nur wenige, vielleicht zwei oder drei Momente der Ruhe in der Oper. Ich muss mir also meine Kräfte gut einteilen. MJ Gibt es irgendwelche Parallelen zwischen ­Renata und Ihnen? EH Die Frage, was wirklich ist und was nicht – nicht ­unbedingt in religiöser, eher in spiritueller Hinsicht – treibt mich schon lange um. Wie ist die Welt beschaffen, wie erschaffen wir sie uns? Aber zu einem Ergebnis ­gekommen bin ich noch nicht …

Der feurige Engel in aller Kürze: Köln, im 16. Jahrhundert: Seit ihrer Kindheit wird ­Renata von Madiel, dem „feurigen Engel“, besucht. ­Beide verbindet eine tiefe Freundschaft. Als junge Frau möchte Renata sich auch körperlich mit ihm ­vereinigen, aber Madiel lehnt dies ab und ­ver­schwindet: Renata sei das Leben einer Heiligen bestimmt. Besessen von dem Wunsch, mit Madiel zusammen­leben zu können, meint Renata ihn im Grafen ­Heinrich wiederzuerkennen. Doch auch ­Heinrich ­entzieht sich ihr. Indessen verfällt der ­entwurzelte Amerika-­Heimkehrer Ruprecht Renata und begibt sich mit ihr auf ihre fiebrige Suche nach dem ­verschwundenen Heinrich. Dabei schrecken ­beide nicht vor unlauteren Mitteln zurück, sie ­bedienen sich schwarzer Magie und bedrohen ­Heinrich körperlich; von Renata gedrängt, fordert Ruprecht Heinrich zu ­einem Duell, bei dem Ruprecht schwer verwundet wird. Da ihre Be­mühungen keinen Erfolg zeigen, zieht sich Renata in ein Kloster ­zurück. Als ihre An­wesenheit die a ­ nderen Nonnen zu orgiastischen und ekstatischen E ­ xzessen reizt, wird Renata von der ­Inquisition zu Tode verurteilt.

Evelyn Herlitzius, geboren in Osnabrück, studierte an der ­Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Nach ersten ­Engagements in Saarbrücken und Karlsruhe debütierte sie 1997 mit der Partie der Leonore (Fidelio) an der Semperoper in ­Dresden. Seither gastierte sie u.a. an den Opernhäusern in Wien, Brüssel, Stuttgart, Berlin, Mailand, Amsterdam und Barcelona ­sowie bei den Festspielen in Salzburg, Bayreuth und Aix-en-­ Provence. Ihr Repertoire umfasst Partien wie Isolde (Tristan und Isolde), Kundry (Parsifal), Elisabeth/Venus (Tannhäuser), Ortrud (Lohengrin), Marie (Wozzeck), Färberin (Die Frau ohne Schatten), Katerina Ismailowa (Lady Macbeth von Mzensk) und die Titel­partien in Turandot, Salome und Jenůfa. Seit 2002 ist sie ­Sächsische Kammersängerin. In der Spielzeit 2015/16 ist sie a ­n der B ­ ayerischen Staatsoper als Elektra und als Renata in Barrie Koskys Neuinszenierung von Der feurige Engel zu erleben.

Der feurige Engel Oper in fünf Akten und sieben Bildern Von Sergej Prokofjew Premiere am Sonntag, 29. November 2015, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 12. Dezember 2015

Weitere Termine im Spielplan ab S. 93

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Interview Sophie Becker


„Renata ist ein Mensch, der sehr anders ist als seine Umgebung, provokativ anders lebt. Fakt ist, dieses Anderssein zerstört Renata, ­ weil ihre Umgebung damit nicht umgehen kann.“ – Evelyn Herlitzius


PROKOFJEW UND ETTAL

Weder Paris noch Moskau: Sergej Prokofjew komponierte seine Oper Der feurige Engel im oberbayerischen Ettal. Sophie Becker erz채hlt von der 체berraschenden Station einer Biografie, die bis 44 heute fesselt und R채tsel aufgibt. Vorstellungsank체ndigung


„Im März übersiedelte ich nach Süddeutschland, in die Nähe des Klosters Ettal an den Ausläufern der Bayerischen Alpen, drei Kilometer von Oberammergau entfernt, das durch seine mittelalterlichen, alle zehn Jahre stattfindenden Passionsspiele berühmt ist, eine malerische und ruhige Gegend, zum Arbeiten geradezu ideal. Ich begann sogleich mit der Komposition des ‚Feurigen Engels‘. Der darin beschriebene Hexensabbat muss irgendwo in dieser Gegend stattgefunden haben.“ So lapidar berichtet Sergej Prokofjew in seiner 1941 erschienenen Autobiografie über eine seiner Lebensstationen, die bis heute Rätsel aufgibt – gerade weil der Komponist den Eindruck erweckt, seine Ortswahl verstünde sich ohne weitere Begründung. Gibt man sich damit aber nicht zufrieden und geht der Frage nach, wieso es den Komponisten nach Bayern verschlug, beginnt eine spannende Spurensuche, die mitten in die politischen Wirren des 20. Jahrhunderts führt und das kleine Dorf mit der Weltpolitik verbindet. Die wenigen bekannten Fakten sind schnell erzählt: Gemeint ist der März des Jahres 1922, die Ankunft des damals 30-jährigen Prokofjew in Ettal. Prokofjew kam nicht allein, er wurde von seiner Mutter Maria und seinem Freund Boris Werin, einem Dichter, begleitet. Der Komponist hatte für sie gemeinsam ein Haus angemietet, die „Villa Christophorus“. Regelmäßiger Gast war Carolina Codina, eine in Madrid geborene Sängerin mit spanischen, französischen und polnischen Vorfahren, die der Komponist 1920 bei einem Aufenthalt in New York kennen- und lieben gelernt hatte. Die beiden heirateten im Oktober 1923 in Ettal. Es war eine Ziviltrauung im eigenen Haus, als Zeugen fungierten Maria Prokofjewa und Boris Werin, größere Feierlichkeiten scheint es nicht gegeben zu haben. Lina war schwanger, der gemeinsame Sohn Svatoslav wurde im Februar 1924 geboren – doch zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar Prokofjew schon weitergezogen: ab Dezember 1923 lebte das Paar in Paris. Prokofjew begeisterte sich in Ettal für die ihn umgebende Natur, genoss die Stille, unternahm weiterhin seine Konzerttourneen als Pianist, hatte aber nach eigenen Angaben keinerlei Kontakt zur deutschen Kunstszene. Auf den Stoff von Der feurige Engel war Prokofjew bereits, anders als seine Ausführungen in der Autobiografie nahe legen, im Dezember 1919 gestoßen, kurz nach Vollendung seiner dritten veröffentlichten Oper Die Liebe zu den drei Orangen. Vorlage war der gleichnamige, 1907/1908 entstandene Roman des symbolistischen Dichters Waleri Brjussow (1873-1924). Ohne Auftraggeber begann Prokofjew­­ noch 1920, während seines New York-Aufenthaltes, mit den ersten Skizzen.

Premiere Der feurige Engel

Den Großteil des Werkes komponierte der Künstler dann tatsächlich in Ettal. Insgesamt arbeitete er sieben Jahre an dem Werk, allerdings mit großen Unterbrechungen. 1926 erfolgte die Instrumentation, in der darauffolgenden Saison sollte Der feurige Engel an der Städtischen Oper in Berlin-Charlottenburg unter Leitung von Bruno Walter uraufgeführt werden. Die Produktion musste jedoch abgesagt werden, weil das Notenmaterial noch nicht fertig gesetzt war. Die weiteren Pläne für eine Uraufführung zerschlugen sich in den folgenden Jahren. 1928 arbeitete Prokofjew Teile des Werkes zu seiner Dritten Symphonie um. Die Uraufführung von Der feurige Engel hat Prokofjew nicht mehr erlebt, sie erfolgte konzertant 1954 in Paris, szenisch dann ein Jahr später im Teatro La Fenice in ­ ­Venedig, Regisseur war Giorgio Strehler. Trotz aller unbestrittenen Schönheit Ettals muss man Prokofjews Wahl wohl als Notlösung ansehen, geschuldet seiner langjährigen Wanderschaft. Der Komponist hatte seine Heimat 1918 verlassen. Grund dafür waren allerdings nicht so sehr die politischen Ereignisse der Zeit, sondern – zumindest offiziell – der Wunsch, im Ausland Karriere zu machen und die Notwendigkeit einer Luftveränderung angesichts seiner schwachen Gesundheit. Prokofjew reiste, mit einem sowjetischen Pass ausgestattet und mit Zustimmung des Volkskommissariats für Volksbildung, von Petrograd über Wladiwostok, Tokio und San Francisco an die amerikanische Ostküste, wo er Konzerte gab und an seiner Oper Die Liebe zu den drei Orangen nach Gozzi arbeitete. Die ursprünglich für ­Chicago geplante Uraufführung scheiterte nach dem Tod des Intendanten und Dirigenten Cleofonte Campanini. Auf der Suche nach Arbeit und Anerkennung nahm Prokofjew wieder Kontakt zu Serge Diaghilew, dem Impresario der nach Paris emigrierten Ballets Russes auf. Die nächsten beiden Jahre bis zum Umzug nach Ettal pendelte der Komponist zwischen Paris, London und den USA, wo 1921 in Chicago schließlich doch die Uraufführung von Die Liebe zu den drei Orangen stattfand. Ein anstrengendes, unruhiges Leben. Allein: der Durchbruch sollte nicht gelingen. Der Rückzug nach Ettal verfolgte sicherlich das Ziel, Muße zum Komponieren zu finden. Darüber hinaus war das Leben im nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich zerrütteten Deutschland ungleich günstiger als in Frankreich – der Dichter Konstantin Balmont berichtet, dass Prokofjew umgerechnet gerade einmal 20 Dollar im Monat zur Verfügung standen. Zur beruflichen Enttäuschung und zum großen Heimweh kam eine Haltung gegenüber den Bolschewiken, die man am ehesten als indifferent bezeichnen könnte. Prokofjew war, soweit wir wissen, kein überzeugter ­

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­ ommunist, aber auch kein klassischer Emigrant, der eine K Rückkehr unter den vorherrschenden politischen Bedingungen kategorisch ausgeschlossen hätte. In Ettal begann er, über Briefe wieder verstärkt Kontakt zu seinen russischen Freunden aufzunehmen. 1925 bekam Wsewolod Meyerhold, Regisseur und Begründer des „Theateroktober“, den Auftrag, mit Prokofjew über Auftragskompositionen für die Sowjetunion zu verhandeln. Eine erste Reise in die alte Heimat unternahm der Komponist 1927 – nicht ohne sich die Wiederausreise sicherheitshalber auf Tag und Stunde genau garantieren zu lassen. Die Tournee erwies sich als sehr erfolgreich, Prokofjew wurde mit großem Jubel empfangen. Zurück in Paris sorgte die Uraufführung seines für Diaghilew komponierten Balletts Pas d’acier („Der stählerne Schritt“) unter den Emigranten für Unruhe und trug dem Komponisten den Vorwurf ein, ein „Apostel des Bolschewismus“ zu sein, der die westliche Denkart ablehnen würde. Eine zweite Reise in die ­Sowjetunion 1929 gestaltete sich schwieriger. Wieder war Pas d’acier Stein des Anstoßes, nur kam diesmal der Protest aus der anderen Richtung: eine „Assoziation proletarischer Musiker“ brachte die am Bolschoi geplante Aufführung zu Fall. Trotzdem, die Weichen waren gestellt, und weitere Reisen folgten. 1933 nahm sich der Komponist eine Wohnung in Moskau, 1936 übersiedelte er mit Lina und den beiden Söhnen endgültig dorthin – zur Zeit brutalster stalinistischer „Säuberungen“, wenige Monate, nachdem ein in der Zeitschrift Prawda veröffentlichter Artikel mit dem unrühmlich bekannt gewordenen Titel Chaos statt Musik die Hetzjagd auf Dmitri Schostakowitsch eröffnet hatte. Es ist bis heute nicht möglich, diesen Schritt ­Prokofjews und seine Konsequenzen für seine Kompositionsweise schlüssig einzuordnen. Bei allen Äußerungen des Komponisten muss reflektiert werden, wem gegenüber er sie in welchem Kontext tätigte. Das gilt insbesondere auch für die Autobiografie, die er 1939/41 – also mitten im Zweiten Weltkrieg – verfasste. Jedenfalls wird klarer, warum ­Prokofjew sich nicht mehr um eine Uraufführung von Der feurige Engel bemühte: Es war offensichtlich, dass das Werk in krassem Widerspruch zur Kulturpolitik der ­Sowjetunion stand. Über die Einschätzung seines Werkes insgesamt scheiden sich die Geister bis heute. Für die einen unterwarf sich der Komponist mit seiner Rückkehr der Doktrin des sozialistischen Realismus. Gleichzeitig jedoch schrieb er erst in seiner sowjetischen Zeit zahlreiche seiner bis heute berühmtesten Kompositionen wie Peter und der Wolf oder die Ballettmusik zu Romeo und Julia und Aschenbrödel; es muss an dieser Stelle offenbleiben, ob man diesen Erfolg mit einer Vereinfachung der Mittel

erklären kann, die mit dem sozialistischen Realismus ­konform ging. Andere wiederum vertreten die Ansicht, Prokofjew – zu keiner Zeit ein „internationaler“ Komponist wie sein Landsmann und Rivale Igor Strawinsky – habe erst nach der Rückkehr künstlerisch wirklich zu sich selbst gefunden. Diese Überzeugung wiederum blendet die Tatsache aus, dass der Komponist vor allem am Ende seines Lebens massiv angefeindet wurde. Zwischen diesen beiden Extrempositionen gibt es zahlreiche differenziertere Urteile bis hin zu der These, dass es gar keinen „Bruch“ in Prokofjews Schaffen gegeben habe, sondern Kontinuitäten vorherrschen würden. Wann – ­ wenn überhaupt – hier eine faire Einschätzung gefunden werden kann, ist unabsehbar. Und so halten wir uns auch im Hinblick auf ­Prokofjews­sowjetische Zeit an die überlieferten Fakten, womit sich weitere Kreise schließen: Ende der 1930er Jahre begegnete Prokofjew der in Kiew geborenen Mira Mendelssohn und verliebte sich in die 24 Jahre jüngere Frau. 1941 zog er mit ihr zusammen, hielt aber die Ehe zu Lina noch aufrecht, um sie zu schützen. Als Prokofjew sich dann 1948 aus welchen Gründen auch immer doch zur Heirat mit Mira entschloss, wurde Lina als verdächtige Ausländerin umgehend verhaftet und unter dem Vorwurf der Spionage und des Landesverrates bis 1956 in ein Lager verbannt. Bereits im Februar 1948 wurde Prokofjew und anderen Komponisten in einem Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU „Formalismus“ und mangelnde Nähe zum Volk vorgeworfen. Fast alle Werke Prokofjews wurden verboten, er hatte kein Einkommen mehr. Sergej Prokofjew starb am 5. März 1953 – am selben Tag wie Stalin. Mit dem Wissen um die Ereignisse seiner letzten Lebensjahre wirkt die seine Oper Der feurige Engel beschließende Inquisitionsszene noch erschütternder. Als hätte er seinen weiteren Lebensweg in Ettal voraussehen können. Wenn man heute nach Ettal reist, sind die Spuren des Komponisten verschwindend gering. Man erreicht den Ort im Kreis Garmisch-Partenkirchen von München aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln in knapp zwei Stunden. Mit dem Zug geht es bis Oberau, von dort aus nimmt man den Bus. Das Dorf ist mit nur rund 800 Einwohnern kleiner als erwartet. Gegenüber der großartigen Klosteranlage aus dem 14. Jahrhundert finden sich aufgereiht an der Werdenfelser Straße einige Hotels, Gastwirtschaften und wenige Häuser gegenüber. Die junge Verkäuferin in der Bäckerei bejaht meine Frage, ob sie die Villa kennen würde, in der der Komponist Prokofjew seinerzeit gelebt hatte. Ich solle die Straße zurückgehen – es gäbe hier ja nur eine –, an dem Haus befände sich mittlerweile auch eine kleine

Prokofjews Rückzug nach Ettal verfolgte sicherlich das Ziel, Muße zum Komponieren zu finden. Darüber hinaus war das Leben im nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich zerrütteten Deutschland ungleich günstiger als in Frankreich.


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­ edenktafel, und sie zeigt mit den Händen den Umriss eiG ner Kachel. Obwohl die Auswahl nicht groß ist, brauche ich eine Weile, bis ich die „Villa Christophorus“ identifiziert habe, denn die einzige schwarz-weiß Fotografie, die mir zur Verfügung steht, ist, wie sich herausstellt, nicht von der Straße her, sondern vom Garten aus aufgenommen worden. Das ganze Grundstück des offensichtlich von mehreren Parteien bewohnten Hauses wirkt liebevoll gepflegt, die Gedenktafel finde ich nicht. Eine ältere Ettaler Dame, von einem Spaziergang zurückgekehrt, bestätigt mir nach kurzem Nachdenken, das Gesuchte gefunden zu haben, verbindet darüber hinaus mit dem Namen des Komponisten aber keine weiteren Assoziationen. Auch in den zahlreichen Souvenirläden gibt es keinen Hinweis auf Prokofjew. In der Buchhandlung des Klosters finden sich mehrere CDs von Jonas Kaufmann, Anna Netrebko und Elisabeth Schwarzkopf, dazu Biografien über Richard Wagner. Meine Frage, ob es irgendein Buch oder eine Aufnahme von Prokofjew im Angebot gäbe, beantwortet der zuständige Pater mit einem barschen „Nein“.

Sophie Becker arbeitet als Dramaturgin u.a. für die Festivals SPIELART und DANCE, für die Sächsische Staatsoper Dresden, die Bayreuther Festspiele, die Salzburger Osterfestspiele und De Nederlandse Opera Amsterdam.

Der feurige Engel Oper in fünf Akten und sieben Bildern Von Sergej Prokofjew Premiere am Sonntag, 29. November 2015, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 12. Dezember 2015 Weitere Termine im Spielplan ab S. 93

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Fotografie Martina Hemm


DRECKSARBEIT FÜR DAS INTERNET

Bild Travis K. Schwab, Reject, 2015

Nicht nur unser Giftmüll, ­sondern auch unser ­Seelenmüll wird in Entwicklungsländer ab­­trans­portiert: Facebook & Co. beschäftigen ­sogenannte ­Content-­Moderatoren rund um den Globus, die Sex- und ­Gewaltvideos sichten und je nach ­Unternehmens­ziel löschen.


Im Januar 2014 war ich im Auftrag des Wissenschaftsmagazins Wired auf den Philippinen und sprach dort mit einer jungen Frau, die ich hier Maria nennen will. Maria hatte einen ungewöhnlichen Job. Sie arbeitete für ein Subunternehmen in Manila und leitete dort ein Team von Mitarbeitern, die täglich tausende von Bildern und Videos begutachteten, die in den Cloudspeicher­ ­eines großen amerikanischen Technologieunternehmens hochgeladen wurden. Die Aufgabe ihres Teams bestand darin, Inhalte zu überprüfen und zu löschen, sollten diese die Nutzungsbedingungen des Unternehmens verletzen. Nutzungsbedingungen legen fest, was Nutzer auf den verschiedenen Onlinediensten posten dürfen. Diese Bedingungen sind so unterschiedlich wie die Dienste selbst. Die meisten sozialen Netzwerke verbieten beispielsweise Nacktheit und alle Formen von systematischer Belästigung wie Anfeindungen, erniedrigende Kommentare und Drohungen. Andere wiederum lassen extremere Inhalte zu – die Nutzungsbedingungen einer Pornoseite werden lockerer sein als die eines populären Nachrichtenportals. Es gibt auch Inhalte, die quasi von niemandem ­zugelassen werden, wie zum Beispiel Kinderpornografie oder Material mit falschen Urheberrechtsangaben. Maria und ihr Team sind Teil einer Armee von Content-Moderatoren, die ununterbrochen damit beschäftigt sind, das Netz von Inhalten zu befreien, vor denen die Unternehmen ihre Nutzer schützen wollen. Fast jedes Unternehmen, das im Internet von Nutzern generierte Inhalte bereitstellt – von Webseiten von Lokalzeitungen bis hin zu den größten sozialen Netzwerken –, beschäftigt Content-Moderatoren wie Maria. Ein Experte, mit dem ich für meinen Wired-Artikel sprach, schätzte, dass es mehr als 100.000 solcher Moderatoren weltweit gibt – Tendenz steigend. Facebook beispielsweise bezahlt Menschen dafür, Fotos und Posts zu überprüfen und eventuell zu kennzeichnen. Bei YouTube macht ein Team das Gleiche mit Videos. Webseiten mit Reiseempfehlungen beschäftigen Moderatoren, um die Tipps auf ihren Seiten zu durchforsten und zum Beispiel sicherzustellen, dass sie von realen Personen eingestellt wurden und nicht von einem anderen Unternehmen, das dem Konkurrenten schaden will. Oft sichten Content-Moderatoren nur Inhalte, die von Nutzern gemeldet wurden. Diesen Prozess nennt man „reactive moderation“, also reagierende oder rückwirkende Moderation. Manchmal wird auch der gesamte gepostete Inhalt einer Webseite oder eines sozialen Netzwerks durchsucht. Diesen ­arbeitsintensiven Vorgang bezeichnet man als „active moderation“. Aber auf welche Weise auch immer: Die Arbeit, die die Content-Moderatoren erledigen, um die dunkle Seite der Menschheit zu kontrollieren, ist mittlerweile genauso entscheidend für den kommerziellen Erfolg der sozialen Medien wie die der Softwareentwickler dieser Plattformen. Ohne diese Moderatoren wäre das Internet ein wenig profitables, schmutziges Brachland voller Betrüger und Verbrecher. Die Content-Moderatoren halten den Missbrauch in Schach und melden kriminelle Inhalte den zuständigen Behörden. Sie stellen sicher, dass das Internet mehr einer digitalen Flaniermeile gleicht als einer finsteren virtuellen Seitengasse.

Text Adrian Chen

Die Arbeit der Content-­­ Mo­deratoren ist mittlerweile genauso ­entscheidend für den kommerziellen Erfolg von sozialen Medien wie die der Software­entwickler. Ohne sie wäre das Internet ein wenig ­profit­ables, schmutziges Brachland.

Der globale Charakter des Internets hat auch zur Folge, dass Content-Moderatoren überall auf der Welt tätig sind. Für meine Reportage sprach ich unter anderem mit einem Mann in Marokko, der von zu Hause Fotos für Facebook überpüfte. Ich sprach mit einem jungen College-Absolventen im Silicon Valley, dessen Aufgabe es war, Videos für YouTube zu sichten. Ich habe von Leuten in Kanada, Indien, Guatemala und Mexiko gehört, die diese Arbeit machen. Aber weil Content-Moderation sehr arbeitsaufwendig ist und gleichzeitig wenig soziales Prestige hat, wird sie oft in Entwicklungsländer ausgelagert. Dort lässt sich eine große Zahl von gering qualifizierten Mitarbeitern für wenig Geld engagieren. Die Philippinen sind mittlerweile für viele ­amerikanische Start-Up-Unternehmen einer der beliebtesten Standorte für dieses Geschäft. Als frühere amerikanische Kolonie haben die Philippinen den doppelten Vorteil von geringen Lohnkosten und einer kulturellen Nähe zu den USA. Philippiner können deswegen gut beurteilen, wovon sich das amerikanische Publikum belästigt fühlt. Dies hat jedoch die paradoxe Situation geschaffen, dass junge Philippiner, die in einer sehr konservativen, von katholischen Moralvorstellungen geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind, hochgefährdenden Inhalten aus­gesetzt sind, die nicht einmal der abenteuerlustigste amerikanische Internetnutzer je zu sehen bekommt. Dieser Abfluss des globalen Social-­ Media-Mülls in die Entwicklungsländer ähnelt in gewisser Weise der Endlagerung des weltweiten Elektromülls auf den großen Deponien in Nigeria. Und das ist nur eine der Gemeinsamkeiten zwischen der neuen und der alten Informationsindustrie. Ebenso wie die Beschäftigten, die in chinesischen Fabriken unsere Verbraucherelektronik herstellen, hochriskanten Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, müssen auch Con­tentModeratoren mit hohen Risiken umgehen. Hier sind sie allerdings psychischer statt physischer Art. Die Mitarbeiter in Marias Moderatoren-Team auf den Philippinen waren regelmäßig den schlimmsten nur vorstellbaren Inhalten ausgesetzt: brutalen und gewalttätigen Snuff-Filmen, sexuellem Missbrauch von Kindern und allen möglichen Spielarten von Pornografie. Maria

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­ rzählte mir, dass sie nach besonders verstörenden Bildern oder e Videos erst einmal einen Spaziergang macht oder sich einen Kaffee bei Starbucks um die Ecke holt, um sich wieder zu sammeln. Doch für andere sind die Auswirkungen schwerer zu verkraften. Ich sprach mit einer philippinischen Psychologin, die mit Content-Moderatoren arbeitet. Sie erzählte mir von Müttern, die ihre Kinder keinem Babysitter mehr anvertrauen, nachdem sie schreckliche Missbrauchs-Videos ansehen mussten. Sie ha-

ein pornografisches Bild oder ein Enthauptungsvideo ausfindig zu machen. Doch das stimmt nicht! In Wirklichkeit sind Computer nur zu den allereinfachsten Moderationen fähig. Keiner von den Leuten aus der Branche, mit denen ich sprach, glaubt, dass es in der näheren Zukunft möglich sein wird, diesen Prozess zu automatisieren. Die Bewertungen der Moderatoren sind so nuanciert, dass nur ein menschliches Wesen sie treffen kann. Nach seinen 2012 durchgesickerten geheimen Richtlinien verbietet beispielsweise Facebook

Es nicht überraschend, dass Firmen die abstoßenden Seiten ihrer Dienstleistungen geheimhalten wollen. Viel überraschender ist es, wie bereitwillig die Öffentlichkeit und die Medien dieser Illusion folgen.

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die „Darstellung von sexueller Gewalt oder Vergewaltigung in jeder Form“. Um aber bestimmen zu können, ob ein Bild sexuelle Gewalt darstellt oder lediglich eine freundschaftliche Balgerei, erfordert es bereits mehr kulturelles Wissen und Urteilsvermögen, als irgendein Algorithmus je aufbringen könnte. Und auch die Unterscheidung, ob jemand widerwärtige Inhalte teilt, um sie zu befürworten oder zu verurteilen, ist für einen Computer kaum zu treffen. Deswegen werden es letztendlich immer Menschen sein, die in das obszöne, finstere Herz der Menschheit blicken müssen, selbst wenn die Technologie immer leistungsfähiger wird.

Aus dem Amerikanischen von Sabine Voß Mehr über den Autor auf S. 8

Foto Adrian Chen

ben Angst, ihren Kindern könnte das Gleiche passieren. Andere berichteten von Problemen mit ihrer Libido, nachdem sie tagelang pornografische Bilder und Filme sichten mussten. Der ehemalige YouTube-Moderator, mit dem ich sprach, hielt kein Jahr durch. Er war zermürbt von Tierquäler-Videos und grausamen Kampffilmen aus dem Nahen Osten. Weil die Branche so jung ist, gibt es nur wenige Studien über die möglichen psychologischen Auswirkungen des Ansehens extremer Gewalt und Pornografie. Doch weil immer mehr Menschen in dieser Branche arbeiten, muss man die Risiken besser einschätzen lernen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten, in denen das Wachstum des kommerziellen Internets auf eine immer größere Zahl von Content-Moderatoren angewiesen ist, ist es sehr erstaunlich, dass dieser Arbeitszweig so wenig bekannt ist. Das ist gerade so, als wüssten Großstädter in unserer realen Welt nicht, dass Müllmänner ihren Abfall beseitigen. Die Unternehmen halten einfach die Illusion aufrecht, dass die Menschen, die sich mit dem Begutachten von Bildern und anderen Inhalten beschäftigen müssen, nicht existieren. Und es ist ja auch nicht überraschend, dass Firmen die abstoßenden Seiten ihrer Dienstleistungen geheimhalten wollen. Viel überraschender ist es, wie ­bereitwillig die Öffentlichkeit und die Medien dieser Illusion ­folgen. Das spiegelt den gesellschaftlich weit verbreiteten Technikoptimismus und den Glauben an die Macht der Technologie wider, positive gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu können. Wir wollen glauben, dass die aufregenden neuen Möglichkeiten auf unseren Bildschirmen allein das Produkt irgendeines brillanten und hochbezahlten Entwicklers aus dem Silicon Valley sind und uns unaufhaltsam der Utopie von Vernetzung und Kreativität näher bringen. Es ist dieser Optimismus, der die meisten Menschen glauben lässt, unerträgliche Bilder in den sozialen Medien würden von einem hochentwickelten automatischen System entfernt. Wenn Computer es ermöglichen, unsere innersten Gedanken in Sekundenschnelle Millionen von Menschen gleichzeitig mitzuteilen, dann wird auch die relativ einfache Aufgabe programmierbar sein,

Die verheerenden Folgen für die Arbeiter sind nicht sichtbar: Content-Moderatoren in einem Büro auf den Philippinen.


Foto Gerhardt Kellermann


Die Vermesser Für das Gelingen einer Opernaufführung müssen viele, sehr viele Dinge vermessen werden. In der Spielzeit 2015/16 schildern Mitarbeiter der Oper in MAX JOSEPH ihr Handwerk.

Foto Wilfried Hösl

Text Christiane Lutz

Folge 1: Hutmacherin Margarethe Luegmair-Ertl Die Währung der Zukunft sind unsere Daten. Unternehmen benutzen und entwickeln komplizierte Algorithmen, mit deren Hilfe sie tief in die Köpfe und Hirne ihrer Kunden blicken wollen, um Entscheidungen und Kaufvorgänge vorauszusehen. Die Vermessung des Kopfes samt Hirn indes ist ein Vorgang, der an der Bayerischen Staatsoper tagtäglich stattfindet. In die Köpfe schauen kann auch Margarethe Luegmaier-Ertl nicht, wohl aber mit einfachsten Mitteln die wichtigsten Größen erfahren. Unzählige Köpfe hat die Hutmacherin in ihren 43 Berufsjahren vermessen. Dickschädel. Kinderköpfe. Runde oder ovale Köpfe. Hoch erhobene Profiköpfe. Zur Seite geneigte Debütantenköpfe. Zum Vermessen legt sie zunächst die Hand auf. Die Finger am Hinterkopf, die Handfläche am Scheitel, so spürt sie sofort, womit sie es zu tun hat. Fast auf den Zentimeter genau kann sie den Umfang erfühlen. Um das genaue Maß zu ermitteln, braucht sie keinen Algorithmus, ihr genügt einfaches Maßband, das sie um die Köpfe schlingt. Dabei kommt meist ein Wert zwischen 58 und 63 Zentimetern raus. Mehr als ein halber Meter Kopf. „Die Köpfe der Leute werden aber immer größer“ sagt sie, „und immer runder.“ In den Regalen von Luegmair-Ertls Werkstatt stehen stumm ihre Holzköpfe, denen sie die Prototypen ihrer Hüte aufsetzt. Sie hat alles da, vom Kinderkopf zum Stiernackenkopf, zwischen 50 und 64 Zentimeter Umfang. Einige Holzköpfe sind dunkel verfärbt und glänzen abgegriffen, 80 Jahre alt sind einige. Luegmair-Ertl arbeitet mit Filz, Leder, falschem Leder, Kunststoffen, je nachdem, was der Kostümbildner sich wünscht. Zur Zeit schlingt sie Dornenkronen aus Draht und Plastik. 105 Stück sind bestellt für die Oper Der feurige Engel. Solche Massenproduktion findet sie natürlich ermüdend. „Die Kostümbildner haben viele Ideen, aber wir müssen die Kunst der Realität anpassen“, sagt sie. Eine Kopfbe-

Margarethe Luegmair-Ertl vermisst und behütet ­Köpfe seit 43 Jahren.

deckung könne zum Beispiel das Hören oder das Singen auf der Bühne beeinträchtigen. „Das geht natürlich nicht, auch wenn sich der Kostümbildner vielleicht eine Maske wünscht, aus der nur die Augen rausschauen.“ An ganz verrückten Produktionen arbeite sie allerdings nur noch selten. „Die Regisseure sind braver geworden – wenn man sich die Hüte anschaut. David Alden und seine Kostümbildnerin Buki Shiff machen hingegen immer wilde Sachen. Oder die spanische Theatergruppe La Fura dels Baus, die wollten abgefahrene Kopfbedeckungen aus Stahldraht, geschmückt mit Leuchtkörpern und Federn.“ Für Produktionen immerhin, die heute noch zu sehen sind. Für solche Wünsche lötet und schweißt die Hutmacherin auch mal in der Rüstwerkstatt. Kommt ein Sänger dann zur Anprobe, ist das der heikelste Moment ihrer Arbeit. Dann zeigt sich, ob ein Modell sitzt oder nicht. Ob die Vision des Kostümbildners der Realität und den Bedürfnissen des Sängers standhalten kann. Mit dem Kopfweitenmesser, einem verstellbaren Holzring, der in einen Hut hineingeklemmt wird, überprüft sie, wie genau sie gemessen hat. Ein antiquiert wirkender Dampfapparat kann fast alle Materialien nachträglich formen, sogar weiten, wenn ein Hut zu klein ist. Die Hutmacherin weiß längst, welcher Sänger welche Hut-Vorlieben hat und wer am liebsten überhaupt keine Kopfbedeckung aufsetzen möchte. Das Gesicht und der Kopf sind eine intime Körperregion. Bisher hat sie mit Sängern und Kostümbildnern immer eine Lösung gefunden. Manchmal träumt die Hutmacherin davon, eine Revue auszustatten, mit vielen Federn und Pomp. Es fasziniert sie, wie anders ein Mensch aussieht, wenn er einen Hut trägt. Wie er damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Wie er den Kopf hält, wie er plötzlich ein anderer ist. Diesen Zauber kann allerdings niemand vermessen.

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