Ausgabe Nr. 6
BALLETT EXTRA 6 Wer ist Paquita, Herr Ratmansky? – Markowskaja tanzt mit dem Herzen – Artifact – Denkende Körper – Das Jürgen Rose Buch Aktuelles Staatsballett und Umweltministerium ausgezeichnet
Konstanze Vernon Preis an Ivy Amista
Neues vom Staatsballett II
Ab sofort dürfen sich Staatsballett
Konstanze Vernon verfügte in ih-
Die Junior Company setzt ihre
und Umweltministerium mit dem
rem Testament, dass 10.000,- Euro
Tourneen in Deutschland und
Titel „UN-Dekade Auszeichnung
als Konstanze Vernon Preis aus
Europa fort. In der Spielzeit geht
Biologische Vielfalt“ für ihr
ihrem Privatvermögen alle 2 Jah-
es nach Coesfeld, Friedrichshafen,
Projekt Ballett & Wildnis schmü-
re an eine herausragende Tänze-
Stuttgart, Erlangen, München,
cken. Die Vereinten Nationen
rin oder einen Tänzer vergeben
Regensburg. Aber damit nicht
verliehen diesen Preis 2014 an die
werden sollen. Im November ver-
genug, Winterthur in der Schweiz,
seit 10 Jahren erfolgreiche Koope-
lieh eine Fachjury den Preis, auch
Udine/Italien, Cannes/Frankreich,
ration. Mit zahlreichen Ballett-
als Ehrung der großen Förderin
Tel Aviv und Beer Sheva in I srael,
aufführungen in der Wildnis auf
des Tanzes in München, an eine
sowie Griechenland folgen. Die
Naturbühnen, Ausstellungen,
ihrer ehemaligen Schülerinnen,
sechzehnköpfige Truppe aus jun-
Publikationen und einem Film trug das Staatsballett dazu
Ivy Amista, Erste Solistin beim Staatsballett, die zuletzt,
gen internationalen Tänzern – ein Gemeinschaftsprojekt
bei, das Bewusstsein für den Erhalt von Wildnis in
so die Presse, „eine großartige künstlerische Entwicklung“
von Heinz-Bosl-Stiftung, Ballett-Akademie der Hochschule
Europa und der Welt zu schärfen. „Die Symbiose von
machte und jetzt nach und nach die zentralen Partien des
für Musik und Theater und Staatsballett – sorgten auch
Natur und Kunst sorgt für Lust an der Natur und sensibi-
Repertoires erobert, zuletzt Titania in Ein Sommernachts-
dafür, dass Das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer
lisiert für deren Erhalt“, so die Bayerische Umweltminis-
traum und im Moment Paquita. Mit gerade einmal 17 Jah-
in Stuttgart im Theaterhaus bei insgesamt 1600 Plätzen
terin Ulrike Scharf in ihrer Ansprache zur Preisverleihung.
ren hatte Ivy Amista als Goldmedaillengewinnerin des
innerhalb von drei Stunden ausverkauft war. Die Produk-
Der Dokumentarfilm zu Ballett und Wildnis feiert am
Internationalen Wettbewerbs in Brasilia ein Stipendium
tion im Rahmen von Tanzfonds Erbe der Bundeskultur-
18.12.2014 im Kino Kelheim Premiere. Ein Kurzfilm ist auf
für die Ballett-Akademie/Heinz-Bosl-Stiftung bekommen.
stiftung hatte im Juni 2014 Premiere und ist z. Zt. auch
www.ballettundwildnis.bayern.de zu sehen.
auf Tournee.
Ballett Extra Nr. 6
Seite 1
Paquita (Daria Sukhorukova) steigt hinab ins Tal der Stiere, eine dramatische Felsenlandschaft von Designer J茅r么me Kaplan.
Paquita – von Paris über St. Petersburg nach München
I
Um diese Ballette mit ihren eher kom-
der Titelheldin und des jungen, schmucken
Eroberern hegt) beim französischen Publi-
plizierten Handlungsabläufen zu inszenieren,
französischen Offiziers Lucien d’Hervilly.
kum zeitbedingt auf großes Verständnis traf.
brauchte man Darsteller, die folgende drei
Die Handlung bietet viele Rätsel und uner-
Bewegungsformen beherrschten: Pantomi-
wartete Wendungen, Bösewichter wie Inigo
Natürlich erfordern der spanische Schau-
me, Nationaltänze und klassisches Ballett.
und den Gouverneur Don Lopez de Mendo-
platz und die Auftritte der Zigeuner eine
Zu dieser Zeit nämlich war ein Ballett nicht
za, faule Tricks, ruchlose Intrigen, eine weit
Vielzahl an spanischen Folkloretänzen im
alleine auf den Tanz beschränkt, sondern
zurückliegende Entführung sowie das damit
Stile der Zigeuner und gerade dieser folk-
zusammenhängende Moment der Wiederer-
loristische Teil des Balletts wurde zu einer
kennung und natürlich eine lebensfrohe,
seiner populärsten Sequenzen. Die Kritiker
listige und hübsche Heldin: Paquita.
waren besonders vom pas des éventails (Fä-
enthielt oft wichtige Rollen, die überhaupt nicht getanzt wurden, aber dennoch von entscheidender Bedeutung für die Handlung
m 19. Jahrhundert war die Pariser Oper
waren und das Publikum durch ihre mimi-
dafür berühmt, dass sie Jahr für Jahr wun-
sche Darstellungskunst fesseln konnten.
dervolle und publikumswirksame Ballette mit spannender Handlung und prächtigen
Auch Nationaltänze (wenngleich in einer
Inszenierungen schuf, mit den besten Tän-
dem Ballett angepassten Form) waren we-
zern Europas und den kostspieligsten und
sentliche Bestandteile all dieser französi-
aufwändigsten Bühnenbildern und Kostü-
schen Ballette. Sie trugen dazu bei, das Lo-
men, die man sich vorstellen konnte. In der
kalkolorit eines Balletts zu unterstreichen.
einen oder anderen Form haben einige die-
So gab es beispielsweise deutsche Walzer-
ser Ballette bis ins Repertoire des 21. Jahr-
klänge in Giselle oder schottische Reels für
hunderts überdauert: La Sylphide, Giselle,
Effie in La Sylphide. Das Publikum war
Coppélia, Le Corsaire – und Paquita, ein
höchst begeistert. Balletttänzer, von den
Handlungsballett voller Abenteuer und Ko-
größten Stars zu den jüngsten Mitgliedern
mik mit spanischem Flair. Choreographiert
des Corps de ballet, erlernten im Zuge ihrer
wurde es von Joseph Mazilier nach einem
Ausbildung sämtliche Arten von Folklore-
Libretto von Paul Foucher und zur Musik
tänzen und ihre Polkas, Mazurken, Cachuchas
von Edouard Deldevez, ein Ballett, das das
oder Tarantellas konnten die Zuschauer zu
Publikum zuerst in Paris begeisterte und
Beifallsstürmen hinreißen.
dann in Russland, wo es von Marius Petipa in neuer Form auf die Bühne gebracht wurde.
Das Pariser Publikum wollte sogar selbst diese Tänze beherrschen; so brach
Was machte diese französischen Ballet-
1834 eine wahre Folklore-Tanzwut in Paris
te des 19. Jahrhunderts so erfolgreich und
aus, nur kurz nach dem sensationellen Gast-
populär? Zunächst einmal waren sie Hand-
spiel zweier spanischer Tänzer auf den
lungsballette – und mitreißende Geschichten
Opernbällen – Mariano Camprubi und Do-
auf der Bühne waren eine sichere Erfolgs-
lores Serral – die die Stadt im Sturm erober-
formel in Paris, wo man nach Sensationen
ten. Bald waren es nicht mehr nur spanische
gierte, Geschichten als Fortsetzungsserien
Tänze, die die Pariser Mittelschicht in neu-
in Zeitungen erschienen, Romane beliebt
en, kommerzialisierten Tanzschulen, die
und Theater und Oper regelmäßig ausver-
überall als Reaktion auf die plötzlich gestie-
kauft waren und sogar Ballettlibretti in
gene Nachfrage entstanden, erlernen wollte,
Buchhandlungen zu kaufen waren, sodass
sondern auch Tänze aus Polen, Schottland,
man die Geschichte, die ein Ballett erzählte,
Neapel und noch weiter entfernten Ländern.
Szene für Szene nachlesen konnte inklusive der Dialoge und Monologe, die von den Per-
Paquita, 1846 an der Pariser Oper ent-
sonen mimisch dargestellt und in den Li-
standen, ist ein Paradebeispiel für das Bal-
bretti wortwörtlich ausgeführt wurden.
lettrepertoire dieser Zeit. Es erzählt auf unterhaltsame Weise die Liebesgeschichte
chertanz), bei dem die Tänzerinnen mit groPaquita spielt im „Tal der Stiere“ in
ßen Fächern auftreten, und vom pas des
der Nähe von Saragossa, einem Ort, den man
manteaux (Tanz der Mäntel) angetan, ein
zu Zeiten des Napoleonischen Empire (1804–
spanischer Tanz für die Tänzerinnen des
1814) schon als ziemlich exotisch erachtet
Corps de ballet, wobei die Hälfte von ihnen
hätte. Berücksichtigt man die bereits seit
Männerkostüme trägt und rote Umhänge
langer Zeit spannungsreiche Beziehung zwi-
schwingt als sei sie bereit zum Stierkampf.
schen Frankreich und seinem iberischen Nachbarn, wird verständlich, dass die ge-
Die aufwändig inszenierte Ballszene des
gensätzliche Charakterisierung der franzö-
letzten Aktes (von der man munkelte, sie
sischen und spanischen Personen des Stücks
habe 30.000 Francs verschlungen) war eben-
(und des verbitterten Gouverneurs, der einen
falls sehr nach dem Geschmack des Pariser
tiefen Hass gegenüber seinen französischen
Publikums – was angesichts seiner allgemei-
Ballett Extra Nr. 6
Seite 3
nen Vorliebe für Tanz und Bälle nicht be-
andere bedeutende Hauptstädte und wurde
choreographierten Formen – noch lange,
seiner abendfüllenden Fassung aus dem Re-
sonders verwunderlich ist. Große Ballszenen
so schnell in London und St. Petersburg
nachdem die komplette Version von Paqui-
pertoire des Mariinsky-Theaters in St. Pe-
erfreuten sich bereits seit langem großer
aufgenommen, wo es von Marius Petipa 1847
ta von den Bühnen verschwunden war.
tersburg gestrichen wurde – die Lebendig-
Beliebtheit an der Pariser Oper und waren
auf die Bühne gebracht wurde (als erstes
Bestandteil vieler Ballette und Opern, wie
der zahlreichen Ballette, die er in Russland
Zum Glück wurde die vollständige Cho-
len Tänze, die Petipas Paquita so erfolgreich
z.B. in Gustave III. oder der Maskenball,
im Laufe seiner legendären Karriere noch
reographie von Petipas so beliebter russi-
gemacht hatten, wieder zum Leben erweckt.
La Jolie Fille de Gand oder Le Diable à
inszenieren würde). 1881, vierunddreißig
scher Version von Paquita sorgfältig notiert
Quatre. Solche Ballszenen bewogen einzelne
Jahre später, kam Petipa – der inzwischen
und das Manuskript, das diese unbezahlba-
Zuschauer sogar dazu, auf die Bühne zu
in den Rang des Ersten Ballettmeisters an
ren Informationen enthält, blieb auf wun-
klettern und sich in die Tänzer einzureihen,
den berühmten kaiserlichen Theatern in St.
dersame Weise als Ganzes erhalten. Allein
eine Gewohnheit, die von den Direktoren
Petersburg aufgestiegen war – wiederum auf
die Geschichte seines Überlebens durch die
des Hauses selbstverständlich in höchstem
Paquita zurück und schuf eine Neuinszenie-
Zeit der Russischen Revolution hindurch
Maße missbilligt wurde. Die Ballszene in
rung, besser: eine gründliche Neufassung
bis heute bietet bereits genug Potenzial für
Paquita wurde besonders wegen ihres De-
des Balletts, die höchst erfolgreich war.
ein Abenteuer-Handlungsballett. Die aktu-
kors im Stile des Empire gelobt, über dessen
keit, die Charakterzeichnungen, die reizvol-
Text Marian Smith Fotos Wilfried Hösl Seite 3 Paquita und Lucien zum guten klassischen Ende vereint Seite 4 Ivan Liška und Alexei Ratmansky
elle Produktion des Bayerischen Staatsbal-
anspielungsreiche Details der Kritiker des
Obwohl wir nicht wissen, wieviel Petipa
letts von Paquita zeichnet sich dadurch aus,
Journal des Débats mit größter Zufrieden-
von der französischen Originalchoreographie
dass es die einzige ist, die sich, dank der
Die Autorin Marian Smith promovierte 1988
heit bemerkte: „Dieses Empire-Ballett hat
beibehielt, wissen wir sicher, dass er 1881
Kenntnisse des Tanzhistorikers Doug Fulling-
an der Yale-Universität in Musikwissenschaft
uns die kaiserliche Welt in all ihrem strah-
einige neue Tänze hinzufügte. Dazu gehören
ton und des Choreographen Alexei Ratmans-
und ist seither Professorin für Musik an der
lenden Glanz vor Augen geführt… In den
einerseits ein Pas de trois im ersten Akt
ky, in vollem Umfang auf dieses Manuskript
Universität von Oregon mit Schwerpunkt
schönsten Salons der Oper sehen wir die
sowie der Grand pas classique und eine Kin-
bezieht.
auf Balletten des 19. Jahrhunderts. Sie ist
herrlichsten Uniformen der Armee mit ihren
dermazurka während der Ballszene. Er ließ
schimmernden Goldepauletten: Dragoner
sich hierfür von seinem Hauskomponisten
Zusammen mit einer Probenpartitur voller
the age of Giselle“ (2000) und Herausgeberin
und Husar, Fähnrich und Hauptmann,
Ludwig Minkus neue Musik komponieren.
handschriftlicher Anmerkungen für die Ori-
von „La Sylphide: Paris 1832 and beyond“
Gardenmajor und Leutnant der chasseurs
Diese Änderungen entsprachen dem russi-
ginalproduktion der Pariser Oper von 1846,
(2012).
(Kampfschützen).“
schen Geschmack des späten 19. Jahrhun-
ermöglichte dieses russische Manuskript,
Autorin des Buches „Ballet and Opera in
derts für ausgedehnte und farbenprächtige
das die St. Petersburger Version von 1881
Wie so häufig bei Balletten, die in die-
Tanzfolgen im letzten Akt eines Balletts.
verzeichnet, Ratmansky eine Produktion zu
sem goldenen Zeitalter kreiert wurden,
Und gerade diese neu eingefügten Tanzsze-
inszenieren, die – zum ersten Mal seit dieses
bahnte sich Paquita ihren Weg bald auch in
nen überlebten – wenn auch in diversen, neu
bezaubernde Tanzmelodram im Jahr 1917 in
Ballett Extra Nr. 6
Seite 4
Porträt
Drosselmeier
Katherina Markowskaja
Tutu-Terror
Mit dem Herzen tanzen
der Sächsischen Staatsoper. Darüber
dass es keine Bewegung gibt, die nicht
Das Tutu. Es fungiert als Abstandsmesser,
ist sie noch heute glücklich. „In Dres-
etwas ausdrückt. In unserer Arbeit gibt
ist Rasierklinge und Daumenverdreher, aber
den habe ich Odette/Odile und alle
es technische Herausforderungen, die
vor allem setzt es die Beine einer Ballerina
führenden Rollen wie Giselle, Aurora
wir bestehen müssen, und das, was wir
in Szene. Und da die Ballerina immer an
oder Kitri getanzt. In Crankos Zäh-
darüber legen: die Seele. Ich versuche
erster Stelle steht, wollen wir uns hier mit
mung war es erst Bianca, dann Katha-
eben, nie ohne Seele zu tanzen. Manch-
ihrem Tutu beschäftigen.
rina, in deren Charakteren ich mich
mal klappt die Technik nicht. Wenn ich
Eine Ballerina ist wie der Ständer eines
beweisen durfte, und in 60 Vorstellun-
zum Beispiel immer wieder aus der
Globusses. Sie steht für die Erdachse und
gen tanzte ich Prinzessin Natalia in
Balance falle, rät mir ein Ballettmeis-
ihre Bewegungen zeichnen die Welt, die
Neumeiers Illusionen – wie Schwanen-
ter vielleicht, die Schultern zu senken
sich um diese dreht. Wenn sie von ihrem
see. Niemand hat je meine Größe er-
oder eine Hüfte etwas zurückzunehmen,
Partner geführt wird, ist für ihn – zumin-
wähnt, denn unter Vladimir Derevian-
und es gelingt trotzdem nicht. Wenn
dest sollte es so sein – nichts wichtiger als
ko ging es – Gott sei Dank! – nach der
mir aber jemand sagt, mein Empfinden
ihr Gleichgewicht. Er muss sie, wenn nötig,
Persönlichkeit, der Seele und dem
bei dieser Bewegung sei Trauer oder
in der Balance halten oder ihr dabei helfen,
Können, nicht nach der Figurschablo-
ich solle versuchen mich wie Luft zu
die Balance zu verlassen, während sie sich
ne. In Dresden war ich nicht nur ein
fühlen, klappt plötzlich auch die Tech-
von einer Position in die nächste begibt.
Mädchen, weil ich der Typ „Mädchen“
nik.“ Katherina Markowskaja spürt
Das Tutu jedoch verfolgt ein ganz anderes
bin, sondern auch Frau, auch Mutter.
also, wenn sie „an der Interpretation
Ziel. Es will den Eindruck erwecken, der
Wenn man arbeitet, kann man alles
arbeitet“, den allen Bewegungen im-
Äquator sei eine waagrechte Linie und so-
erreichen. Das heißt: Wenn ich als Kind-
manenten Gefühlswert auf und füllt
mit die Illusion erzeugen, dass sich das Bein
Typ weiß, wie eine ältere Dame sein
damit ihre Bewegungen. Dieser rezip-
einer Tänzerin auf geheimnisvolle Weise in
Katherina Markowskaja sitzt entspannt
muss, und es schaffe, das auch umzu-
roke Vorgang ist für sie unabhängig
himmlische Sphären hebt, während sich
im Sessel, ihre schwarzen Augen blit-
setzen, bin ich eine ältere Dame.“ Nach
davon, ob es um eine narrative oder
ihre Hüfte überhaupt nicht bewegt. Dieser
zen, sie schaut einen geradeheraus an,
ihrer zweiten Spielzeit ernannte Dere-
abstrakte Choreographie geht. „Da
Effekt gefällt dem Publikum sehr und hilft
aufmerksam und neugierig, wie man
vianko sie zur Ersten Solistin. Sie blieb
sehe ich keinen Unterschied, weil ich
der Ballerina – aber für den Partner ist er
sie auch auf der Bühne erlebt. Die
weitere zehn Jahre, bis sie zu neuen
eine Bewegung und das Leben in ihr
eine Sprengfalle.
Grundlagen ihrer Kunst lernte sie in
Ufern aufbrach.
nie trennen kann. Dadurch, dass ich
Lassen Sie mich das erklären. Das Tutu ist
Kiew nach der Waganova-Methode und
Ab 2010 tanzte sie zunächst frei-
jeder Bewegung Leben einhauche, eig-
wie die horizontale Linie, entlang derer
begann früh, in den Vorstellungen des
beruflich. „Ich dachte immer, dass ich
ne ich sie mir so an, dass ich sie auch
man versucht seine Partnerin senkrecht zu
Ukrainischen Nationalballetts mitzu-
eines Tages nach München zurückkom-
tanzen kann. Das Leben einer Bewe-
halten. Obwohl man als Partner die meisten
tanzen. „Als ich 16 war, gaben wir ein
men werde, keine Frage. Inzwischen
gung besteht zwar auch darin, was sie
Korrekturen macht, in dem man mit den
Gastspiel in München. Das Stück zeig-
waren meine Eltern der Einladung ei-
darstellt oder wie sie der Musik folgt,
Händen spürt, wie die Ballerina ihr Gewicht
te die Hauptperson in Erinnerung an
ner Ballettschule gefolgt und hierher
vor allem aber in ihr selbst. Hat sie
verlagert, ist es nur natürlich, dass man
ihre Kindheit, und das war ich. Deshalb
gezogen. Also fühlte ich mich hier zu
eine langsame oder schnelle Dynamik,
Dinge tut, die auf visueller Wahrnehmung
habe ich manchmal gleichzeitig mit der
Hause und reiste herum, trainierte aber
wird sie mit Freude ausgeführt, mit
beruhen. Nehmen wir an, die Ballerina
Ballerina die gleichen Bewegungen ge-
schon beim Bayerischen Staatsballett.
Trauer oder Leidenschaft? Für mich
macht gerade ein schönes, hohes penchée
tanzt.“ Das sah damals Konstanze Ver-
Das war für mich perfekt.“ Ivan Liška
gibt es keine Bewegung, die leer ist.“
on pointe und ihr Partner sieht, wie sich
non und bot der talentierten Katherina
konnte ihre Qualität erleben und bat
Zur Spielzeit 2012/13 kam ihr Sohn
ihr Tutu mit der Schwerkraft mitbewegt
ein Stipendium der Heinz-Bosl-Stiftung
sie im Februar 2011, als Prinzessin Au-
Christopher in die Schule, und sie nahm
und nach oben stülpt, dann wird er sie viel-
an. Katherinas Eltern, selbst beide
rora in seiner Dornröschen-Inszenierung
den Vertrag als Solistin gern an, den
leicht instinktiv zurücknehmen und damit
Tänzer, rieten ihr, die Einladung an die
einzuspringen. In der nächsten Spiel-
Ivan Liška ihr anbot. „Ich bin zwar ge-
die vorhandene Linie brechen. In anderen
Ballett-Akademie München anzuneh-
zeit machte er sie zur Erstbesetzung
wohnt, Erste Solistin zu sein, aber
Momenten wird das Tutu zum undurch-
men. „In Kiew hätte ich nämlich in die
der Marie bei der Wiederaufnahme von
Qualität ist mir wichtiger als Status.
dringbaren Schild, durch den man den Bo-
Fußstapfen meiner Mutter treten sollen
John Neumeiers Der Nussknacker. Au-
Das Repertoire in München ist sehr
den nicht sehen kann. Wie oft schon haben
statt meinen eigenen Weg zu finden.
ßerdem übertrug er ihr die Bianca in
schön, und im Nationaltheater weht
wir eine Ballerina gesehen, wie sie aus einer
Außerdem bekam damals in der Ukra-
John Crankos Zähmung, den Früh-
eine gute Atmosphäre. Ich habe wun-
Hebefigur nach unten genommen wurde,
ine ein kleines Mädchen wie ich nur
lingsstimmen-Walzer und Lise in La
derbare Kollegen gefunden und bin
ohne dass dies mit der notwendigen Vor-
Amor, Rotkäppchen oder Ähnliches zu
Fille mal gardée von Frederick Ashton
deswegen sehr gern festes Mitglied
sicht geschah, so dass sie sich schlussend-
tanzen, und das wär‘s dann gewesen.
sowie die Solistin in dessen Scènes de
dieser Compagnie.“ Als solches war sie
lich in einem unangenehmen tiefes-plié-
Aber ich wollte alles tanzen!“ Die Fra-
ballet.
in zwei Pas de deux der Goldberg-Va-
während-ich-renne-Moment wiederfand.
ge, ob auch Stücke moderner Choreo-
Seit 2011 tanzt Katherina Markows-
riationen von Jerome Robbins auf der
Noch schlimmer ist es, wenn der Partner
grafen sie in den Westen lockten, kon-
kaja fest in München. Was ist das Be-
Bühne und probte Choreartium. „Die
ein bisschen zu früh abbremst, so dass sie
tert sie völlig überraschend: „Oh, ich
sondere, das sie in allen Rollen und
Arbeit daran war extrem schwer, weil
ihre Füße nicht mehr strecken kann, in der
war so etwas von arrogant, als ich aus
Stilrichtungen so lebendig wirken lässt?
dort jeder Finger stimmen muss, aber
Annahme, gleich den Boden zu berühren…
Kiew kam! Ich dachte, dass es nur ein
„Ich glaube, jeder Mensch gewinnt sei-
ich mag diese Liebe zum Detail. Mas-
Eine solch unglückliche Situation lässt sich
einziges Ballett gibt, und das ist klas-
ne unverwechselbare Persönlichkeit
sines frühe Neoklassik habe ich genos-
nicht notwendigerweise darauf zurückfüh-
sisches Ballett. Alles andere ist Rum-
aus einem Gemisch von Eigenschaften,
sen, das Stück hat für mich kein Alter,
ren, dass die beiden Partner nicht zusam-
gekrieche. Mit dieser Einstellung hatte
die er entfaltet“, sagt sie in fast per-
und die Musik… ah, wenn da eine Pas-
menpassen. Der Grund ist vielmehr der,
ich noch lange Schwierigkeiten, denn
fektem Deutsch. Sie habe sich selbst
sage kommt, die mein Herz berührt,
dass das Tutu hier wie eine Jalousie funk-
ich habe modernen Tanz mit klassi-
nie gefragt, was ihre individuelle Qua-
werde ich zum Schmetterling!“
tioniert und die verzweifelten optischen
schem Ansatz ausgeführt. Wir waren
lität ausmache. Dann aber erklärt sie
Eine unvergessliche Erfahrung
Hinweise der Tänzerin dem Partner verbor
so erzogen! Uns wurde tausend Mal
mit ihren großen Augen: „Woran ich
machte sie im September 2013 in der
gen bleiben, denn er wird jede Anstrengung
gesagt: Modern kann jeder. Und das ist
immer arbeite, ist die Interpretation.“
Titelrolle eines ihrer Lieblingsstücke.
unternehmen, die Tänzerin zu führen, ohne
natürlich absoluter Unsinn.“
Da sie mit diesem Schlagwort nicht
Nach Vollendung ihres Studiums
zufrieden ist, ergänzt sie: „Es geht mir
in München ging Katherina ans Ballett
nicht um pure Technik, denn ich finde,
ständig über dieses gigantische Tüll-Tischtuch-Arrangement um ihre Hüfte zu linsen. Fortsetzung auf Seite 6 Fortsetzung auf Seite 6
Ballett Extra Nr. 6
Seite 5
Das Tutu ist aber nicht nur ein ärgerliches
Fortsetzung Portrait
Hindernis für den Mann, der seine Partne-
Katherina Markowskaja
rin führen will, sondern es birgt tatsächlich großes Gefahrenpotential. Tutus scheinen aus Hasenstallgittern und Rasierklingen hergestellt zu sein und geformt wie eine runde Säge, deren Sägeblatt genau dort heraussticht, wo der Partner seine Hand platzieren muss. Das ist natürlich ein Spaß ... aber wenn Sie jemals einen Tänzer gese-
„Crankos Romeo und Julia ist so dicht
in Siegals Unitxt, das ich mit Power
sität. Ihre Hingabe konnte ich nur mit
hen haben, der merklich zusammenzuckte,
mit Emotion gefüllt, wie ich es vorher
und rasendem Schwung tanze. Aber ich
dem Herzen sehen.“
als er seine Ballerina aus einer Hebefigur
nur als Mathilde in Rot und Schwarz
bin auch sehr gern lyrisch. Und Aszure
Leichtigkeit macht ihre Qualität
über die Schulter zurück auf den Boden
von Uwe Scholz erlebte. Aber bei Romeo
Barton hat lyrisch für mich choreogra-
beim Tanzen aus, und die wünscht sie
hob, liegt das nicht daran, dass sie zu schwer
und Julia ist es dramatischer, weil sie
phiert, genau so, dass alles stimmt.
sich auch für ihr Leben. „Jahrelang war
war, sondern daran, dass der Tüll ihres Tu-
nur so kurz glücklich sind. Dann müs-
Wenn ich das tanze, fühle ich mich
ich frustriert, wenn ich technisch auch
tus über seinen Nacken kratzte, als gäbe es
sen sie um diese Liebe kämpfen. Wenn
nackt, bin nicht Aurora oder Julia, son-
nur einen kleinen Fehler machte. Dann
dort Zitronenzesten abzuhobeln. Dem Mann
ich das tanze, habe ich das Gefühl, dass
dern Katherina Markowskaja auf der
habe ich gemerkt, wie meine Lebens-
bleibt also nichts anderes übrig als auf di-
ich zerfließe. Es ist so harmonisch, und
Bühne – was mir fast ein wenig Angst
zeit verstreicht, ohne dass ich wirklich
cke Ärmel, einen hohen Kragen und eine
die Choreografie gibt genau das vor,
macht.“
glücklich war, und habe mich für das
große Tube Wundsalbe zu hoffen.
was ich machen würde, um zu sagen,
Für die Dezember-Premiere 2014
entschieden, was mir Freude macht:
Das Tutu ist auch extrem gut darin, sich in
was Cranko sagen will. In einem sol-
probt sie nun mit dem großen interna-
einfach nur zu tanzen. Was ich am meis-
den Applikationen, die der Mann auf sei-
chen Einverständnis mit dem Stück
tionalen Choreographie-Star Alexei
ten vermissen werde, wenn ich einmal
nem Kostüm trägt, zu verfangen. Ich habe
will man alles geben, und“, sagt sie
Ratmansky, mit dem sie in Kiew ge-
aufhöre zu tanzen? Ich glaube, die Er-
aufgehört zu zählen, wie oft ich einen Ka-
lachend, „ich wäre froh, wenn es noch
meinsam auf der Bühne stand, die Ti-
fahrung, in den Charakter anderer zu
valier gesehen habe, der die Zuckerfee aus
zwei Akte länger wäre.“ Stattdessen
telrolle in Paquita. „Er war schon ein
schlüpfen. Ich weiß nicht, wie normale
einer Hebefigur herunternimmt, um dabei
hielt die vorige Spielzeit noch eine be-
Supertänzer damals, und ich war zehn!“
Menschen das machen, 70 Jahre nur sie
festzustellen, dass die unterste Lage ihres
sondere Erfahrung für sie bereit: As-
Die Paquita-Fassung Marius Petipas
selbst zu sein. Es gibt mir so viel, wenn
Tutus sich mit den Strasssteinen auf seiner
zure Barton choreographierte ihr das
wird nach balletthistorischen Vorgaben
ich für einen Abend Carmen bin. Ich
Brust verhakt hat. Verzweifelt versuchen
Konzert für Violine und Orchester auf
getanzt werden. „Für mich ist es eine
tanze, schminke mich ab, gehe nach
die Kavaliere dann, sich loszumachen, wäh-
den Leib: „Ihr Konzept war, erst mal
interessante Aufgabe, das ABC des
Hause, bin Mutter und führe mit mei-
rend die Tänzerin im Bourrée verharrt – mit
zu schauen, wie die Tänzer so sind, um
klassischen Balletts in seinem Ursprung
nem Sohn den Hund spazieren. Ich
einem unbequemen Lächeln im Gesicht und
jede Persönlichkeit kennen zu lernen.
zu erfahren, nach den alten Notationen
koche und putze ein bisschen, dann
im stillen Gebet, dass er sie schnell aus
Dann hat sie für Lukaš Slavický und
und der ursprünglichen Fassung von
gehe ich wieder, bin vielleicht Katha-
dieser Zwickmühle befreien möge. Zwangs-
mich einen Pas de deux geschaffen, dass
Petipa.“ Dann fällt ihr noch ein: „Mary
rina oder Giselle – das nicht mehr zu
läufig reißt er schlussendlich einfach alles
wir uns fragten: Ist das nicht Wahn-
Wigmans Le Sacre du printemps zur
erleben, werde ich sehr vermissen.“
auseinander und sie muss den Pas de deux
sinn, wie sie uns kennt? Dieses Stück
ekstatischen Musik Igor Stravinskys,
mit einem umherbaumelnden Tüllschweif
zeigt mich, wie ich bin. Ich müsste als
da war ich die Erwählte. In diesem Solo
beenden – immer noch lächelnd, als ob
kleiner Typ draufgängerisch sein, wie
erlebte ich höchste emotionale Inten-
Text Karl-Peter Fürst Foto Sascha Kletzsch
nichts passiert wäre. Das Tutu hat jedoch auch einen wirklichen Vorteil für den männlichen Tänzer. Wenn man das erste Mal mit einer Partnerin tanzt, steht man als Mann zu dicht an der Partnerin, da man glaubt, dass man umso besser vorbereitet sei, je näher man ihr ist. In diesem Fall kann das Tutu als Trainingswerkzeug dienen und den richtigen Abstand zwischen ihr und dem Partner festlegen. Schauen Sie sich jeden großartigen Tänzer an und sie werden sehen, dass er genau diesen Abstand zwischen sich und der Tänzerin einhält. So hat er die Möglichkeit, sie bei einer Promenade zu begleiten, ohne dass seine Fußarbeit so aussieht, als würde er gerade versuchen, seinen Platz in einem überfüllten Kinosaal zu erreichen. In diesem Fall steht er achtungsvoll hinter ihr und versucht sich nicht, in ihrem Schatten zu verstecken. Während man als Mann den Kreis abläuft, den das Tutu für einen aufzeichnet, dient einem dasselbe als Kompass. Wenn man stattdessen aber auf die Füße der Tänzerin schaut, während man sie führt, kommt man ihr zweifelsohne zu nahe und tritt ihr zwischen die Beine – und das ist garantiert das Letzte, was sie will. Drosselmeier hat diesmal Anleihen bei einem Text von Adam Hendrickson genommen, ehemals Tänzer des New York City Ballets – der es wissen muss...
Lucia Lacarra in klassischem russischen Tutu in Schwanensee, Partner Cyril Pierre, Foto Charles Tandy Übersetzung Laura Schieferle
Ballett Extra Nr. 6
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Zugvรถgel, Foto Wilfried Hรถsl
Ballett Extra Nr. 6
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Ballett Extra Nr. 6
Seite 8
Liebe über den Tod hinaus. Katherina Markowskaja und Lukáš Slavický Ballett Extra Nr. 6
in Crankos Romeo und Julia. Foto Charles Tandy
Seite 9
Das Herz einer Löwin
Warum Shakespeares Julia uns immer noch und immer aufs Neue in Bann schlägt Ein vierzehnjähriges Mädchen, behütet auf-
Julias Befreiung auf den Adlerfittichen
Aus der Feder der Historikerin Anka
ist die Matriarchin, die auf Unabhängigkeit
gewachsen mit Vater, Mutter, Personal und
der Liebe hebt mit der ersten Begegnung
Muhlstein stammt das Bildnis zweier weib-
beharrt und Nachwuchsoptionen einer hö-
dem Edeldekorum, das ein reiches Eltern-
im Rund des Maskenballs an. Romeo, Spross
licher Biografien der Shakespeare-Zeit, die
heren Mission namens Landesmutterschaft
haus aufbietet, läuft aus der Spur. Was hat
eines feindlichen Clans, klopft mit geschraub-
Julias Charakter an Souveränität, Eigenwil-
opfert. Was sie so wenig zum Alltagsvorbild
das Leben ihm bislang geboten – außer
ten Worten an und bittet um einen Hand-
ligkeit, in einem Fall auch an Tragik nicht
prädestiniert wie Julia, die für den höheren
Verboten? „Du darfst nie über die Stränge
kuss. Für gewöhnlich müsste die Umworbe-
nachstehen. Was nicht bedeutet, dass der
Zweck der Liebe das eigene Leben hingibt.
schlagen und natürlich heiratest Du stan-
ne ein solches Ansinnen schon anstandshal-
Dichter sie unmittelbar verarbeitet hätte,
Maria wiederum huldigt unablässigen Ge-
desgemäß, das ist Dein Los“. Ein nobler
ber abweisen. Was aber tut Julia? Sie kriti-
aber er hat sie jedenfalls miterlebt. Muhl-
fühlsräuschen und ignoriert die politische
Kandidat ist schon in Sicht, sein Verhalten
siert den jungen Mann für die Steifheit
stein beschreibt anhand zweier gekrönter
Inopportunität ihrer Eskapaden. Sie stürzt
wirkt tadellos. Ein idealer Schwiegersohn
seiner Berührung, gerade so, als stehe ihr
Häupter des 16. Jahrhunderts, was Signori-
sich kopfüber in jede Passion, reicht pas-
also. Das ist der Punkt, an dem das Mäd-
der Sinn augenblicks nach anderem. Nach
na Capulet – dank des Liebestods – zwar
senden wie unpassenden Partien die Hand –
chen ausschert, die vorgezeichnete Bahn
Zärtlichkeit, Innigkeit. Tatsächlich entbrennt
erspart bleibt, aber als Auslassung ihre Tra-
der Affektlage nach eine Julia in majestäti-
verlässt. Denn es hat sich selbst an einen
das Mädchen von einem Moment zum nächs-
gödie nur umso attraktiver macht: „Die Ge-
schem Ornat. Marias romantische Verblen-
anderen verschenkt. Und daran hält es fest
ten, als habe es sich die wahre, tiefe, einzige
fahren der Ehe“.
dung erreicht Shakespeare‘sche Ausmaße,
und betreibt die Entzweiung von allem, was
Liebe schon lange ausgemalt. Das mag ein
ihm bisher lieb und teuer war, mit Hoch-
treuer Spiegel der Adoleszenz sein, nur ge-
Die so hochpotente wie autonomie-
rike Meinhof schließlich ist eine so kluge
druck. Es setzt Wohlstand und Ansehen
hört es sich nicht für eine Tochter aus aller-
bestrebte Monarchin Elisabeth I. nimmt es
wie eigensinnige und engagierte Autorin,
aufs Spiel, um der Stimme seines Herzens
bester Familie. Und schon gar nicht gehört
in der Kunst des Ränkeschmiedens mit je-
die gleichwohl einer verführerischen Idee
zu folgen. Nur so, weiß dieses Mädchen,
sich, was diese Tochter dann unternimmt:
dem anderen Regenten auf. Als Vorbild für
erliegt – der Utopie einer gerechteren Ge-
kann es seine Bestimmung erfüllen. Heutig
Sie lässt die Amme den Namen des Fremden
ihre aristokratischen Hofdamen taugt sie
sellschaft, die jeden Preis rechtfertigt, auch
gesprochen: sich selbst verwirklichen. In
erkunden und, obwohl sie in ihm einen Mon-
nicht. Sie gönnt sich Liebschaften, meidet
den der eigenen Existenz. Das Wegwischen
der Liebe, die den Bruch verlangt mit Her-
tague erkennen und somit das biblische Ge-
den Ehestand und bleibt die ‚jungfräuliche
der Wirklichkeit und die Auslöschung aller
kommen, Auskommen, Fortkommen.
setz übertreten muss „Du sollst Vater und
Königin‘: kinderlos und damit alles andere
vertrauten Bindungen ist ein typisches Kenn-
Mutter ehren“, ist sie gewiss, „den ärgsten
als ein gutes role model. Ihre Cousine und
zeichen romantischer Strebungen. Meinhof
Feind aufs zärtlichste zu lieben.“
Widersacherin, Schottlands Herrscherin
entledigt sich ihrer Kinder, weil der bewaff-
Fast immer werden William Shakespeares Romeo und Julia in einem Atemzug
bis sie zuletzt auf dem Schafott landet. Ul-
Maria Stuart, verkörpert das andere Extrem.
nete Kampf absoluten Vorrang hat. Wie
genannt: als Doppelgestirn einer Liebe, die
Fortan handelt das Mädchen ohne jede
Sie setzt – selbst um den Preis der Zerstö-
Julia mit den Eltern bricht, so verfährt die
den Tod nicht scheut. Wer aber ist die trei-
Reserve, ohne Rücksicht auf alles, was sich
rung und Selbstzerstörung – etwas durch,
Meinhof mit ihren Töchtern. Um im Unter-
bende Kraft dieser Verbindung? Wer bekennt
für seinesgleichen geziemt. Es fragt den
das die Nachbarin verleugnen muss: die un-
grund auf eine Rivalin wie Gudrun Ensslin
sich wider alle Konvention zu Leidenschaft
Mann, ob er es wirklich liebe, und es wartet
bedingte Macht des Gefühls gibt den Takt
zu treffen: Eine Löwegeborene auch sie, die
und Fleischeslust? Wer übernimmt im ent-
nicht auf seinen Antrag, sondern fordert
und allzu oft die fahrlässige Taktik ihres
dem Tugendterror eines Pfarrhaushalts
scheidenden Augenblick die Regie, und sei
selbst die Vermählung: „Dann leg ich Dir
Daseins vor und beschwört schließlich den
entronnen ist, sich in den libidinösen Netzen
es aus schierer Notwehr? Julia ist es, die
mein ganzes Glück zu Füßen und folge durch
gewaltsamen Tod herauf. Nicht umsonst hat
des RAF-Häuptlings Andreas Baader ver-
jede Grenze des gesellschaftlichen Comment
die Welt Dir als Gebieter.“ Es ist nicht an
Elfriede Jelinek die Antagonistinnen in bür-
fängt und am selbst geknüpften Kabelstrick
sprengt. Das Porträt, das Shakespeare von
Romeo, Bedingungen zu stellen. Julia ent-
gerlichen Nachfahrinnen gespiegelt, deren
endet, in der Gefängnisgruft von Stuttgart-
Signorina Capulet zeichnet, ist selbst ein
scheidet, wen sie lieben will und zu welchen
Revoluzzertum eine Blutspur hinterließ, bis
Stammheim.
doppelgesichtiges und darin ganz wahrhaf-
Konditionen.
beide den Freitod wählten. Ulrike Maria Stuart, 2006 uraufgeführt, projiziert die Kö-
Mit Julia haben diese vier Frauen, jede
Geliebte, Fintenreiche und Aufrichtige – al-
Wir Bewohner und Bewohnerinnen des
niginnen auf Ulrike Meinhof und Gudrun
auf ihre Weise, eins gemein: das Herz einer
les zugleich. Nicht umsonst ist dieses Fräu-
21. Jahrhunderts werden derlei Geradlinig-
Ensslin: eine Intellektuelle und eine Emo-
Löwin schlägt in ihrer Brust. Shakespeares
lein im Sternzeichen des Löwen geboren,
keit weder skandalös noch irritierend finden,
tionsgesteuerte, die sich von ihren Nächsten
Heldin sprengt nicht nur die Fesseln ihrer
der Mut, Kraft, Stolz verleiht und ein kämp-
sondern darin den Ausdruck weiblicher
trennten, das weibliche leading couple der
Herkunft, sondern auch die ihres Geschlechts.
ferisches Herz. Eines, das im Zweifelsfall
Emanzipation sehen. Doch zu William Shake-
Roten Armee Fraktion abgaben und dabei
Darin ist sie eine moderne Heldin avant la
wider alle Vernunft entscheidet. Wen das
speares Lebzeiten verstieß ein solches Ver-
unablässig um die Gunst eines Manns kon-
lettre. Dass sie um der Liebe willen und da-
Schicksal zur Stunde der Geburt so bezeich-
halten gegen alles, was ehrbare Frauen sich
kurrierten, um die Position der Favoritin
mit ethisch einwandfrei handelt, hebt sie
net, dem ist Unterwerfung fremd. Der bleibt
erlauben konnten. Die Folie der Realität,
beim Terror-Romeo Andreas Baader.
nicht nur von den historischen Schwestern
ein Freigeist, ein Rebell und wird sein gan-
auf der eine Romanze wie Romeo und Julia
zes Wesen in die Waagschale werfen, gegen
gedieh, begrenzte den Spielraum der Adels
Auf den ersten Blick hat dieses Quar-
jeden Zwang aufbegehren. Eine Hochzeit
töchter bis zur seelischen Erstickung. Den-
tett mit Shakespeares Julia nichts zu schaf-
contre coeur ist so ziemlich das Allerletzte,
noch spinnt die Tragödie geheime Fäden,
fen. Und doch stehen die vier Gestalten für
was eine Löwin sich zumutet. Und koste es
die uns Heutige mit ungebrochener Anzie-
Eigenschaften, die jenseits aller moralischen
sie die Existenz.
hung in Julias Geschichte verstricken. Weil
Verfehlungen imponieren – und über den
dieses Mädchen die Freiheit erobert und
zeitlichen Abgrund zwischen 16. und 20.
damit: ein männliches Privileg.
Jahrhundert eine Brücke spannen. Elisabeth
tiges: Eroberin und Eroberte, Liebende und
ab. Es sichert ihr auch Unsterblichkeit – in
Ballett Extra Nr. 5 6
Seite 10
unseren weniger wagemutigen Herzen.
Text Dorion Weickmann
Porträt
Doug Fullington. Ein Forscher aus Leidenschaft und provozierten vor allem mit dem beiden
cken könne, habe überhaupt das Recht, sich
St. Petersburger ‚Original‘-Rekonstruktio-
mit diesen Papieren zu beschäftigen. Und
nen von Dornröschen (1999) und La Baya-
nur, wer mit allen Feinheiten der russischen
dère (2002) heftigste Diskussionen über Sinn
Ballettsprache vertraut sei, könne die Wahr-
oder Unsinn solcher Versuche. Aber Fakt
heit hinter den Hieroglyphen der Stepanov-
ist: wann immer ein Ballettdirektor mit
Notation begreifen. Es war ein deprimie-
Gespür für historische Dimensionen sich
rend-dramatischer Moment der Schein-
für einen der Petipa-Klassiker interessier-
Wahrheit, dessen brutale Taktlosigkeit für
te, tauchte die Frage auf, wie man an ver-
Fullingtons Verständnis allenfalls vielleicht
lässliche Quellen für den choreographischen
durch die zweifache Dolmetscher-Transfe-
Text kommen könnte; Quellen, die Authen-
rierung vom Russischen über das Deutsche
tischeres als die übliche von Mund zu Mund,
ins Englische gemildert sein mochte. Im-
von Ballettmeister zu Ballettmeister ge-
merhin traf die schneidende Bemerkung
hende Tradition bieten könnten.
einen Nerv: Fullington ist von seiner akademischen Basis her Musikwissenschaftler.
Nun las man also erstaunt, dass da
Und praktizierender Musiker, insofern, als
ein – wie sich herausstellte – junger Mann
er seit Jahren einen Chor leitet, der einen
mit Namen Doug Fullington aus Seattle,
ausgezeichneten Ruf für seine Interpreta-
angestellt beim dortigen Pacific Northwest
tion alter Musik genießt. Was er als Bal-
Ballet, den Jardin animé aus Le Corsaire
lettmann sagt, sagt er auf Grund einer the-
nach diesen legendären Notationen einstu-
oretischen Ausbildung in der Sprache des
diert hätte. Zumindest in München läuteten
klassischen Tanzes, die er sich – nun aller-
da die Alarmglocken. Das Bayerische Staats-
dings am praktischen Schauplatz einer
ballett hatte so gut wie alle Petipa-Werke
namhaften Ballettcompagnie – angeeignet
im Repertoire. Es hatte außerdem den Ruf,
hat. Er selbst hat nie getanzt. Und seine
die Compagnie in Deutschland zu sein, die
Decodierung der Stepanov-Schrift beruht
diesen Klassikern die exquisiteste tänzeri-
auf nichts anderem als seinem wissenschaft-
sche Behandlung angedeihen ließe. Die
lichen Forscher-Ehrgeiz.
Frage: „welche Klassiker könnte man noch machen?“ dominierte die jährlichen Spiel-
Dieser Ehrgeiz für die Sache hat ihn,
planüberlegungen. Titel, die man kannte,
der persönlich die Zurückhaltung und Dis-
gab es noch genug. Aber choreographischen
kretion selbst ist, à la longue an die denk-
Text, mit dem diese Titel zur Realität auf
bar spektakulärsten Orte geführt. Seine
einer Bühne werden könnten – Fehlanzeige!
Lectures in New Yorks Guggenheim Museum, inklusive tänzerischer Demonstratio-
Eine fragende E-Mail in den fernen
nen, sind seit einigen Jahren Kult. Wie er
Nordwesten der USA wurde sogleich be-
es daneben schafft, für seinen Ballettdirek-
antwortet. Er sei dabei, so Mr. Fullington,
tor Peter Boal als Sekretär zu fungieren,
die ganzen noch ziemlich ungeordneten
das Education Programm der Compagnie
Kisten mit den Sergejew-Papieren im Ar-
zu leiten und ganz nebenher für die George
chiv der Harvard Universität zu durchfors-
Balanchine Foundation in New York zu ar-
ten. Und man könne sich auf atemberau-
beiten, bleibt sein Geheimnis.
bende Entdeckungen gefasst machen, wenn man sich nur die Zeit nähme, alles zu stu-
Dass in München nun „Paquita“ Pre-
dieren. Es begann eine aufregende Zeit, in
miere hat, ist in weitem Maße auch Fulling-
der sich herauskristallisierte, dass wir beim
ton zu verdanken. „Yes, very possible, and
Bayerischen Staatsballett eine Produktion
there is lots and lots of information“ – lau-
von Le Corsaire auf der Basis dieser Quel-
tete vor drei Jahren die Antwort auf unse-
len wagen wollten. Ivan Liška selbst über-
re Frage, ob er eine Produktion für sinnvoll
nahm die Leitung. Das heißt, er übersetzte
halte, ob genug verlässliche Notationen zu
die Informationen aus den Quellen, die ihm
dem Werk in Harvard zu finden wären. Und
Fullington bot in Bühnenaktion und ver-
er machte sich an die Arbeit…
vollständigte, wo nötig. Nach einigen Jahren Pause wird Le Corsaire in der kommenden
Ein kleiner Triumph, nun ganz zum
Im Frühjahr 2004 erfuhr die internationale
kolai Sergeyev, waren durchs 20. Jahrhun-
Spielzeit wieder im Nationaltheater zu se-
Schluss, über die St. Petersburger Grals-
Ballettwelt – und nicht zuletzt auch die
dert gegeistert und schließlich in der Bib-
hen sein.
hüter sei ihm gegönnt. Für die Münchner
Münchner Ballettdirektion – durch einen
liothek der Harvard Universität gelandet.
so fesselnden wie pfiffigen Artikel in der
Da sie wahrscheinlich, außer dem berühm-
Der bitterste Moment seiner Laufbahn
Seite. Dieser hat St. Petersburger Mutter-
angesehenen Londoner Dancing Times, dass
ten Musikwissenschaftler John Roland Wi-
als Stepanov-Entzifferer kam sicherlich
milch getrunken, und den Erziehungssegen
es da offensichtlich irgendwo in der weiten
ley, bisher so gut wie kein Mensch zu ent-
beim Petipa-Symposium, das das Bayeri-
der Moskauer Ballettakademie erhalten.
westlichen Welt einen Mann gab, der die
ziffern versucht hatte, und sie bis dahin wie
sche Staatsballett 2007 aus Anlass der
Newa und Moskwa in den Adern – mehr
Stepanov-Notationen lesen könne. Diese
der Schatz der Azteken in Harvard gehütet
Corsaire-Premiere abhielt. Die eingeladenen
Russland kann man nicht wollen.
Papiere, genauer gesagt: die choreographi-
wurden, waren diese Papiere mehr Legen-
russischen Autoritäten stellten alle Versu-
schen Aufzeichnungen einiger der großen
de als real nutzbare Dokumente. Immerhin
che westlicher Forscher radikal in Frage.
russischen Klassiker von Marius Petipa in
begannen sich inzwischen einige wenige
Nur wer sozusagen auf 300-jährige persön-
der Stepanov-Tanzschrift, getätigt von Ni-
russische Ballettleute damit zu beschäftigen
liche Wurzeln in St. Petersburg zurückbli-
„Paquita“ steht ihm Alexei Ratmansky zur
Ballett Extra Nr. 6
Seite 11
Text Wolfgang Oberender Foto Wilfried Hösl
Lucia Lacarra und Tigran Mikayelyan in Artifact II, Foto Thomas Kirchgraber
Tanzland Deutschland
Denkende Körper – William Forsythes „Artifact II“ „Build on the rocks“ / „Dusk in sand“ ruft die Frau im ausladenden Barockkostüm über die Bühne. Sie streitet mit dem Mann mit Megafon. Es ist ein Streit um Erinnerung und Geschichte – und im ersten Moment nur wenig verständlich, denn die Sätze in William Forsythes Artifact sind ihres Sinnes beraubt. Sie setzen sich zwar aus Wörtern grammatikalisch korrekt zusammen, haben aber ihre klare Botschaft verloren, und öffnen zugleich das Experimentierfeld des amerikanischen Choreographen. Die beiden Textfragmente sind nur eine von Forsythes vielen Einladungen, die das Publikum in seine Welt eintauchen lassen, um in seinen Choreographien wie in einem Archiv zu stöbern und das Verhältnis von Tradition und Innovation ständig neu auszuloten. Ohne das Alte durch das Neue ersetzen zu wollen, schafft William Forsythe durch seine als Denkprozesse angelegten Ballette einen getanzten, lebendigen Zugang zur Vergangenheit, die im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts durch die Übernahme seiner Stücke Artifact, Artifact II, Limb‘s Theorem und The Second Detail weitergeführt wird. Forsythe prägte als einer der bedeutendsten Choreographen der Gegenwart in den letzten drei Jahr-
als Teil einer Tradition begreifend und zu-
Probe. Während die Zuschauer die tänze-
wie Texten oder Bildern Teil von Forsythes
zehnten die Tanzlandschaft Deutschlands:
gleich lebendigen Zugang zu jener suchend,
rischen Aktionen auf der Bühne verfolgen,
Stücken. Sie entwickeln Möglichkeiten,
mit komplexen, das Ballett als dynamische
erforscht er wie sich die Geschichte des
senkt sich krachend der Vorhang vor ihren
treffen zusammen mit Forsythe Entschei-
Kunstform nutzenden Choreographien, und
Balletts am Körper ausdrückt. Damit löst
Augen nieder, und unterbricht das Gesche-
dungen, um choreographische Strukturen
Tänzern, die sich nach ihrer Zeit am Ballett
er sich von der Vorstellung, dass Tänzer
hen.
neu zu ordnen, sich Bewegung und Funk-
Frankfurt beziehungsweise ab 2004 in der
choreographische Regeln zu befolgen hät-
Forsythe Company selbst zu Künstlerper-
ten, denkt das Ballett als syntaktisches
Nicht zuletzt durch diese Herausforderun-
chen. Choreographie ist für Forsythe eine
sönlichkeiten entwickelten – etwa Richard
System neu und bricht es auf in seine Ein-
gen, die William Forsythe seinem Publikum
Form des Wissens, das Ballett nicht vor-
Siegal, der im April 2015 nach Unitxt ein
zelteile. Nicht auf die kodifizierten Bewe-
abverlangte, wurde er zu Beginn seiner
rangig eine Technik, und so arbeitet er mit
weiteres Auftragswerk für das Bayerische
gungen legt er sein Augenmerk, die Bezie-
Karriere als Bad Boy des Balletts missver-
der Bewegungsintelligenz der Tänzer.
Staatsballett schaffen wird.
hungen zwischen den einzelnen Bewegungen
standen. Zu choreographieren begann er
Dieses Forschen am Tanz spiegelt sich nicht
tionsweisen des Körpers bewusst zu ma-
interessieren ihn, wodurch er sich vielfäl-
bereits als Tänzer am Stuttgarter Ballett,
nur in den vielschichtigen Choreographien
Wie Artifact und Artifact II, das im Febru-
tige Kombinationsmöglichkeiten des streng
an dem 1976 der Pas de deux Urlicht für
wider, sondern auch in Forsythes Annähe-
ar zusammen mit José Limóns The Exiles
kodifizierten Materials schafft.
ihn und seine damalige Frau Eileen Brady
rung an andere Medien, durch die es ihm
zu Musik Gustav Mahlers entstand. Bald
gelingt, neue Perspektiven auf den Tanz zu
und Jiří Kyliáns Zugvögel wieder aufgenommen wird, sind Forsythes Ballette stets
Ebenso wie er das festgelegte Ballettvoka-
darauf folgten weitere Arbeiten und For-
werfen und die Grenzen dessen auszureizen.
Angebote, die sich mit dem Ballett als
bular auseinander nimmt und neu arran-
sythe wurde, nachdem er für kurze Zeit als
Mit Installationen, Filmen und besonders
Kunstform auseinandersetzen, und die er
giert, so gestaltet Forsythe auch seine ei-
freier Choreograph, unter anderem am
seinem Projekt Motion Bank, einer Websi-
seit nunmehr 30 Jahren in Varianten und
genen Stücke immerzu um, und lässt aus
Nederlands Dans Theater, arbeitete, zum
te zur Archivierung von Choreographie
Variationen dem Publikum stets aufs Neue
kleineren Teilen ein größeres erwachsen.
Direktor des Balletts Frankfurts berufen.
mithilfe digitaler Partituren, soll das Wis-
zur Disposition stellt. Artifact, als erstes
Artifact entstand aus dem Einakter France/
Zunächst lehnte er ab, einige Monate später
sen über den Tanz erweitert werden. Und
abendfüllendes Stück am Ballett Frankfurt
Dance von 1983, ein Ballett mit Text. Von
aber trat der damals 35-Jährige den Posten
so hat der Balletterneuerer der 80er Jahre
dem Kopf des stark analytisch arbeitenden
Forsythe nur ein Jahr später zu seinem
an, womit eine einzigartige kreative Phase
in der Gegenwart eine Möglichkeit gefun-
Choreographen entsprungen, war der ge-
ersten abendfüllenden Stück am Ballett
begann, in der über 70 Choreographien ent-
den, in der Welt des Digitalen und in der
lungene Versuch, das Ballett zu entideolo-
Frankfurt als vierteiliges Werk ausgebaut,
standen.
Disziplinen und Genres übergreifenden
gisieren und traditionelle Aufführungs- und
befand es sich 20 Jahre lang im Repertoire
Darstellungsformen aufzubrechen. Statt-
der Forsythe Company, bevor es das Bay-
Seine erste Spielzeit sei eine Spielzeit für
schens auch fernab der Bühne nachzugehen.
dessen ließ er verschiedene Mittel des The-
erische Staatsballett als erste deutsche
die Tänzer gewesen, erklärte William For-
Ballett sei für ihn ein Ausgangspunkt: „a
aters einfließen und setzte dem System des
Compagnie in ihres aufnahm. Forsythes
sythe in einem Interview. Dass die Tänzer
body of knowledge, not an ideology“, wie
Balletts das der verbalen Sprache gegen-
Choreographien sind nie abgeschlossene
als aktiv Mitgestaltende eine zentrale Rol-
er einem Interview in Dance International
über.
Werke, sie befinden sich im ständigen Pro-
le in seinen Choreographien einnahmen,
1995 bemerkte. Und diesen Körper hat Wil-
zess, formen sich oft bis zur letzten Minute
rührt von seinem Verständnis, Choreogra-
liam Forsythe, ohne das Ballett als Kunst-
Forsythe wollte nie Klassiker beleben, und
vor der Premiere. Artifact II hingegen, das
phie als Forschungsprozess zu denken. Denn
form zu zerstören, mit einem einzigartigen
so wurde Artifact ein Ballett über das Bal-
erstmals 1998 aufgeführt wurde, erwächst
für ihn beginnt Bewegung bereits im Kopf,
Repertoire geformt und ergänzt um die
lett, mit dem er sich, indem er das klassi-
nicht aus seinem Vorgänger, es ist Rudiment
und damit im gemeinsamen Denken mit
Frage, was Ballett heute ist und sein kann.
sche Bewegungsvokabular und Ballettkon-
des Abendfüllers. Als zweiter Teil von Ar-
seinen Tänzern, in der Bewegung. Ihre Ide-
ventionen zerlegt und reorganisiert, mit
tifact stellt das zwanzigminütige Fragment
en und Gedanken werden in der Auseinan-
dessen Geschichte auseinandersetzt. Sich
die Wahrnehmung des Publikums auf die
dersetzung mit verschiedenen Materialien
Zusammenarbeit, seiner Lust des Erfor-
Text Miriam Althammer Foto Wilfried Hösl
Was macht eigentlich ...?
Ein Telefonat mit Jiří Kylián
Olivier Vercoutère Der gebürtige Franzose tanzte und spielte 14 Jahre lang im Ensemble des Bayerischen Staatsballetts. Von der Titelfigur in Don Quijote bis zu orem – Olivier Vercoutère war beim Staatskurzen Stippvisite in Berlin wieder nach München zurück und heiratete seine Kollegin Isabelle Sévers. In seiner letzten Saison 2012/13 erweiterte er sein ohnehin umfangreiches Repertoire um die Rolle des ‚Mann im Schatten‘ in Illusionen wie Schwanensee und Solopartien in Robbins‘ Goldberg-Variationen und Kohlers Kreation Helden. Am 14. Juli 2013 beendete Olivier Vercoutère seine Karriere mit La Fille mal gardée.
tüme pünktlich abliefert. Ein Haus,
vögel waren ein
das in seiner erhabenen Geschichte
großes Werk
mühelos über sich ergehen lässt, alle
für München,
Eskapaden eines kreativen Teams. Vor
in dem Du Dich
allem aber eine Freundschaft, die ich
mit dem krea-
schon vor vielen Jahren gefunden
tiven Prozess
habe – und zwar die von Ivan Liška.
selbst und der
Improvisationen in Forsythes Limb‘s Theballett engagiert seit 1995, kehrte nach einer
Jiři, die Zug-
Hingabe des
Wo liegt heute Dein Arbeitsschwer-
Künstlers an
punkt? Du hast Dich viel mit Film be-
sein Werk auseinandergesetzt hast. Was
schäftigt in den letzten Jahren.
hat es damals und heute für Dich be-
Film und Fotografie sind sehr wichtig
deutet an dem Punkt deiner choreogra-
und werden immer wichtiger – haupt-
phischen Laufbahn?
sächlich die Kombination von live-
Sehr viel. Es war meine erste große
Vorstellung und Film. Das war auch
‘Entbindung’ vom Nederlands Dans
der Ausgangspunkt meiner letzten
Theater. Es war das erste Mal, dass
Arbeit East Shadow. Sie ist kompo-
ich mich an ein abendfüllendes und
niert für zwei Tänzer, eine Pianistin
abenteuerliches Werk außerhalb des
und Film. Das Werk ist den Opfern
NDT gewagt habe. Dazu sind natürlich
des verheerenden Tsunami gewidmet,
einige Voraussetzungen erforderlich.
der einen Teil von Japan 2011 völlig
Und ich fand all diese Voraussetzungen
verwüstet hat. In so einem Stück sieht
in München:
man das Leben und den Tod leibhaftig
Ein ausgezeichnetes Ensemble, das
nebeneinander. Der Film, der theore-
eine sehr gute technische Basis hat
tisch nie sterben kann, altert nur in
und das bereit ist zu experimentieren –
unseren Augen. Die Akteure, die auf
physisch und mental. Das sich befrei-
der Bühne stehen und deren Tod ihre
en kann von historischen Ablagerun-
einzige Sicherheit ist, verändern sich
gen....! Eine künstlerische Direktion,
vor unseren Augen. Sie altern direkt,
die ähnliche Qualitäten hat, und die
in ‘real time’, genauso wie wir Z uschauer.
nicht so schnell erschrickt vor unkonventionellen Ideen. Eine technische
Siehst Du Deine alten Stücke gern nach
Abteilung, die ihre Aufgaben nicht als
einigen Jahren wieder? Verändern sie
Probleme, sondern als Herausforde-
sich in Deiner Wahrnehmung?
rung sieht. Eine Administration, die
Ich sehe sie so gerne wie mein eigenes
absolut nicht erschrickt, wenn ein
Spiegelbild.... Da ich meine Werke nie
Choreograph mit der Idee kommt, das
verstanden habe und nie wirklich er-
Foyer des Opernhauses mit Sand voll-
klären kann, bleiben sie immer ein
zuschütten, um dort einen Film zu
Rätsel für mich und immer überra-
drehen. Ein Kostümatelier, das kreativ
schend. Sie sind rastlos – wie Zugvögel.
mitdenkt, und das trotz aller verspäteten Lieferungen aus Japan alle Kos-
Das Telefonat führte Bettina Wagner-Bergelt
Olivier Vercoutère Foto Sascha Kletzsch
Er schaute sich danach in verschiedenen Tätigkeiten um und konzentriert sich heute aufs Unterrichten, das Training und die Probenleitung an der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München. Diese Position führte ihn auch wieder zurück zum Staatsballett: Als Trainingsmeister der Junior Company gibt er seine Erfahrungen an die jungen Tänzer voller Enthusiasmus weiter. Und privat? Seit August 2014 sind Olivier Vercoutère und Isabelle Sévers stolze Eltern eines Sohnes. —
Sabine Kupferberg und Jiří Kylián bei den Filmaufnahmen zu Zugvögel, Foto Wilfried Hösl
Ballett Extra Nr. 6
Seite 14
Tipp der Redaktion
3 Fragen an: Carla Maxwell
Termine Unsere Highlights
—
Direktorin der José Limón
Er ist ein Meister der Opulenz
Dance Company New York und
und der Reduktion gleichermaßen,
B allettmeisterin für
über Jahrzehnte schuf er Welten
Paquita /
José Limóns The Exiles
für Ballett, Oper, Schauspiel,
Der gelbe Klang
Fernsehen und Film und
11. Januar 2015 /
inszenierte selbst: Jürgen Rose.
19. Mai 2015
1
Alleine in dieser Spielzeit zeigt
The Exiles ist eine intensive Momentauf-
das Staatsballett vier Handlungs
Paquita
ballette in seinem Design.
13., 16., 18., 30. Dezember 2014
nahme eines Paares in einer bedrohlichen Lebenssituation. In welcher Zeit oder welchen politischen Umständen befinden wir uns?
02., 08., 09., 11. Januar 2015 Im Verlag für moderne Kunst ist nun seine Biographie erschienen. Die Autorin Sibylle Zehle hat Roses große Bühnen-Erfolge seit Jahrzehnten verfolgt und für den opulent ausgestatteten Band wichtige künstlerische
Dieser Pas de deux, 1950 kreiert, verwendet die Geschichte von Adam und Eva als Parabel über zwei Menschen, die aus ihrer Heimat verbannt werden und sich gemeinsam einem unbekannten Schicksal stellen müssen. Das Werk ist in seiner Aussage zeitlos, da es eine Situation beschreibt, die in jeder Zeit passieren kann.
Live-Streams:
Ein Sommernachtstraum 21., 25., 28. Dezember 2014
Wegbegleiter, von John Neumeier bis Otto Schenk, befragt. Sie beschreibt sein wundersames Theater-Archiv im Münchner Jugendstil Refugium, besucht seinen Zaubergarten in den Murnauer Bergen und
Romeo und Julia 17., 22., 24., 18. Januar 2015
begleitet ihn zum geheimsten aller bayerischen Sehnsuchtsorte,
Artifact II /
dem Ludwig Schloss Schachen. Entstanden ist das farbige Porträt
The Exiles /
eines Ausnahmekünstlers unserer Zeit. Sibylle Zehle: Jürgen Rose. Verlag für moderne Kunst,
Zugvögel 06., 24. Februar 2015 02., 10. März 2015
ISBN 978-3-86984-433-6, www.vfmk.de
Die Kameliendame
2
09., 13., 15. Februar 2015
Zentrale Requisiten sind zwei Seile, mit
Onegin
denen sich die Tänzer selbst fesseln –
05., 13., 19., 27. März 2015
nicht sich gegenseitig noch werden sie von einer dritten Person gefesselt. Wie
BallettFestwoche 2015
kann man die innere psychologische Kom-
18. – 26. April 2015
ponente erklären, die hier verdeutlicht
Infos unter
wird?
www.staatsballett.de
Die Requisiten, die Sie meinen, sind tatPoster dieser Ausgabe Seite 7: Foto Wilfried Hösl. Zugvögel Seite 8/9: Foto Charles Tandy. Katherina Markkowskaja und Lukáš Slavický in Romeo und Julia Seite 12: Foto Thomas Kirchgraber. Lucia Lacarra und Tigran Mikayelyan in Artifact II Seite 16: Foto Day Kol. Claudia Ortiz Arraiza in der U-Bahn Station Westfriedhof. Vorlagemotiv zum Paquita Plakat.
sächlich als Abstraktion von Wein- bzw. Feigenblättern zu sehen. Die einzigen Dinge, die unsere Urväter zur Hand hatten, um ihre Nacktheit zu verdecken. Um eine Ahnung von ‚natürlicher Kleidung‘ zu geben, aber auch um nicht von der klaren Struktur des Tanzes abzulenken, wurden sie als Seile designt.
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Limón choreographiert viele Werke zu barocker oder klassischer Musik. Für The Exiles entschied er sich für eine Komposition von Schönberg, Vertreter der atonalen Musik. Begründete Limón jemals, warum genau diese Komposition so perfekt zu den getanzten Motiven passt? Zuerst muss man betonen, dass Limón in seiner Karriere eine große Auswahl an Musik verwendet hat, oft sogar Auftragskom-
Bayerisches
positionen vergab. Für ihn war es wichtig,
Staatsballett
dass die Musik als gleichwertiger Partner
Ballettdirektor Ivan Liška
zu seiner Kreation steht und die Tänzer die
Platzl 7
Musik in ihren Bewegungen verkörpern,
80331 München
nicht sie imitieren. Die Idee hinter ihren
Information/Karten
Bewegungen lässt sich dadurch in einem
T 089 2185 1920
anderen Medium weiterführen. Musik und
www.staatsballett.de
Choreographie sind bei Limón untrennbar.
Redaktion Bettina Wagner-Bergelt,
Susanne Ullmann Gestaltung Bureau Mirko Borsche Satz, Druck und Herstellung
Text Susanne Ullmann
Gotteswinter und Aumaier GmbH
Ballett Extra Nr. 6
Seite 15
Vorlagemotiv zum Paquita Plakat, Foto Day Kol