BAYERISCHES STAATSORCHESTER MONTAGSSTÜCK XI: SEHNLICHES VERLANGEN 3. AKADEMIEKONZERT SPIELZEIT 2020 / 2021 NATIONALTHEATER
Bayerisches Staatsorchester MONTAGSSTÃœCK XI: SEHNLICHES VERLANGEN (3. AKADEMIEKONZERT) Nationaltheater / Live-Stream auf www.staatsoper.de Montag, 25. Januar 2021, 20.15 Uhr Musikalische Leitung Zubin Mehta Solistin Camilla Nylund Sopran
Vorstand Florian Gmelin, Daniela Huber, Ruth Elena Schindel
Richard Strauss (1864–1949) Vier letzte Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse und Joseph v. Eichendorff 1. Frühling (Text: Hermann Hesse) 2. September (Text: Hermann Hesse) 3. Beim Schlafengehen (Text: Hermann Hesse) 4. Im Abendrot (Text: Joseph v. Eichendorff) Pause Franz Schubert (1797–1828) Symphonie Nr. 8 C-Dur D 944 Die Große 1. Andante – Allegro, man non troppo – Più moto 2. Andante con moto 3. Scherzo. Allegro vivace – Trio 4. Allegro vivace
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Programm
STRAUSS
Vier letzte Lieder
SCHUBERT
Symphonie Nr. 8
Richard Strauss’ Vier letzte Lieder waren nicht als Zyklus geplant. Erst sein Verleger Ernst Roth fasste sie unter dem heute bekannten Namen zusammen und gab dabei die Chronologie zugunsten einer inhaltlichen Reihenfolge auf. Der 84-jährige Komponist schlägt in diesen Gesängen leisere und ganz persönliche Töne an; er sah das Leben als ewigen Kreislauf der Natur, in dem der Tod seinen Schrecken verliert. „Und die Seele unbewacht“ – so heißt es denn auch in Hermann Hesses Beim Schlafengehen, das Strauss neben zwei weiteren Hesse-Gedichten sowie dem Eichendorff-Gedicht Im Abendrot für seine „Vision des eigenen Entschlummerns“ (Willi Schuh) ausgewählt hatte – „will in freien Flügen schweben, um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben.“ Frühling bleibt in seiner Thematik noch ganz auf das Leben als ein aus dem Tod immer neu aufkeimendes konzentriert; in den folgenden Liedern ergibt sich eine immer subjektivere Auseinandersetzung mit dem Tod. Hesses Gedicht Beim Schlafengehen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stellt Todesverlangen und Lebenswillen nebeneinander, ja erklärt die Sehnsucht, dem Leben zu entfliehen, zur Voraussetzung einer neuen Freiheit, die sich in einer Kantilene der Solovioline widerspiegelt. Und wie in September nur das tiefe Solohorn noch einmal an ein vergangenes Glück erinnert, wird auch in der Vertonung von Eichendorffs Im Abendrot der Tod zur Erlösung der „Wandermüden“: Der in den Hörnern exponierte Grundgedanke ist nach seiner Transformation bei der Frage „Ist dies etwa der Tod?“ schließlich mit dem Verklärungsthema aus Tod und Verklärung identisch. – Strauss gab den Liedern keine Opuszahl mehr. Er verstand sie vielmehr als „Nachlass“ eines Künstlers, der „mit der Liebe der Danae und Capriccio“ sein eigentliches Schaffen beendet wissen wollte.
Schon 1813 hatte die Leipziger Allgemeine musicalische Zeitung über den Zustand der zeitgenössischen Symphonie festgestellt: „Was Haydn, Mozart, Beethoven und Romberg bisher in dieser Gattung von Tonstücken geleistet (…), macht es wol jedem (…) Componisten doppelt schwer, dies Feld der Composition mit Erfolg zu bearbeiten.“ Schubert, der sich nun gerade dieser Aufgabe stellen wollte, war sich bereits mit 15 Jahren ihrer Schwere bewusst: „Wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“ Er tat es dennoch, und nicht ohne Erfolg. Seine erste wirklich „große“ Symphonie nahm Schubert in Angriff, als Beethovens Neunte bereits angekündigt war, deren Dimensionen sich in Wiener Musikerkreisen schnell herumsprachen; Schubert war dank mitprobender Freunde informiert. Sein eigenes Projekt plante er in direkter Konkurrenz: Er wollte ein Konzert veranstalten, das dem Programm der Uraufführung von Beethovens Symphonie entsprach. Doch zu Lebzeiten Schuberts wurde sein neues Orchesterwerk nicht aufgeführt; wir wissen heute, dass er die erste bedeutende, die Jahrhunderte überdauernde große Symphonie nach Beethoven geschrieben hat. Sie überstrahlt ihre Nachbarn in Länge, in Größe (in der Unvollendeten benutzte Schubert erstmals Posaunen in einem Symphoniesatz, in der C-DurSymphonie behält Schubert diese große Besetzung bei und führt den Weg weiter zu majestätischem Effekt), an weitreichendem Atem, mit dem die Gedanken ausgebreitet werden, und mit ihrem so sehnsüchtigen wie hoffnungsvollen Ton. „Sag’ ich es gleich offen“, schrieb Robert Schumann, als er das Stück zum ersten Mal gehört hatte, „wer diese Symphonie nicht kennt, kennt noch wenig von Schubert, und dies mag nach dem, was Schubert bereits der Kunst geschenkt, allerdings als ein kaum glaubliches Lob angesehen werden. (…) Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Komposition, noch Leben in allen Fasern, Kolorit bis in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des Einzelnen, und über das Ganze endlich eine Romantik ausgegossen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt. (…) Die Symphonie hat denn unter uns gewirkt, wie nach den Beethoven’schen keine noch.“
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Die Werke in Kürze
Ein Aperçu zur Zählung der Schubert-Symphonien Der „großen“ C-Dur-Symphonie waren vier abgebrochene Versuche vorausgegangen; davon eine Symphonie in E-Dur, von der alle vier Sätze skizziert, aber nicht in Partitur ausgeführt sind, und die Unvollendete, von der Schubert zwei Sätze komplett ausgeschrieben hat und vom Scherzo nur den Anfang. Diese Phase war es, die für das Zahlenchaos verantwortlich ist. Denn als man Mitte des 19. Jahrhunderts – unter maßgeblicher Beteiligung von Johannes Brahms – begann, Schuberts Werke in einer Gesamtausgabe zu versammeln, hatte man sich entschieden, erst die abgeschlossenen Symphonien hintereinander zu gruppieren und danach die Fragment gebliebenen anzuschließen, wodurch deren Numerierung dann nicht mehr mit der Entstehungsreihenfolge übereinstimmt. Die „große“ C-Dur erhielt damit die Nummer 7, die Unvollendete die Nr. 8. Mit dem Fortschreiten der Schubert-Forschung fand man, dass das erwähnte Symphoniefragment in E-Dur D 729 eine eigene Nummer verdiente, und rückte es an die siebte Stelle. Die Unvollendete wurde nun – chronologisch richtig – als achte eingeordnet, und die C-Dur-Symphonie wurde zur neunten. Das war nun für alle Liebhaber von Zahlensymbolik wunderbar – wegen der schönen Parallele zur Neunzahl bei Beethoven, Bruckner und Mahler, was den Mythos der „Neunten“ bekräftigt. Aber dabei blieb es nicht. Beinahe wäre noch eine weitere Symphonie dazwischengekommen: Seit 1881 spitzte sich ein Streit um ein Phantom zu. Denn nicht nur Schubert hatte 1824 die Komposition einer neuen Symphonie angekündigt, auch seine Freunde berichten von seiner Arbeit daran, insbesondere während des Sommers 1825, als Schubert in Gmunden und Bad Gastein weilte. Diese Symphonie übergab Schubert 1826 nachweislich der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde. Die aber hatte später nur die große C-Dur-Symphonie in ihren Schränken, und die war von Schubert eigenhändig mit „März 1828“ datiert. Also musste es eine Symphonie geben, die verschollen und peinlicherweise aus den Archiven der ehrwürdigen Gesellschaft verschwunden war. Diese Situation war zu verlockend, als dass ein Fälscher sie sich hätte entgehen lassen. Seit 1973 versuchte das ein anonymer Hinweisgeber; doch die Editionsleitung der Neuen Schubert-Gesamtausgabe ließ sich nicht foppen: Das Konstrukt entpuppte sich als Collage aus zusammengeflickten Schubert-Zitaten und frei erfunden Hinzugefügtem. Mittlerweile wurde die Vermutung bekräftigt, dass es sich bei der großen C-Dur-Symphonie um die sogenannte „Gmunden-Gasteiner“ Symphonie handelt, weil sie auf Papier geschrieben ist, das Schubert (und Beethoven) um 1825 benutzt haben. Das Rätsel der Datierung ist aber nach wie vor ungeklärt. Es blieb mithin bei der Entscheidung, in der Neuen Gesamtausgabe und dem maßgeblichen Werkverzeichnis 3
dem Umstand Rechnung zu tragen, dass neben den sieben vollständigen nur die Unvollendete von Schubert in gewisser Weise für gültig angesehen wurde (schließlich übersandte er sie als Dank dem Steiermärkischen Musikverein in Graz) und sich darüber hinaus im Konzertsaal durchgesetzt hat: Das E-Dur-Fragment wird daher nicht mehr gezählt, die h-Moll-Symphonie rückte vor auf die Nr. 7, und die in C-Dur bildet als „Achte“ den Abschluss. (Die Symphonien Nr. 1 bis 6 sind von diesen Verschiebereien verschont geblieben.) M. K.
Richard Strauss (1864–1949) Vier letzte Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse und Joseph v. Eichendorff 1. Frühling (Text: Hermann Hesse) 2. September (Text: Hermann Hesse) 3. Beim Schlafengehen (Text: Hermann Hesse) 4. Im Abendrot (Text: Joseph v. Eichendorff) Komponiert 1948 Uraufführung London, Royal Albert Hall, 22. Mai 1950; Solistin: Kirsten Flagstad (Sopran), Philharmonia Orchestra London, Dirigent: Wilhelm Furtwängler Widmung 1. „Dr. Willi Schuh und Frau gewidmet“, 2. „Mr. & Mrs Seery [= Maria Jeritza] gewidmet“, 3. „Herrn und Frau Dr. Adolf Jöhr gewidmet“, 4. „Dr. Ernst Roth gewidmet“ Orchesterbesetzung: 1. 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte – 4 Hörner – Harfe – Streicher 2. 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten – Harfe – Streicher 3. 2 Piccoloflöten, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Celesta – Streicher 4. 2 Flöten (beide auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken – Streicher Zum ersten Mal im Rahmen der Musikalischen Akademie am 8. September 1958 (Solistin: Lisa della Casa, Dirigent: Karl Böhm), zuletzt im 1. Akademiekonzert 2016/17 am 19./20. September 2016 (Solistin: Diana Damrau, Dirigent: Kirill Petrenko)
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Richard Strauss
Uwe Schweikert Opus ultimum oder Nachlass zu Lebzeiten? Richard Strauss und seine Vier letzten Lieder Abschied von der guten Hoffnung Wer die Vier letzten Lieder von Richard Strauss zum ersten Mal hört und nichts Näheres über ihre Entstehung wüsste, würde niemals vermuten, dass sie 1948 komponiert wurden – zu einem Zeitpunkt, an dem der bilderstürmende Avantgardist Pierre Boulez bereits Arnold Schönberg, den Erfinder der Zwölftonmusik, symbolisch begrub. Die orchestrale Opulenz, der Farbenreichtum ihres raffiniert die Harmonik ausreizenden Klangs und die weitausschwingende Melodik dieser Lieder beschwört vielmehr ein letztes, ungebrochenes Aufleuchten einer längst vergangenen Epoche. Der milde, nostalgisch schönheitstrunkene Ton scheint völlig unberührt von den Verbrechen des erst drei Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkriegs, einmal ganz abgesehen von den Wechselfällen von Strauss’ eigenem Leben und seiner Verstrickung in die NS-Zeit – schwer zu entscheiden, ob es sich um „bewusste Abschirmung, Abgeklärtheit, von allem grundsätzlich ungefährdete Stabilität oder eine Idee von tröstender Bejahung“ handelt, wie Clemens Kühn zu Recht fragt. Die „gute Hoffnung für die Zukunft der deutschen Kunst“, die Strauss nach der Machtergreifung Hitlers in einer Mischung aus politischer Naivität und blankem Opportunismus hegte, kam ihm erst um die Jahreswende 1944/45 abhanden, als die deutschen Opernhäuser in Schutt und Asche lagen und der Krieg zweifelsfrei verloren war. Am 11. Oktober 1945 setzte er sich in die Schweiz ab, wohin er sich vor der Wirklichkeit der deutschen Niederlage, der drohenden Katastrophe des ersten Nachkriegswinters und dem anstehenden Entnazifizierungsprozess in Sicherheit brachte. Erst Anfang Mai 1949, ein Jahr nach der Entlastung durch die Garmischer Spruchkammer und wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag, kehrte er nach Deutschland zurück. Sein künstlerisches Schaffen betrachtete er nach der Uraufführung der letzten Oper Capriccio, wie er seinem autorisierten Biographen Willi Schuh am 8. Oktober 1943 schrieb, als beendet: „die Noten, die ich als Handgelenksübung (…) jetzt noch für den Nachlass zusammenschmiere, haben keine musikgeschichtliche Bedeutung wie die Partituren all der andern Symphoniker und Variationiker.“ In der Tat waren es, mit Ausnahme eines Hans Frank, dem 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zum Tod verurteilten Generalgouverneur Polens gewidmeten Lieds, allesamt Orchesterwerke, die nach 1942 noch entstanden. 5
Rückkehr zum Gesang Erst mit den Vier letzten Liedern kehrte er nochmals zum Gesang und zu der von ihm besonders geliebten und favorisierten Sopranstimme zurück. Schuh war es, der ihn 1947 auf die Gedichte Hermann Hesses hinwies – für den Strauss-Forscher Timothy L. Jackson „ein clever kalkulierter Zug“, hatte der weltberühmte Dichter und überzeugte NS-Gegner doch im Jahr zuvor den Literatur-Nobelpreis erhalten. Strauss ergänzte die drei Hesse-Texte Frühling, September und Beim Schlafengehen durch das Eichendorff-Gedicht Im Abendrot und schrieb die Lieder innerhalb weniger Wochen im Sommer 1948. Gewidmet hat er sie vier Freunden, die ihn in der Schweizer Zeit unterstützten: Im Abendrot seinem deutsch-jüdischen ExilVerleger Ernst Roth, der ihn im Oktober 1947 aus Anlass eines Strauss-Festivals nach London eingeladen hatte; Frühling dem Biographen Willi Schuh; Beim Schlafengehen dem prominenten Schweizer Bankier Adolf Jöhr, der während des Kriegs mit Hitler-Deutschland kooperierte; September schließlich der „geliebten“ Maria Jeritza, der ersten Ariadne und Kaiserin der Frau ohne Schatten, der er am 23. November 1948 noch seine wirklich allerletzte Komposition, das erst 1985 aus dem Nachlass erschienene Klavierlied Malven, als „letzte Rose“ widmete. In dieser Reihenfolge sind die Lieder entstanden. Die heutige Gruppierung hat Ernst Roth, der Leiter des Londoner Verlags Boosey & Hawkes, 1950 für die Drucklegung getroffen; auf ihn geht auch der Titel Vier letzte Lieder und damit der verführerische Mythos eines Opus ultimum zurück, den man beim Hören selbst dann nicht ausblenden kann, wenn man sich seiner bewusst ist. Strauss, soviel scheint sicher, hatte keinen Zyklus geplant, gar einen Weltabschied intendiert, auch wenn man immer wieder lesen kann, er habe hier ein „Requiem für sich selbst“ (Karl Schumann) geschrieben. Eher dürfte es sich, wie bei allen Werken nach 1942, um eine – allerdings höchst sublime – Gelegenheitskomposition handeln, die den Meisterwerken zwischen Don Juan und Rosenkavalier in nichts nachsteht. Hesse übrigens, der Strauss schon immer distanziert gegenüberstand und während dessen Schweizer Aufenthalts möglichst aus dem Weg ging, fand die Lieder, „wie alle StraussMusik: virtuos, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit, aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck“. Inhaltliche Abfolge Die von Ernst Roth vorgenommene Anordnung verknüpft in der endgültigen Reihenfolge auf innerlich logische, dramaturgisch überzeugende Weise die Stationen des Tages mit denen des Lebenslaufs. Das Richard Strauss
schwungvollste, dem Leben zugewandte Lied (Frühling) steht am Beginn, das getragenste, ruhigste, streng syllabisch vertonte, in die offene Frage des Todes mündende Eichendorff-Gedicht am Ende. Dem ordnet sich auch die von Lied zu Lied wechselnde Orchestrierung unter. Die Streicher (mit Ausnahme der Kontrabässe) sind durchweg geteilt und die Holzbläser paarig besetzt. Frühling, das erste Lied, kommt noch ohne Blechbläser aus; danach treten sie von Lied zu Lied stärker in Erscheinung und grundieren mit vier Hörnern, drei Trompeten, zwei Posaunen, Bassposaune und Tuba sowie den nur hier aufgebotenen Pauken im letzten Lied die lastende Stimmung des Zwielichts und der hereinbrechenden Nacht. Höreindrücke vom Weitergehen des Lebens Beim ersten Hören dominiert und überwältigt zunächst der Gesang, der in seinem Melos Gestalten aus dem Opernwerk wie die Marschallin des Rosenkavaliers oder die Ariadne des Operneinakters in Erinnerung ruft. Die Singstimme hält dabei „eine eigentümliche Mitte zwischen Ungreifbarkeit und Entgegenkommen“ (Clemens Kühn), hebt, oft prosahaft ungebunden, die formale und metrische Struktur des Textes auf. Dabei betont die Deklamation gerade nicht, wie man doch erwarten möchte, die dunkle, resignative Schwermut der Worte und damit eine dem Werk zugeschriebene Abschiedsstimmung, sondern hebt in der klar konturierten Melodik wie in den oft weit ausschwingenden Melismen eine gleichsam fließende Gehaltenheit, ja helle Zuversicht hervor. So schließt etwa das erste Lied (Frühling), nachdem bereits der „Vogelgesang“ und das „Wunder“ (dieses mit dem h als Spitzenton) hervorgehoben sind, mit einem zweimaligen Melisma auf der endlich erreichten „seligen Gegenwart“. Auf ähnlich illustrative Weise werden im dritten Lied (Beim Schlafengehen) die Zeile „will in freien Flügen schweben“ und das emphatisch im Nonenauf- und -abstieg umschriebene „tausendfach“ der Schlusszeile als fast schon sichtbares musikalisches Bild isoliert. Umso auffälliger ist die streng syllabische Textdeklamation im letzten Lied Im Abendrot, die sich nur hin und wieder die gleichsam schrittweise Dehnung eines Worts durch zwei oder drei angefügte Viertelnoten gestattet: „Der Singstimme bleibt nur das berichtende Wort, das Eigentliche geschieht im Wortlosen des Orchestersatzes“ (Clemens Kühn). Fast die Hälfte, 45 von 87 Takten, sind hier der Orchesterkantilene im Vorspiel wie im langen Epilog überlassen. Man sollte die besondere orchestrale wie vokale Faktur dieses Lieds, das als erstes komponiert wurde, nicht als von vornherein bewusst angesteu6
ertes musikalisches, gar gedankliches Ziel überbewerten. Wahrscheinlich hat Strauss in seiner unterschiedlichen Vertonung nur instinktiv die ästhetische Differenz der Texte reflektiert – die herbere Strenge des poetischen Sagens bei dem authentischen Romantiker Eichendorff, die ein selbstgefälliges Schwärmen verbot, und die gedrechselte Neuromantik bei Hesse, die eine vokale Ornamentik zuließ. Auffällig auch die wohlklingende Chromatik der tonal in sich konsistenten Lieder – sie hebt nicht mehr, wie in Salome oder Elektra, schroff die Dissonanzen hervor, sondern schafft weiche Übergänge. Das Orchester mit seiner motivisch entwickelten Technik führt, der Gesang fügt sich ein, und das durchweg in allen vier Liedern: „Die Singstimme wird von diesen Liedern eigentlich nicht ‚gebraucht‘; teils lehnt sie sich an das Orchester an – nicht umgekehrt –, teils singt sie gänzlich Eigenes, wodurch die Trennung von Instrumentalem und Vokalem nur umso deutlicher wird.“ (Clemens Kühn) Immer wieder treten solistische Farben aus dem durchsichtigen, polyphon subtil ineinander geschichteten Instrumentalsatz hervor – die hohen Flötentriller der Vögel im Frühling und Im Abendrot, die ätherisch verhauchenden Celesta-Töne im dritten Lied (Beim Schlafengehen), mehrfach die mit der Stimme wetteifernde Kantilene der konzertierenden Solovioline, am prägnantesten im Schlusslied. Und meist klingt dabei, fast zitierend eingesetzt, das Terzett aus dem dritten Rosenkavalier-Akt mit – Abschieds- und Aufbruchsstimmung in einem. Auch dieses letzte Lied (Im Abendrot) ist kein komponierter „Abschied ins Ungewisse“ (Laurenz Lütteken), keine magische Beschwörung des Verlöschens wie am Ende von Mahlers Lied von der Erde. Was die Musik hier über alle Eichendorff-Worte hinaus in Töne fasst, ist vielmehr eine gehaltene Ruhe – eine Stasis, die die Ängste, Schmerzen und Erinnerungen an Vergangenes, Autobiographisches wie Zeitgeschichtliches, nicht begräbt, sondern in der Mahnung mitklingen lässt, „Dass wir uns nicht verirren / In dieser Einsamkeit“. Selbst die rhetorische Frage von Eichendorffs Schlusszeile „Ist dies etwa der Tod?“ hält die Musik in der Balance eines Trugschlusses, der sich im Englischhorn ins Verklärungsthema der 1890 entstandenen Tondichtung Tod und Verklärung auflöst. Wenn das gemessen intonierte Orchesternachspiel – „rit.[ardando] sehr langsam“ notiert Strauss – im beruhigenden Es-Dur verklingt, symbolisieren die hohen Flötentriller der Lerchen, dass Leben und Natur weitergehen.
Richard Strauss
1948 waren wir in Montreux zu Besuch. Ich habe gesehen, wie er sich quält, und habe ihm zugeredet: Papa, lass das Briefeschreiben und das Grübeln, schreib lieber ein paar schöne Lieder. Er hat nicht geantwortet. Beim nächsten Besuch nach ein paar Monaten kam er in unser Zimmer, legte Partituren auf den Tisch und sagte zu Alice: „Da sind die Lieder, die dein Mann bestellt hat.“ Franz Strauss (überliefert von dem Strauss-Biografen Kurt Wilhelm)
Richard Strauss an seinem Schreibtisch in Garmisch, 1949
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Richard Strauss
Die erste Seite des autographen Particells von Im Abendrot
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Richard Strauss
Der Gesangstext 1. Frühling In dämmrigen Grüften Träumte ich lang Von deinen Bäumen und blauen Lüften, Von deinem Duft und Vogelsang.
3. Beim Schlafengehen Nun der Tag mich müd gemacht, Soll mein sehnliches Verlangen Freundlich die gestirnte Nacht Wie ein müdes Kind empfangen.
Nun liegst du erschlossen In Gleiß und Zier Von Licht übergossen Wie ein Wunder vor mir.
Hände, lasst von allem Tun, Stirn, vergiss du alles Denken, Alle meine Sinne nun Wollen sich in Schlummer senken.
Du kennst mich wieder, Du lockest mich zart, Es zittert durch all meine Glieder Deine selige Gegenwart! Hermann Hesse
Und die Seele unbewacht Will in freien Flügen schweben, Um im Zauberkreis der Nacht Tief und tausendfach zu leben. Hermann Hesse
2. September Der Garten trauert, Kühl sinkt in die Blumen der Regen. Der Sommer schauert Still seinem Ende entgegen.
4. Im Abendrot Wir sind durch Not und Freude Gegangen Hand in Hand: Vom Wandern ruhen wir beide Nun überm stillen Land.
Golden tropft Blatt um Blatt Nieder vom hohen Akazienbaum. Sommer lächelt erstaunt und matt In den sterbenden Gartentraum.
Rings sich die Täler neigen, Es dunkelt schon die Luft, Zwei Lerchen nur noch steigen Nachträumend in den Duft.
Lange noch bei den Rosen Bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh. Langsam tut er die großen, Müdgewordnen Augen zu. Hermann Hesse
Tritt her und lass sie schwirren, Bald ist es Schlafenszeit, Dass wir uns nicht verirren In dieser Einsamkeit. O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot, Wie sind wir wandermüde – Ist das [Strauss: dies] etwa der Tod? Joseph v. Eichendorff
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Richard Strauss
Franz Schubert (1797–1828) Symphonie Nr. 8 C-Dur D 944 Die Große 1. Andante – Allegro, man non troppo – Più moto 2. Andante con moto 3. Scherzo. Allegro vivace – Trio 4. Allegro vivace Komponiert 1825-28 Uraufführung Leipzig Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher Zum ersten Mal im Rahmen der Musikalischen Akademie im 3. Abonnementkonzert 1844/45 am 27. November 1844 (Dirigent: Franz Lachner), zuletzt im 4. Akademiekonzert 2007/ 08 am 11./12. Februar 2008 (Dirigent: Kent Nagano)
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Franz Schubert
Uwe Schweikert „... wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“ Franz Schuberts große C-Dur-Symphonie Ein einschüchterndes Vorbild „Ich werde nie eine Symphonie komponieren können. Du hast keinen Begriff, wie einem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört“, klagte Johannes Brahms gegenüber dem Dirigenten Hermann Levi über das Gespenst des übermächtigen Symphonikers Beethoven, das ihm im Nacken saß. Franz Schubert ging es ein halbes Jahrhundert zuvor kaum anders. „Heimlich im Stillen hoffe ich wohl selbst noch etwas aus mir machen zu können, aber wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“, soll er, so berichtet es der Freund Josef von Spaun in seinen Erinnerungen, geklagt haben. Während der 16-jährige Konviktszögling und Gymnasiast Schubert an seiner ersten Symphonie saß, schloss Beethoven gerade die Siebte und Achte ab. Schubert scheint in seinen sechs bis 1818 entstandenen Jugendsymphonien bewusst an Beethoven vorbei geschrieben und sich in die Tradition Joseph Haydns und Wolfgang Amadeus Mozarts gestellt zu haben. Dennoch stand das große Vorbild, das sein unmittelbarer Zeitgenosse war und dem er in Wien täglich hätte begegnen können, unverrückbar vor seinen Augen. Vier symphonische Fragmente aus den Krisenjahren 1818 bis 1823, darunter der einzigartige Solitär der im dritten Satz abgebrochenen und liegengelassenen h-Moll-Symphonie, der sogenannten Unvollendeten, zeugen für sein nicht nachlassendes Ringen um die große Form. „Den Weg zur großen Symphonie“, wie es im Brief vom 31. März 1824 an Leopold Kupelwieser heißt, versuchte er sich auf den Seitenpfaden des Streichquartetts und des Oktetts zu „bahnen“, während Beethoven im Mai 1824 mit der die Gattung krönenden und zugleich durch das Chorfinale überschreitenden 9. Symphonie an die Öffentlichkeit trat. Schuberts Antwort war die große, im Frühsommer 1825 auf einer Wanderung durch Oberösterreich begonnene C-Dur-Symphonie. Lange geisterte durch die Schubert-Literatur das Phantom einer verschollenen „Gmunden-Gasteiner Symphonie“. Heute geht man davon aus, dass sie mit der C-Dur-Symphonie D 944 identisch ist, an der Schubert mutmaßlich bis ins Jahr 1828 gearbeitet hat. Eine Aufführung durch die Wiener „Gesellschaft der Musikfreunde“ war geplant, kam aber wegen des Umfangs und der spieltechnischen Herausforderungen der Partitur nicht zustande. Erst das Engagement der jüngeren Romantiker Robert Schumann und Felix Mendelssohn 11
brachte das Werk an die Öffentlichkeit. Anlässlich seines Wien-Aufenthalts entdeckte Schumann im Januar 1839 die Partitur in einer Kiste bei Schuberts älterem Bruder Ferdinand und veranlasste diesen, eine Abschrift davon an Mendelssohn zu senden, der die Uraufführung der Symphonie am 21. März 1839 in einem Leipziger Gewandhaus-Konzert dirigierte. 1840 erschien der Stimmendruck, 1849 der Erstdruck der Partitur bei Breitkopf & Härtel. In Wien erklang das vollständige Werk erstmals am 1. Dezember 1850. Wirkung auf Künstler und Denker Schumann hat als Erster nicht nur die Bedeutung, sondern in seinem Bericht in der Neuen Zeitung für Musik vom 10. März 1840 hellsichtig auch das Besondere dieser Symphonie erkannt, die „uns in eine Region führt, wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern können“: „Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Composition, noch Leben in allen Fasern, Colorit bis in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des Einzelnen, und über das Ganze endlich eine Romantik ausgegossen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt. Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann (…). Die völlige Unabhängigkeit, in der die Symphonie zu denen Beethoven’s steht, ist ein anderes Zeichen ihres männlichen Ursprungs.“ Drei wesentliche Eigenheiten des Symphonikers Schubert – das Fragment der Unvollendeten war damals noch gänzlich unbekannt und wurde erstmals 1865 aufgeführt! – hebt Schumann hervor: den romantischen Tonfall; den neuen, von Beethoven, dem paradigmatischen Symphoniker abweichenden Weg; nicht zuletzt die „himmlische Länge“, denn mit über 60 Minuten Spieldauer ist dieses Werk bis zu Bruckners Fünfter die längste rein instrumentale Symphonie des 19. Jahrhunderts. Noch Mahler hat zahlreiche Striche vor allem im zweiten wie vierten Satz vorgenommen, und selbst heute sind Aufführungen, die ausnahmslos alle Wiederholungszeichen – vor allem im Scherzo – befolgen, die Ausnahme. Schumann hat das Wesen des Symphonikers, ja des Komponisten Schubert in Abgrenzung zu Beethoven in einem einzigen Begriff erfasst, wenn er „vom novellistischen Charakter“ spricht, der seine Musik „durchweht“. Schubert übernimmt Beethovens Großform der viersätzigen Anlage und ihrer Abfolge, bei der zwei schnelle Ecksätze einen langsamen Satz und das Scherzo mit Trio umfassen, wobei ihm vor allem dessen 7. Symphonie mit ihrer tänzerischen Ekstase vor Augen stand. Er erfüllt die Form, sprengt sie aber gleichsam von innen heraus, denn Franz Schubert
das Telos seiner Musik wie das in ihr pulsierende Leben sind von Beethovens musikalischem Ideendiskurs gänzlich verschieden. Ziel der klassischen Symphonie wie der Sonatenform war die Mannigfaltigkeit in der Einheit. Beethovens Prinzip folgt, ganz im Sinne von Kants Philosophie, einem zielgerichteten dialektisch-dramatischen Prozess, bei dem das Besondere und das Allgemeine der Form, nämlich die logische Entwicklung motivisch-thematischer Arbeit und die Überzeugungskraft des kompositorischen Verfahrens einander durchdringen. Schuberts Musik ist anders. Sie dramatisiert die Form nicht, sondern poetisiert sie und eröffnet mit ihrem lyrischepischen, manchmal geradezu gewalttätigen Singen den Blick auf eine innere Landschaft. Statt Zielgerichtetheit herrscht Zeitlosigkeit, statt Entwicklung permanente Wiederkehr und passive Reihung – ein Gewährenlassen des gleichsam in die Breite drängenden und die Zeit aufhebenden musikalischen Geschehens. Beim zweiten Thema des Finalsatzes wiederholen die Streicher sowohl in der Exposition wie in der Reprise jeweils 88 Takte hartnäckig ein und dieselbe Begleitfigur, im Trio des Scherzos fast 150 Takte, als wolle die Musik mit ihren schier endlosen Tonrepetitionen den Fortgang unterbinden und die Zeit sistieren. „Schuberts Formen sind Formen der Beschwörung des einmal Erschienenen, nicht Verwandlung des Erfundenen.“ So hat Theodor W. Adorno es in seinem wegweisenden Essay aus dem Jahre 1928 beschrieben: „Schuberts Themen wandern … Nicht Geschichte kennen sie, sondern perspektivische Umgehung: aller Wechsel an ihnen ist Wechsel des Lichtes.“ Dieses Umkreisen, ja Einkreisen des Gegebenen gilt für alle vier Sätze der C-Dur-Symphonie. Das Geheimnis ihrer Wirkung beruht auf der Kunst, dasselbe durch eine wechselnde Beleuchtung – die Modulationsgänge der Harmonik, die oft harten Kontraste der Dynamik, die Instrumentation mit ihren Schattierungen der Klangfarbe – stets anders erscheinen zu lassen. Schubert, so der Dirigent und Musikschriftsteller Peter Gülke, „komponiert das identisch Scheinende als ein Anderes.“ Interpretationen und Eindrücke Gleich die feierlichen, mystisch-hymnischen Hornrufe der Andante-Einleitung zum Kopfsatz machen unmissverständlich hörbar, dass uns hier etwas Neues, Besonderes erwartet. Diese acht Takte sind weit mehr als nur ein Motto, denn sie enthalten keimhaft bereits die ganze Sinfonie. Melodisch tragen sie fast alle thematischen Prägungen des ersten Satzes, rhythmisch präfiguriert ihr energisch punktierter, daktylischer Wanderschritt das marschartige 12
Andante und atmosphärisch eröffnen sie eine romantische Klangwelt, ja geradezu eine das Ganze überwölbende „Klangraum-Epiphanie“ (Dieter Schnebel) und kehren triumphal als Ziel am Ende der das Tempo beschleunigenden Coda wieder. Das Andante selbst ist deutlich vom in derselben Tonart a-Moll stehenden Allegretto-Satz aus Beethovens 7. Symphonie geprägt und geht doch in jeder Hinsicht über das Vorbild hinaus. Es ist ein Mahler’scher Marsch in den Tod. Im punktierten Rhythmus tritt die Musik wie unter einem manischen Wiederholungszwang, den selbst ein schwereloser Seitensatz in A-Dur nicht lösen kann, in sich kreisend auf der Stelle. Nach viermaligen Anlauf ereignet sich der katastrophische Zusammenbruch: die Musik bleibt in hoher Lage im dreifachen Fortissimo auf einem verminderten Dreiklang stehen, der keinen Bezug mehr zum Grundton besitzt, bricht ab und verstummt in einer Generalpause völlig. Der sich dahinschleppende Rest des Satzes bewegt sich in bruchstückhaften Wiederholungen und trümmerhaften Fragmenten des Hauptthemas weiter, ehe er in kraftlosem Pianissimo erlischt. In eine andere Welt führen das Scherzo und der Finalsatz. Das mit seinen vielen Wiederholungen fast den Umfang der beiden Ecksätze erreichende Scherzo (Allegro vivace) ist von gleichbleibend rastloser, vorwärtsdrängender Motorik erfüllt. Spielerische Ideen und Melodien führen zu starken, effektvollen Kontrastierungen. Das nachkomponierte Trio im Ton eines breit dahin strömenden, terzenseligen Ländlers entführt in die Bezirke der volkstümlichen Tanzmusik. Das Finale (Allegro vivace) schließlich, in dem Schubert den Anfang von Beethovens Melodie „Freude schöner Götterfunken“ aus der 9. Symphonie in „rauschhafter Überhöhung“ (Peter Gülke) zitiert, führt in einen kreisenden, nicht enden wollenden Wirbel – ein triumphaler, manischer Kehraus von geradezu appellatorischer Wirkung, der ohne den Durchbruch zu Schillers Ode an die Freude im Schlusssatz von Beethovens Neunter nicht zu denken ist und ohne Worte reine, absolute Musik bleibt. In aller ekstatischen Überschwänglichkeit ist dabei doch ein dunkler Beiklang, eine Wollust zur grenzenlosen Frenesie nicht zu überhören, als wolle die Musik uns hier in einen Taumel versetzen, der sie selbst vernichtet, weil eine solche alle Maße sprengende Transzendierung der Realität über das irdisch Begrenzte hinaus zielt: „Tausend Stimmen lockend schlagen, / Hoch Aurora flammend weht, / Fahre zu! ich mag nicht fragen, / Wo die Fahrt zu Ende geht!“ (Joseph v. Eichendorff)
Franz Schubert
„Symfonie. / März 1828 / Frz. Schubert mp. [= manu propria, eigenhändig] / Nach dem Original copirt von Ferd. Schubert mp.“ Diese Abschrift überließ Schuberts Bruder Robert Schumann, der sie Felix Mendelssohn für die Uraufführung des Werkes übermittelte.
Was für ein unerschöpflicher Reichtum an melodischer Erfindung war in diesem Komponisten, der seine Laufbahn zu früh beendet hat! Welch ein Überfluss an Fantasie und welch scharf umrissene Eigenart! Pjotr Iljitsch Tschaikowski 13
Franz Schubert
Heute war ich selig, in der Probe wurde eine Symphonie von Franz Schubert gespielt. (…) Die ist Dir nicht zu beschreiben, das sind Menschenstimmen, alle Instrumente, und geistreich über die Maßen (…). Robert Schumann an seine Braut Clara Wieck, Dezember 1839
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An den Ausschuss des österreichischen Musik-Vereins. Von der edeln Absicht des österr. Musik-Vereins, jedes Streben nach Kunst auf die möglichste Weise zu unterstützen, überzeugt, wage ich es, als ein vaterländischer Künstler, diese meine Sinfonie demselben zu widmen und sie seinem Schutz höflichst anzuempfehlen. Mit aller Hochachtung Ihr Ergebener Frz. Schubert mpia. [= manu propria, eigenhändig]
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Franz Schubert, Tuschpinselzeichnung vermutlich von Josef Teltscher, mit Schuberts eigenhändiger Widmung: „Denken Sie möglichst oft an Ihren Franz Schubert mpa.“, Wien 1825
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Franz Schubert
ZUBIN MEHTA
Dirigent
CAMILLA NYLUND
Solistin
zählt zu den großen Dirigenten unserer Zeit. Er hat die Bayerische Staatsoper in einer wichtigen Periode ihres Bestehens als Chefdirigent geprägt und kehrt seither als verehrter Gast und Freund regelmäßig für Opern- und Konzertauftritte ans Pult des Nationaltheaters zurück. Zubin Mehta wurde in Bombay geboren und erhielt von seinem Vater seine erste musikalische Ausbildung; sein Dirigierstudium absolvierte er an der Wiener Musikakademie bei Hans Swarowsky. Er gewann den Internationalen Dirigentenwettbewerb von Liverpool und war Preisträger der Akademie in Tanglewood. Er war Music Director des Montreal Symphony Orchestra und des Los Angeles Philharmonic Orchestra. 1969 wurde er musikalischer Berater des Israel Philharmonic Orchestra, wo man ihn 1977 zum Chefdirigenten und 1981 zum Music Director auf Lebenszeit ernannte; seit 2019 fungiert er dort als „Music Director emeritus“. Von 1978 bis 1991 war er künstlerischer Leiter des New York Philharmonic Orchestra, von 1985 bis 2018 Chefdirigent des Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino in Florenz, dem er seither als Ehrendirigent auf Lebenszeit verbunden ist. Sein Debüt als Operndirigent gab er 1964 in Montreal mit Tosca und stand seitdem am Pult der Metropolitan Opera in New York, der Wiener Staatsoper, des Royal Opera House Covent Garden in London, des Teatro alla Scala in Mailand, der Opernhäuser in Chicago und Florenz sowie bei den Salzburger Festspielen. Von 1998 bis 2006 war Zubin Mehta Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, wo er 2006 zum Ehrenmitglied ernannt wurde. 2008 wurde er mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet. Zudem ist er Ehrendirigent der Wiener und der Münchner Philharmoniker, des Los Angeles Philharmonic Orchestras, der Staatskapelle Berlin und des Bayerischen Staatsorchesters. 2011 erhielt er als erster klassischer Musiker einen eigenen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. 2006 eröffnete er mit einer Produktion von Beethovens Fidelio den Palau de les Arts Reina Sofia in Valencia. An der Bayerischen Staatsoper hat er in den vergangenen Jahren eine Wiederaufnahme von Fidelio, die Neuproduktion von Un ballo in maschera und mehrere Akademiekonzerte geleitet.
Die finnische Sopranistin Camilla Nylund singt regelmäßig auf den wichtigen Konzertpodien mit den führenden Orchestern und Dirigenten und ist Gast an den großen Opernhäusern der Welt. In Vaasa (Finnland) geboren, studierte sie Gesang unter anderem bei Eva Illes und am Salzburger Mozarteum, wo ihr 1995 die Lilli-Lehmann-Medaille verliehen wurde. Von 1995 bis 1999 war sie Ensemblemitglied in Hannover und anschließend drei Spielzeiten an der Semperoper Dresden engagiert, wo sie im Jahr 2000 mit dem Christel-Goltz-Preis ausgezeichnet wurde und der sie bis heute eng verbunden ist. Seitdem verfolgt Camilla Nylund eine erfolgreiche internationale Karriere und ist an den renommiertesten Opernhäusern zu Gast, darunter die Finnische Nationaloper in Helsinki, die Königliche Oper Kopenhagen, die Deutsche Oper Berlin, die Staatsoper Hamburg, die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, De Nationale Opera in Amsterdam, die Wiener Staatsoper, die Oper Zürich, das Teatro La Fenice in Venedig, die Opernhäuser in Paris, London, Barcelona, San Francisco, San Diego, Tokio sowie die Bayreuther Festspiele und die Metropolitan Opera in New York. Ihr breitgefächertes Repertoire umfasst Partien wie Salome, Leonore (Fidelio), Fiordiligi (Così fan tutte), Agathe (Der Freischütz), Eva (Die Meistersinger von Nürnberg), Elisabeth (Tannhäuser), Elsa (Lohengrin), Sieglinde (Die Walküre), Gutrune (Götterdämmerung), Marie (Die verkaufte Braut), Chrysothemis (Elektra), die Titelpartien von Ariadne auf Naxos und Arabella, Kaiserin (Die Frau ohne Schatten), Marschallin (Der Rosenkavalier), die Frau in Schönbergs Erwartung, Rosalinde (Die Fledermaus) und Marietta (Die tote Stadt). Außerdem ist sie weltweit als Konzertsängerin aufgetreten. In Oper und Konzert arbeitet sie gleichermaßen mit vielen der wichtigsten Dirigenten unserer Zeit wie Daniel Barenboim, Zubin Mehta, Sir Simon Rattle, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Im Jahr 2008 wurde ihr vom Freistaat Sachsen der Titel Kammersängerin verliehen. 2013 erhielt sie den Schwedischen Kulturpreis und die Pro Finlandia Medaille. 2019 wurde sie zur Wiener Kammersängerin ernannt.
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Biografien
Das Bayerische Staatsorchester ist eines der ältesten und traditionsreichsten Orchester der Welt. Aus der Münchner Hofkapelle hervorgegangen, lassen sich seine Ursprünge bis in das Jahr 1523 zurückverfolgen; der erste berühmte Leiter des Ensembles war von 1563 an Orlando di Lasso. Stand zunächst die Kirchenmusik im Zentrum, kamen im Laufe des 17. Jahrhunderts mehr und mehr weltliche Konzerte und Opernaufführungen hinzu. In der Mitte des 18. Jahrhunderts begann der regelmäßige Operndienst, der bis heute die Hauptaufgabe des Orchesters ausmacht. Im Jahre 1811 wurde von den Musikern des Hofopernorchesters der Verein der Musikalischen Akademie gegründet, der die erste öffentliche Konzertreihe in München, die „Akademiekonzerte“, ins Leben rief. Die Musikalische Akademie mit ihren symphonischen, kammermusikalischen und musikpädagogischen Aktivitäten ist seither ein prägender Bestandteil des Münchner und des bayerischen Musiklebens. Unter den vielen großen Komponisten, mit denen das Orchester verbunden war, ragt Richard Wagner heraus. 1865 dirigierte Hans von Bülow die Uraufführung von Wagners Tristan und Isolde. Auch dessen Opern Die Meistersinger von Nürnberg, Das Rheingold und Die Walküre wurden in München uraufgeführt. Viele der bedeutendsten Dirigenten ihrer Zeit, von Richard Strauss über Bruno Walter und Hans Knappertsbusch bis zu Georg Solti, Joseph Keilberth, Wolfgang Sawallisch und Zubin Mehta, haben dem Orchester als Chef vorgestanden. Auch mit Carlos Kleiber verband das Orchester eine enge Beziehung. Auf Kent Nagano folgte als neuer Bayerischer Generalmusikdirektor Kirill Petrenko, der mit Beginn der Spielzeit 2013/14 sein Amt antrat. 2016 war das Orchester mit Kirill Petrenko auf Europatournee und gab Konzerte unter anderem in Mailand, Paris, Berlin und Wien. 2017 fand neben dem Japan-Gesamtgastspiel der Bayerischen Staatsoper eine Asien-Tournee statt, im Jahr darauf standen Konzerte in Hamburg (Elbphilharmonie), New York (Carnegie Hall) und London (Barbican Centre) auf dem Spielplan. 2019 gastierte das Orchester im neuen Konzertsaal von Lugano und im Wiener Konzerthaus; mit dem Programm des 1. Akademiekonzerts 2020/21 war es – erstmals unter seinem künftigen Chefdirigenten – zu Gast im KKL Luzern.
Besetzung 3. Akademiekonzert
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Bayerisches Staatsorchester
1. Violine Markus Wolf (Erster Konzertmeister), Barbara Burgdorf (Konzertmeisterin), So-Young Kim, Cäcilie Sproß, Dorothea Ebert, Susanne Gargerle, Corinna Desch, Verena-Maria Fitz 2. Violine Matjaž Bogataj (Stimmführer), Daniela Huber, Martin Klepper, Traudi Pauer, Isolde Lehrmann, José Monton, Julia Pfister, Hanna Asieieva Viola Adrian Mustea (Erste Solobratsche), Stephan Finkentey (stv. Solobratsche), Christiane Arnold, Tilo Widenmeyer, Anne Wenschkewitz, Wiebke Heidemeier Violoncello Yves Savary (Solovioloncello), Rupert Buchner, Roswitha Timm, Anja Fabricius, Clemens Müllner, Constantin Pritz** Kontrabass Florian Gmelin (Solokontrabass), Reinhard Schmid, Thomas Herbst, Alexander Önce, Vicente Salas** Harfe Gaël Gandino Flöte Paolo Taballione (Soloflöte), Christoph Bachhuber (stv. Soloflöte), Andrea Ikker, Vera BeckerÖttl, Katharina Kutnewsky Oboe Frédéric Tardy (Solooboe), Simone Preuin (stellv. Solooboe), Heike Steinbrecher (Englischhorn) Klarinette Andreas Schablas (Soloklarinette), Jürgen Key, Martina Beck-Stegemann (Bassklarinette) Fagott Holger Schinköthe (Solofagott), Susanne von Hayn, Gernot Friedrich (Kontrafagott) Horn Pascal Deuber (Solohorn), Milena Viotti, Maximilian Hochwimmer, Christian Loferer Trompete Andreas Öttl (Solotrompete), Christian Böld, Andreas Kittlaus Posaune Ulrich Pförtsch (Soloposaune), Richard Kamleiter, Matthias Kamleiter (Bassposaune) Tuba Steffen Schmid Pauke Ernst-Wilhelm Hilgers Celesta Nobuko Nishimura-Finkentey * Gast ** Akademisten
1. AKADEMIEKONZERT Nationaltheater, 5. und 6. Oktober 2020, 20 Uhr Brett Dean Testament – Music for Orchestra Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36 Ludwig van Beethoven Violinkonzert D-Dur op. 61 Vladimir Jurowski – Frank Peter Zimmermann Violine Gastspiel in Luzern, KKL Mittwoch, 7. Oktober 2020, 19:30 Uhr VI. MONTAGSSTÜCK / 2. AKADEMIEKONZERT Nationaltheater, 7. Dezember 2020, 20.15 Uhr Ludwig van Beethoven Coriolan-Ouvertüre Gustav Mahler Kindertotenlieder Antonín Dvořák Symphonie Nr. 7 d-Moll Krzysztof Urbański – Thomas Hampson Bariton XI. MONTAGSSTÜCK / 3. AKADEMIEKONZERT Nationaltheater, 25. Januar 2021, 20.15 Uhr Richard Strauss Vier letzte Lieder Franz Schubert Symphonie Nr. 8 C-Dur D 944 Die Große Zubin Mehta – Camilla Nylund Sopran 4. AKADEMIEKONZERT Programm und Datum werden noch bekannt gegeben. Kirill Petrenko 5. AKADEMIEKONZERT Nationaltheater, 26. und 27. April 2021, 20 Uhr Nikolai Rimsky-Korsakow Sadko. Musikalisches Gemälde op. 5 Alexander Glasunow Violinkonzert a-Moll op. 82 Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstellung Yuri Simonov – Alexander Rozhdestvensky Violine 6. AKADEMIEKONZERT Nationaltheater, 24 und 25. Mai 2021, 20 Uhr Gabriel Fauré Suite aus Pelléas et Mélisande op. 80 Camille Saint-Saëns Violoncellokonzert Nr. 1 a-Moll Guillaume Lekeu Adagio pour Quatuor d’orchestre Francis Poulenc Sinfonietta Joseph Bastian – Maximilian Hornung Violoncello
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Vorschau
Impressum BAYERISCHES STAATSORCHESTER Programmheft zum XI. Montagsstück (3. Akademiekonzert) 2020/2021 Abbildungen Wilfried Hösl (Porträt Zubin Mehta), anna.s. (Porträt Camilla Nylund), Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen (Particell Im Abendrot) Archiv Redaktion Malte Krasting Mitarbeit Sören Sarbeck Gestaltung Bureau Borsche Druck Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Die Texte von Dr. Uwe Schweikert sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. „Werke in Kürze“ (Schubert): Redaktion, (Strauss) unter Benutzung eines Textes von Anette Unger. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. 20
Der FreischĂźtz Carl Maria von Weber Bayerische Staatsoper Online-Premiere 13.2.21
Erleben Sie die Online-Premiere ab 18.30 Uhr kostenlos und bequem von zu Hause www.staatsoper.tv Kostenloses Video-on-Demand ab 15.2.21, 19.00 Uhr www.staatsoper.de/on-demand
Bayerische Staatsoper 2020 / 2021
Nationaltheater, 25.1.2021