HEUTE IST MORGEN
Spielzeit 2021–22
Jonah Cook PLAYED Philippe Kratz TO GET TO BECOME
2 Heute ist morgen
Özkan Ayik
DUNKELGRAU
Premiere Freitag, 24. Juni 2022 Beginn 19.30 Uhr Prinzregententheater München
Spielzeit 2021–22
Heute ist morgen
Bayerisches Staatsballett
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HEUTE IST ChoreographienMORGENvonÖzkan Ayik, Jonah Cook und Philippe Kratz
Bayerisches Staatsballett
Musik von Petro Armstrong, Jóhann Jóhannsson, Qasim Naqvi, The Vernon Spring
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BallettDUNKELGRAUvonÖzkan Ayik
Staatsballett Spielzeit 2021–22
Özkan Ayik
Choreographie
Uraufführung der Choreographie beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Heute ist morgen im Prinzregententheater München, 24. Juni 2022
Bayerisches Staatsballett
Bayerischesdunkelgrau
Musik Petro Armstrong, Jóhann Jóhannsson, Qasim Naqvi, The Vernon Spring Bühne und Kostüme Özkan Ayik Licht Christian Kass Ballettmeister Norbert Graf
Essay über die kreativen Antriebskräfte im choreographischen Schaffen von Özkan Ayik
OrientierungspunkteimUnbestimmten
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Serge Honegger
Der Raum der Bühne ist prinzipiell ein Raum der Unbestimmtheit. Welches Geschehen sich ihm einschreiben soll, um ihn zu einem definierten Raum umzuformen, bildet eine der zentralen Fragestel lungen für die choreographische Tätigkeit. Sie liegt auch der künstlerischen Arbeit Özkan Ayiks zugrunde und manifestiert sich ganz konkret im Bewegungsmaterial, das er im Studio entwickelt. Die Faszination der Kunstform Ballett liegt für ihn „in der Magie, dass etwas zur Erscheinung gelangt, das zuvor nicht existierte“. In seiner choreographischen Arbeit setzt er Schritte und Gesten nicht leichtfertig ein. Er gibt sich Zeit, bis ihm eine Idee umsetzbar erscheint und arbeitet die Abläufe präzise heraus. Es ist ihm wichtig, die tän zerischen Figuren lesbar zu machen und dem Publikum die Gelegen heit zu geben, die Logik der einzelnen Bausteine der Choreographie nachvollziehen zu können. Obwohl er eine genaue Vorstellung von der Richtung hat, die sein Ballett nehmen soll, lässt er sich die definitive Form offen, um im Prozess auf Entwicklungen reagieren zu können: „Während der Proben tauchen verschiedene Fragen auf und mit ihnen neue Möglichkeiten, aber man kann nur ein paar davon weiterverfolgen. Ich habe eine Vorstellung, wie das Stück enden soll, aber das Bild kann sich während der Arbeit am Material immer wieder ändern.” Anhand seiner konzeptuellen Überlegungen zum Stück lässt sich bei Özkan Ayik ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Spannungsverhältnis zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit ausmachen. Dies manifestiert sich auch in der Probenarbeit. So fordert er beispielswei se bei einem Übergang von einer choreographischen Sequenz zur nächsten die Tänzerinnen und Tänzer zu einem Spiel mit dem Be stimmten und Unbestimmten auf: „Zuerst tust du nichts und gehst nur durch den Raum... und dann lass plötzlich etwas Neues beginnen. Sei scharf und wähle deinen Fokus ganz entschieden.“ Gerade die Auseinandersetzung mit der Kategorie der „Unbestimmt heit“ erfordert eine besondere Präzision. Es handelt sich für Özkan Ayik um eine Annäherung an eine Konstellation von Körper und Raum, die den jeweiligen Moment in der Choreographie definiert: „Wenn ich ein Tanzstück kreiere, ist es nicht wichtig, was die Tänzerinnen und Tänzer tun, sondern wie sie es tun. Gleichzeitig habe ich nicht
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viel Kontrolle, insbesondere wenn wir improvisieren. Das Schöne dabei ist, dass man unkalkulierte Schritte und Formen findet. Dieser Prozess kann potenziell endlos sein. In einer idealen Welt würden wir die Schritte gemeinsam entdecken, verschiedene Richtungen ausprobieren und auf diese Weise immer weitergehen. Aber in der realen Welt und in einer konkreten Produktion müssen wir uns schließ lich für ein Konzept entscheiden und die Form fixieren.” Das choreo graphische Material von Männern und Frauen unterscheidet sich dabei nicht. Alle bewegen sich durch dieselbe Welt und sind mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Özkan Ayik, der selbst noch als Tänzer tätig ist, möchte dem En semble, mit dem er arbeitet, Raum lassen, damit die Beteiligten den passenden Ausdruck für sich selbst entdecken können. „Was ich mir persönlich für dunkelgrau wünsche, ist eine kontinuierliche Bewegung, ein Reisen, wie ein „moonwalk“. Dahinter steckt kein Plan, es sollte sich so anfühlen, als würde sich das Geschehen gerade im Moment ereignen.” Mit dieser Offenheit für das Ungeplante ist auch das Risiko gegeben, dass man in eine Sackgasse gerät oder vor eine große Leere zu stehen kommt.“ Im Gespräch nennt Özkan Ayik den Begriff „nothingness“ (das Nichts) als ein Wort, das ihm oft begegne und auch beim Choreographieren präsent sei: „Das Nichts, dieses Wort taucht in meinem Leben in verschiedenen Situationen auf. Und es ist nicht immer schön, mit den damit verbundenen Assoziationen und Gefühlen konfrontiert zu sein. Der suchende Charakter in vielen meiner Choreographien kommt von der Auseinander setzung mit dem Nichts. Auch in dunkelgrau gibt es Momente, in denen manche Menschen ihren Platz finden, und Momente, in denen sie wieder ins Ungewisse fallen.” Auf die fragile menschliche Existenz verweist ebenfalls der Titel dunkelgrau. Für Özkan Ayik stellt die Farbe Grau ein „Mittleres“ dar, das zwischen den Polen Weiß und Schwarz pendelt. Dem Grau haftet für ihn etwas Unentschiedenes an, das dazu auffordere, eine Wahl zu treffen. Weil man nie über alle Informationen verfüge, würden Entscheidungen meistens vor dem Hintergrund des Unentscheidbaren und des Nichts getroffen. Auch deshalb möchte Özkan Ayik das Grau seines Titels mit dem Adjektiv dunkel versehen haben. Darin spiegelt sich für den Choreographen
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zum einen unser Nichtwissen. Zum anderen kommt im dunkel zum Ausdruck, dass wir uns in der suchenden Bewegung als verletzlich Nichterfahren.zuletzt
birgt für Özkan Ayik das Spiel mit dem Nichts ein faszinierendes Geheimnis. Auf die Frage, was er mit dem suchenden Charakter des Stücks mitteilen möchte, antwortet er, dass die Lösung im Ballett selbst liege. „Lasst es einfach auf euch wirken“, meint er. Dem Unbestimmten, dem Nichts, dem Namenlosen, vielleicht auch dem Schrecken vor der absoluten Leere setzt der Choreograph tänzerische Ausdrucksmittel entgegen. Diese lassen im offenen Raum der Bühne Momente hervortreten, die als „Bestimmtes“ zu Orientierungspunkten im Unbestimmten werden.
Özkan Ayik wurde in Seydişehir (Türkei) geboren und wuchs in Istanbul auf. Er stud ierte an der Mimar Sinan Universität in Istanbul und an der John Cranko Schule in Stuttgart. Zwischen 2008 und 2016 tanzte er beim Stuttgarter Ballett. Nach zwei Spielzeiten am Staatstheater am Gärtnerplatz (2017-2019) wechselte er an das Staatstheater Hannover, in die Compagnie von Marco Goecke. Im Laufe seiner Kar riere hat Ayik in Choreographien von John Cranko, Marco Goecke, Jiří Kylián, William Forsythe, Sidi Larbi Cherkaoui, Marina Mascarell, Ivan Perez, Erna Omarsdottir und Andonis Foniadakis getanzt. Im Januar 2013 präsentierte er bei den Jungen Choreo graphen der Noverre-Gesellschaft Stuttgart mit down down zum ersten Mal eine eigene Choreographie, gefolgt vom Solo two or three things (2014) und hands, be still (2016). Für das Staatsballett Hannover kreierte er a stutter (2021) und jisoo (2022). Für die Ausgabe 2021 von Heute ist morgen kreierte Özkan Ayik mit Tag Zwei erstmals eine Choreographie für das Bayerische Staatsballett. Im September 2021 wurde sein Solo halfway to nowhere auf der Bühne des Nationaltheaters in München im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung uraufgeführt. Mit dunkelgrau präsenti ert Özkan Ayik sein drittes Stück für die Münchner Compagnie.
ÖZKAN AYIK
Özkan Ayik
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Choreographie
Musik von Elvis Presley, Mikael Tariverdiev, Neil Young
Elvis Presley, Mikael Tariverdiev, Neil Young Bühne und Kostüme Jonah Cook
Bayerisches Staatsballett
BallettPLAYEDvon
Played
Musik
Licht Christian Kass
Jonah Cook
Uraufführung der Choreographie beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Heute ist morgen im Prinzregententheater München, 24. Juni 2022
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Jonah Cook
I won't attack you, but I won't back you.
Neil Young: Revolution Blues, aus dem Album On the Beach, 1974. Ich werde dich nicht angreifen, aber ich werde dich nicht unterstützen. / Ich werde dich nicht täuschen, ich glaube dir nur nicht.
I won't deceive you, I just don't believe you.
William Shakespeare: The Tragedy of Macbeth, Act 5, Scene 5, um 1606. Übersetzung von Dorothea Tieck, 1832: Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht sein Stündchen auf der Bühn’, und dann nicht mehr vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet.
Macbeth: Life’s but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage and then is heard no more. It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.
…
the make-up man's hands shut the eyes of the dead not to embarrass anyone, farewell Angelina, the sky is embarrassed and I must be gone.
Bob Dylan: Farewell, Angelina aus dem Album The Bootleg Series Vol. 2, 1991, zuerst interpretiert von Joan Baez in ihrem nach Dylans Song benannten Album von 1965. Übersetzung: … die Hände des Maskenbildners schließen die Augen der Toten, um niemanden in Verlegenheit zu bringen, leb wohl Angelina, der Himmel ist verlegen und ich muss weg.
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JONAH COOK
Jonah Cook stammt aus England. Seine Ausbildung begann er bei Liberatus Dance in Swindon und schloss diese an der Royal Ballet Upper School ab. Er tanzte im Corps de ballet des Royal Ballet unter anderem in Manon, Romeo und Julia und Der Nussknacker. In der Spielzeit 2012-13 war Jonah Cook Volontär und tanzte im En semble des Bayerischen Staatsballetts und des Bayerischen Staatsballetts II (heute Bayerisches Junior Ballet München). Zum Beginn der Spielzeit 2013-14 wurde er als Gruppentänzer engagiert. In der Spielzeit 2014-15 wurde Jonah Cook zum Halbsolis ten, bereits ein Jahr später zum Solisten befördert. Zu Beginn der Spielzeit 2017-18 erfolgte eine weitere Beförderung zum Ersten Solisten. Nach einer Spielzeit beim Ballett Zürich kehrte er 2020-21 nach München zurück. Hier tanzte Jonah Cook zuletzt unter anderem die Uraufführung von Marco Goeckes Sweet Bones' Melody. Außerdem war er als Vladimir in Der Schneesturm von Andrey Kaydanovskiy, als Hilarion in Giselle oder als Benjamin in Christopher Wheeldons Cinderella zu sehen. Sein Sinn für Theatralik zeigt sich nicht nur in seiner Faszination für ein Stück wie Pina Bauschs Für die Kinder von gestern, heute und morgen, das 2016 auf der Büh ne des Nationaltheaters gezeigt wurde. Jonah Cook hat auch ein ausgeprägtes Interesse an Spielarten des „Physical theatre", wie es in zahlreichen zeitgenössischen Tanzstilen Anwendung findet. Mit Played stellt er sich im Rahmen von Heute ist morgen nun erstmals als Choreograph vor. Er lässt in dieser Arbeit jene Elemente einfließen, die er auch als Tänzer besonders schätzt: komplexe Charaktere, körper lich und technisch anspruchsvolle Aufgaben sowie eine ausgeprägte Intensität in der Darstellung. Dem englischen Begriff „played“ liegt ein ganzes Spektrum an Be deutungen zugrunde, die Jonah Cook in seiner Choreographie aufleuchten lässt. Neben dem selbstvergessenen „spielen“, ohne welches das Theater gar nicht ex istierte, meint „played“ auch, das einem übel mitgespielt oder ein Spiel getrieben wurde, in das man ohne eigenes Zutun hineingeriet. Das Spielen ist mit Risiken verbunden, da der Ausgang der verschiedenen Züge nicht vorhersehbar ist. Es produziert Gewinner und Verlierer, die sich allesamt mit den ihnen zugewiesenen Rollen arrangieren müssen. Zudem kann das Spiel leicht in ein todernstes Gesche hen umschlagen, aus dem jede Leichtigkeit verschwindet und worin das Leben buchstäblich auf dem Spiel steht. Gerade dieser schillernde Bereich zwischen dem Schöpferischen und dem Zerstörerischen fasziniert Jonah Cook: „Jedem Spiel liegt eine Ambiguität zugrunde“, wie er sein Interesse an der Bühnendarstellung in Worte fasst. Die Ambiguität schreibt sich in played den Körpern, Gesten und Schritten auf der Bühne ein und wirkt als ein energetisches Zentrum. Cook
Jonah
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Spielzeit 2021–22
Uraufführung der Choreographie beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Heute ist morgen im Prinzregententheater München, 24. Juni 2022
Choreographie Philippe Kratz Musik Gabriels und Mika Vainio Bühne und Kostüme Philippe Kratz Licht Christian Kass, Carlo Cerri Ballettmeister Javier Amo
to get to become
Bayerisches Staatsballett
Bayerisches Staatsballett
TO GET TO BECOME Ballett von Philippe Kratz Musik von Gabriels und Mika Vainio
Seelenvolle Abgründigkeit
Interview
Philippe Kratz über das Erzählen in der Gegenwart, seine Musikauswahl und Perspektiven für das zeitgenössische Ballett
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PK Philippe Kratz
SH Die Konzeption Deiner Choreographie, die nun aufgrund der Pandemie zwei Jahre später als geplant herauskommt, hat aufgrund der Verschiebung verschiedene Phasen durchlaufen und eine spannende Entwicklung durchgemacht. Der ameri kanische Schriftsteller James Baldwin blieb aber eine wichtige Fixgröße. Nicht zuletzt ist der Titel der Choreographie to get to become ein Fragment aus einer berühmten Rede, die Baldwin 1962 in New York hielt und in der er über künstlerische und menschliche Integrität nachdachte. Auf welche Weise ist James Baldwin in Deinem Ballett sonst noch präsent?
PK Tatsächlich stellt dieser Autor eine wichtige Referenz für meine Arbeit dar. Baldwins Stimme und seine Texte kommen nicht direkt im Stück vor, aber sie sind in meinen Gedanken und Überlegungen sehr gegenwärtig. Als Künstler hat er immer wieder darüber reflektiert, wie man sich in einer Welt positioniert, die einem Hindernisse entgegenstellt, wie man sie verändern, verbessern oder zumindest beschreiben kann, um mit ihr zurecht zu kommen. In der Filmdokumentation Meeting the Man: James Baldwin in Paris von 1970 kann man sehen, wie scharf sein Intellekt und sein Gespür für Rhetorik waren. Seine Eleganz ist gepaart mit einer Abgründigkeit, die ich auch in der Musik der Band Gabriels höre.
SH Wie würdest Du das Verhältnis von narrativen und abstrakten Elementen in Deiner Choreographie beschreiben?
PK In to get to become wird nicht direkt eine Geschichte abgehandelt, aber man wird eine Art Familienkonstellation erkennen, aus der sich unterschiedliche Dynamiken im Beziehungsge füge ergeben – ein permanentes Auseinander- und Zusammen treiben, Shuffle-Bewegungen entlang einer Diagonale sowie Gruppen- und Soloformationen. Ich schätze abstrakte Ballette sehr, aber zurzeit beschäftigt mich die Frage nach den Möglichkeiten des Erzählens auf der Bühne. Zudem hat das
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SH Serge Honegger
Choreographieren immer mit Austausch zu tun, man kann das nicht alleine machen, man braucht jemanden, der vor einem steht.
SH Das Geschichten-Erzählen ist in der Ballett- und Tanzszene etwas aus dem Fokus geraten. Wie schätzt Du diese Entwicklung persönlich ein?
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SH Das erzählerische Moment kommt auch in der Musik vor, die Du ausgewählt hast. Was transportieren die Songs für Dich? PK Für to get to become funktionierte es für mich nicht, mit einem abstrakten Soundscape zu arbeiten. Ich hatte das Gefühl, dass es für dieses Stück etwas braucht, das nicht kalt vor uns auf dem Teller liegt, sondern etwas, das einen emotional abholt. Im Fall der Band Gabriels hat die Musik wenig Modisches, dafür umso
PK Ich bin der Überzeugung, dass im Moment das Nachspielen von Geschichten oder das Entwickeln einer Handlung in der zeit genössischen Tanzszene wieder spannend sein kann, bin aber gleichzeitig in meinen Arbeiten generell mehr an einer Poetik des Angedeuteten interessiert. Wir leben doch immer in Erzäh lungen drin. Unsere ganze Biographie besteht daraus, unsere Identität, unser Streben in die Zukunft. Ich glaube, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, wo wir uns fragen können, welche Geschichten für uns relevant sind und wie wir sie erzählen wollen. Im Tanz geht es beispielsweise darum, wie man die Leute zueinander positioniert, damit ein Dialog entsteht. Es braucht dafür manch mal nur minimale Bewegungen, die gleichwohl hochkomplex sein können. Diese Struktur bildet die Grundlage dafür, dass wir als Zuschauer:innen unterbewusst in alles etwas Sinnvolles hineinlesen können. Das Faszinierende an Geschichten ist, dass es immer wieder ähnliche Handlungsstränge sind, aus denen sie zusammengesetzt sind. Damit werden Themen transportiert, die immer wieder erzählt werden wollen, aber einer jeweils gültigen Form bedürfen. Hier gibt es vor allem für das Ballett noch ganz viel zu entdecken und zu erforschen – schon nur deshalb sollte der Begriff des Handlungsballetts von jetzt an sehr weit gefasst werden.
PK Sowohl der elektronische Sound als auch Elemente von „camp“, die die Band einsetzen, faszinieren mich. Damit greifen sie etwas auf, was unsere Gegenwart auszeichnet. Was mir auch gefällt, ist, wie die drei Mitglieder der Band das Stereotype des Masku linen auf eine sehr intelligente Weise unterwandern und mit einem sehr breiten Spektrum an Stimmungen und Klängen arbeiten. Den Songs haftet meistens etwas Verletztes an. Es wird von Tragödien, von armen Verhältnissen oder von Personen erzählt, die ausgenützt werden oder sich ausnützen lassen. Die Verdammnis und das Verdorbene sind integrales Element dieser Musik.
PK Mich fasziniert dieses ästhetische Konzept, das auf den Möglichkeiten des Theatralen, des Übersteigerten und des Gender fluiden basiert. Neben der Auflösung von traditionellen Rollen bildern und Geschlechtsidentitäten spielt „camp“ zum einen mit dem Fantastischen, das sich ganz besonders in der Mode ausdrückt. Zum anderen eignet sich Camp das Irreale an, wodurch die Wirklichkeit einen absurden Anstrich bekommen und dazu einladen kann, dass wir sie unter einem neuen Blickwinkel sehen lernen. Und dieses Potenzial, eine andere Perspektive auf die Welt zu werfen, besitzt auch das zeitgenössische Ballett.
SH Gibt es in diesen Songs Elemente, die Dich ganz besonders für Deine künstlerische Arbeit inspirieren?
mehr Seele. Auch hat sie keine Angst vor einem gewissen Wie dererkennungswert. Dieser hängt für mich damit zusammen, dass sich diese Musik ihrer eigenen Geschichte bewusst ist, dem afro amerikanischen Soul der 1950er Jahre. Die Vergangenheit und das Erzählerische schwingen immer mit. Gerade deshalb haben die Songs etwas Zeitloses, was man zurzeit nur selten hört.
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SH Du hast mit „camp“ einen Begriff verwendet, der in ästhetischen Diskussionen über kulturelle Phänomene zurzeit öfters auftaucht. Was verbindest Du persönlich damit?
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Philippe Kratz wurde 1985 in Leverkusen geboren, kam durch die Pädagogin und Choreographin Suheyla Ferwer mit Tanztheater in Berührung und war fortan fasz iniert von allem, was Personen bewegt. Seine professionelle Ausbildung erhielt er ab 2002 an der École supérieure de danse du Québec im kanadischen Montreal und an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Nach seinem Abschluss wurde er von Xin Peng Wang ans Ballett Dortmund engagiert. 2008 folgte er der Einladung von Cristina Bozzolini an das Aterballetto im italienischen Reggio Emilia und tanzte un ter anderem in Werken von Ohad Naharin, Johan Inger, William Forsythe, Hofesh Shechter, Cristiana Morganti und weiteren Tanzschaffenden. Bereits 2010 begann er, kleinere Werke für das Ensemble des Aterballetto zu choreographieren, darunt er zum Beispiel Lettres d’amour (2012) und SPRING (2013). SENTieri, 2014 uraufgeführt, wurde 2016 in Ausschnitten beim Wiener Staatsballett und 2020 am Teatro alla Scala in Mailand aufgeführt. Sein erstes Auftragswerk für das Aterballetto war L’eco dell’acqua (2015), das er für 16 Tänzerinnen und Tänzer entwarf und das sich mit Goethes Gedicht Gesang der Geister über den Wassern von 1779 befasste. Das Werk Phoenix entstand 2017 für neun Tänzer:innen und wurde zum Wendepunkt in Kratz’ choreographischem Schaffen. Er legte dem Werk ein Konzept zugrunde, das den Entstehungsprozess über themenbasierte Improvisationen gestaltete. Einen besonderen Stellenwert nahm dabei auch die Neukomposition des italienischen Komponisten Borderline Order ein, die Philippe Kratz koproduzierte. In dem Duett „O“ von 2018 trat er erstmals selbst in einer seiner Choreographien an der Seite von Ivana Mastroviti auf. Das Werk wurde im gleichen Jahr mit dem ersten Platz am 32. Internationalen Wettbewerb für Choreographie ausgezeichnet und brachte Kratz eine artistic residency am Australian Dance Theatre in Adelaide ein. Das Chorwerk cloud|material feierte 2019 beim Oriente Occidente Festival im italienischen Rovere to Premiere. Zu diesem Werk wurde Kratz von Schriften der Bauhaus-Textilkünstler in und -Weberin Anni Albers inspiriert. 2014 und 2017 zeichnete die Zeitschrift TANZ Philippe Kratz als „Hoffnungsträger“ aus. Das italienische Magazin Danza&Danza kürte ihn im Januar 2020 zum Choreographen des Jahres. Neben to get to become beim Bayerischen Staatsballett kreiert er 2022 auf Einladung von Manuel Legris an der Mailänder Scala ein Werk zu Motiven aus der ägyptischen Mythologie.
PHILIPPE KRATZ
Philippe Kratz
Heute ist morgen
ProgrammbuchStaatsintendantBayerischeSpielzeitBallettdirektorBayerisches30IMPRESSUMStaatsballettLaurentHilaire2021-22StaatsoperSergeDornyzu
Stefan Mader, Jacky Martinović, Leon Wahlefeld
Gotteswinter und Fibo Druck- und Verlags GmbH, München
Bureau Borsche
Impressum
SergeREDAKTIONHoneggerKONZEPTUND
DRUCK UND HERSTELLUNG
GESTALTUNG
Choreographien liegen bei Özkan Ayik, Jonah Cook und Philippe Kratz. Die Musikrechte werden von den zuständigen Verlagen und Labels Sämtlichevertreten.TEXTNACHWEISETextesind
Originalbeiträge für dieses Programmheft.
31DieNachweiseAUFFÜHRUNGSRECHTERechteandenjeweiligen
aus den Proben zu den drei Choreographien stammen von Ksenia Orlova. Sie fotografierte das Ensemble im Juni 2022 in den Probesälen des Bayerischen Staatsballetts. S. 4: Elisa Mestres, Ensemble © Ksenia Orlova S. 10: Özkan Ayik © Ralf Mohr S. 12: Ksenia Ryzhkova, Jonah Cook © Ksenia Orlova S. 14: Florian Sollfrank © Ksenia Orlova S. 17: Jonah Cook, Bianca Teixeira © Ksenia Orlova S. 18: Bianca Teixeira © Ksenia Orlova S. 20: Jonah Cook © Martina Borsche S. 22: Andrea Marino, Raúl Ferreira © Ksenia Orlova S. 28: Philippe Kratz © Giacomo Bruno
DieBILDNACHWEISEFotosmitBildern
Für die Originalbeiträge alle Rechte vorbehalten. Urheber:innen, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.
MORGENISTHEUTEStaatsballettBayerisches2021–22Spielzeit