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Der Schneesturm
BS 20 – 21
Bayerisches Staatsballett 20 — 21 C: A. Kaydanovskiy M: L. Dangel UA: 17-04-21
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Der Schneesturm
Bayerisches Staatsballett 20 — 21 C: A. Kaydanovskiy M: L. Dangel SD: F. Trawöger, Tra öger, A. Landsmann, L. Dangel B: K. Hogl K: A. Arbesser L: C. Kass D: S. Honegger Bayerisches Staatsballett Bayerisches Staatsorchester
Uraufführung am 17.04.21 im Nationaltheater München unter der musikalischen Leitung von Gavin Sutherland
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S 0 – 1
Inhalt
01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
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Handlungsangabe Orientierungspunkte Offene Gebilde Schicksalsschnee Stürmischer Geist Choreographie und Sturm Der Schneesturm Biographien Fotostrecke Impressum
04 12 18 28 38 54 66 80 90 116
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01 – Handlungsangabe
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Der Schneesturm
S 4 – 5 Akt I
Familienbild I Marja, ihre wohlhabenden Eltern, die Zofe und der Knecht versuchen, ein gelingendes Familienbild abzugeben. Marja hält dabei eine Schneekugel in der Hand, in der sie es immer wieder mal stürmen lässt. Dieses Objekt befindet sich seit Generationen in der Familie und bedeutet Marja sehr viel. Der Ball Marja empfindet die Verhältnisse am ganzen Ort beengend. Weder kann sie sich für den Ball begeistern, zu dem die Eltern eingeladen haben, noch will sie etwas von den drei Verehrern wissen, die um ihre Hand werben. Das Liebespaar Marja hat ihr Herz bereits Vladimir geschenkt, der aus einer ärmeren Familie in der Gegend stammt. Er hat in ihr Vorstellungen einer großen romantischen Liebe und Ideen eines Lebens außerhalb der bekannten Bahnen geweckt. Da sich Marjas Eltern nicht für Vladimir begeistern können, fasst das junge Liebespaar den Plan, heimlich zu heiraten und durchzubrennen. Die Anwesenheit Vladimirs ist dem Vater von Marja nicht geheuer. Er spediert ihn aus dem Haus. Der Albtraum In der Nacht bevor der Plan in die Tat umgesetzt werden soll, wird Marja von Albträumen heimgesucht. Darin kommen ihre Zweifel und Ängste über das Bevorstehende zum Ausdruck. Familienbild II Am nächsten Morgen ist Marja völlig erschöpft und vermag sich nur mit Mühe in die Familienordnung einzufügen. Derweil schreitet Vladimir mit der Organisation der Hochzeit unbeirrt voran und weiht die notwendigen Leute in den Plan ein. Den beiden zwielichtigen Kerzenträgern kauft er die Hochzeitsringe ab, mit dem Priester klärt er den Ablauf der Trauung und übergibt ihm die Ringe. Zudem klärt er die Zofe und den Knecht über das Vorhaben auf. Mit Vladimir hat Marja vereinbart, dass sie zuerst ein Unwohlsein vortäuschen, sich dann auf ihr Zimmer begeben und später auf den Weg zur Kirche machen soll. Dort will Vladimir auf sie warten. Die Flucht Als die Zeit gekommen ist, bricht Marja mit der Zofe und dem Knecht zur Kirche auf. Marja nimmt im letzten Moment auch noch ihre Schneekugel mit, die sie an die Familie und das Haus erinnert, das sie jetzt für immer zu verlassen gedenkt. Als die drei aus der Türe treten, wütet draußen ein gewaltiger Schneesturm.
Der Schneesturm Vladimir ist ebenfalls vom Schneesturm erfasst worden und kämpft gegen die ungeheuren Kräfte an. Eine weitere Figur, die durch das Gestöber irrt, ist der Husar Burmin. Er kommt im Verlauf des Sturms per Zufall an der Kirche vorüber, in der die Hochzeit von Marja und Vladimir stattfinden soll. Die Kerzenträger erspähen Burmin und ziehen ihn in die Kirche hinein. Als Vladimir endlich am Ort ankommt, findet er die Türe des Gotteshauses verschlossen und bricht vor Verzweiflung und Erschöpfung zusammen. Ein Soldatentrupp, der in den Krieg zieht, quert die Bühne. Familienbild III Zurück in Marjas Elternhaus ist ein neuer Tag angebrochen. Was in der Zwischenzeit geschehen ist, bleibt im Dunkeln. Die komplett erschöpfte Marja kommt aus ihrem Zimmer. Die Zofe nimmt ihr Hochzeitsschleier und Ring ab. Letzteren steckt sie in Marjas Kleid, damit die Eltern keinen Argwohn schöpfen. Aus Verzweiflung, dass Marja nicht auf ihn gewartet hat, hat sich Vladimir dazu entschieden, als Soldat ins Militär einzutreten. Er verabschiedet sich von seinen Eltern. Derweil sind Marjas Eltern in großer Sorge um den Zustand ihrer Tochter, die einen Zusammenbruch erleidet. Die Eltern hoffen auf Besserung, wenn sie der Verbindung zwischen Marja und Vladimir zustimmen. Als sie den Gang zu Vladimirs Eltern antreten, um ihr Einverständnis zur Hochzeit zu geben, werden sie Zeugen einer niederschmetternden Nachricht. Vom Priester wird Vladimirs Eltern die Nachricht überbracht, dass ihr Sohn im Krieg gefallen sei. Familienbild IV Es ist einige Zeit vergangen. Der Krieg ist vorüber, Marjas Familie verarmt und der Vater gestorben. Zofe und Knecht haben ihre früheren Arbeitgeber verlassen. Sie sind nun im Auftrag einer staatlichen Amtsstelle für Pfändungen zuständig. In dieser Funktion kommen sie bei Marja und ihrer Mutter vorbei. Letzterer gelingt es, noch einige wenige Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, um sie nicht verpfänden zu müssen. Das Kriegsende Als die Soldaten aus dem Krieg heimkehren, wird ein Fest gefeiert. Unter den Kriegsrückkehrern befinden sich auch Burmin und sein traumatisierter Kumpan Belkin. Marja sitzt etwas abseits und empfindet die furchtbare Leere, die Vladimirs Tod hinterlassen hat. Auf dem Fest trifft sie mit Burmin zusammen. Sofort entsteht eine starke Anziehung zwischen den Beiden. Allerdings realisiert Burmin wenig später, dass er ja einen Hochzeitsring trägt und Marja denken könnte, dass er als verheirateter Mann seine Frau betrügt. Belkin inszeniert derweil mit drei Kriegsversehrten ein groteskes Stück auf einer kleinen Bühne. Davon zeigt sich das Publikum dermaßen irritiert, dass es nach Hause geht und sich das Fest auflöst.
Akt II
S 6 – 7 Der Ring Nachdem die Leute gegangen sind, versucht Burmin mit der Hilfe von Belkin den Ring loszuwerden, was aber nicht gelingt. Er entscheidet sich dazu, trotzdem zu Marja zu gehen, um ihr von seiner Vorgeschichte zu berichten und um ihr Verständnis zu bitten. Denn er ist bereits verheiratet. Dies geschah aber aus Leichtsinn und mit einer Frau, die er nur einmal im Leben gesehen hat. Die Kettenreaktion Über Belkin verbreitet sich die Kunde von Burmins Ansinnen, mit Marja sprechen zu wollen, in der ganzen Dorfgemeinschaft. Dabei verändert sich die Mitteilung und erreicht Marja mit der klaren Botschaft, dass Burmin in Marja verliebt sei und ihr einen Heiratsantrag machen wolle. Sie ist überglücklich und voller Hoffnung. Das Kleid Sofort macht Marja sich mit der Unterstützung der Dorfgemeinschaft auf die Suche nach einer passenden Garderobe. Sie findet das alte Hochzeitskleid, in dem sie vor Jahren Vladimir heiraten wollte, und das mit schönen und schmerzlichen Erinnerungen verbunden ist. Die Dorfgemeinschaft ist bereits in großer Aufregung und hat sich an die Vorbereitungen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten gemacht. Das Gespräch Burmin sucht Marja auf, um mit ihr die geplante Unterredung zu führen. Als er Marja seine Hand mit dem Ring zeigt und sie damit wissen lässt, dass er bereits verheiratet sei, trifft sie diese Mitteilung wie ein Schlag. Marja verpasst Burmin eine schallende Ohrfeige. Die Rückblende Der Schlag löst eine Rückblende aus, in der die vergangenen Ereignisse während des Schneesturms vorüberziehen, als Marja plante, Vladimir zu heiraten. Dabei wird auch jenes Geschehen in der Kirche gezeigt, welches der erste Akt offen gelassen hatte. So verwechselten alle Anwesenden in der Kirche Burmin mit Vladimir. Dies wurde begünstigt durch eine fatale Gemengelage aus; Schneesturm, langem Warten auf Vladimir, gebotener Eile und schwacher Kerzenbeleuchtung in der Kirche. Die Kerzenträger stellten Burmin als Bräutigam neben Marja. Der Priester setzte alles daran, die Zeremonie zu Ende zu bringen und überreichte die Ringe. Alle konzentrierten sich auf den Kuss. In diesem Moment erkannte Marja, dass es sich beim Bräutigam nicht um Vladimir, sondern um einen fremden Mann handelt. Mit letzter Kraft ohrfeigte sie den falschen Bräutigam. Damit endet die Rückblende.
Das Ende … Marja greift in die Tasche ihres Kleides und findet den Ring, den die Zofe dort verwahrte. Sie realisiert, dass es Burmin war, den sie damals heiratete. Der falsche Bräutigam stellt sich als der richtige heraus. Die beiden tanzen einen innigen Pas de deux. Sie glauben zu erkennen, wie die Macht des Schicksals die Fäden spinnt, und wiegen sich in der Sicherheit erlangter Kontrolle. Der erfüllte Moment erfährt eine Unterbrechung, als Belkin seinen Freund Burmin vor die Türe ruft. Marja erinnert sich an ihre Eltern, ihr Haus und die frühere Ordnung. Sie greift zur Schneekugel und schüttelt sie gedankenverloren. Da überkommt sie plötzlich eine böse Ahnung. Marja rennt zur Türe, öffnet sie und sieht draußen das Wüten eines gewaltigen Schneesturms.
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02 – Orientierungspunkte
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T: Igor Zelensky
S 12 – 13 Andrey Kaydanovskiy bin ich vor einigen Jahren in Russland begegnet, als er in seiner Karriere am Übergang vom Tänzer zum Choreographen stand. Ich war von seiner choreographischen Arbeit sofort begeistert. Sie ist äußerst kreativ, zeichnet sich durch eine mitreißende Energie sowie eine große Musikalität aus und stellt den Tänzerinnen und Tänzern komplexe Aufgaben. Sein Ballett Der Schneesturm nach der kurzen Erzählung von Alexander Puschkin lässt sich als ein neuer und ganz besonderer Baustein in der erfolgreichen Tradition des Handlungsballetts begreifen, wofür das Bayerische Staatsballett mit Werken von Frederick Ashton, John Cranko, John Neumeier, Christian Spuck oder Christopher Wheeldon seit vielen Jahren bekannt ist. Wenn einem Choreographen wie Andrey Kaydanovskiy die Gabe gegeben ist, Geschichten zu erzählen, vermag er nicht nur verschiedene Szenen einer Handlung auf geschickte Weise zu verknüpfen, sondern auch Werte zu vermitteln. Werte dienen uns zur Orientierung, damit wir uns durch das Leben navigieren und die Welt begreifen können. In Der Schneesturm tauchen diese wichtigen Orientierungspunkte in ganz verschiedenen Konstellationen auf. Wir finden sie in der Vorstellung eines feststehenden Heims, in den verschiedenen Familienbildern, in den musikalischen Zitaten, in den unterschiedlichen Kostümen und ganz besonders in den Begegnungen zwischen den Figuren. Das Genie von Alexander Puschkin besteht darin, dass er uns auf poetische Weise zeigt, dass diese Werte fluid sind, dass das Ordnungsgefüge kein feststehendes ist, sondern sich in einer stetigen Bewegung befindet, die wir als Individuen nur sehr bedingt zu steuern vermögen. Immer wieder gilt es, unseren Platz in einer Wirklichkeit zu definieren, die wir nie ganz erfassen können. Das Faszinierende an einem Handlungsballett wie Der Schneesturm besteht darin, dass es uns erlaubt, für die Dauer einer Theatervorstellung Ordnung und Unordnung gleichzeitig wahrzunehmen und damit eine Form von Übersicht zu gewinnen. Auf der Grundlage der sehr dichten und an Handlung reichen Erzählung ist es Andrey Kaydanovskiy mit seinem künstlerischen Team gelungen, eine adäquate Struktur für das Ballett zu schaffen. Das Mehrdeutige und Spannungsreiche der literarischen Vorlage wurde beibehalten. Damit können wir im Publikum nicht nur dem Spiel von Kreation und Zerstörung aus sicherer Distanz beiwohnen, sondern uns gleichzeitig fragen, ob wir unser Heim gefunden haben oder uns im Sturm befinden. Beides gehört für mich zur Fülle unseres Daseins dazu.
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03 – Offene Gebilde – Lorenz Dangel zur Entstehung der Komposition
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LD: Lorenz Dangel SH: Serge Honegger
S 18 – 19 SH Mit
Andrey Kaydanovskiy standest du in einem sehr engen Austausch beim Erarbeiten der Partitur. Wie hat man sich diese Zusammenarbeit genau vorzustellen? LD Die große Frage beim Ballett ist ja immer, wer zuerst da ist, der Komponist oder der Choreograph. Es gibt viele Fälle, wo es so läuft, dass da jemand eine Musik schreibt, der Choreograph dann die Musik bekommt und anfängt, darauf zu choreographieren. Und das war bei uns schon sehr anders. Es war ein intensiver Prozess, in dem ich die Mikrostruktur der Szenen bei Andrey ganz genau abgefragt habe, um zu verstehen, was im Verlauf der Bühnenhandlung passieren soll. Das reichte bis hin zu schnöden Sekundenangaben. So habe ich Andrey beispielsweise gefragt, wieviel Zeit eine Figur für einen Gang von da bis dort benötigt, oder wie lange der Pas de deux sein soll. Das ist aber etwas, das ich aus der Filmmusik kenne. Gleichzeitig musste ich immer darauf Acht geben, dass die einzelnen Teile im größeren Bogen dramaturgisch Sinn machen. Dieses Einbinden der vertikalen Struktur aus choreographischen Momenten in das Horizontale des musikalischen Verlaufs war eine große Herausforderung. Dieses Austarieren und Zusammenhalten von Einzelaspekten nahm viel Raum ein in unseren Gesprächen. SH Gibt
es bestimmte wiederkehrende Elemente, mit denen du diesen musikalischen Bogen konstruiert hast? LD Der Einstieg bei solchen Vorhaben ist ja so, dass man als Komponist einfach mal mit einem Thema konfrontiert wird. Dann erhält man erste Informationen zu einem Geschehen, zu einer Szene oder zu einer Stimmung. Das sind manchmal nur ganz kleine Momente. Fast automatisch fängt aber das Hirn an, nach irgendwelchen Dingen, Zusammenhängen oder Motiven zu suchen. Im Nachhinein ist es natürlich immer interessant zu sehen, ob etwas von den ersten Sofortreaktionen überlebt hat oder nicht. So habe ich mich auch in diesem Fall zu Beginn nicht einfach hingesetzt und bestimmt, welches Element genau dieses oder jenes zu leisten hat. Es war vielmehr so, dass sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Stoff, dem Immer-wieder-Lesen des Textes von Puschkin und dem Mir-erzählen-Lassen von Andrey eine Struktur herausgeschält hat. Während dieser Arbeit ergeben sich dann Parallelen zwischen verschiedenen Szenen. Dazu gehören beispielsweise die Familienbilder mit der Barockmusik, die mit einer gewissen Portion Ironie mit der Strenge spielt, die in den Szenen angelegt ist. Ein weiteres Element, das im Verlauf der Handlung wiederkehrt, ist das Bandoneon, das Vladimir zugeordnet ist. Dieses Instrument passt aus meiner Sicht wahnsinnig gut, weil es eine ganz unmittelbare emotionale Wirkung hat. Zudem vermag es den Tanz sehr präzise und mit vielen verschiedenen Farben zu begleiten, weshalb es ja oft auch im Tango eingesetzt wird. Dann gibt es die Musik des ersten Pas de deux, die im zweiten Akt als eine Art Erinnerungsmotiv wiederauftaucht. Diese Dinge geschehen auf dem Weg, im Verlauf der Arbeit. SH Du schreibst nicht nur für Oper, Ballett und Konzert, sondern komponierst
auch Filmmusik. Gibt es Gemeinsamkeiten beim Komponieren für diese verschiedenen Genres?
LD Meine Musik hat oft einen erzählerischen Gestus. Und manchmal frage
ich mich, ob ich im richtigen Jahrhundert geboren bin. So ist zum Beispiel die Tondichtung etwas, womit ich mich sehr identifizieren kann. Woher dieses Interesse kommt, weiß ich aber selbst nicht. SH Das
Interesse am Geschichtenerzählen ist etwas, über das wir uns im Produktionsteam oft ausgetauscht haben. Warum ist das heute nicht mehr so selbstverständlich? LD Wir entwickeln uns natürlich in der Musikgeschichte ständig weiter, was verschiedene Erzählformen in der Musik anbelangt. So hat ja zum Beispiel dieser erzählerische Duktus in der Alpensinfonie von Richard Strauss trotz seines handwerklich beeindruckenden Niveaus bereits etwas Altertümliches an sich. Wir hatten deshalb den Anspruch, die Schneesturm-Geschichte von Puschkin, die an sich bereits sehr modern ist, für ein heutiges Publikum einzurichten, die Komplexität der Vorlage zu erhalten, aber auch in eine für uns gültige Form zu übersetzen. SH Kannst du ein Beispiel nennen, was ich mir darunter genau vorzustellen
habe? LD Eine Szene wird rasch flach, wenn sich Musik und Choreographie dop-
peln. Das ist auch im Film immer wieder ein Thema. Da geht es ganz oft darum, dass man im Bild nicht das Gleiche zeigt, was in der Musik ausgedrückt wird, und umgekehrt. Manchmal hat Andrey gesagt: »Das brauchst du in der Musik gar nicht zu erzählen, weil ich es sonst auf der Bühne nicht mehr machen kann.« Dann gab es wieder Momente, wo wir uns einig waren, dass es gut wäre, synchron zu sein. Prinzipiell ist das, was ich mit der Partitur für eine Ballettproduktion anliefere, ein offenes Gebilde. Denn da fehlt ja noch was. Ich muss manche Stellen offenlassen, damit der Choreograph etwas ergänzen kann und das Ganze am Schluss eins ist. SH Wie kann ich mir dieses offene Gebilde, das Leerstellen für die Choreo-
graphie enthält, vorstellen? LD Es handelt sich um eine Art Energieuntergrund, der die Vertikalstruktur
verbindet. Meistens fließt die Musik ja einfach weiter, da gibt es keine Unterbrechungen oder abgeschlossene Kapitel. Auf diese Weise fügt sich das Stück zu einem bunten Rausch aus sehr unterschiedlichen Momenten und Szenen zusammen, es handelt sich um etwas Energetisches, womit der Choreograph arbeiten kann. SH Dein
Komponieren zeichnet sich für mich durch einen symphonischen Charakter aus, durch den das Vielgestaltige in diesen ›Energieuntegrund‹ hineinverwoben wird. Täuscht dieser Eindruck? LD Bei mir ist beim Schreiben ein kompositorischer Instinkt am Werk, der letztlich darüber entscheidet, mit welchem Gestus eine Aussage, die vom Stoff gefordert ist, umgesetzt werden kann. Und manchmal braucht es solche Momente, die mit einer symphonischen Kraft einhergehen. In diesem Fall habe ich mir recht früh überlegt, wo die emotionalen Höhepunkte und wo die ruhigen Momente sind. Dies im Auge zu behalten, ist
S 20 – 21 ganz wichtig, um ein Gefühl für die Struktur zu bekommen. So ist das zweite Bild im ersten Akt mit dem Ball eine der anspruchsvollsten Nummern. Sie ist komplex, dicht orchestriert und rhythmisch kompliziert. Es erstaunt mich, wie selbstverständlich die Tänzerinnen und Tänzer damit umgehen können. Symphonisch wird es auch am Schluss des ersten Aktes. Wenn Vladimir aus der Türe rausgeht, um in den Krieg zu ziehen, kann ich unmöglich eine »kleine« Musik bringen. Hier haben wir es mit einem der dramatischen Höhepunkte des Stücks zu tun. Überhaupt kann man in dieser Szene die unterschiedlichen Funktionen der Musik, wie sie in dieser Ballettproduktion vorkommen, ganz gut hören. Das Bild fängt an, indem vom Orchester eine Stimmung evoziert wird, bei der man merkt, dass ziemlich vieles im Argen liegt. Dann kommt ein vorwärtstreibendes RhythmusMuster, das Vladimir energetisch auflädt. Schließlich stellt sich eine Synchronizität zwischen Musik und Choreographie ein, und wenn Vladimir dann die Türe öffnet, um in den Krieg zu ziehen, zwingt uns die Musik in die Konfrontation mit dem Drama, das in diesem Moment liegt – sowohl für Vladimir als auch für Marja. SH Der
Text von Puschkin wirkt auch heute noch so modern, weil er eine ganze Reihe von erzählerischen Mitteln einsetzt, die man überhaupt nicht mit einer nach klassischen Regeln gestrickten Geschichte verbindet. Hast du in der Musik ähnliche Elemente eingebaut? LD In der Musik werden solche rhetorischen Mittel sehr häufig angewandt, Schostakowitsch hat beispielsweise oft mit ironischen und sarkastischen Motiven gearbeitet, um die ganze politische Situation und sein eigenes Befinden in die Musik hinein zu spiegeln. In dieser Form gibt es das in unserem Stück nicht. Aber wir verwenden beispielsweise Musikangaben aus dem Text von Puschkin, die als Zitat auftauchen. Das sind zwar nur kurze Momente, aber ich mag sie sehr gerne. Zudem nehmen wir mit dem Rückblick im zweiten Akt ein wichtiges erzählerisches Prinzip von Puschkin auf. Umgesetzt habe ich diese selbstreflexive Wendung, indem ich Material aus dem ersten Akt genommen und es mithilfe von Elektronik in veränderter Form wieder eingesetzt habe. Das beschränkt sich nicht einfach nur auf rückwärts abgespielte Musik, sondern stellt tatsächlich eine Inversion dessen dar, was im ersten Akt während der Schneesturm-Szene passiert ist. SH Dieses
Erinnern an einen früheren Moment löst du mit dem Sound Design. Welche Rolle nimmt diese von der Elektronik bestimmte, musikalisch-akustische Ebene im Stück ein? LD In der eben erwähnten Rückblende im zweiten Akt fungiert die Elektronik als eine Art Reflektorwand, die Material aus dem ersten Akt in verfremdeter Form zurückwirft. Sie wird zu einem Gegenüber des Orchesters. Auch setze ich die Elektronik oftmals ein, wenn es darum geht, cineastische Momente zu kreieren, die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern oder Theatermomente zu schaffen, wie im Fall der Türklingel- oder Schneekugel-Schüttel-Effekte. Oft hilft mir die elektronische Spur, um ganz bestimmte akustische Räume zu bauen.
SH Wir
haben noch gar nicht über den Schneesturm an sich gesprochen. Ich weiß, dass du dem Publikum nicht allzu viel verraten möchtest. In gewisser Weise gibt es da bei dir eine Verwandtschaft zu Puschkin, der auch nur wenig darüber sagt, wie sich der Schneesturm im Detail ereignet und gerade deswegen unser Kopfkino in Gang setzt. Im Gegensatz zu Puschkin konntest du den Schneesturm nicht einfach nur mit einem Wort antippen, sondern musstest ihn in eine zeitliche und räumliche Struktur bringen. LD Das war eine Herausforderung, die wir beide, Andrey und ich, zu bewältigen hatten. Die Choreographie hat dann aber eine relativ klare Struktur vorgegeben, denn es war Andrey wichtig, von den Wegen und Hindernissen zu erzählen, denen Vladimir im Schneesturm ausgesetzt ist. Der Sturm wird sowohl vom Orchester als auch von der Elektronik begleitet. Allerdings bleibt das Orchester bei Vladimir, während der Sturm durch das elektronische Element entkoppelt und quasi gesichts- oder namenslos ist. Das Orchester muss deshalb, wie Vladimir, gegen diese Kulisse ankämpfen, eine immaterielle Kulisse aus Klängen und Geräuschen, die dem Körperlichen auf der Bühne und im Orchester diametral entgegengesetzt ist.
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04 – Schicksalsschnee – Russland, Puschkin und die Kälte
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T: Julia Herzberg
S 28 – 29 Anders als es der Titel verspricht, beginnt Puschkins Erzählung Der Schneesturm in der warmen Jahreszeit. Die in der Liebe bisher nur durch französische Romane unterrichtete reiche Adelstochter Marja Gavrilovna entdeckt 1811 ihre Gefühle für den mittellosen Fähnrich Vladimir Nikolaevich. Um nicht den Zorn der Eltern auf sich zu ziehen, die eine bessere Partie für ihre Tochter ersehnen, treffen sich die beiden jungen Leute heimlich im Wald, an einer alten Kapelle. Doch der einsetzende Winter verhindert diese Zusammenkünfte und verlagert das Liebeswerben in einen Briefwechsel. Gemeinsam beschließen Marja und Vladimir nicht auf die Zustimmung der Eltern zu hoffen, sondern stattdessen Tatsachen zu schaffen und heimlich zu heiraten. In der Kapelle, dem geheimen Treffpunkt der Liebenden, soll die Trauung stattfinden. Doch ein Schneesturm greift schicksalsbestimmend in die Pläne der Liebenden ein. Auf dem Weg zur Kapelle verirrt sich der Fähnrich im Schneesturm. Erst am frühen Morgen kommt er an der verschlossenen Kapelle an. Die Hochzeit findet für ihn nicht statt. Statt ein neues Leben zu beginnen, zieht der Fähnrich in den Krieg gegen die Franzosen. Doch schon vor dem Einzug der Franzosen in Moskau wird er verwundet; wenige Tage später stirbt er. Den ruhmreichen Sieg der russischen Armee erlebt der unglückliche Fähnrich nicht mit. Und während im Siegestaumel die russischen Frauen »ihre gewohnte Kälte« verlieren, verteidigt Marja mit »der Treue einer jungfräulichen Artemisia« ihre Unschuld und erteilt jeglichem Liebeswerben eine Abfuhr. »Ungeachtet ihrer Kälte« – Puschkin spielt in seiner Erzählung mit Temperaturmetaphern – bleibt die reiche und schöne Adelstochter von Verehrern umschwärmt, zu denen bald auch der Husarenobrist Burmin gehört. Erst im Liebesgeständnis wird offenbar, dass der Schneesturm vor vier Jahren vom spitzbübischen Burmin genutzt wurde, um schon damals an Vladimirs Stelle zu treten. Marja und Burmin erkennen, dass ihre Trauung bereits vollzogen ist. Dass Kälte, Schnee und Frost in Russland schicksalsbestimmend sein können, erstaunt nicht. Tiefe Temperaturen und die mit ihnen verbundenen meteorologischen und klimatischen Erscheinungen sind mit einschneidenden Ereignissen der russischen Geschichte verbunden. Große Siege wurden in und mit der Kälte errungen: Die Mongolen drangen über die zugefrorenen Flüsse nach Russland vor, während der Deutsche Orden 1242, Napoleons Truppen 1812 und die deutsche Wehrmacht 1941/42 ihr Fiasko im sprichwörtlich gewordenen russischen Winter erlebten. Dass die erste Assoziation beim Nachdenken über Russland häufig mit der Kälte verbunden ist, liegt jedoch nicht nur an den Ereignissen aus der Militärgeschichte, sondern auch an Erzählungen wie Der Schneesturm von Alexander Puschkin, die zur Umdeutung der Kälte beigetragen haben: Frost, Eis und Schnee wurden seit dem Zeitalter der Aufklärung nicht mehr allein mit Untergang und Tod assoziiert, sondern mit Mut, Willensstärke und Fügung verbunden. Entscheidend hierfür waren auch Überlegungen, die in den Diskussionen über die Auswirkungen des Klimas auf die Menschen das Leben in strengen Frösten mit einem imaginierten russischen Nationalcharakter in Verbindung brachten.
Wer die Kälte nutzen kann Seit der Antike galt das Klima als eine Umweltbedingung, um die Unterschiede zwischen den Völkern zu erklären. Den Prämissen des Arztes Hippokrates folgend sah der Philosoph Aristoteles im Klima die Ursache für die Vorrangstellung der Griechen über die »Barbaren«. Kälte war in diesen Vorstellungen mit Unterlegenheit und mangelnder Kultur verbunden. Nach dem Ausgreifen Europas nach Amerika und Sibirien waren die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert entstehenden Klimatheorien ein Versuch, die als neu erfahrene Vielfalt der Gattung Mensch auf einige Prinzipien zu reduzieren. Die europäischen Forscher, Eroberer und Kolonisten nutzten die klimatologische Beschreibung, um die neu entdeckten Völker in Asien, Afrika und Amerika zu klassifizieren. Dabei bot das Klima aus der Sicht der Zeitgenossen eine rationale Erklärung für die Unterschiede zwischen den Völkern. In eurozentrischer Perspektive wurde ein gemäßigtes Klima favorisiert, wie es in Westeuropa herrscht. Es galt als ideal, um Fortschritt und Wohlstand zu erreichen. Große Hitze und Kälte wurden dagegen als Hindernis bei der Entfaltung von Zivilisation und Kultur angesehen. Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch kam es zu einem Umbruch, in dem sich zeitgleich mit dem wachsenden Ansehen Russlands und durch die Erforschung des sibirischen Raumes auch die Bewertung der Kälte änderte. Es ist schwer zu sagen, welche Faktoren in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausschlaggebend waren, dass sich die Bewertung der Kälte in den Klimatheorien änderte. Der Aufstieg Russlands zu einer Großmacht, die radikale und im Ausland aufmerksam beobachtete Modernisierungspolitik Peters des Großen sowie St. Petersburgs zunehmende Bedeutung als Knotenpunkt der Aufklärung trugen jedenfalls dazu bei, dass es zu einer Aufwertung der Kälte und zur Rehabilitierung des Nordens in den öffentlichen Diskursen und den Klimatheorien kam. Peter der Große galt unter den Zeitgenossen als Beispiel für einen Herrscher, der die Nachteile des Klimas durch eine kluge Modernisierungspolitik und seine »intensest Heat«1 vom Fluch der kalten Breitengrade geheilt habe. Russlandreisende bezeichneten die 1703 neu gegründete Hauptstadt St. Petersburg als »Palmyra des Nordens« oder »nördliches Venedig«, während die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschende Zarin Katharina II. nicht nur als Katharina die Große, sondern auch als »Minerva des Nordens« in die Geschichte einging. An diesen auch auf die Antike und damit auf die Wurzeln Europas rekurrierenden Metaphern zeigen sich zwei Aspekte von Russlands Selbst- und Fremdbild. Erstens wird daran offenbar, dass die neue, in Sümpfen erbaute Hauptstadt auf dem 60. Breitengrad es notwendig machte, die widrigen Wetter- und Umweltbedingungen durch eine Verklärung des Nordens zu kompensieren. Zweitens wird durch die Bezüge auf die Antike deutlich, dass Russland, welches unter seinen europäischen Nachbarn als kalt, nordisch und damit barbarisch gegolten hatte, nicht mehr als das vollkommen Andere wahrgenommen wurde. Die Aufwertung der Kälte und des Nordens seit dem 18. Jahrhundert ist in erster Linie mit Montesquieus Namen verbunden. Der französische Philosoph knüpfte in seinem Werk Vom Geist der Gesetze (1748) an Thesen von
S 30 – 31 Hippokrates und dem antiken Geschichtsschreiber Herodot an, in denen fruchtbare, warme Landstriche mit Weichheit und Faulheit verbunden waren, während weniger fruchtbare, kalte Länder angeblich »heroische« Individuen hervorbringen. Montesquieu schrieb: »Die Bewohner warmer Länder sind furchtsam wie es die Greise sind; die der kalten Länder sind mutig wie die jungen Leute.«2 Das Klima war für Montesquieu zwar weiterhin das zentrale Erklärungsmodell, um gesellschaftliche und kulturelle Phänomene, wie politische Institutionen, Familienstrukturen und soziale Ordnung zu erklären. Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern zeichnete Montesquieu kein Bild mehr, das allein die gemäßigte Zone bevorzugte. An dieser Aufwertung der Kälte und des Winters schrieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Alexander Puschkin mit. In seinen Texten ist der Winter nicht allein Kulisse für dramatische Handlungen, sondern er wird zum Akteur, der den Lauf der Dinge wie in der Erzählung Der Schneesturm radikal verändern kann. Wer die Kälte mutig zu nutzen weiß und sich nicht von Schnee und Sturm von seinem Weg abbringen lässt, kann wie der ungeplant zum Bräutigam gewordene Burmin am Ende triumphieren. Doch nicht nur Literatur und Kunst sowie Montesquieus Überlegungen zur Verfasstheit der Völker trugen zur Aufwertung und Anerkennung der Kälte bei. Zentral war das Jahr 1812, das sowohl in Puschkins Erzählung Der Schneesturm als auch für die Ordnung Europas einen entscheidenden Wendepunkt darstellt. 1812. Triumph der Kälte Die zwei Liebesgeschichten Marjas gruppieren sich um den »Großen Vaterländischen Krieg« von 1812 bis 1814, der für die Grande Armée in einer militärischen Katastrophe endete, Napoleon zur Abdankung zwang und zur Neuordnung Europas führte. Puschkin gibt in seiner Erzählung die euphorische Stimmung nach dem Sieg wieder. Er feiert – wie viele andere – das Jahr 1812 als Jahr des nationalen Erwachens, das Russlands Ebenbürtigkeit mit Europa bewiesen habe. Überraschend hatte sich Napoleon im Spätherbst 1812 aus Moskau zurückgezogen. Schnell verwandelte der einsetzende Schnee und Frost die ruhmreiche Grande Armée in einen kläglichen Haufen schlecht ausgerüsteter und frierender Soldaten. Bis heute wird die Frage diskutiert, ob Napoleon militärisch besiegt oder in erster Linie vom russischen Winter bezwungen worden ist. Diese Frage soll hier und heute nicht beantwortet werden. Viel entscheidender ist, dass der Sieg über Napoleon der Borealisierung des russischen Selbst- und Fremdbildes, der mit Peters Politik und Montesquieus Überlegungen eingesetzt hatte, einen weiteren Schub gab. Große Teile der russischen Gesellschaft sahen in dem früh einsetzenden Winter ein Geschenk des Himmels, das geholfen habe, den französischen Angriff abzuwehren. Der Winter wurde in den Deutungen des Kriegsgeschehens zu einem natürlichen Alliierten der Russen und damit auch zu einem angeblich genuin russischen Phänomen. In Kunst und Literatur wurde der Winter zu einem beliebten Motiv, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig aufgegriffen wurde und viel Beifall fand. In dem Moment, in dem die militärische
und politische Gleichwertigkeit, ja sogar Überlegenheit sichtbar wurde, nahmen die Diskurse über Frost, Eis und Schnee zu, um das Eigene und Einzigartige zu betonen. Kunst und Literatur feierten den russischen Winter und die, die ihm trotzen können. Der von Schnee, Sturm und Frösten geprägte Winter galt nun als nationales Symbol, an dem auch Russlands Verhältnis zu Europa ausgelotet werden konnte. Gerade durch den Bezug auf den Winter, in dem die Franzosen 1812 gescheitert waren, konnte man sich von Frankreich als kulturelles Vorbild absetzen. Während Marjas Leidenschaft für französische Romane in einer flüchtigen Liebelei endet, führt der russische Schneesturm sie ihrer wahren Liebe und schicksalhaften Bestimmung zu.
1
H ill, Aaron: The northern star. A poem. Originally publish’d in the life-time of Peter Alexiovitz, great Czar of Russia. The fifth edition. Revised, and corrected, by the author. London 1739, S. 7
2
Montesquieu, Charles: Vom Geist der Gesetze. Bd. 1. 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 311
S 32 – 33
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BS S 20 – 36 – 21 37
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05 – Stürmischer Geist, stürmisches Leben, stürmisches Werk – Notizen zu Alexander Puschkin [1799-1837]
BS 20 – 21
T: Markus Wyler
S 38 – 39 Hier ist nun meine Zeit: den Frühling lieb’ ich nicht; Wie öd das Tau’n; der Mief, der Dreck - im Frühjahr bin ich krank; Der Puls ist schwach, ein Sehnen lähmt Empfindungen und Geist. Hingegen viel zufriedener bin ich im strengen Winter, Ich liebe seinen Schnee; in Gegenwart des Mondes Wie läuft der Schlitten mit der Freundin schnell und frei, Und wenn erst unterm Pelz des Zobels warm und frisch Sie eure Hand dann drückt, von Glut erfüllt und bebend. Alexander Puschkin, aus Der Herbst, Gedichtfragment (1833)*
In Russland nimmt man sie anders wahr als im zentralen Europa, die Jahreszeiten. Wohl kündet der Frühling auch dort vom Ende der kalten Periode, doch wohnt ihm neben den Zeichen des Erwachens ein gewaltiges, geradezu bedrohliches Element inne: wenn mit heftigem Krachen das Eis der eben noch gefrorenen Flüsse zerbirst und wildgewordene Fluten bequeme Wege überschwemmen, wenn die starre Natur sich mit explosiver Kraft aufrichtet, wenn gleißende Sonne und betäubende Gerüche die Sinne überwältigen, wenn Jahr für Jahr das mühsame Wiederherrichten von Haus und Garten beginnt. Die heißen Sommer sind kürzer als bei uns und finden wie in Skandinavien soweit als möglich draußen statt. Sich bewegen fällt nun leicht, und emsig werden Vorräte für die kalte Jahreszeit beschafft. Einem bequemen Städter und Ausländer wie mir erscheint es einigermaßen befremdlich, wenn der versprochene gemütliche Zeitvertreib, ein beschauliches Wochenende auf dem Land, sich als den Rücken belastendes Graben nach Kartoffeln entpuppt, als dornige Suche nach Pilzen und Beeren, als rauchiges Grillieren von selbstgefangenem Fisch oder das improvisierte Reparieren von Gerätschaften. Das Leben auf der Datscha hat sich im Zug der Moderne nicht groß verändert. Manche Häuser sind heute zwar mit WLAN, Heizsystem und Elektrorasenmäher ausgestattet und über eine geteerte Straße erreichbar, aber bei weitem nicht alle. Am liebsten ist mir sowieso das auseinanderfallende, aber ursprüngliche Bauernhaus mit Wasser aus der Regentonne sowie Plumpsklo zwischen Brennesseln, welches eine befreundete Moskauer Mathematiker- und Pianisten-Familie seit über 30 Jahren besitzt und wo sich im Korpus des verstimmten Pianinos eine Wodkaflasche versteckt. Ab September folgt ein kurzer goldener Herbst, der schnell ins Trostlose, Neblige und Nasse verfällt; er ist erfüllt von Vorbereitungen für den Winter oder der Rückkehr ins städtische Leben. Auf dem Land ist kaum noch an ein Vorwärtskommen zu denken, zu tief ist der Morast, zu unwirtlich das Wetter. Die riesigen Pfützen lassen den ausländischen Fußgänger beim zaghaften Versuch, die Hauptstraße einer Kleinstadt in der sibirischen Steppe zu überqueren, scheitern; der Ausflug endet schneller als geplant im Schutz des warmen Hotels. Die Winter wiederum sind lang, kalt und voller Schnee – im hohen Norden ab Oktober. Doch ist der Boden unter den Füßen nun wieder fest. Wie erlösend, bequem und federleicht muss Reisenden früher nach den staubigen Fahrten auf rumpligen, unbefestigten Wegen im Sommer und durch den
hinderlichen Schlamm des Herbstes eine zügig dahingleitende Schlittenfahrt im Winter vorgekommen sein. Wenn sich heutzutage in einer Megapolis wie Moskau der Schnee unverzüglich in verdreckten, über Nacht gefrierenden Matsch verwandelt und die Autos schwarz vor Schmutz sind, findet man hier trotzdem genügend magische Momente des Winterzaubers: Glühwein und Eislauf für Kinder auf dem Roten Platz, farbige Neujahrsbeleuchtung, die mittlerweile monatelang das Dunkel erhellt, wärmender Langlauf in der Erholungszone der Trabantensiedlung und vor allem: aus tiefblauem Himmel strahlende Sonne, die den weißen Reif auf den überzuckerten Zweigen der silbernen Birken im frischen Schnee in tausend Farben glitzern lässt! Maßstäblich wie Goethe Bis heute beschrieb keiner die russischen Jahreszeiten so hinreißend, bildhaft und poetisch wie Alexander Puschkin. Überhaupt beschrieb kaum ein anderer Schriftsteller auch nur irgendein Ding annähernd so schön wie Puschkin! Er war ein literarisches Genie, welches in allen Gattungen Maßstäbe setzte. Bezüglich Qualität und Breite seines Schaffens ist er höchstens mit Goethe vergleichbar. Puschkins lyrische Dichtung, seine Märchen, Versepen, Schauspiele, Kurzgeschichten und Romane, seine Literaturkritik und sogar die zahllosen Briefe gehören allesamt zu den Hauptwerken der Weltliteratur. Darüber hinaus war er ein einflussreicher Theoretiker und gab gegen Ende seines Lebens ein Journal heraus, welches aktuelle sozialpolitische, historische und wissenschaftliche Themen behandelte. Besonderen Raum wurde in dem vierteljährlich erscheinenden Sowremennik der neuen Literatur zugestanden: vorausschauend druckte Puschkin hier zum ersten Mal Kurzgeschichten wie Die Nase des jungen Gogol oder Gedichte des Romantikers Tjutschew ab. Innerhalb des russischen Reiches reiste Puschkin viel umher, wobei das mondäne St. Petersburg den Mittelpunkt seines Lebens bildete. Väterlicherseits war er Abkömmling eines uralten Adelsgeschlechts. Über die Mutter, deren Großvater aus Afrika stammte und unter Peter dem Großen wichtige militärische Posten erlangte, gab es enge Verbindungen zum Zarenhof. Regelmäßige Abstecher in die zweite Hauptstadt des Landes, das traditionell-konservative Moskau, gehörten ebenfalls zum Leben hochadliger Familien. Von entscheidendem Einfluss waren darüber hinaus lange Aufenthalte in den wilden Tälern des Kaukasus, am von antiken Kulturen geprägten Gestade des Schwarzen Meers und schließlich im heutigen Moldawien. Auf einer großen Expedition in das Gebiet zwischen Wolga und Ural sammelte Puschkin Material für sein Geschichtsbuch über den Aufstand des Kosaken Pugatschow. Für die Verarbeitung des Erlebten besonders wichtig wurden zwei Jahre zwischen 1824 und 1826, die er unter polizeilicher Aufsicht auf dem mütterlichen Gut Michailowskoje in der Nähe der Stadt Pskow (unweit der heutigen Grenze zu Estland) verbrachte. Nicht weniger einschneidend waren die regelmäßigen Besuche auf dem etwa 200 km südlich von Nischni Nowgorod
S 40 – 41 gelegenen Gut Bóldino, welches Puschkin vom Vater zur bevorstehenden Hochzeit geschenkt bekommen hatte. 1830 verbrachte er hier einen ersten, literarisch äußerst fruchtbaren Herbst, dem das Dorf bis heute ein renommiertes Literatur- und Musikfestival widmet. Die fünf Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrovič Belkin, zu denen Der Schneesturm gehört, entstanden genau in dieser Zeit. Die moderne Sprache formend wie Shakespeare In Michailowskoje besuchte Puschkin täglich die Nachbarsfamilie, deren Tochter zum Vorbild der Tatjana in Eugen Onegin wurde. Seine alte Amme, der er hier wiederbegegnete, erzählte ihm von den Märchen und Bräuchen des Volkes. Beim Schlendern über den nahen Markt studierte er einfache Leute und ihre typische Ausdrucksweise, welche dem Drama Boris Godunow, das im Stile eines Shakespearschen »History Play« konzipiert ist, den authentischen Klang verleiht. Zu seinen Leistungen als Autor von allerhöchstem Rang kommt eine weitere hinzu, und die ist für Russland von größter Bedeutung: im Wesentlichen geht die heutige Form der Schriftsprache auf Puschkin zurück. Einerseits schaffte er es, die verschiedenen Schichten des Russischen in eine einzige Form zu gießen. Andererseits schenkte er ihm einen neuen Wortschatz. Diese Alexander Puschkins Büchern zu verdankende neue Farbigkeit löste erst die Entwicklung des Russischen zur anerkannten Literatursprache aus. Und dies wiederum begünstigte das schnelle Heranwachsen mehrerer Generationen bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Werke zum Kanon der Weltliteratur gehören. Ähnlich wie Shakespeare im Englischen kombinierte Puschkin bisher streng getrennte Idiome und Stilebenen so virtuos miteinander, dass das neue Konglomerat ganz natürlich erschien, obwohl es aus früher unvereinbaren Schichten bestand: zuvor hatten die archaisch oder religiös konnotierte altrussische Kirchensprache, die deutschen und vor allem französischen Einsprengsel aus der schicken Welt der Salons sowie die oft handfesten oder urigen Ausdrücke des einfachen Volkes nebeneinander her existiert. In Schriftstellerkreisen wurde deswegen heftig gestritten, was denn nun der Literatur angemessen sei. Puschkin hingegen wechselte ungeniert zwischen hohem, mittlerem und niederem Stil. Fehlte ihm ein Begriff, erfand er ihn neu. Höchstwahrscheinlich war es diese totale Freiheit von Ideologie, verbunden mit einer atemberaubenden Brillanz, welche sein Russisch mit einem Mal als differenziert, elegant und in allen Bereichen ernstzunehmend erscheinen ließ. Der Adel, der sich vornehmlich in Deutsch oder – je nach herrschenden politischen Umständen – Französisch unterhielt, entdeckte plötzlich seine Freude an der Landessprache, die überdies für die nationale Identifikation im Umfeld der napoleonischen Kriege wie gerufen kam. Puschkins Einfluss auf die russische Sprache war nachhaltig: zahllose seiner Wendungen sind geflügelte Worte geworden, oder man glaubt einfach, sie seien schon immer Teil des Wortschatzes gewesen. Früher oder später fließt immer einer seiner Verse in das Gespräch ein.
Profund in der Kunst und unbekümmert im Leben wie Mozart Außerhalb des russischen Reiches war Puschkin nie gewesen. Als hervorragender Kenner der westeuropäischen Literatur vermochte er es aber, seinen Leserinnen und Lesern die wichtigsten Gattungen und mittels Zitaten oder Parodien ihre populärsten Autoren näherzubringen. Motivisch und formal gründet Puschkins eigenes Schaffen fest in der europäischen Aufklärung; inhaltlich dagegen ist es im Wesentlichen den Idealen der aufkeimenden Romantik und gegen Ende seines Lebens dem Realismus verpflichtet. Trotz der durch und durch russischen Prägung von Sprache und Inhalt war Alexander Puschkin ein apollinischer Künstler mit einer fundiert klassisch-europäischen Bildung, der sich zwischen den großen Stilepochen der Weltliteratur bewegte. Im Alltag zeigte sich bei ihm oft ein toller Über-, ja sogar Wagemut: das gesellschaftliche Umfeld betrachtete Puschkin mit ironischer Distanz, unbekümmert legte er sich in Satiren mit einflussreichen Hofschranzen und selbst dem Zaren an – ein (nicht nur) zu jener Zeit lebensgefährliches Unterfangen. Ausnahmslos mit profundem künstlerischem Ernst verfasst sind hingegen seine Schriften. All dies, aber auch sein viel zu früher tragischer Tod, lassen den Dichter Puschkin mit dem Musiker Mozart gleichsetzen, dem er im Einakter Mozart und Salieri ein Denkmal setzte. Dieses Stück wurde vor allem durch Peter Shaffers Amadeus und Miloš Formans Film im Westen sehr bekannt. Mit der Thematik von Talent, Genie und Neid hatte Mozart immer wieder zu ringen. Auch Puschkin bezahlte seine Überlegenheit letztlich mit dem Leben. Drei kreative Monate auf dem Land Puschkins Charakter war extrem impulsiv, beim Schreiben aber ging er überlegt vor: er konzipierte, recherchierte und revidierte mit größter Sorgfalt. Wirkliche Ruhe dafür hatte er damals fernab vom Trubel der Hauptstadt in Michailowskoje gefunden. Vier Jahre später, im Herbst 1830, wurde der Dichter erneut auf dem Land festgehalten. Diesmal war es keine Verbannung aus politischen Gründen, sondern die in Russland grassierende Choleraepidemie und die damit verbundenen Quarantänemaßnahmen, welche es ihm für drei Monate verunmöglichten, sich weit vom Dorf Bóldino zu entfernen, wo aus Sicherheitsgründen alle umliegenden Durchgangsstraßen gesperrt worden waren. Die Verhältnisse waren hier bescheiden und boten außer Spaziergängen oder gemütlichen Besuchen bei Nachbarn keine besondere Ablenkung von der Arbeit. So wurde diese Zeit für den Dichter schöpferisch zum unerwarteten, fruchtbaren Geschenk, auch wenn er den Sinn der Maßnahmen zu widerlegen versuchte und sich über die unwillkommene Zwangsisolation ärgerte: erflucht sei die Stunde, wo ich beschloss, von Ihnen Abschied zu nehmen, V um in dieses famose Land des Schmutzes, der Pest und der Brände zu fahren – denn nichts anderes sehen wir hier…. Alexander Puschkin, Brief vom 30. September 1830 an seine Verlobte Natalia Gontscharowa
S 42 – 43 In Bóldino ringt er sich nach über siebenjährigem Bemühen die beiden letzten Kapitel des Versromans Eugen Onegin ab. Darüber hinaus entstehen hier die kleine Geschichte in Versen Das Häuschen in Kolomna sowie vier kleine Tragödien (Der geizige Ritter, Don Juan, Mozart und Salieri und Das Fest in Zeiten der Pest) – notabene allesamt als Opern vertont von führenden russischen Komponisten wie Tschaikowsky, Strawinsky, Rachmaninow, Dargomyschski, Rimski-Korsakow und Cui. Darüber hinaus korrigiert Puschkin die Druckfahnen des Boris Godunow und schreibt 30 Gedichte. Nach einem früheren Romanversuch über das Schicksal seines Urgroßvaters (Der Mohr Peters des Großen) widmet sich Puschkin nun zum ersten Mal ausführlicher der Prosa. Selber äußert er sich über die fünf Erzählungen des Iwan Petrovič Belkin nur beiläufig. Möglich, dass sie für ihn nur eine Vorstufe zu umfangreicheren realistischen Werken darstellen, ein Versuchsballon quasi für ein neues Genre und neue Inhalte. In den Erzählungen des Iwan Petrovič Belkin, zu denen auch Der Schneesturm gehört, schlägt Puschkin denselben Ton an, den wir aus anderen Werken kennen, doch die extreme Schnörkellosigkeit und Knappheit seiner Prosa ist für die damalige Zeit einigermaßen erstaunlich. Man fühlt sich an Jane Austen erinnert, wie Puschkin ständig romantische Erwartungen weckt, sie aber sofort wieder bricht und einen neuen Realismus zur Diskussion stellt, und auch die Art, wie Puschkin die populäre sentimentale Literatur seiner Zeit auf Schippe nimmt, lässt sich in den Werken der englischen Autorin wiederfinden: egen Ende des Jahres 1811, einer für uns denkwürdigen Zeit, lebte auf G seinem Landsitz Nenaradovo [sprechender Name in der Art von «Endloswonningen», Red.] der gute Gawrila Gavrilovitsch P***. Er war im ganzen Umkreis berühmt für seine Gastfreundschaft und Freigebigkeit; alle Augenblicke kamen die Nachbarn zu ihm, um zu essen, zu trinken, beim Einsatz von fünf Kopeken mit seiner Ehefrau Praskovja Petrovna Boston zu spielen, einige aber auch, um einen Blick auf ihre Tochter zu werfen, Marja Gavrilovna, eine schlanke, bleiche und siebzehnjährige Jungfer. Sie galt als reiche Braut, und viele dachten sie sich selbst oder ihren Söhnen zu. Alexander Puschkin, Der Schneesturm
Während uns diese leichte, ironische Manier Puschkins aus seinen Epigrammen oder den Versen des Eugen Onegin bekannt ist, zeigt nun die entsprechend trockene, eben im wörtlichen Sinne »prosaische« Art eine neue Richtung auf, welcher der Autor in seinen letzten Jahren vermehrt folgen wird. Ein bekanntes Beispiel stellt auch die sarkastisch groteske Kurzgeschichte Pique Dame dar, die so gar nichts vom romantischen Überschwang hat, mit der Tschaikowsky sie in seiner von Puschkins Original inspirierten Oper übergossen hat. Zu diesem Realismus gehören auch Milieu, Figuren und Ereignisse, welche den damaligen, von Autoren wie Chateaubriand, Hugo oder Sir Walter Scott geformten Vorstellungen von einem literarischen Sujet nur wenig entsprechen. Als einer der ersten russischen Autoren beschreibt Puschkin nunmehr das beschauliche, meist aber auch perspektivlose Leben und die im Grunde unspektakulären Probleme von kleinen Leuten, Soldaten mittleren Rangs,
einfachen oder verarmten Gutsbesitzern. Romantischen Vorstellungen geben sich nur junge Leute hin, und die entpuppen sich als Selbsttäuschung. Wem es gelingt, ein paar Sprossen auf der sozialen Leiter zu erklimmen und sich vielleicht sogar in St. Petersburg zu etablieren, tut dies nicht ohne Kompromiss. So erreicht in Eugen Onegin die erwachsene Tatjana zwar eine Stellung in der höchsten Gesellschaft, entsagt jedoch aus Gründen der Vernunft für immer ihren Mädchenträumen und damit der vielleicht einzig wahren Liebe ihres Lebens. Doch Puschkin ist kein gnadenloser Realist wie Turgenjew, Gontscharow, Dostojewski oder Tolstoi, auch wenn diese ihn zu ihren großen Vorbildern zählen. Sein spöttischer Esprit macht diese durchgehend vom stürmischen Geist des Autors beflügelte Prosa deshalb auch äußerst vergnüglich zu lesen. Ein Schneesturm wirbelt alles durcheinander. Tatjana (wie ‘ne Russin halt, Wie das? Sie kam nicht recht dahinter), Sah Schönheit erst wenn’s richtig kalt Und liebte daher Russlands Winter, Am Frosttag Reif im Sonnenlicht, Die Schlitten; den Tag, der spät anbricht Und den Schnee ganz rosa macht, Die Nebel vor Dreikönigsnacht. Manch alten Brauch im Sinne tragend Verging der Abend so im Haus: Die Mägde schauten weit voraus, Den Fräuleins einen Mann weissagend, Verhießen allen Jahr für Jahr Einen Militär fürwahr. Alexander Puschkin, Eugen Onegin, Kap. 5, IV
Dieses Zitat aus dem Versroman Eugen Onegin – für den Puschkin übrigens eine eigene Strophenform mit kunstvoll verschränktem Reimschema erfand – zeigt, dass Tatjana am Winter die eingangs erwähnten, heute noch erfahrbaren Seiten liebte: die Pracht der Schneelandschaft und die atemberaubenden Effekte des Lichts, das sorglose Gleiten über Eis und Schnee, die gemütlichen Abende in der Stube, die ehrwürdigen Festtage, die uralten Rituale. Marja Gavrilovna, die Hauptfigur in der Erzählung Der Schneesturm, ist in vielerlei Hinsicht eine Prosaversion Tatjanas. Vor dem beengenden Provinzleben flieht auch sie träumend in die Welt von Büchern und verliebt sich leidenschaftlich in einen aus ausländischen Romanen zusammengereimten, unreifen Jüngling, wobei es sich in ihrem Fall tatsächlich um einen Soldaten handelt: [ Sie] war mit französischen Romanen erzogen worden, folglich war sie verliebt. Der Gegenstand, den sie erwählt hatte, war ein armer Fähnrich der Armee, der sich auf Urlaub in seinem Dorf befand. Es versteht sich von selbst, dass der junge Mann in ebensolcher Leidenschaft entbrannt
S 44 – 45 war und dass die Eltern seiner Liebsten, als sie die gegenseitige Neigung bemerkten, der Tochter verboten, an ihn auch nur zu denken, ihn hingegen noch schlechter aufnahmen als einen verabschiedeten Gerichtsbeisitzer. Alexander Puschkin, Der Schneesturm
Tatjana wird vom Lebemann Eugen Onegin hochmütig abgewiesen. Schließlich darf er sich keinesfalls mit einer naiven Provinzlerin abgeben, denn er muss seinem Image als von der Welt gelangweiltem Dandy gerecht werden. Wie bitter allerdings bereut er dies einige Jahre später in St. Petersburg bei der Wiederbegegnung mit der inzwischen zur edlen Dame herangewachsenen Bekannten vom Lande. Doch es ist zu spät: Tatjana ist nun mit einem General verheiratet und diesem treu. In Der Schneesturm ist Marja Gavrilovna hingegen mit ihrem sinnlos romantisierten Fähnrich Vladimir Nikolaevič ein Herz und eine Seele und wartet nur die passende Winternacht ab, um sich mit ihm zu vereinen. Aber der Versuch durchzubrennen misslingt total, weil ein furchtbarer Schneesturm die beiden komplett auseinanderwirbelt. Mit dem Motiv des Schneesturms, in dem ein träumerisches Mädchen zu ihrem Geliebten fährt, bezieht sich Puschkin humorvoll auf Schukowskis Swetlana und stellt seiner Erzählung als Motto einige Verse aus dieser wildromantischen Ballade voran. Wassili Schukowski (1783-1852) war einer von Russlands ersten Romantikern. Sein Schaffen beruhte zum großen Teil auf freien Übersetzungen aus der englischen und deutschen Literatur. So basiert die berühmte Ballade Swetlana zum Beispiel auf der schauerlichen Leonore Gottfried August Bürgers, die Schukowski allerdings um eine entsetzliche Schlittenfahrt durch den Sturm erweiterte. Puschkins bester Freund, der Vorreiter der russischen Romantik Pjotr Wjasemski (1792-1878) etablierte in seinen dichterischen Werken den Schneesturm sodann als dem russischen Nationalcharakter ganz besonders entsprechendes Element. Wjazemski freilich stellt ihn als unheimliche, oftmals todverheißende Macht dar, welche mit wütend umherjagenden Dämonen einhergeht und den einsam Reisenden wie die faszinierte Leserschaft in Schreck und Graus versetzt. Gleichfalls mit dem Schauerlichen konnotiert toben in der Folge solche Stürme zum Beispiel bei Gogol (Die Nacht vor Weihnachten) oder auch bei Puschkin selber, der im großartigen, ebenfalls in Bóldino entstandenen Gedicht Böse Geister unser Blut auf meisterhafte Art in den Adern gefrieren lässt. Allerdings finden wir in den nur sechs Wochen später geschriebenen fünf Belkinschen Erzählungen erstmals eine Variante des wirbelnden Schneegestöbers mit philosophischen Implikationen: unserem (in eine falsche Richtung zielenden) eigenen Willen entgegentretend wirft ein mächtiger Sturm uns hilflose Menschen auf den von der Weltordnung bestimmten Weg. Mit Ablegern in Tolstois Krieg und Frieden oder Anna Karenina zieht sich dieser Topos durch die russische Literatur bis hin zu Wladimir Sorokins Dystopie Schneesturm aus dem Jahre 2010. Vor dem Hintergrund der knapp und sarkastisch erzählten Handlung wirkt die existentielle Erfahrung der gefährlichen Irrfahrt durch den wilden Schneesturm bei Puschkin allerdings besonders eindrücklich und am Schluss der
Geschichte umso stärker, als sich herausstellt, in was für neue Bahnen die drei Hauptfiguren geschleudert worden sind. Im zweiten Teil der Schneesturm-Erzählung, nachdem in der Handlung einige Jahre vergangen sind, hat sich die immer noch hübsche, blasse und von potenziellen Anwärtern umschwärmte Marja Gavrilovna mit der inzwischen verwitweten Mutter in einem anderen Gouvernement niedergelassen. Dort trauert sie anfangs ihrem Vladimir nach, der am Vorabend des Angriffs der Franzosen auf Moskau verstorben ist. Doch eines Tages taucht im Dorf der 26jährige, verwundete Husarenleutnant Burmin auf, der mit seinem »Georgskreuz im Knopfloch und von interessanter Blässe, wie die dortigen Fräulein sagten«, das Interesse der Gesellschaft weckt. Auf den ersten Blick gleicht er Eugen Onegin sowie dem schwermütigen, ziellos durch das Leben irrenden byronschen Helden, welcher sich später bei Autoren wie Turgenjew oder Dostojewski zum »überflüssigen Menschen« und schließlich zum revolutionären Nihilisten verwandeln wird. Marja Gavrilovna fühlt sich sofort zu dem rätselhaften Soldaten hingezogen und ihre übliche Schwermut verfliegt in seiner Anwesenheit: urmin war tatsächlich ein sehr liebenswerter junger Mann. Er besaß B Geist, der Frauen gefällt: den Geist des Anstands und der Aufmerksamkeit, ohne jede Prätentionen, dazu sorglos-spöttisch. Sein Verhalten gegenüber Marja Gavrilovna war einfach und frei; doch was immer sie sagte oder tat, seine Seele und seine Blicke folgten nur ihr. Er schien von stillem und bescheidenem Wesen, wenngleich die Fama versicherte, er sei früher ein schrecklicher Taugenichts gewesen, doch das schadete ihm in der Meinung Marja Gavrilovnas nicht, die (wie auch alle anderen jungen Damen) Streiche gern verzieh, die Kühnheit und Feuer des Charakters verraten. Alexander Puschkin, Der Schneesturm
Marja Gavrilovna entschließt sich, Burmin mit weiblichen Waffen aus der Reserve zu locken. Es findet eine Begegnung statt, die Puschkin wie eine kitschige Novellenepisode inszeniert, in welcher dem zögerlichen Kandidaten endlich den von allen erwartete Heiratsantrag entlockt werden soll: »Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, unter einer Weide, ein Buch in der Hand und im weißen Kleid, eine echte Romanheldin.« Den folgenden, sehr offenherzigen Dialog ironisiert Puschkin allerdings dadurch, dass er Marjas Gedanken einstreut, die sich während der Unterhaltung selbstzufrieden in der Rolle der unglücklichen Heldin aus Rousseaus Briefroman Julie ou la nouvelle Héloïse sieht. Nach und nach entfaltet sich eine ganz und gar phantastische Geschichte: zunächst stellt sich heraus, dass Burmin Marja zwar liebt, aber nicht heiraten kann, weil er längst vermählt sei, als nächstes, dass Marja ihrerseits bereits verheiratet sei und schließlich, dass sie offenbar miteinander getraut worden waren, ohne es zu realisieren. Tatsächlich waren es sie beide, welche das Gewirr des Schneesturms einander schicksalshaft entgegengetrieben hatte. Als Burmin in den letzten Zeilen der Erzählung in Marja endlich das Mädchen aus der dunklen Kirche wiedererkennt, legt er seine Reserviertheit beiseite, »…erbleichte… und warf sich ihr zu Füßen…«.
S 46 – 47 So kurz und bündig endet Puschkins Geschichte vom Schneesturm. Uns überlässt der Autor die schwierige Aufgabe, einen Reim auf das Geschehen zu bilden. Bietet er uns hier womöglich ein alternatives Ende zum Eugen Onegin an? Weil inzwischen gereift, bekommt das Mädchen dank der schicksalshaften Kraft des Schneesturms einen würdigen Gatten, der überdies romantisch genug gezeichnet ist, um einem Helden aus ihren Büchern zu gleichen? Und wird dem ziellos Suchenden hingegen, dessen Wesen sich durch die Erfahrung von Krieg und Reue einschneidend verändert hat, eine ebenbürtige Gattin geschenkt, mit der eine erfüllte Partnerschaft möglich wird? Oder ist Puschkin, ungeachtet seiner baldigen eigenen Heirat, so gnadenlos zynisch, dass er uns die beiden jungen Menschen einfach vorführt? Deutet er an, dass es auch diesmal nicht klappen wird, weil Marja sich weiterhin als Romanheldin sieht, während Burmin sich mit Überschwang einer ihm auch jetzt kaum bekannten Frau zu Füßen wirft und glaubt, sie zutiefst zu lieben, obwohl er bereits einmal aus Jux ein fremdes Mädchen geheiratet und zwei Minuten später sitzengelassen hat? Oder geht es Puschkin gar nicht so sehr um den Inhalt der Geschichte, sondern um eine Denunziation der damals so populären Briefromane eines Richardson oder Rousseau, da sie Puschkins Meinung nach den Frauen folgenreich den Kopf verdrehen und völlig verfehlte Illusionen von Liebe und Ehe vorgaukeln, vor denen er bereits im Zweiten Kapitel des Eugen Onegin warnt? Für jede dieser Interpretationen können wir überzeugende Argumente finden, und eine kurze Umfrage unter russischen Bekannten bringt widersprüchliche Antworten. Wie bei zahlreichen anderen Werken Puschkins ist auch bei Der Schneesturm die Wahrnehmung durch eine stark romantisierende Rezeptionsgeschichte getrübt; zum Beispiel durch den sehr schönen, aber sentimentalen Film von Vladimir Bassow aus dem Jahre 1964 mit Georgi Swiridows anrührender Musik; oder auch durch eine bis heute andauernde, sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Puschkins ironischem Stil, der oftmals durch die bald zweihundert Jahre lange Heroisierung als Nationaldichter überlagert wird. Die Russischprofessorin am University College London Svetlana Shnitman-McMillin beschrieb mir in einem Brief ihre Gedanken zum Schneesturm: I ch bin keine Puschkinistin, aber ich denke, er wollte [mit diesen Geschichten] eine Art Preziosen aus Prosa kreieren. Natürlich mit Ironie, dies unbedingt, denn bei ihm haftet außer den frühen Poemen allem Narrativen die Ironie an. Der Schneesturm ist das russische Schicksal, der grenzenlose Raum und das Chaos, wo der Mensch nicht Herr seines Lebens ist; die Urgewalt des Schnees ist stärker. Zunächst in Schukowskis Swetlana, dann in seinem eigenen Gedicht Böse Geister sowie in der Kapitänstochter, oder bei Tolstoi in Herr und Knecht oder Krieg und Frieden. Puschkin ist eine geniale Lichtgestalt, er vermochte es, helle Schlüsse zu erschaffen, was ja nicht jedem gegeben ist. Es ist wohl ein »Ende gut, alles gut« und in diesem Fall eines, das den Text mit einem Lächeln beendet und dem Gefühl, dass es in der Welt eine Harmonie gibt – ich glaube, Puschkin konnte das, wie Mozart in der Musik.
Gerne würde auch ich glauben, dass Der Schneesturm in dieser Erzählung eine kathartische Bedeutung hat, welche Marja und Burmin im Innersten verändert und im zweiten Versuch auf den für sie richtigen Weg in die Zukunft lenkt. Schließlich beschreibt Burmin, dass er weniger leichtfertig, als »von einer merkwürdigen Unruhe überwältigt, scheinbar von jemandem vorangetrieben« in den wilden Sturm hineinfährt, der ihn zur grotesken Eheschließung führt. Außerdem entspräche eine solche Deutung der erwähnten Prämisse, dass Puschkins Werken – eine weitere Parallele zu Mozart – unter der kunstvoll ziselierten Oberfläche stets ein tiefer Ernst zu eigen ist. Natürlich kann ich mit so einer Einschätzung total falsch liegen. Egal, ob Puschkin insgeheim meiner Meinung war oder nicht, er hätte so oder so seinen beißenden Spott über meine Zeilen geschüttet, insbesondere, wenn ich zum Schluss behaupte, dass ein solch unrealistisches Happy End sehr wohl eine Möglichkeit darstellt, weil Bücher das reine Leben reflektieren und sich ja auch bei uns immer wieder unglaubwürdige Dinge ereignen, auf dem Papier wie in unserem aller Alltag.
* Nachdichtungen und Übersetzungen der Gedichte und Briefstellen stammen von Markus Wyler. Zitate aus der Erzählung Der Schneesturm sind der 1999 erschienen Ausgabe mit den Erzählungen Puschkins im Verlag Friedenauer Presse in der Übersetzung von Peter Urban entnommen.
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BS S 20 – 50 – 21 51
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06 – Choreographie und Sturm
BS 20 – 21
T: Serge Honegger
S 54 – 55 Seit dem ersten Treffen mit Andrey Kaydanovskiy, bei dem wir das Konzept durchsprachen, und der Lektüre von Alexander Puschkins Text weht in meinem Alltag ein konstanter Sturm. Er lässt mich das andauernde Bestreben von mir und meinem Umfeld, Ordnung herzustellen, Ordnung zu erfüllen, Ordnung zu bewahren, immer stärker wahrnehmen. Es wirkt, als stemme sich die ganze Welt gegen eine Kraft, die alles rationale Planen, Organisieren und Regeln zu hintertreiben scheint. Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab aus dem zweiten Band des 1796/1797 publizierten Siebenkäs kommt mir in den Sinn, wo der Autor die gewaltigen Orkane beschreibt, die durch das »Sternen-Schneegestöber« wehen, und davon berichtet, wie das Chaos von der Ewigkeit zernagt wird: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!« Einen ähnlich nihilistischen Blick wirft auch Puschkin auf die menschliche Existenz. Wenn also überall Sturm, Zufall und Willkür wüten, die nach Jean Paul alle Gebäude zerschlagen und die Sonnen als Orientierungspunkte zu Asche zerfallen lassen, wie kann man sich dann trotzdem mit Zuversicht einer konstruktiven Tätigkeit wie dem Choreographieren widmen? Eine Tätigkeit, in der es ja in erster Linie darum geht, Ordnung zu kreieren und in eine von Tänzerinnen und Tänzern reproduzierbare Form zu bringen. Dem Chaos eine Form abtrotzen Dass Andrey Kaydanovskiy von Puschkins Der Schneesturm derart gefangen genommen wurde, um ein Ballett daraus zu machen, könnte neben der an Handlungen sehr reichen Erzählung auch damit zusammenhängen, dass Der Schneesturm auf die Bedingungen des Schaffens von Ordnung und damit des Choreographierens selbst hinweist. Wie trotzt man dem Chaos eine Form ab? Wie gestaltet man einen erzählerischen Faden, der die Dinge in eine nachvollziehbare Abfolge bringt? Der Sturm wird in Puschkins literarischer Vorlage sprachlich nur an wenigen Stellen explizit erwähnt. Er hat aber die allermassivsten Auswirkungen auf das Leben der Figuren. In der Übersetzung des Textes in die Sprache des Balletts muss deshalb entschieden werden, ob der Sturm zu einem zentralen Gegenstand der Choreographie wird, oder ob er, wie bei Puschkin, nur ganz kurz umrissen wird, um das Gedankenkino des Publikums in Gang zu setzen. Das Phänomen des Schneesturms, dessen innerstes Wesen aus Chaos, dem Nichts und Zufälligkeiten besteht, wird in der Produktion des Bayerischen Staatsballetts mit den ureigenen Mitteln des Theaters bezwungen. Die ganze Maschinerie wird aufgeboten, um das Unbegreifliche in den Griff zu kriegen. Und weil Andrey Kaydanovskiy ein hervorragender Erzähler ist, weiß er, dass man den Kern einer Geschichte nie verraten darf. Der Sturm ist ein Fakt. Weder wird er erklärt noch wird seine Existenz hinterfragt. Er ist da. Das Handlungsballett zeigt nun, welchen Erfahrungen die Figuren beim Sich-Auflehnen gegen die Kräfte der Naturgewalt ausgesetzt sind. Im Verlauf des Probenprozesses habe ich mich immer wieder gefragt, ob dieser Schneesturm sogar eine Metapher für die Situation all jener sei, die als Kunstschaffende entgegen aller Wahrscheinlichkeit der Mit- und Umwelt gestalterische Formen abtrotzen. Indem die Choreographie Andrey Kaydanovskiys unter den widrigen Begebenheiten der COVID19-Pan-
demie entstanden ist, die vorübergehende Anpassungen am ursprünglichen choreographischen Konzept erforderlich machten, schrieb sich dem künstlerischen Prozess noch ein Schneesturm ganz eigener Ausprägung ein. Eine faszinierende Parallele ergibt sich zu Puschkins Erzählung, die 1830 auf seinem Landgut Bóldino entstanden ist. In Russland wütete damals eine Cholera-Pandemie und es wurden Ausgangssperren verhängt. Darüber war Puschkin alles andere als begeistert. Er hatte aber plötzlich viel Zeit für das Schreiben und erlebte eine seiner produktivsten Phasen. Notlagen als Generator für die Kreativität In verschiedenen Gesprächen mit dem künstlerischen Team von Der Schneesturm hat mich interessiert, wie sich gerade unter solchen ›stürmischen‹ Bedingungen die einzelnen Elemente zu einem Gesamtbild fügen. So kann man die Realisierung eines bildnerischen Kunstwerks oder einer Theateraufführung sogar als Manifest begreifen, indem sich das Kunstwerk gegen Jean Pauls ›starres, stummes Nichts und den wahnsinnigen Zufall‹ wendet. Als wir uns im Verlauf der Probenarbeit über die Handlungsohnmacht der Hauptfiguren unterhielten, meinte die Bühnenbildnerin Karoline Hogl, dass es oftmals gerade solche schwierigen, ausweglosen Situationen seien, die bei ihr und Andrey Kaydanovskiy einen kreativen Prozess in Gang setzten. Leute in misslichen Notlagen wie im Fall von Vladimir und Marja faszinierten sie beide. Von solchen Situationen ausgehend führten sie in der Konzeptionsphase intensive Gespräche: »Meistens beginnt der kreative Prozess damit, dass Andrey ein Stichwort, einen Text oder eine kleine Szene bringt. Dann gehe ich los, suche Bilder und Materialien, die assoziativ damit zusammenhängen. Darüber diskutieren wir dann so lange, bis sich ein Raum oder ein Ablauf herausschält.« Auf die Frage, ob es auch bei Der Schneesturm einen vergleichbaren konzeptionellen Ausgangspunkt gebe, beschrieb Karoline Hogl den Moment, als Marja ihr Elternhauses verlässt. Über diese Bewegung durch die Türe in der verschiebbaren Wand werde der geschützte Innenraum mit dem ungeschützten Außenraum verbunden. Dort finde nicht nur ein Wetterphänomen statt, sondern auch ein Krieg, der als eine Art »zweiter Sturm« noch viel massiver auf die Gesellschaft einwirke: »Der Schneesturm bedeutet für Marja ein Schicksal und für Vladimir eine Veränderung, aber der Krieg bewirkt eine tiefere Zäsur, die die ganze Gemeinschaft dazu zwingt, mit etwas Neuem anzufangen. Auf der Bühne zeigen wir nicht einfach eine Trümmerlandschaft, in der alles kaputtgeschlagen ist, sondern versuchen zu zeigen, wie etwas Neues beginnt, die Möglichkeit der Erholung, des Wiederaufbaus.« Diese Idee spiegelt sich ebenfalls in den Kostümen von Arthur Arbesser. Während im eher strengen, konservativen Zuhause von Marjas Eltern bei den Kleidern der Figuren nur wenig Haut gezeigt wird und keine Muster oder Graphiken in den Stoffen auftauchen, inszeniert Arbesser im zweiten Akt über die Verwendung spezifischer Farben und Stoffe eine markante Veränderung: »Im zweiten Akt geht es um Freiheit, Individualität und Selbstausdruck. Es sind viele Muster zu sehen, dazu kommen viele unterschiedliche, teilweise sogar recht formlose Kleider, die weich fallen, teilweise etwas verwaschen und ungebügelt aussehen, aber auch Lebensfreude zum Ausdruck bringen.«
S 56 – 57 Das Bild der Welt als Groteske Zu den neu gewonnenen Möglichkeiten, die im Stück als eroberte gesellschaftliche Freiheiten erkennbar werden, gesellen sich aber auch jene vom Krieg tief in die Körper und die Seelen geschlagenen Wunden. Kaydanovskiy lässt nicht nur die körperlich versehrten Soldaten auf der Bühne auftreten, sondern er erfand mit Belkin eine neue Figur, die in Puschkins Erzählung nicht vorkommt. Er trägt den gleichen Namen wie der fiktionale Urheber der fünf Geschichten in Puschkins Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrovič Belkin, zu denen auch Der Schneesturm gehört. In der Ballettproduktion ist Belkin von den grauenhaften Erlebnissen traumatisiert und wird von Burmin unter seine Fittiche genommen. Als ein etwas übersteigerter Chronist seiner Umwelt kreiert er eine Unruhe, deren Opfer er zuvor selbst geworden war. Im Stück zeichnet er sich sowohl durch eine scharfe Beobachtungsgabe als auch ein Irrsein aus. Dies zeigt sich ganz deutlich im zweiten Akt auf dem Fest für die Kriegsrückkehrer, wo Belkin in der Rolle eines Regisseurs zu sehen ist. Hier inszeniert er mit drei Kriegsversehrten ein groteskes Stück mit Motiven vergangener Ereignisse. Wie in einem Brennspiegel werden an Belkin die Wirkungen des Disruptiven erkennbar: Sturm- und Kriegserfahrung, ein Sensorium für die fragile Existenz des Menschen in der »Leichengruft des Alls» (Jean Paul) sowie das Bestreben, mit den Mitteln der Theaterkunst das Unfassliche in eine Form zu bringen. Frühromantische Utopie: Universalpoesie Belkin kann gar als menschgewordene Chiffre für das künstlerische Handeln verstanden werden; ein Handeln, das sich nicht nur in einer Ballettproduktion wie Der Schneesturm vor die Aufgabe gestellt sieht, eine Form für das rational undurchdringliche Chaos unserer Existenz zu finden. Intensiv debattiert wurde dieses Thema bereits in der Epoche Puschkins, am prominentesten im Kreis der Frühromantiker um Friedrich Schelling. Von ihrer Beschäftigung mit der Idee, dass das Sicht- und Unsichtbare mittels einer Universalpoesie zur Darstellung gebracht werden könne, sowie ihrem Experimentieren mit selbstreflexiven Schreibpraktiken in der Literatur ließ sich auch Puschkin für sein Schreiben anregen. Er wird deshalb je nach Perspektive auch zur Frühromantik gerechnet. Mit den Vertreterinnen und Vertretern dieser künstlerischen und philosophischen Strömung verbindet ihn, dass sie den Ursprung der Kunst im schillernden Chaos verorten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden aus diesem Grund insbesondere der Roman und erzählerische Formen der Prosa zu einem beliebten Experimentierfeld in der Literatur, um das Verhältnis von Ordnung und Unordnung auszuloten. Puschkins Der Schneesturm stellt geradezu ein paradigmatisches Beispiel für das Interesse an diesem Spannungsfeld dar, indem der Autor die Wirkungen des chaotischen Wetterphänomens auf das soziale Ordnungsgefüge zum Gegenstand seiner Erzählung macht. Das organisierende Prinzip, mit dem Puschkin das Chaos künstlerisch bewältigt, wird in Der Schneesturm über literarische und historische Referenzen, Redewendungen, auktoriale Kommentare und Rekursionen dem Lesepublikum richtiggehend ›vorgeführt‹.
Vergleichbare Stilmittel finden sich unter zeitgenössischen Vorzeichen auch in der Ballettproduktion Der Schneesturm; dazu gehören Zeitsprünge, ironische Brechungen, die Sichtbarmachung des Theaterapparats oder das Reflektieren über Bewegungsmuster. Das klassische Ballettvokabular bildet für die Choreographie Andrey Kaydanovskiys zwar die technische Basis, aber er erweitert die Formensprache um eine Vielzahl an weiteren Elementen, dekonstruiert sie teilweise wieder und forscht nach ihrer erzählerischen Qualität im choreographischen Ablauf. Choreographie für das Nicht-Choreographierbare Mit Der Schneesturm hat sich Andrey Kaydanovskiy einen Stoff für sein Handlungsballett gewählt, der zugleich die Frage nach den Bedingungen des Choreographierens aufwirft. Denn ein Schneesturm ist als Wetter- und Sturmphänomen gerade nicht choreographisch strukturiert, sondern funktioniert nach willkürlichen Zufallsprinzipien. Dem Paradox, dass hier der Sturm als ein von chaotischen Prinzipien bestimmter Gegenstand in eine feste choreographische Struktur zu übersetzen ist, begegnet Andrey Kaydanovskiy mit jenem Ansatz, der sich seit jeher für größere Unternehmungen empfohlen hat: Er legte sich vor Probenbeginn ein präzises Szenario zurecht. Anders als das sture Festhalten am Plan von Vladimir und Marja ließ sich Kaydanovskiy genügend Freiraum für spielerische und experimentelle Momente im kreativen Prozess. Auf diese Weise ermöglichte er sich und den Beteiligten, für Entdeckungen offen zu bleiben. Eine zweite, für die Ballettproduktion wichtige Entscheidung in Bezug auf die Umsetzung von Puschkins literarischer Evokation des Schneesturms liegt in der Darstellung des Sturmgeschehens selbst. Dieses wollte Kaydanovskiy nicht als ein abstraktes Phänomen behandeln. Vielmehr sollte der Schneesturm über die materiellen Qualitäten der eingesetzten Mittel eine faktische Bühnenwirklichkeit erhalten. Damit legte der Schneesturm für Kaydanovskiy ein großes Potenzial frei, sowohl in kreativer als auch in konzeptioneller Hinsicht: »Ich glaube, ein solcher Schneesturm stellt uns wieder auf den Boden. Hier merken wir, wie wenig wir als Einzelperson tun können. Gegen den Schneesturm, ja gegen das Leben überhaupt, kommen wir nicht an. Da können wir uns noch so wehren.« Auch für die Bühnenbildnerin Karoline Hogl stellt das Realisieren des Schneesturms ein zentrales Thema ihrer Arbeit an der Produktion dar: »Man könnte einen solchen Schneesturm ja mit allen Möglichkeiten erzählen, aber man muss sich festlegen, ob es sich um einen inneren oder um einen alles verschlingenden, äußeren Schneesturm handelt. Dazu sollte er auch berühren und nicht einfach eine Illustration eines fundamentalen Ereignisses sein, das alles durchwirbelt, verändert und alle Pläne, die geschmiedet worden sind, und alle Ideen, die jeder für sich fixiert hat, auf den Kopf stellt. Es geht darum, wie man das bühnenbildnerisch und choreographisch transportiert und in einen Raum setzt. Für uns war es wichtig, den Schneesturm so greifbar wie möglich zu gestalten, dem Theater und dessen Maschinerie, die das möglich macht, aufzulauern. Gerade in der heutigen Zeit ist es schön, das Analoge zu haben, das Unmittelbare, wie die schwitzenden Körper der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Uns
S 58 – 59 interessiert das Gemachte, mit der die Illusion gebaut wird. Denn am Ende des Tages setzt sich auf der Bühne der Schneesturm nur aus Papierschnipseln, Windmaschinen, Ventilatoren und etwas Bühnennebel zusammen. Es ist kein richtiger Schneesturm, es ist nicht Wasser, das gefriert und durch den Wind gewirbelt wird, sondern es ist eine Theaterszene.« Der Wille, sich überraschen zu lassen. Im Gegensatz zum menschlichen Handeln, dessen Richtung von verschiedenen Faktoren bestimmt wird, von der individuellen Begehrensstruktur über von außen kommenden Anweisungen und Erwartungen bis hin zum eigenen Willen, steht hinter einer Naturgewalt wie dem Schneesturm kein solcher Antrieb. Weder ist der Sturm eine Handlung, noch wird er von einer wie auch immer gearteten göttlichen oder dämonischen Hand gelenkt. Folgt man den Überlegungen des Kulturwissenschaftlers Frank Bruno Wild, ist es letztlich die Erfahrung des Nichts, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts immer häufiger in der Kunst thematisiert wird und in einem Werk wie Puschkins Der Schneesturm literarisch verarbeitet wird: »Was ist das Leben anderes als eine aus der Unendlichkeit hervorbrechende in die Unendlichkeit zurückfallende, schon ins Nichts wegschäumende Unvollkommenheit, aus der man kurz aufsteigt und wieder vergeht? Wer eine Lösung dieser Gegebenheiten erwartet, ist schon gescheitert, denn das Nichts kennt und durchdenkt sich nicht; es spuckt uns nur aus, um Tatbestände zu schaffen, die auf unfähige Interpreten warten.«1 Im Gegensatz zum willenslosen Nichts ist jedoch gerade die künstlerische Tätigkeit Ausdruck eines Wollens, das sich gegen die nihilistischen Zumutungen, denen wir ausgesetzt sind, auflehnt. Ob es sich dabei um eine Choreographie, eine Komposition oder ein bildnerisches Schaffen handelt, spielt keine Rolle. Dem Gestaltlosen, Unsagbaren und Nichtdarstellbaren des Nichts werden mit dem künstlerischen Tun Formen entgegengestellt, womit Orientierungspunkte in der Welt geschaffen werden. Im vorliegenden Fall manifestiert sich der künstlerische Wille in Andrey Kaydanovskiys Choreographie, die als ein strukturierendes und strukturiertes Prinzip aus Bewegungen, Gesten und Bühnenabläufen das Handlungsballett überhaupt erst hervorbringt. Es handelt sich um das Wunder, dass nicht Nichts ist, sondern Etwas zur Erscheinung gelangt; in diesem Fall ein Bühnengeschehen bestehend aus den Mitteln des Balletts sowie Musik, Bühnenbild, Kostüme und Licht. In einem Gespräch während der Proben hat sich Kaydanovskiy auf das vom Willen bestimmte Handeln bezogen, das für ihn als eines der zentralen Elemente in Puschkins Erzählung fungiert: »Die Geschichte ist wie ein Ballettlibretto geschrieben, es gibt kaum Dialoge, nur Handlung. Würden sich die Figuren die Frage stellen, ob das jetzt richtig ist, was sie tun, und über Konsequenzen nachdenken, dann stünden sie vor weniger Problemen. Ihr unreflektierter Wille führt sie geradewegs ins Unglück.« Ein Gegenmodell dazu stellt für Kaydanovskiy das Ausprobieren dar, wie man es bei Kindern beobachten kann: »Sie sind dauernd am Erkunden, sie finden einen Gegenstand, beginnen damit zu spielen und finden heraus, wie man damit umgehen kann. So funktioniert das Leben; als ein Spiel, als ein Ausprobieren von Möglichkeiten.« Diese Haltung Kaydanovskiys mani-
festiert sich auch im Ballettstudio. Er wendet kein blindes, herrschaftliches Gestaltungsprinzip an, sondern nähert sich der Geschichte über ein dauerndes Herantasten, Ausprobieren und Herausschälen der dafür geeignetsten tänzerischen Form: »Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mir einen genauen Ablauf überlegt habe, aus dem die Tänzer dann etwas ganz Anderes machen. Vielfach funktioniert das sogar besser. Überhaupt mag ich es, überrascht zu werden. Das ist nicht nur in den Proben so, sondern auch, wenn ich ins Theater gehe. Ich bin gerne ein Zuschauer, damit ich mich von einer Sache inspirieren lassen kann, die sich jemand anderes ausgedacht hat.« Choreographieren oder das Rezipieren einer Choreographie treffen sich, wenn wir Andrey Kaydanovskiy nachfolgen möchten, in einer Haltung des Sich-überraschen-Lassens. Dies stellt auch für all jene eine beruhigende Botschaft dar, die sich mit Tätigkeiten befassen, die mit dem Choreographieren Berührungspunkte aufweisen: planen, organisieren, vorbereiten, umsetzen, anleiten, entscheiden, reagieren, verändern und all das, was sich unter dem Begriff ›Management‹ subsumieren lässt. Was eher Wenigen bewusst sein dürfte, ist die Tatsache, dass es oft gerade tänzerische Mittel sind, die für einen Umgang mit disruptiven Phänomenen empfohlen werden. Die modischen Schlagworte aus dem Management-Diskurs lauten: Flexibilität, Agilität oder Anpassungsfähigkeit. Damit sind letztlich gerade Fähigkeiten bezeichnet, die sich Tänzerinnen und Tänzer in langen Übungs- und Trainingsjahren bis zur Perfektion aneignen. Regieanweisungen aus Büchern Puschkin war fasziniert von den Wirkungen des Zufalls und vom Schicksal, das sich nicht vorhersagen, sondern nur im Rückblick zusammenreimen lässt. In zahlreichen seiner Werke bis hin zu Der Schneesturm hat er das von chaotischen Prinzipien bestimmte Weltverhältnis des Menschen literarisch bearbeitet. In Der Schneesturm wird das titelgebende Motiv dazu eingesetzt, das Unplanbare, Zufällige und Willkürliche in einen scharfen Kontrast zu rationalen Planungs- und Ordnungsvorstellungen zu setzen. So orientieren sich Vladimir und Marja für ihr Handeln an einem Szenario, das nach dem Vorbild französischer Liebesromane geformt ist. Die literarischen Fiktionen aus der Bücherwelt werden als Regieanweisungen für das tatsächliche Leben verstanden. Darin liegt ein Motiv, das in der russischen Literaturgeschichte wiederholt auftaucht, wo die »Hinwendung zum Buch [...] eine Abkehr von den täglichen Problemen [bedeutet]. Daher rührt [..] auch die tiefverwurzelte und allen Schichten inhärente Verachtung für eine vernünftige Organisation des Alltagslebens. Es war besser, das alles nicht zu sehen. Lesen war angenehmer«.2 Am Ende des in allen Schritten durchdachten Plans soll eine verwegene, romantische Liebesheirat stattfinden, mit der das Liebespaar über Kleingeist und elterlichen Widerstand zu triumphieren gedenkt. Sowohl Puschkin als auch Kaydanovskiy lassen dieses Szenario grandios scheitern. Der Sturm zerreißt das sorgfältig geplante Liebesheiratsszenario, er stiftet allergrößtes Chaos, kreiert irrationales Handeln und treibt mit Vladimir genau jenen in den Tod, der am meisten an den Plan glaubte. Dass Marja schließlich jenem Mann begegnet, mit dem sie, ohne dass sie es
S 60 – 61 wüsste, bereits verheiratet ist, stellt in der Erzählung eine letzte ironische Volte Puschkins dar. Damit knüpft er die Handlungsfäden am Ende der Geschichte auf die denkbar unwahrscheinlichste Weise zusammen, was man in der Tat als ›literarische Choreographiekunst‹ bezeichnen kann. Er lässt das Ende so aussehen, als wäre hier ein vorherbestimmtes Schicksal am Werk gewesen, dabei ist es die Hand des Schriftstellers, die das Geschehen sich auf exakt diese Weise fügen ließ. Der Schneesturm gehört zu jenen Erzählungen, die, angefangen bei der Irrfahrt von Odysseus, um eines der menschlichen und kulturellen Urtraumata kreisen: die Machtlosigkeit gegenüber äußeren Faktoren, höheren Mächten und unkontrollierbaren Ereignissen. Wie wir uns trotzdem ganz erfolgreich durch die Unordnung bewegen, darüber äußerte Andrey Kaydanovskiy einige Gedanken nach einer Probe, in der er das Pas de deux von Marja und Burmin im zweiten Akt erarbeitet hatte: »Das Pas de Deux ist ein ›Gespräch‹ zwischen zwei Personen und besitzt viele Facetten. In dieser tänzerischen Form des Gesprächs wird eine Art Ordnung geschaffen; es schält sich eine Situation heraus, man bespricht, wie man von A nach B gelangt und wo man hinwill. Gleichzeitig gibt es eine Gefühlsebene. Und zwischen all dem gibt es ganz viel Raum, in dem wir uns bewegen können. Es ist immer so ein Hin und Her zwischen sehr konkreten und völlig unfasslichen Sachen. Die einzelnen choreographischen Elemente sind fast wie Wörter, die man gerade noch versteht, aber dazwischen breitet sich viel Raum aus. Damit spiele ich in der Choreographie, so bewegen wir uns vorwärts.«
1
W ild, Frank Bruno: Suizidäre Metaphern. Hamburg 2018, S. 132
2
Kantor, Vladimir: Das Westlertum und der Weg Russlands. Stuttgart 2010, S. 3
DS
BS S 20 – 62 – 21 63
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BS S 20 – 64 – 21 65
DS
07 – Der Schneesturm – Aus den Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovič Petrovič Belkin [1831]
BS 20 – 21
T: Alexander Puschkin
S 66 – 67 Rosse greifen mächtig aus, Stampfen tief im Schnee... Siehe dort, ein Gotteshaus, Einsam ists zu sehn... Plötzlich Schneesturm ringsumher; Schnee in dichten Schwaden; Fast den Schlitten streifend schwer Fliegt ein schwarzer Rabe; Ahnend Seufzer künden Leiden! Scheu die Rosse spähen Wachsam in die dunklen Weiten, Aufgestellt die Mähnen... Žukovskij
Ende des Jahres 1811, einer für uns denkwürdigen Zeit, lebte auf seinem Landsitz Nenaradovo der gute Gavrila Gavrilovič. Er war im ganzen Umkreis berühmt für seine Gastfreundschaft und Freigebigkeit; alle Augenblicke kamen die Nachbarn zu ihm, um zu essen, zu trinken, beim Einsatz von fünf Kopeken mit seiner Ehefrau Praskovja Petrovna Boston zu spielen, einige aber auch, um einen Blick auf ihre Tochter zu werfen, Marja Gavrilovna, eine schlanke, bleiche und siebzehnjährige Jungfer. Sie galt als reiche Braut, und viele dachten sie sich selbst oder ihren Söhnen zu. Marja Gavrilovna war mit französischen Romanen erzogen worden, folglich war sie verliebt. Der Gegenstand, den sie erwählt hatte, war ein armer Fähnrich der Armee, der sich auf Urlaub in seinem Dorf befand. Es versteht sich von selbst, dass der junge Mann in ebensolcher Leidenschaft entbrannt war und dass die Eltern seiner Liebsten, als sie die gegenseitige Neigung bemerkten, der Tochter verboten, an ihn auch nur zu denken, ihn hingegen noch schlechter aufnahmen als einen verabschiedeten Gerichtsbeisitzer. Unsere Liebenden standen im Briefwechsel und sahen sich jeden Tag heimlich im Kiefernwald oder an der alten Kapelle. Dort schworen sie einander ewige Liebe, haderten mit dem Schicksal und schmiedeten die verschiedensten Pläne. Und während sie Briefe wechselten und miteinander sprachen, kamen sie (was nur natürlich ist) zu folgendem Schluss: wenn wir ohne einander nicht atmen können, der Wille der grausamen Eltern aber unser Glück behindert, sollte es uns dann nicht möglich sein, ohne ihn auszukommen? Versteht sich, dass dieser glückliche Gedanke dem jungen Mann als erstem kam und dass er Marja Gavrilovnas Sinn für Romane nur zu gut gefiel. Der Winter brach an und setzte ihren Stelldicheins ein Ende; doch der Briefwechsel wurde dadurch um so lebhafter. Vladimir Nikolaevič flehte sie in jedem Briefe an, die Seine zu werden, sich heimlich mit ihm trauen zu lassen, sich einige Zeit versteckt zu halten und sich dann den Eltern zu Füßen zu werfen, die natürlich, von der heroischen Standhaftigkeit und dem Unglück der Liebenden schließlich gerührt, bestimmt zu ihnen sagen würden: Kinder! Kommt in unsere Arme. Marja Gavrilovna schwankte lange; eine Menge von Fluchtplänen wurde verworfen. Schließlich willigte sie ein: am festgesetzten Tage sollte sie nicht
zu Abend essen und sich auf ihr Zimmer zurückziehen, Kopfschmerzen vorschützend. Ihr Mädchen war in die Verschwörung eingeweiht; beide sollten über die Hintertreppe in den Garten gehen, hinter dem Garten einen Schlitten bereit finden, sich hineinsetzen und in das fünf Verst von Nenaradovo entfernte Dorf Žadrino fahren, direkt zur Kirche, wo Vladimir sie bereits erwarten sollte. Am Abend vor dem entscheidenden Tag schlief Marja Gavrilovna die ganze Nacht nicht; sie packte, schnürte Wäsche und Kleider zu Bündeln, schrieb einen langen Brief an ein empfindsames Fräulein, ihre Freundin, einen anderen an ihre Eltern. Sie verabschiedete sich von ihnen in den rührendsten Ausdrücken, entschuldigte ihr Vergehen mit der unbezwinglichen Kraft der Leidenschaft und endete damit, dass es der seligste Augenblick ihres Lebens sein werde, wenn ihr verstattet sein werde, sich ihren geliebten Eltern zu Füßen zu werfen. Beide Briefe versiegelte sie mit einem Tulaer Siegel, das zwei flammende Herzen mit der entsprechenden Unterschrift darstellte, warf sich unmittelbar vor Tagesanbruch auf das Bett und verfiel in Schlummer; doch aus ihm weckten sie alle Augenblicke schreckliche Träume. Bald schien ihr, genau in dem Augenblick, da sie sich in den Schlitten setzte, um zur Trauung zu fahren, hielt der Vater sie an, um sie in qualvoller Geschwindigkeit durch den Schnee zu schleifen und in ein dunkles, abgrundtiefes Verlies zu werfen... und sie flog kopfüber, ersterbenden Herzens in die Tiefe, mal sah sie Vladimir im Gras liegen, bleich, blutüberströmt. Sterbend, mit eindringlicher Stimme flehte er sie an, sich schnell mit ihm trauen zu lassen... andere unschöne, unsinnige Gesichte zogen eines nach dem anderen vor ihr vorüber. Schließlich stand sie auf, bleicher als gewöhnlich und mit Kopfschmerzen, die sie nicht vorzuschützen brauchte. Vater und Mutter bemerkten ihre Unruhe; ihre zärtliche Besorgnis und die unablässige Frage: was ist dir, Maša? Bist du auch nicht krank, Maša? zerrissen ihr das Herz. Sie versuchte, sich zu beruhigen, heiter zu erscheinen, und konnte es nicht. Der Abend brach an. Der Gedanke, nun zum letzten Mal einen Tag im Kreise ihrer Familie verbracht zu haben, schnürte ihr das Herz ab. Sie war mehr tot als lebendig; insgeheim verabschiedete sie sich von allen Personen, von allen Gegenständen, die sie umgaben. Man trug das Abendessen auf; ihr Herz begann heftig zu klopfen. Mit zitternder Stimme erklärte sie, sie möchte nicht essen, und begann, sich von Vater und Mutter zu verabschieden. Sie küssten und segneten sie wie gewöhnlich: beinahe hätte sie losgeweint. Auf ihrem Zimmer warf sie sich in einen Sessel und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Mädchen redete ihr zu, sich zu beruhigen und Mut zu fassen. Alles war bereit. Eine halbe Stunde später sollte Maša für immer das elterliche Haus verlassen, ihr Zimmer, ihr stilles jungfräuliches Leben... Draußen war Schneesturm; der Wind heulte, die Fensterläden bebten und klopften; alles erschien ihr als Bedrohung und als trauriges Vorzeichen. Bald hatte sich im Hause alles gelegt und schlief. Maša hüllte sich in den Schal, zog den warmen Mantel darüber, nahm ihre Schatulle in die Hand und trat auf die Hintertreppe hinaus. Die Bediente folgte ihr mit zwei Bündeln. Sie gingen in den Garten. Der Schneesturm hatte sich nicht gelegt; der Wind blies ihr entgegen, als wolle er alle Kraft aufbieten, die junge Verbrecherin aufzuhalten. Auf der Straße erwartete sie
S 68 – 69 der Schlitten. Die Pferde, durchgefroren, standen nicht still; Vladimirs Kutscher ging vor den Deichselstangen auf und ab, um die Feurigen zu halten. Er half dem Fräulein und ihrem Mädchen, sich bequem zu setzen und Bündel und Schatulle zu verstauen, nahm die Zügel, und die Pferde flogen dahin. Hier überlassen wir das Fräulein der Fürsorge des Schicksals und der Kunst des Kutschers Tereška und wenden uns unserem jungen Liebhaber zu. Den ganzen Tag war Vladimir unterwegs gewesen. Am Morgen war er bei dem Geistlichen in Žadrino; nur unter Mühen war er mit ihm einig geworden; danach war er gefahren, um unter den benachbarten Gutsbesitzern Trauzeugen zu suchen. Der erste, bei dem er erschien, der vierzigjährige Kornett a.D. Dravin, willigte mit Freuden ein. Dieses Abenteuer, versicherte er, erinnere ihn an frühere Zeiten und alte Husarenstreiche. Er überredete Vladimir, zum Essen bei ihm zu bleiben, und versicherte ihn, an den anderen zwei Zeugen werde die Sache nicht scheitern. Tatsächlich erschienen, unmittelbar nach dem Essen, der Landvermesser Schmitt, mit Schnurrbart und mit Sporen, sowie der Sohn des Kreispolizeichefs, eines Hauptmanns, ein Knabe von sechzehn Jahren, der unlängst in die Dienste der Ulanen getreten war. Sie nahmen Vladimirs Angebot nicht nur an, sondern schworen ihm sogar die Bereitschaft, ihr Leben für ihn hinzugeben. Vladimir umarmte sie begeistert und fuhr nach Hause, um sich vorzubereiten. Längst hatte es zu dämmern begonnen. Er schickte seinen verlässlichen Tereška mit seiner Trojka und einer ausführlichen, umständlichen Anweisung nach Nenaradovo, für sich hingegen ließ er den kleinen einspännigen Schlitten bereitstellen und fuhr allein, ohne Kutscher nach Žadrino, wohin in einer bis zwei Stunden Marja Gavrilovna kommen sollte. Die Straße kannte er, es waren höchstens zwanzig Minuten zu fahren. Doch kaum hatte Vladimir hinter dem Dorf das Freie erreicht, als Wind aufkam und ein solcher Schneesturm einsetzte, dass er nichts mehr erkannte. Augenblicklich war die Straße verweht; die Umgebung versank in trübem und gelblichem Dunst, durch den in Schwaden die weißen Schneeflocken flogen; der Himmel verschmolz mit der Erde. Vladimir fand sich auf freiem Feld und wollte vergeblich auf die Straße zurückfinden; das Pferd ging aufs Geratewohl und blieb alle Augenblicke bald in einer Schneeverwehung stecken, bald versank es in einer Grube; alle Augenblicke stürzte der Schlitten um; Vladimir bemühte sich nur, die Richtung zu halten. Doch schien ihm, es sei bereits über eine halbe Stunde vergangen, und er war noch nicht einmal an den Wald von Žadrino gekommen. Weitere zehn Minuten vergingen; der Wald war noch immer nicht zu sehen. Vladimir fuhr über ein Feld, von tiefen Schluchten durchzogen. Der Schneesturm legte sich nicht, der Himmel klarte nicht auf. Das Pferd begann zu ermüden, und ihm selbst floss der Schweiß in Strömen, obwohl er alle Augenblicke bis an den Gürtel im Schnee versank. Schließlich sah er ein, dass er in die falsche Richtung fuhr. Vladimir hielt an: er begann zu überlegen, sich zu erinnern, sich zu vergewissern und war plötzlich überzeugt, dass er sich weiter nach rechts halten müsse. Er fuhr nach rechts. Sein Pferd konnte kaum mehr gehen. Schon über eine Stunde war er unterwegs. Žadrino konnte nicht mehr weit ein. Aber er fuhr und fuhr, und das Feld nahm kein Ende. Nichts als Schneeverwehungen und Schluch-
ten; alle Augenblicke stürzte der Schlitten um, alle Augenblicke setzte er ihn wieder auf die Kufen. Die Zeit verging; Vladimir fing an, sich große Sorgen zu machen. Schließlich schimmerte auf einer Seite etwas Schwarzes. Vladimir bog dorthin ab. Näher gekommen, sah er Wald. Gott sei Dank, dachte er, jetzt ist es nicht mehr weit. Er fuhr entlang des Waldrandes, in der Hoffnung, jetzt gleich die bekannte Straße zu erreichen oder um den Wald einen Kreis zu schlagen: Žadrino befand sich unmittelbar dahinter. Bald fand er die Straße und fuhr hinein in die Finsternis der Bäume, die der Winter entblößt hatte. Hier konnte der Wind nicht wüten; die Straße war glatt; das Pferd fasste Mut, und Vladimir beruhigte sich. Doch er fuhr und fuhr, und Žadrino war nicht zu sehen; der Wald nahm kein Ende. Vladimir sah voller Entsetzen, er war in einen unbekannten Wald gefahren. Ihn packte die Verzweiflung. Er schlug auf das Pferd ein; das arme Tier begann, Trab zu gehen, ermüdete aber bald und verfiel, eine Viertelstunde später, wieder in Schritt, ungeachtet aller Anstrengungen des unglücklichen Vladimir. Nach und nach lichteten sich die Bäume, und Vladimir kam aus dem Wald; Žadrino war nicht zu sehen. Es musste um Mitternacht sein. Tränen stürzten ihm aus den Augen: er fuhr weiter aufs Geratewohl. Der Schneesturm hatte sich gelegt, die dunklen Wolken sich verzogen, vor ihm lag eine Ebene, bedeckt mit einem weißen gewellten Teppich. Die Nacht war recht klar. Nicht weit erblickte er ein Dörfchen, aus vier oder fünf Hütten bestehend. Vladimir fuhr darauf zu. An der ersten Hütte sprang er vom Schlitten, lief zum Fenster und begann zu klopfen. Einige Augenblicke später wurde das Holzfenster hochgeschoben, und ein alter Mann streckte seinen grauen Bart heraus. »Was willst du?« – »Ist Žadrino noch weit?« – »Žadrino noch weit?« – »Ja, ja! Ist es noch weit?« – »Nein, ist nicht mehr weit; zehn Verst.« Bei dieser Antwort griff sich Vladimir die Haare und verharrte regungslos, wie ein zum Tode Verurteilter. »Und von wo bist du?« fuhr der Alte fort. Vladimir hatte nicht die Nerven, Fragen zu beantworten. »Kannst du mir, Alter«, sagte er, »Pferde bis Žadrino besorgen?« – »Was haben wir schon für Pferde«, antwortete der Bauer. – »Aber kann ich nicht wenigstens einen Führer nehmen? Ich zahle, soviel er verlangt.« – »Warte«, sagte der Alte, das Fenster herablassend, »ich schick dir meinen Sohn heraus; er wird dich führen.« Vladimir verlegte sich aufs Warten. Keine Minute verging, als er wieder zu klopfen begann. Das Fenster hob sich, der Bart erschien. »Was willst du?« – »Wo bleibt denn dein Sohn?« – »Kommt gleich, zieht nur die Schuhe an. Aber bist du nicht durchgefroren? Komm herein und wärm dich auf.« – »Danke, schick lieber deinen Sohn heraus.« Das Tor quietschte; heraus kam ein Bursche mit einem Knüppel und ging voran; bald zeigte, bald suchte er die vom Schnee verwehte Straße. »Wie spät ist es?« fragte ihn Vladimir. »Wird bald hell«, antwortete der junge Bauer. Vladimir sagte kein Wort mehr. Die Hähne krähten und es war schon hell, als sie Žadrino erreichten. Die Kirche war abgeschlossen. Vladimir bezahlte den Führer und fuhr zum Hof des Geistlichen. Auf dem Hof stand seine Trojka nicht. Was für eine Nachricht mochte ihn erwarten!
S 70 – 71 Doch kehren wir zurück zu den guten Herren von Nenaradovo und schauen wir, was sich bei ihnen tut. Eigentlich nichts. Die beiden Alten erwachten und gingen in den Salon. Gavrila Gavrilovič in Nachtmütze und Friesjacke, Praskovja Petrovna im wattierten Schlafrock. Man trug den Samovar auf, und Gavrila Gavrilovič schickte das Mädchen, um von Marja Gavrilovna zu erfahren, wie es ihr gehe und wie sie geruht habe. Das Mädchen kehrte zurück und erklärte, das Fräulein habe schlecht geruht, doch sei ihr jetzt leichter, sie werde gleich in den Salon kommen. Tatsächlich öffnete sich die Tür, und Marja Gavrilovna trat ein, um Papa und Mama zu begrüßen. »Was macht dein Kopf, Maša?« fragte Gavrila Gavrilovič. »Ist besser, Papa«, antwortete Maša. »Sicher warst du gestern vom Ofendunst besessen, Maša«, sagte Praskovja Petrovna. »Vielleicht, Mama«, antwortete Maša. Der Tag verlief ruhig, doch in der Nacht wurde Maša krank. Man schickte in die Stadt nach dem Arzt. Er kam gegen Abend und fand die Patientin im Wahn phantasierend. Sie hatte hohes Fieber, und die arme Patientin lag zwei Wochen lang am Rande des Grabes. Niemand im Hause wusste von der geplanten Flucht. Die Briefe, die sie am Abend zuvor geschrieben hatte, waren verbrannt; ihr Stubenmädchen sagte niemandem ein Wort, aus Furcht vor dem Zorn der Herrschaft. Der Geistliche, der Kornett a. D., der bärtige Landvermesser und der kleine Ulan waren verschwiegen, und das nicht ohne Grund. Tereška der Kutscher sagte nie ein Wort zu viel, nicht einmal im Rausch. So wurde das Geheimnis von über einem halben Dutzend Verschwörern gewahrt. Es war Marja Gavrilovna selbst, die, unablässig im Wahn phantasierend, ihr Geheimnis preisgab. Doch waren ihre Worte so verworren, dass die Mutter, die nicht vom Krankenbette wich, aus ihnen nur begreifen konnte, dass ihre Tochter unsterblich in Vladimir Nikolaevič verliebt sei und dass, wahrscheinlich, die Liebe der Grund ihrer Krankheit sei. Sie beriet sich mit ihrem Manne, mit einigen Nachbarn, und so beschlossen am Ende alle einstimmig, dies sei offenbar Marja Gavrilovnas Schicksal, dem Schicksal entkomme man nicht einmal zu Pferde, Armut sei keine Schande, man lebe nicht mit dem Reichtum, sondern mit dem Menschen, und dergleichen mehr. Moralische Redensarten sind erstaunlich nützlich, wenn uns aus eigener Kraft nurmehr wenig zu unserer Rechtfertigung einfällt. Unterdessen begann das Fräulein zu genesen. Vladimir war im Hause Gavrila Gavrilovičs lange nicht mehr gesehen worden. Ihn schreckte, wie man ihn gewöhnlich aufgenommen hatte. Also beschloss man, nach ihm zu schicken und ihm das unverhoffte Glück zu verkünden: die Einwilligung in die Ehe. Doch wie groß war die Verwunderung der Herren von Nenaradovo, als sie von ihm zur Antwort auf ihre Einladung einen halbwahnsinnigen Brief erhielten! Er erklärte ihnen, keinen Fuß werde er mehr über die Schwelle ihres Hauses setzen, und bat, den Unglücklichen zu vergessen, der als einzige Hoffnung nurmehr den Tod habe. Einige Tage später erfuhren sie, Vladimir sei zur Armee abgereist. Das war im Jahre 1812. Lange wagte man nicht, dies der genesenden Maša zu erklären. Sie selbst erwähnte Vladimir nie. Einige Monate später, als sie seinen Namen unter denjenigen fand, die sich ausgezeichnet hatten und bei Borodino
schwer verwundet worden waren, fiel sie in Ohnmacht, und man befürchtete, das Fieber könne wiederkehren. Doch Gott sei Dank, die Ohnmacht hatte keine Folgen. Ein anderes Leid ereilte sie: Gavrila Gavrilovič verstarb und hinterließ ihr als Erbin das gesamte Gut. Doch das konnte sie nicht trösten; sie teilte aufrichtig die Trauer der armen Praskovja Petrovna, schwor, sich nie von ihr zu trennen; beide verließen sie Nenaradovo, den Ort der traurigen Erinnerungen, und fuhren, um fest dort zu leben, auf ihr ***sches Gut. Verehrer umringten auch hier die liebenswerte und reiche Braut; doch sie machte keinem auch nur die geringste Hoffnung. Die Mutter redete ihr manchmal zu, sich einen Freund zu wählen; Marja Gavrilovna schüttelte jedesmal den Kopf und verfiel in Nachdenken. Vladimir existierte nicht mehr: er war in Moskau gestorben, am Abend vor dem Einzug der Franzosen. Sein Andenken schien Maša heilig; zumindest bewahrte sie alles auf, was an ihn erinnern konnte: die Bücher, die er einst gelesen, seine Zeichnungen, die Noten und Gedichte, die er für sie abgeschrieben hatte. Die Nachbarn, die von allem erfuhren, wunderten sich über ihre Standhaftigkeit und warteten voller Neugierde auf den Helden, der schließlich triumphieren musste über die trauervolle Treue dieser jungfräulichen Artemisia. Unterdessen war der Krieg ruhmreich beendet worden. Unsere Regimenter kehrten aus dem Ausland zurück. Das Volk eilte ihnen entgegen. Die Kapellen spielten erbeutete Lieder: Vive Henri-Quatre, Tiroler Walzer und die Arie der Joconde. Offiziere, beinahe als Jünglinge ins Feld gezogen, kehrten, in der Luft des Krieges zu Männern gereift, zurück, mit Ordenskreuzen behängt. Die Soldaten unterhielten sich heiter und mischten alle Augenblicke deutsche und französische Wörter in ihre Rede. Unvergessliche Zeit! Die Zeit des Ruhmes und der Begeisterung! Wie heftig klopfte das russische Herz beim Worte Vaterland! Wie süß waren die Tränen des Wiedersehens! Mit welcher Einmütigkeit vereinten wir die Gefühle des nationalen Stolzes mit der Liebe zu unserem Herrscher! Und erst für ihn, welch Augenblick! Die Frauen, die russischen Frauen waren damals unvergleichlich. Ihre gewohnte Kälte war verschwunden. Ihre Begeisterung war in der Tat berauschend, wenn sie, die Sieger begrüßend, hurra! riefen Und in die Luft die Häubchen warfen. Wer der Offiziere von damals gäbe nicht zu, dass er der russischen Frau die schönste, die wertvollste Belohnung verdankte? In dieser glanzvollen Zeit lebten Marja Gavrilovna und ihre Mutter im Gouvernement *** und sahen nicht, wie die Hauptstädte die Rückkehr unserer Armeen feierten. Doch war die allgemeine Begeisterung in den Landkreisen und Dörfern vielleicht noch größer. Das Erscheinen eines Offiziers an diesen Orten wurde für ihn zum wahren Triumph, und schlecht erging es dem Verehrer im Frack in seiner Nachbarschaft. Wir sagten bereits, dass Marja Gavrilovna, ungeachtet ihrer Kälte, nach wie vor von Verehrern umringt wurde. Doch alle mussten zurücktreten, als in ihrem Schloss der verwundete Husarenobrist Burmin erschien, das Georgskreuz im Knopfloch und von interessanter Blässe, wie die dortigen Fräulein
S 72 – 73 sagten. Er war etwa sechsundzwanzig Jahre alt. Er war auf Urlaub auf seinen Landsitz gekommen, der sich in Marja Gavrilovnas Nachbarschaft befand. Marja Gavrilovna zeichnete ihn auf das höchste aus. In seiner Gegenwart belebte sich ihre gewohnte Nachdenklichkeit. Man kann nicht sagen, dass sie mit ihm kokettiert hatte, doch der Dichter, der ihr Verhalten bemerkte, hätte gesagt: Se amor non è, que dunque?... Burmin war tatsächlich ein sehr liebenswerter junger Mann. Er besaß jenen Geist, der Frauen gefällt: den Geist des Anstands und der Aufmerksamkeit, ohne jede Prätentionen, dazu sorglos-spöttisch. Sein Verhalten gegenüber Marja Gavrilovna war einfach und frei; doch was immer sie sagte oder tat, seine Seele und seine Blicke folgten nur ihr. Er schien von stillem und bescheidenem Wesen, wenngleich die Fama versicherte, er sei früher ein schrecklicher Taugenichts gewesen, doch das schadete ihm in der Meinung Marja Gavrilovnas nicht, die (wie auch alle andern jungen Damen) Streiche gern verzieh, die Kühnheit und Feuer des Charakters verraten. Am meisten jedoch... (mehr als seine Zartheit, mehr als das angenehme Gespräch, mehr als die interessante Blässe, mehr als der verbundene Arm) am meisten erregte ihre Neugierde und Vorstellungskraft das Schweigen des jungen Husaren. Sie konnte nicht verkennen, dass sie ihm sehr gefiel; wahrscheinlich hatte, bei seinem Geist und seiner Erfahrung, auch er bereits bemerken können, dass sie ihn auszeichnete: wie aber kam es, dass sie ihn noch immer nicht zu ihren Füßen gesehen und noch kein Geständnis gehört hatte? Was hielt ihn davon ab? Schüchternheit, untrennbar von der wahren Liebe, Stolz oder die Koketterie eines schlauen Schürzenjägers? Es war ihr ein Rätsel. Nach reiflicher Überlegung entschied sie, der einzige Grund sei Schüchternheit, und plante, ihn durch größere Aufmerksamkeit zu ermutigen und, je nach Umständen, auch durch Zärtlichkeit. Sie bereitete eine höchst überraschende Lösung des Knotens vor und wartete voller Ungeduld auf den Augenblick der Aussprache im Stil der Romane. Ein Geheimnis, gleich welcher Art, belastet ein Frauenherz immer. Ihre militärischen Operationen hatten den gewünschten Erfolg: zumindest verfiel Burmin in solche Nachdenklichkeit und seine schwarzen Augen hafteten mit solchem Feuer auf Marja Gavrilovna, dass der entscheidende Augenblick nicht mehr fern schien. Die Nachbarn sprachen von der Hochzeit wie von einer vollendeten Tatsache, und die gute Praskovja Petrovna freute sich, dass ihre Tochter endlich einen würdigen Bräutigam gefunden hatte. Die alte Frau saß eines Tages, eine grande Patience legend, allein im Salon, als Burmin eintrat und sich sofort nach Marja Gavrilovna erkundigte »Sie ist im Garten«, antwortete die Alte; »gehen Sie zu ihr, ich werde hier auf euch warten.« Burmin ging, die alte Frau bekreuzigte sich und dachte: ach, möchte doch die Sache heute noch ein Ende finden! Burmin fand Marja Gavrilovna am Teich, unter einer Weide, ein Buch in der Hand und im weißen Kleid, eine echte Romanheldin. Nach den ersten Fragen unterließ es Marja Gavrilovna absichtlich, das Gespräch zu unterhalten, und erhöhte damit die beiderseitige Verlegenheit, aus der nur noch eine über-
raschende und entschlossene Aussprache retten konnte. Und so geschah es: Burmin, der die Schwierigkeit seiner Lage einsah, erklärte, er suche seit langem nach einer Gelegenheit, ihr sein Herz zu öffnen, und bat sie um einen Augenblick der Aufmerksamkeit. Marja schloss ihr Buch und schlug, zum Zeichen des Einverständnisses, die Augen nieder. »Ich liebe Sie«, sagte Burmin, »ich liebe Sie leidenschaftlich...« (Marja Gavrilovna errötete und senkte den Kopf noch tiefer.) »Ich habe unvorsichtig gehandelt, indem ich mich einer lieben Gewohnheit hingab, der Gewohnheit, Sie täglich zu sehen und zu hören...« (Marja Gavrilovna fühlte sich erinnert an den ersten Brief des St. Preux.) »Heute ist es zu spät, mich meinem Schicksal zu widersetzen; die Erinnerung an Sie, Ihr geliebtes, unvergleichliches Bild wird von nun an die Qual und die Freude meines Lebens sein; doch bleibt mir noch, eine schwere Pflicht zu erfüllen, Ihnen ein schreckliches Geheimnis zu entdecken und zwischen uns ein unüberwindliches Hindernis aufzurichten...« – »Das hat immer existiert«, unterbrach Marja Gavrilovna lebhaft, »ich könnte niemals Ihre Frau werden...«- »Ich weiß«, antwortete er ihr still, »ich weiß, dass Sie einmal geliebt haben, obwohl der Tod und drei Jahre Trauer... Gute, liebste Marja Gavrilovna! Geben Sie sich keine Mühe, mich des letzten Trostes zu berauben; des Gedankens, dass Sie einwilligen könnten, mich glücklich zu machen, wenn... schweigen Sie, um Gottes willen, schweigen Sie. Sie zerreißen mir das Herz. Ja, ich weiß es, ich fühle, Sie würden die Meine werden, aber – ich bin das unglückseligste Geschöpf... ich bin verheiratet!« Marja Gavrilovna blickte ihn verwundert an. »Ich bin verheiratet«, fuhr Burmin fort, »ich bin seit vier Jahren verheiratet und weiß weder, wer meine Frau ist, noch wo sie ist, noch weiß ich, ob ich sie jemals wiedersehen werde!« »Was sagen Sie?« – rief Marja Gavrilovna aus; »wie ist das seltsam! Fahren Sie fort, ich werde Ihnen danach erzählen... aber fahren Sie fort, seien Sie so gut.« »Zu Beginn des Jahres 1812«, sagte Burmin, »eilte ich nach Vilna, wo sich unser Regiment befand. Als ich eines Abends spät an eine Poststation kam, hatte ich schon befohlen, schnell die Pferde anzuspannen, als sich plötzlich ein schrecklicher Schneesturm erhob, so dass der Aufseher und die Kutscher mir rieten, ihn abzuwarten. Ich hörte auf sie, doch hatte mich eine unbegreifliche Unruhe gepackt; mir schien, als stoße mich jemand vorwärts. Doch der Schneesturm legte sich nicht; ich hielt es nicht aus, befahl wieder anzuspannen und fuhr mitten hinein in den Sturm. Der Kutscher hatte den Einfall, entlang des Flusses zu fahren, was uns den Weg um drei Verst verkürzt hätte. Die Ufer waren verweht; der Kutscher verfehlte die Stelle, an der wir auf die Straße hätten kommen müssen, und so fanden wir uns in einer fremden Gegend wieder. Der Sturm wollte sich nicht legen; ich sah Licht und befahl, dorthin zu fahren. Wir kamen in ein Dorf; in der hölzernen Kirche war Licht. Die Kirche war geöffnet, auf dem Kirchhof standen einige Schlitten; durch die Vorhalle gingen Menschen. »Hierher! Hierher!« riefen einige Stimmen. Ich befahl dem Kutscher vorzufahren. ›Du lieber Gott, wo steckst du denn?‹ sagte jemand zu mir; ›die Braut ist schon ohnmächtig; der Pope weiß nicht, was er tun soll; wir wollten schon zurückfahren. Schnell, steig aus.‹
S 74 – 75 Schweigend sprang ich aus dem Schlitten und ging in die Kirche, die schwach von drei Kerzen erleuchtet war. Eine junge Frau saß auf einer Bank in einer dunklen Ecke der Kirche; eine andere rieb ihr die Schläfen. ›Gott sei Dank‹, sagte die, ›endlich sind Sie da. Sie haben mein Fräulein fast umgebracht.‹ Der alte Geistliche trat auf mich zu mit der Frage: ›Befehlen Sie anzufangen?‹ – ›Fangen Sie an, Väterchen, fangen Sie an‹, antwortete ich geistesabwesend. Man stellte die junge Frau auf die Füße. Sie erschien mir nicht hässlich... O unbegreiflicher, unverzeihlicher Leichtsinn... ich stellte mich neben sie vor das Pult; der Geistliche hatte es eilig; drei Männer und das Dienstmädchen stützten die Braut und waren nur mit ihr beschäftigt. Wir wurden getraut ›Küsst euch‹, sagte man zu uns. Meine Frau wandte mir ihr bleiches Gesicht zu. Ich wollte sie küssen... Sie schrie auf: ›Oje, das ist nicht er! Das ist nicht er!‹ und fiel bewusstlos zu Boden. Die Trauzeugen richteten erschrockene Blicke auf mich. Ich drehte mich um, verließ völlig ungehindert die Kirche, warf mich in die Kibitka und schrie: Fahr los!« »Mein Gott!« schrie Marja Gavrilovna auf: »und Sie wissen nicht, was aus Ihrer armen Frau geworden ist?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Burmin, »ich weiß nicht, wie das Dorf heißt, in dem ich getraut worden bin; ich erinnere mich nicht, von welcher Poststation ich losgefahren bin. Damals habe ich meinem verbrecherischen Streich so wenig Bedeutung beigemessen, dass ich, als wir von der Kirche losfuhren, einschlief und erst am anderen Morgen erwachte, schon drei Stationen weiter. Der Diener, der damals bei mir war, ist während des Feldzugs gestorben, so dass ich nicht einmal die Hoffnung habe, die Frau zu finden, die ich so grausam verhöhnt habe und die nun so grausam gerächt ist.« »Mein Gott, mein Gott!« sagte Marja Gavrilovna, seine Hand ergreifend; »das waren also Sie! Und Sie erkennen mich nicht wieder?« Burmin erbleichte... und warf sich ihr zu Füßen...
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08 – Biographien
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AK: A ndrey Kaydanovskiy, Choreographie LD: Lorenz Dangel, Musik FT: Felix Traw Trawöger, Sound Design AL: Aleksandra Landsmann, Sound Design GS: G avin Sutherland, musikalische Leitung KH: Karoline Hogl, Bühne AA: Arthur Arbesser, Kostüme CK: Christian Kass, Licht SH: Serge Honegger, Dramaturgie JH: J ulia Herzberg, Autorin Schicksalsschnee MW: MW : M arkus Wyler, Autor Stürmischer Geist
S 80 – 81 AK Andrey
Kaydanovskiy erhielt seine Ballettausbildung in Moskau, Stuttgart und Wien und tanzte anschließend im Ensemble des Balletts der Wiener Staatsoper. Seit 2009 arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Tänzer auch als Choreograph. Seitdem entstanden Werke wie Zeitverschwendung und Strawinksys Der Feuervogel für das Wiener Staatsballett, Das hässliche Entlein für die Wiener Volksoper und Love Song, was u.a. auch am Bolshoi Theater in Moskau aufgeführt wurde. Seine Produktion Tea or coffee führte schließlich zu einer intensiveren künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Stanislavsky Theater in Moskau. In der Folge entstanden Birthday Waltz für das hundertjährige Jubiläum des Theaters sowie Pajama Party. Er choreographierte zudem zwei Werke für das Hamburger Bundesjugendballett, Perfect Example für das Tschechische Nationalballett und das für Sergei Polunin konzipierte Solo im Rahmen des Origen Festivals in der Schweiz. Im März 2018 gab er mit seinem Stück Fable am Taganka Theater in Moskau sein Debüt als Choreograph und Regisseur in einem abendfüllenden Theaterabend mit Schauspielern. Seine Kreationen wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, so beispielsweise mit dem Preis »Best Dance Theatre Performer and Choreographer« beim internationalen Tanzfestival TANZOLYMP in Berlin und mit dem Deutschen Tanzpreis 2016 in der Kategorie Zukunft. 2017 arbeitete Andrey Kaydanovskiy erstmals für die Choreographie Discovery mit dem Bayerischen Staatsballett zusammen. Im Juni 2019 feierte seine Neukreation Cecil Hotel im Prinzregententheater Premiere, die er mit dem Ensemble des Bayerischen Staatsballetts entwickelte. Für die Reihe Fester Samstag, die 2020 während der Corona-bedingten Schließung der Bayerischen Staatsoper entstand, kreierte er in seiner neuen Rolle als Hauschoreograph das Werk petit pas, das auf humorvolle Weise Parallelen herstellte zwischen dem ersten Tag der Schließung des Theaters und dem Geburtstag Marius Petipas. Beide Daten fallen auf den 11. März. Mit Der Schneesturm zeigt Andrey Kaydanovskiy sein erstes abendfüllendes Handlungsballett beim Bayerischen Staatsballett. LD Ausgelöst
durch das Bedürfnis Musik in ihren unterschiedlichen Funktions- und Ausdrucksmöglichkeiten zu erleben, hat der Komponist Lorenz Dangel bewusst ein breites Schaffensfeld gewählt. Sowohl in seinen konzertanten Werken als auch in den Theaterprojekten wird seine Affinität zum Narrativen und zum Dramaturgischen deutlich. Von 2004 bis 2013 war Lorenz Dangel Composer in Residence des Origen Festivals. In dieser Zeit entstanden unter anderem die Oper David sowie Inferno, eine Klanginstallation auf einem fahrenden Zug, und Noah, eine Ballettmusik für großes Orchester. Im Jahr 2007 wurde das vom SWR in Auftrag gegebene Orchesterwerk Ströme vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart uraufgeführt. Im Dezember 2017 wurde im Coliseum in London sein zweites Ballett Satori vom Orchester der English National Opera gezeigt. Bekannt ist Lorenz Dangel auch für seine Filmkompositionen, darunter die Musik zum Spielfilm Hell von Tim Fehlbaum, für die der Komponist 2012 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Die Auftragskomposition zu Andrey Kaydanovskiy Der Schneesturm ist die erste Arbeit von Lorenz Dangel für das Bayerische Staatsballett.
Felix Trawöger studierte Musiktheorie und Philosophie in Berlin. Er war für die Produktion von Musik und Sound Design für viele freie Theaterproduktionen verantwortlich. Nach Assistenzen für verschiedene Filmmusikkomponisten arbeitet er seit 2014 beim Filmorchester Babelsberg. Als Operator und Aufnahmeleiter ist er dort an der Realisation zahlreicher nationaler und internationaler Filmmusik- und Albumproduktionen beteiligt (u. a. für Alexandre Desplat, Max Knoth, Alex Komlew, Johannes Repka, Alex Geringas). Ein wichtiger Fokus seiner Arbeit liegt auf der Mischung von Film-Soundtracks, zuletzt für Der Boandlkramer und die ewige Liebe (Musik: Ralf Wengenmayr und Marvin Miller). Mit dem Komponisten Lorenz Dangel verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit. FT
AL Aleksandra
Landsmann absolvierte nach dem Abschluss der Musikschule im Fach Violine den Studiengang ›Tonmeister für Film und Fernsehen‹ an der Fryderyk Chopin Musikuniversität in Warschau. Als Stipendiatin ging sie an die Filmuniversität Babelsberg KONRADWOLF und das Banff Center for Arts and Creativity in Kanada. Sie war verantwortlich für die Musikmontage in Dokumentarfilmen des kanadischen Regisseurs Niobe Thompson (Equus, Nomadboy) sowie für die Tonregie in zahlreichen Produktionen der Filmuniversität Lodz und Babelsberg. Aktuell arbeitet sie als Tonmeisterin und Musik-Editor für Filme und Serien. GS Gavin Sutherland ist der musikalische Leiter des English National Ballet
(ENB). Er wurde in County Durham geboren, schloss 1993 sein Studium an der Universität von Huddersfield ab und gewann den Krucynski-Preis für Klavier und den Davidson-Preis für besondere Leistungen. Er begann seine Karriere als fest angestellter Dirigent und Pianist beim Northern Ballet und hat in den letzten 25 Jahren mit national und international gefeierten Tanzcompagnien und Orchestern zusammengearbeitet. Er hat über 100 CDs aufgenommen, hauptsächlich mit britischer Musik, darunter viele Weltpremieren. Dieser Teil seiner Karriere hat zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der BBC geführt, vor allem mit dem BBC Concert Orchestra, der Royal Ballet Sinfonia und dem City of Prague Philharmonic Orchestra. Als Musikdirektor des ENB pflegt er das Repertoire des Ensembles und widmet sich Projekten wie der Orchestrierung von Vincenzo Lamagnas Partitur für Akram Khans Giselle, die mit dem Olivier Award ausgezeichnet wurde, oder der Rekonstruktion von Le Corsaire. Neben seiner Ballettarbeit arrangiert Sutherland regelmäßig Werke, bei denen die Quellenlage unsicher ist oder Partituren verloren gegangen sind, für führende internationale Orchester. Er spricht häufig im Fernsehen und im Radio über Musik und tritt an so unterschiedlichen Orten wie dem Sydney Opera House oder dem Buckingham Palace auf. 2019 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität von Huddersfield verliehen, und 2020 erhielt er den Critics' Circle National Dance Award für seinen herausragenden Beitrag im Bereich des Tanzschaffens. KH Karoline Hogl studierte Szenographie bei Erich Wonder an der Akademie
der Bildenden Künste Wien und ist seither als freischaffende Bühnen- und Kostümbildnerin tätig. Sie gestaltete Bühnen- und Kostümbilder für die Volks-
S 82 – 83 oper Wien (Das hässliche Entlein, Feuervogel), das Theater der Jugend in Wien (Momo, Grimm), das Odeon Theater Wien (Love Song) und das Next Liberty in Graz (Die Prinzessin auf dem Kürbis). In Prag arbeitete sie an der New Stage des Nationaltheaters (Perfect example), in Moskau am Taganka Theater (Fables) und am Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater (Tea or Coffee, Pajama Party). 2020 war ihr Bühnenbild von Pajama Party für den Preis der »Goldenen Maske« nominiert. Für das Bayerische Staatsballett zeichnete sie für die Ausstattungen von Discovery und Cecil Hotel verantwortlich. Beide Stücke wurden im Prinzregententheater uraufgeführt. Das Bühnenbild zu Andrey Kaydanovskiys Der Schneesturm ist die dritte Arbeit, die von Karoline Hogl beim Bayerischen Staatsballett zu sehen ist. AA In
Wien geboren und aufgewachsen, wurde Arthur Arbesser von der Geschichte und Kultur seiner Heimatstadt stark geprägt. Ebenso wichtig wichtig waren auch die Studienjahre am Londoner Central Saint Martins College. Nach Abschluss des Studiums arbeitet er sieben Jahre lang für Giorgio Armani in Mailand. Im Februar 2013 präsentierte Arthur Arbesser erstmals während der Mailänder Modewoche eine Kollektion unter seinem Namen und ist seither stets dort vertreten. In der Zwischenzeit entwickelte Arthur Arbesser seine persönliche Sprache stetig weiter. Seine Arbeiten zeichnen sich durch einen klaren Schnitt, grafische Muster sowie einen romantischen Ansatz aus. Neben seinem eigenen Label ist Arthur Arbesser auch als Berater für internationale Modemarken tätig. Verschiedene Projekte von Grafik-, Produkt- bis Interior Design geben stets neue kreative Impulse. Zu Produktionen im Bereich des Theaters gehören u.a. die Ausstattung des Balletts für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2019 (Choreographie: Andrey Kaidanovskiy) sowie die Kostüme für Der Rosenkavalier (Regie: André Heller) an der Staatsoper Unter den Linden Berlin im Februar 2020. CK Christian Kass, geboren in Frankfurt, studierte Bühnenbild in Salzburg.
1990 wurde er an die Bayerische Staatsoper engagiert und ist hier seit 1997 als Beleuchtungsmeister tätig. 1992 arbeitete er als persönlicher Assistent von Günther Schneider-Siemssen an der Sommerakademie in Salzburg und entwickelte 1995 eine Licht- und Multimediainstallation für das Mozarteum im Mozart-Haus. In der Folge schuf er u.a. das Lichtdesign für Rigoletto in der Arena di Verona (1996), Sergei Polunins Satori im London Coliseum (2017) und Kinsun Chans Coal, Ashes and Light am Theater St. Gallen (2020). Für das Bayerische Staatsballett arbeitete er zum ersten Mal als Lichtdesigner 1999 bei Kenneth MacMillans Manon. Seither kreierte Christian Kass das Lichtdesign für Schwanensee, Raymonda, Dornröschen, Helden, Les Ballets Russes, L´histoire du Soldat und Cecil Hotel sowie für Aufführungen der Heinz-Bosl-Stiftung. SH Serge Honegger studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Organisa-
tionstheorie. An der Universität St. Gallen promovierte er mit einer interdisziplinären Arbeit zu choreographischen Anweisungen in schriftlicher Form (Lenkung und Ablenkung). Zu den Theatern, an die er für Produktionen in
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den Bereichen Oper, Tanz und Schauspiel engagiert wurde, gehören das Opernhaus Zürich, die Staatsoper unter den Linden, das Festspielhaus Baden-Baden, das Hessische Staatstheater Wiesbaden, das Theater St. Gallen, das Schauspielhaus Zürich sowie das Watermill Center New York. Seit der Spielzeit 2020/2021 ist er als Dramaturg für das Bayerische Staatsballett tätig. Zu den Tanz- und Theaterschaffenden, mit denen Serge Honegger zusammenarbeite, zählen u.a. Liliana Cavani, Jürgen Flimm, Yossi Berg und Oded Graf, Claus Guth, Daniel Hay-Gordon, Jens-Daniel Herzog, Linda Kapetanea und Jozef Frucek, Konstantin Keykhel, Marcel Leemann, Jonathan Lunn, Vladimir Malakhov, Yuki Mori, Marco Santi, Johannes Schmid, Heinz Spoerli, Stephan Thoss, Beate Vollack und Robert Wilson. JH Julia
Herzberg ist Professorin für die Geschichte Russlands und Ostmitteleuropas in der Vormoderne an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsgebieten gehört die Umweltgeschichte Osteuropas. Sie ist Mitherausgeberin der Sammelbände The Russian Cold. Histories of Ice, Frost, and Snow (2021) und Ice and Snow in the Cold War: Histories of Extreme Climatic Environments (2019). Derzeit arbeitet sie an einer Studie zu Frost. Kälte als kulturelle Herausforderung in Russland, in der sie die wandelnden subjektiven Wahrnehmungen, sozialen Praktiken und Diskurse untersucht, die von der Frühen Neuzeit bis in die Zeit der Sowjetunion hinein den Umgang mit Frost, Schnee und Eis bestimmten. MW Markus
Wyler studierte Englische sowie Russische Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten von Zürich und Aberdeen. Zwölf Jahre war er Dramaturg am Opernhaus Zürich und zehn Jahre Manager von Cecilia Bartoli. Heute ist er als freischaffender Dramaturg, Autor, Künstlerischer Berater und Konzertorganisator tätig für Institutionen wie die Moskauer Staatliche Philharmonie, das Trans-Siberian Art Festival, die Salzburger Festspiele, die Philharmonie de Paris, die Innsbrucker Festwochen für Alte Musik, das Opernhaus Zürich, das Musikkollegium Winterthur, Decca Classics und die Géza Anda-Stiftung.
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09 – Fotostrecke
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01 – E lvina Ibraimova, Séverine Ferrolier, Ksenia Ryzhkova, Matteo Dilaghi, Robin Strona 02 – Ksenia Ryzhkova, Jonah Cook 03 – Jonah Cook, Ensemble 04 – Ksenia Ryzhkova 05 – Jonah Cook, Ensemble 06 – Jonah Cook, Ensemble 07 – Ensemble 08 – Osiel Gouneo, Ensemble 09 – P olina Bualova, Konstantin Ivkin, Ensemble 10 – J inhao Zhang, Ksenia Ryzhkova, Osiel Gouneo, Ensemble 11 – O siel Gouneo, Nikita Kirbitov, Shale Wagman 12 – Ksenia Ryzhkova, Jonah Cook 13 – Jonah Cook
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10 – Impressum
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S 116 – 117 Bayerisches Staatsballett Spielzeit 2020/2021 Ballettdirektor IZ: Igor Zelensky Programmbuch zu Der Schneesturm April 2021 Redaktion SH: Serge Honegger Gestaltung Bureau Borsche MB: Mirko Borsche RG: Robert Gutmann SM: Stefan Mader JW: Julian Wallis Satz und Druck Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Textnachweise Alle Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft außer der Abdruck von Alexander Puschkins Erzählung Der Schneesturm aus: Aleksandr Puškin. Die Erzählungen aus dem Russischen von Peter Urban. Das Buch erschien 2021 als Buch der Friedenauer Presse. Die Friedenauer Press ist ein Imprint des Verlags M Matthes atthes & Seitz Berlin. © MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH. Bildnachweise Graphiken Bureau Borsche Umschlag und Seiten 0-0, 2-3, 10-11, 14-17, 24-27, 34-37, 50-53, 62-65, 76-79, 86-89, 118-119 Fotos aus den Endproben © Marie-Laure Briane [S.91, 96-97, 100-101, 110-111, 115] © Yan Revazov [S.92, 112-113] © Katja Lotter [S.94-95, 98, 102-103, 104, 106-107, 108-109] Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten.
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