Comic zu Miroslav Srnkas Oper "South Pole" - Teil 2

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Der Wettlauf von Roald Amundsen und Robert Scott zum Südpol wurde Geschichte. In dieser­Spiel­ zeit wird die Geschichte zur Oper. Miroslav Srnka komponierte im Auftrag der Bayerischen Staatsoper die Oper South Pole, das Libretto stammt von Tom Holloway. MAX JOSEPH begleitet die Uraufführung durch die Spielzeit – und erzählt in Folge 2 von einer dramatischen Wendung für einen der beiden ­Gegenspieler.


WAS BISHER GESCHAH: Der britische Kapitän zur See Robert Falcon Scott und der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, ebenfalls mit Kapitänspatent ausgestattet, sind mit ihren Mannschaften in der Antarktis gelandet. Scotts Expedition wird von distinguierten englischen Gesellschaften wie der Royal Society und der Royal Geographical Society unterstützt, sein Ziel ist zweierlei: den bislang praktisch unbekannten Kontinent zu erforschen – und den Südpol zu erreichen, was noch niemandem zuvor gelungen ist. Erst unterwegs, beim Zwischenstopp in Melbourne, erfährt Scott, dass er einen Konkurrenten hat. ­Amundsen­­ verzichtet auf den wissenschaftlichen Ballast, reist schlank mit wenigen, frosterprobten Leuten und konzentriert alle seine Anstrengungen darauf, der Erste zu sein. Nichts davon ahnen seine Geldgeber – Parlament, König, Det norske geografiskal selskap –, als sie ihm eine mehrjährige Drift durchs ­Nordpolarmeer finanzieren. Überhaupt niemand ahnt etwas, bis Amundsen, mit seinem von Fridtjof Nansen geliehenen Schiff „Fram“ längst auf offener See, Scott und die Welt durch seinen Bruder Leon über seine heimlich geänderten Pläne informiert: mit dem berühmt gewordenen Telegramm „Beg ­leave to inform you Fram proceeding Antarctica.“ („Erlaube mir Sie zu informieren Fram Kurs auf Antarktika“). Scott muss sich entscheiden, wie er mit dieser ­Situation umgeht. Und beide hoffen, sich besser auf die kalte, unwirtliche, feindselige Welt am „tiefsten Punkt der Erde“ (Teil 1, Szene B der Oper) ­vorbereitet zu haben.

„Bring as much as you can“, fordert Robert Scott am Beginn der Oper South Pole seine Mannschaft auf. „Bring only what we need“, ermahnt Roald Amundsen die seine. Damit gibt der Operntext einen frühen Hinweis auf die unterschiedlichen Ansätze der zwei Expeditionsleiter. Doch beiden, Scott wie ­Amundsen, ist klar, dass bei einer auf mindestens zwei Jahre angesetz­ ten Expedition nicht alles bloß auf Nützlichkeit hin geplant werden kann. Wer monatelang im Polarwinter mit einem Haufen anderer Männer auf eng­ stem Raum auskommen will, muss für Abwechslung sorgen: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – und da die Frauen schließlich alle daheimbleiben

müssen, sind andere Formen der Erquickung vonnöten. So sind die Gram­ mofone und Klaviere, die beide Gruppen mit auf den antarktischen Kon­ tinent brachten, alles andere als absurd: Es erweist sich als sinnvoll, in der lebensfeindlichen Umgebung ein bisschen bürgerlichen Salon zu be­ haupten. Die Basislager sind auch ein Zuhause. Und solange die Sonne noch genügend Licht wirft, dass man halbwegs sehen kann, ist ein Fuß­ ballspiel die ideale Zerstreuung für jeden Engländer, „die britische Art“ eben – genauso wie es den Norwegern gefällt, sich eine Sauna zu zimmern und sich vom Temperaturwechsel den Kreislauf anregen zu lassen.

„We’ll set the hut up on land. This way we are safe.“ (Scott) – „We’ll set the hut up on the ice. This way we are further south.“ (Amundsen; Teil 1, Szene B) Die Briten errichten ihr Quartier auf Kap Evans, einer Landzunge von Ross Island am Rand des Ross-Meeres. Scott hat diese Gegend schon auf seiner ersten Antarktis-Reise erkundet. Das Ross-Meer bildet eine riesenhafte Einbuchtung in den antarktischen Kontinent; nirgends kommt man dem Pol näher als hier. Allerdings ist es weitgehend von Schelfeis bedeckt, auf einer Fläche so groß wie ganz Deutschland: eine aus Gletschern gespeiste, auf dem Wasser schwimmende Eisschicht, die noch mit dem Festland verbunden ist. Die Bruchkante, von der sich immer wieder Eisberge lösen, ist teils bis zu 50 Me­ ter hoch. Nur an wenigen Stellen ist es überhaupt möglich, mit einem Schiff anzulegen. Eine solche Stelle, in der das Schelfeis flacher ausläuft, findet

Amundsen in der Bucht der Wale: rund 650 Kilometer entfernt von Scotts La­ ger – vor allem aber knapp hundert Kilometer weiter südlich. Allerdings geht Amundsen ein Risiko ein: Seine Hütte, die er als zerlegtes Fertighaus mitge­ bracht hat, stellt er auf Eis. Festes Eis, zugegeben – aber die Gefahr, dass sich Risse bilden, dass das Lager abgetrieben wird, ist nicht von der Hand zu wei­ sen. Beide Teams haben Fotoapparate dabei, die Briten sogar einen professi­ onellen Fotografen, Herbert Ponting, der auch mit Filmkameras experimentiert. Das Ziel ist schließlich, die Reise zum Südpol wissenschaftlich zu dokumen­ tieren. Scott lässt sich persönlich einweisen, um auch von der letzten Pol-Etap­ pe Bilder mitbringen zu können. Amundsen und seine Leute machen eher Schnappschüsse, bei ihrem Marsch zum Pol hat Tempo Priorität. Amundsens eigener Fotoapparat geht außerdem irgendwann unbemerkt kaputt.


Beide Teams starten Mitte September 1910 ihre Schiffsreisen nach ­Süden, beide kommen im Januar 1911 in der Antarktis an. Und beide nut­ zen das folgende Vierteljahr bis zum Einbruch des polaren Winters im Mai, um ihre jeweiligen Basislager zu errichten, Lebensmittel zu verstauen, Quartiere für die Hunde und Ponys zu bauen. Alles, was man sich im mil­ den Europa ausgedacht und ausgetüftelt hat, wird nun ausprobiert und überprüft. Und dann gleich eingesetzt: Über die vorgesehenen Routen über das Schelfeis in Richtung Pol werden Depots angelegt, für Aus­ rüstungsgegenstände, Vorräte und Brennstoff, damit die eigentliche ­Expedition im folgenden Frühjahr schneller vorankommen kann. Genaue Kalkulationen, wie viel Material mitgeführt und was in welchen Abständen für die Rückreise deponiert werden soll, sind von lebenswichtiger Bedeu­

tung. Außerdem unternehmen beide Gruppen erste Exkursionen mit wis­ senschaftlichem Anspruch, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. (Der war Amundsen nämlich ziemlich gleichgültig.) Während die Norweger nach einigen Anlaufschwierigkeiten gute Erfahrungen mit ihren Schlit­ tenhunden machen, erweisen sich die englischen Motorschlitten als ­Enttäuschung: Die Ketten haften nicht auf den mit wenig Schnee bedeck­ ten Eisflächen, und die Motoren sind bei den tiefen Temperaturen über­ fordert. Ein Zylinderschaden besiegelt das Ende dieses Experiments. So setzen die Briten für die flache Strecke auf dem Schelfeis – etwa die Hälf­ te der gesamten Entfernung – auf die tapferen Ponys, vom Anstieg des Gletschers über das Hochplateau bis zum Pol dann auf das bewährte, aber kräftezehrende Selberziehen.

Die Polarnacht: Am südlichen Polarkreis heißt das von Mai bis September rund fünf Monate ununterbrochene Dunkelheit. Teilnehmer früherer Polar­ expeditionen in Nord und Süd sind an dieser Monotonie wahnsinnig gewor­ den. Daraus haben alle ihre Lehren gezogen: Wer unter diesen Umständen nicht durchdrehen will, braucht eine starke Konstitution – und einen streng eingeteilten Tagesablauf, mit Aufgaben und Ritualen, mit Arbeit und Ver­ gnügen. Amundsen hat sogar vieles, was später benötigt würde, bewusst unfertig mitgebracht. Schlittengeschirre werden auf der Überfahrt und jetzt in Framheim montiert, die Fellmäntel genäht, Schuhe gefertigt; die Zelte wer­ den verbessert und schwarz gefärbt (um besser im Schnee entdeckt zu wer­ den und die Sonnenstrahlung zu absorbieren), die Schlitten leichter ge­ macht. Und natürlich erfordern die Hunde ständige Betreuung.

Auch Scott lässt seine Männer nicht untätig werden. Meteorologische Unter­ suchungen und magnetische Messungen beschäftigen das Forscherteam rund um die Uhr. Es wird dokumentiert und kartografiert. Am Kap Evans ste­ hen auch Abendunterhaltungen auf dem Programm (schließlich ist Scotts Truppe mehr als dreimal so groß wie die von Amundsen, 65 gegenüber 19): Vorträge der teilnehmenden Wissenschaftler über Botanik, Zeichnen, Geo­ grafie, jeder, der mag, erzählt von seinem Fachgebiet, gelegentlich mit mo­ dernsten medialen Hilfsmitteln. Ponting zum Beispiel berichtet über seine Asienreise und zeigt Dias aus seinem Buch In Lotus-Land: Japan. Und da man daran gewöhnt ist, im Winter Weihnachten zu feiern, wird der Kalender ent­ sprechend angepasst: Am 22. Juni feiert man in der fahnengeschmückten Hütte antarktische Wintersonnenwende mit Kuchen und festlichen Getränken.


Wer mit ihnen spricht, könnte denken, sie wären dabei gewesen, so gut kennen sich die Autoren von South Pole mit dem Gegenstand ihrer Oper aus. Doch so erstaunlich es sein mag, am Südpol waren beide nicht. Miroslav Srnka, der Komponist (rechts), stammt aus Prag. Lange Wanderungen über schneebedeckte Berge, Hüttennächte weitab von der Zivilisation, provi­ antbeladene Rucksacktouren kennt er allerdings gut, wenn auch eher in Mitteleuropa. Tom Holloway, der Librettist, war zwar auch noch nie in der Antarktis. Aber näher als er dürfte kein anderer Mitwirkender von South Pole dem Ziel von Scott und Amundsen gekommen sein: Schließlich ist er im tasmanischen Hobart aufgewachsen, lächerliche 2692 Kilometer von der Küste des Kalten Kontinents entfernt. Keine Stadt liegt näher am Süd­ pol. Von Hobart aus sendete Amundsen seine Siegesnachricht in alle Welt,

hier ist bis heute die erste und letzte Station von Schiffen auf dem Weg nach Süden. Tom lebt inzwischen mal in Australien, mal in England, aber meist doch zu weit weg von Prag, als dass er mit Miroslav Srnka gemütlich beisammensitzen könnte (siehe den Text ab S. 34). So geht der Austausch anders vonstatten: in tausenden E-Mails, langen Telefonaten, Gesprächen über Skype – alles, was die Kommunikationstechnik anbietet, wird genutzt. Und schon bald nachdem sie sich auf die Geschichte der ersten Süd­ pol-Entdeckung geeinigt haben, stoßen sie auf ein in Opernhinsicht we­ sentliches Manko dieses Stoffes: Es waren keine Frauen dabei. Eine Oper ohne Frauenstimmen ist nicht unbedingt eine erstrebenswerte Angelegen­ heit. Wie also lassen sich weibliche Stimmen in diese Geschichte verwe­ ben? Wenig später gibt es auch dazu Ideen.

Träume. Ängste. Hoffnungen. Enttäuschungen. Wie fühlen sich die Men­ schen, die nicht einmal auf Briefe zurückgreifen können, geschweige denn auf Funk oder gar Telefon, Menschen, die vielmehr auf Jahre von jeglichem Austausch mit den Ihren abgeschnitten sind? In der Monotonie der polaren Winternacht, träumend im Halbschlaf des Nachts oder grübelnd in der Ein­ samkeit der Schneewüste schweifen die Gedanken von Scott und Amundsen immer wieder ab, driften in Visionen und wenden sich den daheimgebliebe­ nen Frauen zu. Natürlich denkt der Engländer an seine starke Kathleen, die Künstlerin, die so souverän mit der Welt umgeht und ihre Vorstellungen ver­ wirklicht, die ihn angespornt und beraten hat – und nun mit dem kleinen Sohn Peter in London auf seine Rückkehr, ja mehr noch auf eine Erfolgsmeldung wartet. Viele Gedanken plagen Scott, die Herausforderung durch Amundsen lässt ihn zeitweise in Depressionen verfallen. Aber er hält an seinem ur­

sprünglichen Vorhaben fest: Wettlauf ja, aber zum Besten der Wissenschaft. Amundsens Sorgen gelten dem technischen Vorsprung, den Scott haben könnte. Seine Sehnsüchte hingegen sind weniger eindeutig zu benennen. „There isn’t a love waiting for you?“ fragt Scott ihn in einem imaginären Ge­ spräch (Teil 1, Szene G). „Sometimes I think there is. I hear her voice on the wind.“ Bis Hundegebell oder Warnrufe sie aus ihren Hirngespinsten heraus­ reißen oder der Wecker zum Aufstehen mahnt. Der britische Wecker allerdings hat den Transport nicht überlebt. Daraufhin wird das Grammofon umgebaut: Immer wenn eine Kerze bis zu einer bestimmten Stelle abgebrannt ist, löst sie über einen Bindfaden den Plattenspieler aus. Die Entscheidung, welche von den mitgebrachten Schellackplatten die Ehre erhalten soll, als Weckruf zu dienen, fällt aus praktischen Erwägungen. Man wählt die Platte mit der Blumen­arie aus Carmen, gesungen von Enrico Caruso. Das ist die lauteste.


Scott kennt das Ross-Schelfeis von seiner Discovery-Expedition zwischen 1901 und 1904. Sein damaliger Offizier Ernest Shackleton hatte drei Jahre später auf seiner eigenen Nimrod-Expedition die Route über den Beard­ more-Gletscher erprobt und war auf dem rund 3000 Meter über dem Mee­ resspiegel liegenden Polarplateau – der Hochebene, auf der man den Süd­ pol vermutete – bis auf rund 180 Kilometer an den Pol herangekommen. Das sind verlässliche Erfahrungswerte. Amundsen hingegen geht auch hier ein enormes Risiko ein. Zum einen hat er selbst noch nie die Antarktis bereist und muss sich bei seiner Planung auf die Berichte anderer, eigene

Berechnungen und nicht zuletzt sein Gespür verlassen. Von der Bucht der Wale aus hat noch niemand einen Vorstoß ins Landesinnere vorgenommen. Ob es an dieser Stelle überhaupt einen Zugang auf die sogenannte Eis­ barriere gibt, ist alles andere als gewiss, genauso ob die Expedition einen überwindlichen Weg auf das Polarplateau finden wird, über und durch das Transantarktische Gebirge hindurch. Das Glück bleibt Amundsen hold: Sie finden genau solch einen Zugang, einen bezwingbaren Gletscher (Amundsen benennt ihn nach seinem Förderer Axel Heibert), praktisch auf der Ideal­ linie ihrer Route, der Direttissima zum Pol.

South Pole wird zu der Zeit geplant, als Kirill Petrenko zum Generalmusik­ direktor der Bayerischen Staatsoper ernannt wird. Für ihn ist es selbst­ verständlich, sich persönlich für diese Uraufführung zu engagieren. Schon als Chefdirigent in Meiningen hat er junge Komponisten gefördert und neue Orchesterwerke in Auftrag gegeben. South Pole ist die erste Oper, die er aus der Taufe hebt – und nach Die Soldaten im Mai 2014 und Lulu genau ein Jahr später das dritte Musiktheaterwerk der Moderne, das er in München dirigiert. Als Regisseur kommt mit Hans Neuenfels ein kundiger Lotse an Bord, der beim Inszenieren ebenso zu Hause ist wie beim Schreiben. An

seiner Seite: die Kostümbildnerin Andrea Schmidt-Futterer (links) – die bei­ den kennen sich seit Jahren und haben auch ihre jüngsten Produktionen gemeinsam gestaltet –, und erstmals dabei die Bühnenbildnerin Katrin Connan (Mitte). Immer wieder gibt es lange Besprechungen in großer Run­ de, auch mit dem Komponisten, in denen nach bühnen- und klangtechni­ schen Lösungen für die verschiedenen Szenen gesucht wird, in einer ­Mischung aus dokumentarischer Exaktheit und stilisierter Über­höhung. Und je näher der Premierentermin heranrückt, desto enger wird die Ab­stimmung zwischen den Künstlern: den Geburtshelfern dieser neuen Oper.


im Zelt eng ist und die Rationen e ­ in­g eschränkt werden mussten. (Dafür hat allerdings auch ­j eder Einzelne weniger zu schleppen und benötigt entsprechend weniger Kalorien.) Bowers wird wegen seiner schnabelähnlichen Nase von seinen Kameraden „Birdie“ genannt. Und scharfe Augen hat er auch. Da ist also ein kleiner schwarzer Fleck, weit voraus, nicht mehr als ein Punkt in der unendlichen Weißheit der Eiswüste. Scott begutachtet die Entdeckung seines Leutnants. Was mag das sein? Ein Felsbrocken in der Eiswüste? Ein unbekanntes Lebewesen? Oder etwa …?

Text Malte Krasting

Leutnant Henry Bowers sichtet ihn als Erster. Bowers, den rothaarigen Schotten, nur 1,60 Meter groß, aber zäh und von unverwüstlich guter Laune, hatte Scott unbesehen und einzig auf Empfehlung seines ­ Mentors Clements Markham angeheuert. Er gehört zunächst auch nur zur Mannschaft des ­E xpeditionsschiffes Terra Nova. Aber dann hat Scott ihn doch in der Antarktis mit an Land genommen – und kurzentschlossen sogar als fünften Mann auf die letzte Etappe zum Pol. Für den Vorteil, zu fünft den Treck schneller voranzubringen und einen erfahrenen Navigator ­d abeizuhaben, hat er in Kauf genommen, dass es


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