Comic zu Miroslav Srnkas Oper "South Pole" - Teil 1

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Der Wettlauf von Roald Amundsen und Robert Scott zum Südpol wurde Geschichte. In der Spielzeit 2015/16 wird die Geschichte zur Oper. Miroslav Srnka komponiert im Auftrag der Bayerischen Staatsoper die Oper South Pole, das Libretto schreibt Tom Holloway. MAX JOSEPH begleitet die Uraufführung durch die Spielzeit – im ­ersten Teil damit, wie alles begann …


Das kälteste Rennen des Jahrhun­ derts. Die Dauer: mindestens zwei Jahre. Das Ziel: als erster Mensch den Südpol zu erreichen. Der Einsatz: nicht weniger als das Leben. Die Teil­ nehmer: zwei ehrgeizige Entdecker und ihre Mannschaften. Im Herbst 1910 heißt es ablegen. Doch nur ei­ ner der beiden Expeditionsleiter weiß beim Auslaufen seines Schiffes, dass es ein Wettlauf werden wird. Erst als Robert Scott mit seinem fünfeinhalb Dutzend Mann starken britischen Team schon fast die Antarktis er­ reicht hat, eröffnet der norwegische Polarforscher Roald Amundsen sei­ nen 18 Mitfahrern, statt zum Nordpol ebenfalls nach Süden zu fahren – und lässt sein Vorhaben dem Konkurren­ ten per Telegramm mitteilen. Beide Gruppen sind sich bis zuletzt un­ gewiss, wer die besseren Karten hat. Das Ergebnis ist viel deutlicher, als irgendjemand gedacht hätte. Doch der Sieger wird seines mit scheinbar leichter Hand erzielten Triumphs letztlich nicht froh. „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“, heißt es. Kathleen Bruce, die spätere Frau von Robert Scott, hat sich nie damit abgegeben, in der zweiten Reihe zu stehen. Die Bildhauerin pflegt einen extravaganten Lebensstil und schert sich nicht um Konventionen. Die Zahl ihrer Verehrer ist Legion, doch wonach sie eigentlich sucht, ist ein Mann, der dafür taugt, der Vater ihres Sohnes zu werden. Und das ist Scott, der seit der Discovery-Expedition 1901–04 als Südpolfahrer berühmt wurde und dem manche noch Großes zutrauen. Ihm wiederum spuken die vielen großen Männer in ihrem Leben immer im Kopf herum. Wie soll ein schlichter Marineoffizier auch bestehen gegen Persönlichkeiten wie Auguste Rodin (der ihr Lehrer gewesen war und sie als Kollegin achtete), Pablo Picasso (den sie in Paris kennenlernte), J. M. Barrie (den späteren Autor von Peter Pan) oder gar den Dichter und Sexual-Okkultisten Aleister Crowley? Auch mit der Tänzerin Isadora Duncan war Kathleen eng verbunden: allesamt Erscheinungen einer Gesellschaft, in der Scott sich wie ein tumber Tor fühlen muss. Es entspinnt sich sogar während seiner Antarktisreise eine – platonische – Beziehung zwischen Kathleen und dem späteren Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen, Amundsens Mentor, der sich in sie verliebt. Ausgerechnet! Kathleens Ehrgeiz spornt Scott jedenfalls in seinen Südpol-Ambitionen maßgeblich an: Sie gibt ihm mit auf den Weg, kein Risiko zu vermeiden nur aus Sorge um sie und den kleinen Peter. Der ist gerade ein halbes Jahr alt, als sein Vater die Südpol-Mission antritt.


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegen die letzten unentdeckten Gegenden der Welt an den Polspitzen der Erde. Die Fragen lauten: Was für eine Landschaft verbirgt sich hinter den Eisbarrieren, die den Blick zum Südpol versperren? Und gibt es am entgegengesetzten Ende der Erdachse vielleicht nicht nur Treibeisschollen, sondern auch Festland, das besiedelt werden könnte? Dahinter steckten handfeste geostrategische, politische, wirtschaftliche Interessen; die wissenschaftliche Forschung dient da eher als Feigenblatt. Das britische Königreich will seine Stellung festigen; und Norwegen als gerade erst unabhängig gewordene Entdeckernation – die königliche Personal­ union mit Schweden ist 1905 aufgelöst worden – will seinen Platz in der Weltpolitik finden. Scott musste seine Expedition zwar privat vorfinanzieren, kann aber auf Rückhalt von akademischen Vereinigungen wie der Royal Geographical Society und von deren einflussreichen Mitgliedern zurückgreifen; der Präsident, Sir Clements Markham, ist der eigentliche Urheber hinter Scotts Expeditionen. Die Konkurrenz ist groß, Sir Ernest Shackleton nur einer von vielen, die liebend gerne auch den Südpol entdecken würden (pikanterweise unterstützt er dann Amundsen bei dessen Presseaktivitäten). Und Amundsen selbst? Der steht zwar besser da, zählt doch Fridtjof Nansen als Doyen der Polforschung zu seinen Unterstützern, gleichwohl ist auch er auf staatliches Geld angewiesen; der Storting (das norwegische Parlament) bewilligt ihm nicht alles, was er fordert, aber doch eine Menge, und König Haakon VII. hilft ebenso. Einiges an Hinterzimmerdiplomatie ist nötig in diesem Gerangel. Hinter den sportlichen Leistungen stecken viele Köpfe, die daheim die Fäden zu ziehen versuchen.


Amundsens Vater Jens war einer von fünf Brüdern, Roald selbst der jüngste von vieren. Doch eine eigene Familie gründet er nie. Von Kindheit auf gilt sein Ehrgeiz der – wie er es nannte – „Eroberung“ von Nord- und Südpol. Das nur der Mutter zuliebe aufgenommene Universitätsstudium bricht er nach deren Tod ab, und fortan ist alles, worin er sich ausbildet – Skifahren, Navigation, Kapitänspatent – auf dieses Ziel ausgerichtet. Nur eine Frau ist beständig gegenwärtig in seinem Leben: Betty Anderson, sein Kindermädchen, die noch dem berühmt gewordenen Abenteurer den unsteten Haushalt führt; nach ihr – nicht etwa nach seiner Mutter oder Freundin oder Frau – benennt er einen Berg auf der Antarktis. Liebschaften pflegt er nichtsdestoweniger, als Zeitvertreib zwischen seinen Expeditionen. Nach erfolgreicher Rückkehr verliert er dann regelmäßig das Interesse an den Amouren, bei denen es sich ausnahmslos um

verheiratete Frauen handelt. Seine Vermieterin in Antwerpen, wo Amundsen einen Navigationskurs besuchte, bringt sich um, als das Verhältnis bekannt zu werden droht; Sigrid Castberg, die Gattin eines Obergerichtsanwalts, trennt sich von ihrem Mann für Amundsen, der sie dann sitzen lässt; Kristine Bennett, die junge norwegische Frau eines reichen englischen Geschäftsmanns, wird während Amundsens Vortragstournee nach der Südpolreise seine Herzensdame und bleibt es länger als alle anderen. Als es ernst zu werden droht mit dem Zusammenleben, lässt Amundsen auch sie fallen. Vor seiner letzten Geliebten, Bess Magids, die er mit einem Verlobungsversprechen aus Amerika nach Norwegen gelockt hat, flüchtet er sich in die tödliche Rettungsaktion für seinen Rivalen Umberto Nobile.

Zwei Schiffe – beide mit bedeutender Vorgeschichte. Die Fram („Vorwärts“): Kein Holzschiff ist weiter nach Norden und weiter nach Süden vorgedrungen. Fridtjof Nansen hatte es sich 1892 bauen lassen für seine legendäre Nordpoldrift. Ein Schiff, das dank seiner ausgeklügelten Konstruktion dem Druck des Packeises standhalten konnte; jahrelang überwintert die Fram im arktischen Frost. Länge über alles: 39 Meter, Breite 11 Meter, 402 Bruttoregistertonnen; für Amundsens Expedition wird sie als erstes Schiff der Welt mit einem Dieselantrieb ausgerüstet. Heute steht sie in Oslo, als Hauptausstellungsstück des Fram Museums.

Die Terra Nova („Neuland“): knapp zehn Jahre älter und ursprünglich ein Walfangschiff. Mit 57 Metern anderthalbmal so lang, aber knapp einen Meter schmaler als die Fram, verfügt sie mit 764 Bruttoregistertonnen über fast doppelt so viel Laderaum, benötigt allerdings auch viel mehr Besatzung. Immerhin müssen auch Ponys und Motorschlitten untergebracht werden und nicht nur Schlittenhunde wie auf der Fram. Auch die Terra Nova hat einschlägige Erfahrungen im polnahen Einsatz: 1903 hat sie die von Scott geleitete Discovery-Expedition befreien geholfen und zwei Jahre später in der Arktis die Ziegler-Expedition gerettet. Nach Scotts Südpolfahrt wird sie als Robbenfänger eingesetzt und sinkt 1943 bei Grönland, wo sie Nachschub für amerikanische Militärbasen transportiert hat.


Auf der Karte sieht es so simpel aus, doch so einfach und direkt geht es natürlich nicht. Kaum auszumalen, welches Risiko die Abenteurer auf sich nehmen, um überhaupt erst an den Ort des Geschehens zu gelangen! Schon ein heftiger Sturm hätte alle Anstrengungen zunichte machen, die gesamten Besatzungen der schwerbeladenen Schiffe zugrundegehen lassen können. Einige Zwischenstopps sind erforderlich: Scott besteigt die Terra Nova erst in Südafrika, verlässt sie wieder in Melbourne und kehrt an Bord zurück in Neuseeland, der letzten zivilisierten Station vor der Antarktis; Amundsen kreuzt ein wenig in den Fjorden zwischen Kristiania (Oslo) und Bergen und steuert dann Funchal auf Madeira an, wo nicht nur die Vorräte ergänzt werden, sondern er auch seine Mannschaft darüber

informiert, was sie eigentlich erwartet. Auf den Booten befinden sich: das Material für die Hütten der Basisstationen (in Amundsens Fall praktisch ein Fertighaus), Zelte, Schlitten, meteorologische Instrumente, Proviant für Jahre (überwiegend Konserven von Unternehmen, die sich wie heutige Sponsoren gute Propaganda versprechen), an Transportmitteln bei den Briten drei Motorschlitten, Ponys und einige Hunde, bei den Norwegern von letzteren über 100 – aber an beiden auch Klaviere und Grammofone mit hunderten von Schellackplatten. Man feiert Weihnachten unter Deck mit stimmungsvoller Musik; zuweilen verkleidet sich ein englischer Matrose als Frau und tanzt für seine Kameraden. Es ist eine lange Zeit, die man miteinander verbringt.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der „elektromagnetische Schreibtelegraf“ von Samuel Morse das Mittel der Wahl, um kurze Nachrichten über weite Entfernungen schnell zu übermitteln; besonders, wenn der genaue Aufenthaltsort des Empfängers nicht bekannt ist. Die nötige Knappheit durch die nur drei verschiedenen Zeichen (kurz, lang, Pause) zwingt zur Beschränkung aufs Wesentliche. Die professionellen Tastfunker entwickeln beim Senden ihre jeweils charakteristische, wiedererkennbare „Handschrift“; besonders souveräne Morser genießen in ihrer Funkstube wohl auch eine zünftige Pfeife. Der Empfänger kann es sich nicht immer so ­gemütlich machen. (Das charakteristische Piepen des Morsegeräts wird übrigens keine ganz unwesentliche Rolle in der Oper von Miroslav Srnka

spielen. Schließlich ist es quasi der Startschuss zum Wettlauf um die Ehre – mit der, à propos, auch eine Menge Geld verbunden ist; Exklusivnachrichten sind auch damals schon eine lukrative Angelegenheit.) Das Telegramm erreicht Scott in Melbourne. An seiner geplanten Vorgehensweise ändert es nichts – sagt er. Aber sein Inneres bleibt seither in Aufruhr.


Text Malte Krasting

Die telegrafierte Botschaft Amundsens ist mit Absicht unklar gehalten: „Beg leave to inform you Fram proceeding Antarcic“ – „Erlaube mir Sie zu informieren Fram Kurs auf Antarktis“. Das eigentliche Vorhaben der „Fram“ wird gar nicht benannt, und aus dem unterzeichneten „Amundsen“ geht nicht einmal hervor, wer eigentlich der Absender ist: Tatsächlich ist es nicht von Roald Amundsen,

sondern auf dessen Anweisung von seinem Bruder Leon verschickt worden, und als Scott ungläubig bei Fridtjof Nansen nachfragen lässt, was das denn bitte genau bedeuten solle, bescheidet dieser wider besseres Wissen: „Unbekannt“. Was will Amundsen wirklich? Was wollen beide überhaupt erreichen? Wozu setzen Dutzende

Männer ihr Leben aufs Spiel, um im ewigen Eis einen abstrakten Punkt zu erreichen? Vieles lässt sich auch in Kenntnis aller Fakten und Dokumente nur schwer erklären. Aber dem schwer Erklärbaren, dem Unerklärlichen kommt womöglich die Kunst näher. Auch für den Dichter Tom Holloway und den Komponisten Miroslav Srnka heißt es nun: Amundsen und Scott, wir kommen!


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