Lear Aribert Reimann
BAYERISCHE STAATSOPER Aribert Reimann
Lear Oper in zwei Teilen nach William Shakespeare eingerichtet von Claus H. Henneberg — 1978
In deutscher Sprache Mit Übertiteln in deutscher und englischer Sprache aler digit zettel r h I gs tzun Bese
PREMIERE Sonntag, 23. Mai 2021 Nationaltheater
Musikalische Leitung Jukka-Pekka Saraste Inszenierung Christoph Marthaler Mitarbeit Inszenierung Joachim Rathke Bühne Anna Viebrock Kostüme Dorothee Curio Licht Michael Bauer Chor Stellario Fagone Dramaturgie Malte Ubenauf, Benedikt Stampfli
2020
2021
BESETZUNG
König Lear Christian Gerhaher König von Frankreich Edwin Crossley-Mercer Herzog von Albany Ivan Ludlow Herzog von Cornwall Jamez McCorkle Graf von Kent Brenden Gunnell Graf von Gloster Georg Nigl Edgar Andrew Watts Edmund Matthias Klink Töchter König Lears Goneril Angela Denoke Regan Ausrine Stundyte Cordelia Hanna-Elisabeth Müller Narr Graham Valentine Bedienter Dean Power Ritter Marc Bodnar Bayerisches Staatsorchester Herrenchor der Bayerischen Staatsoper Statisterie der Bayerischen Staatsoper
Erster Teil ca. 90 Minuten Pause ca. 30 Minuten Zweiter Teil ca. 60 Minuten
Anfertigung der Bühnenausstattung und der Kostüme in den eigenen Werkstätten. © Mit freundlicher Genehmigung von Schott Music, Mainz STAATSOPER.TV: Die Vorstellung am 30. Mai 2021 wird live ab 18.00 Uhr auf www.staatsoper.tv und BR-KLASSIK Concert übertragen. Kostenloses Video-on-Demand 1. Juni bis 1. Juli 2021 Die Vorstellung am 30. Mai 2021 wird live ab 18.00 Uhr auf BR-KLASSIK übertragen.
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Video-Magazin Die Protagonisten der Produktion geben Einblicke in die Inszenierung und Erarbeitung des Werks.
Opernsteckbrief Unser „Opernsteckbrief“ mit dem Dramaturgen Benedikt Stampfli verrät Ihnen in aller Kürze Wissenswertes, Spannendes und Interessantes zu Aribert Reimanns LEAR – Ein Podcast der Bayerischen Staatsoper.
Opernsteckbrief LEAR
MAX JOSEPH 2020-2021 No 3 DER GROSSZÜGIGE Wie der Regisseur Christoph Marthaler die Dimensionen des Menschseins verhandelt Von Stefanie Carp
DER GROSSZÜGIGE Christoph Marthalers Bühnenwelten bestehen aus Krisen, verfehlten Versuchen, Einsamkeit, Lächerlichkeit und Hysterie. Aber auch aus großer Schönheit. weiterlesen
Unsere Autorin hat den Regisseur jahrelang begleitet und beschreibt, wie er die Dimensionen des Menschseins verhandelt. Ein persönliches Porträt.
Text Stefanie Carp Fotografien Johannes Kuczera Premiere Lear
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Bayerische Staatsoper
Aribert Reimann
Aribert Reimann (*1936) Lear
Oper in zwei Teilen nach William Shakespeare eingerichtet von Claus H. Henneberg (1976 / 78)
Bayerische Staatsoper
Musikalische Leitung Inszenierung Mitarbeit Inszenierung Bühne Kostüme Licht Chor Dramaturgie
Jukka-Pekka Saraste Christoph Marthaler Joachim Rathke Anna Viebrock Dorothee Curio Michael Bauer Stellario Fagone Malte Ubenauf, Benedikt Stampfli
Uraufführung am 9. Juli 1978 im Nationaltheater München Premiere am 23. Mai 2021 im Nationaltheater München
Spielzeit 2020 / 21
Lear
Inhalt
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Inhalt
Aus: Aribert Reimanns Notizen zu Lear Insektenköpfe von Yudy Sauw
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Die Handlung 18 The Story 22 L’Argument 26 Gespräch mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock
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Sabine Schülting „Wir kamen weinend auf die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mussten.“ – Über das Libretto zu Aribert Reimanns Lear
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Jürgen Schläder Die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit. Leidensgeschichten in herausragenden Opern des 20. Jahrhunderts
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Malte Ubenauf Auf der unsichtbaren Waagschale. Über Gewicht und Gegengewicht in den Inszenierungen Christoph Marthalers
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Thomas Macho Der Atem der Könige. Bemerkungen zur Verwechslung von Liebe und Macht
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Benedikt Stampfli Der Schmetterlingseffekt. Die Beziehung zwischen dem Detail und dem großen Ganzen in Aribert Reimanns Oper Lear
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Die Autorinnen und Autoren Libretto Fotos der Klavierhauptprobe Nachweise und Impressum
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Plötzliches Hereinbrechen: Zwei Akkorde aus Zwischenspiel IV – der vorausgegangene Mord an Cordelia. Kein Raum für Triumph. Der Ausbruch muss unmittelbar auf die Pianissimoschläge der Pauken nach Gonerils Selbstmord folgen, wiederholt sich in Verlängerungen noch zwei Mal. Lear erscheint mit der toten Cordelia. Sturz in tiefen, immer wiederkehrenden Akkord. 3 tiefe Gongs – Lears Einsatz „Weint, weint ...“. Nach „Verräter! Mörder!“ Beginn der „Melodie“ aus Zwischenspiel III, jetzt in allen Streichern (außer Kontrabässen). Gongs gehen zurück, es bleiben nur die unisono-Streicher. Dahineingesetzt Edgars und Albanys letzte Sätze. Wieder die tiefen Akkorde, die allmählich leiser werden. Aus dem Kreisen der letzten Töne f – es in Bratschen und Celli erheben sich nacheinander alle Streicher in aufsteigenden Flageoletts in der Tonfolge der Sturmreihe, nur jetzt versetzt, 48 Töne auf 4 Oktaven beschränkt. (Synthese der Sturm- und Quartenreihe): 12 Töne chromatisch, darüber 12 Töne Schattenklang (Viertelton tiefer), darüber 12 Töne chromatisch, darüber 12 Töne Schattenklang (Viertelton tiefer). Dieser Akkord zittert in sich, jede Stimme auf ihrem Ton in rhythmischer Reihe aus dem V. Bild (Linien in allen Streichern). Dazu die letzten Worte Lears: „Seht ihr dies? Seht sie an! Seht, ihre Lippen ... Seht hier – seht …“ Eine neue Welt tut sich auf.
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Lear
Der Fotograf Yudy Sauw (* 1980 in Tangerang, Banten, Indonesien) ist mit seiner Kamera den Köpfen verschiedener Insekten sehr nahegekommen. In seinen Makroaufnahmen werden Materialität und feinste Strukturen der Oberflächen wie unter einem Mikroskop sichtbar. Jede Farbnuance beeindruckt, jedes Härchen fasziniert. Die symmetrische Frontalansicht verleitet dazu, ein menschliches Gesicht zu erkennen, doch die enormen Facettenaugen verweisen auf eine andere Kreatur. Katrin Dillkofer
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Soldier Fly 9 Oriental Horsefly 10 Tiger Dragonfly 12 Owlfly 14
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Die Handlung
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Lear
Erster Teil
Lear ist des Regierens müde und möchte die Herrschaft über sein Reich zwischen seinen drei Töchtern aufteilen. Diejenige, die ihn am meisten liebt, soll den größten Anteil bekommen. Während Goneril und Regan sich in wortreichen Liebesbekundungen zu übertreffen versuchen, bringt Cordelia ihre Liebe erst auf Lears wiederholte Aufforderung in bescheidenen Worten zum Ausdruck. Lear gerät darüber in Zorn, verstößt Cordelia und verweigert ihr die Mitgift für ihre Heirat mit dem König von Frankreich. Der Graf von Kent, Gefolgsmann Lears, ergreift für Cordelia Partei und wird verbannt. Um ihre Position zu sichern, gehen Regan und Goneril ein Bündnis ein, wohl wissend, dass jede von ihnen nach der alleinigen Macht strebt. Auch zwischen Graf von Gloster und seinen Söhnen Edgar und Edmund drohen Erbstreitigkeiten. Edmund, der sich als unehelicher Sohn grundlos zurückgesetzt fühlt, überzeugt seinen Vater mit einem gefälschten Brief, dass Edgar dessen Ermordung plane. Gloster setzt ein Kopfgeld auf Edgar aus und setzt Edmund als seinen alleinigen Erben ein. Kent kehrt in Verkleidung zu Lear zurück. Von Goneril und Regan wird er für einen Spion gehalten und festgesetzt. Sie wollen sich nicht mehr um ihren eigensinnigen Vater kümmern und zermürben Lear mit Provokationen. Als dieser erkennen muss, dass sich die beiden Töchter gegen ihn verschworen haben, stößt er Flüche und Drohungen aus. Regan jagt ihn schließlich davon. Lear ist allein einem Unwetter ausgesetzt und voller Verzweiflung über seine trostlose Lage. Kent und der Narr nehmen ihn in ihre Obhut. Die drei stoßen auf Edgar, der sich zum Schutz vor seinen Verfolgern als armer Tom tarnt. Auch Gloster hält Lear insgeheim die Treue und erscheint, um ihn in Sicherheit zu bringen.
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Die Handlung
Zweiter Teil
Eine französische Invasion steht bevor. Gloster wurde von Regans Gatten, dem Herzog von Cornwall, gefangengenommen. Als er bekennt, auf Lears Seite zu stehen, blenden ihn Cornwall und Regan. Ein Bediensteter wechselt daraufhin die Seiten und erschlägt Cornwall. Regan enthüllt Gloster Edmunds Verrat und überlässt den Blinden seinem Schicksal. Goneril ist enttäuscht von ihrem Ehemann, Herzog von Albany, den angesichts ihres Verhaltens Skrupel plagen. Sie plant, Regan zu vergiften. Edmund übergibt sie das Kommando über ihre Truppen und verspricht, ihn zu heiraten und mit ihm gemeinsam zu herrschen. Gleichzeitig erfährt Cordelia von Lears Zustand und lässt nach ihm suchen. Der blinde Gloster trifft auf seinen Sohn Edgar, allerdings ohne diesen zu erkennen. Er bittet Edgar, ihn zu einer Klippe zu führen, von der er sich in den Tod stürzen möchte. Edgar täuscht seinen Vater und führt ihn auf ein freies Feld: Gloster springt, fällt jedoch nur der Länge nach zu Boden. Von Edgar lässt er sich überzeugen, den Sturz dank eines Wunders unverletzt überlebt zu haben. Sie begegnen dem orientierungslos umherstreifenden Lear. Der König von Frankreich findet Lear und lässt ihn ins französische Lager bringen, wo es zur Versöhnung zwischen Cordelia und ihrem Vater kommt. Edmund hat Lear und Cordelia gefangengenommen und Cordelias Hinrichtung angeordnet. Mit dem Ziel der alleinigen Herrschaft vor Augen spielt er Goneril und Regan gegeneinander aus. Albany versucht vergeblich, Edmund in seine Schranken zu weisen und Lear und Cordelia zu retten. Währenddessen bemerkt Regan die Wirkung des Giftes, das ihr Goneril zuvor verabreicht hat. Sie stirbt. Edgar, immer noch in Verkleidung, fordert Edmund zum Duell heraus und tötet ihn, Goneril ersticht sich aus Verzweiflung. Lear trauert um die ermordete Cordelia und stirbt schließlich.
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L ’Argument
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Lear
Première partie
Lear est las de régner et désire partager son royaume et ses pouvoirs entre ses trois filles. Celle qui l’aime le mieux se verra attribuer la plus large part. Alors que Goneril et Regan tentent de l’emporter par de redondantes manifestations d’amour filial, Cordelia n’exprime son affection qu’en termes retenus malgré les demandes pressantes de son père. Lear se met en colère, rejette Cordelia et refuse de la doter pour son mariage avec le roi de France. Le comte de Kent, l’homme de confiance de Lear, prend parti pour Cordelia et se retrouve banni. Pour assurer leur position, Regan et Goneril scellent une alliance, bien conscientes néanmoins que chacune d’elles cherche à obtenir l’intégralité du pouvoir. Des conflits d’héritage se profilent également entre le comte de Gloster et ses fils Edgar et Edmund. Ce dernier se sent injustement mis à l’écart en tant que fils illégitime et, par une fausse lettre, parvient à convaincre leur père qu’Edgar projette de l’assassiner. Gloster met à prix la tête d’Edgar et fait d’Edmund son seul et unique héritier. Kent retourne chez Lear, déguisé. Mais Goneril et Regan le prennent pour un espion et le font emprisonner. Elles ne veulent plus s’occuper de leur entêté de père, et achèvent de l’épuiser à force de provocations. Lorsque Lear réalise que ses deux filles se sont liguées contre lui, il profère malédictions et menaces. Regan finit par le chasser. Lear, abandonné, doit affronter une tempête et sa sinistre situation le fait sombrer dans le désespoir. Kent et le bouffon le prennent sous leur protection. Les trois hommes tombent sur Edgar, qui se fait passer pour le pauvre Tom afin de se soustraire à ses poursuivants. Gloster, lui aussi, reste secrètement loyal envers Lear et apparaît pour le conduire en sécurité.
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Deuxième partie
Une invasion française est imminente. Gloster a été capturé par l’époux de Regan, le duc de Cornwall. Lorsqu’il avoue sa fidélité à Lear, Cornwall et Regan lui crèvent les yeux. Un serviteur change alors de côté et tue Cornwall. Regan révèle à Gloster la trahison d’Edmund et abandonne l’aveugle à son sort. Goneril est déçue par son mari, le duc d’Albany, que les scrupules tourmentent, eu égard à la conduite de sa femme. Elle prévoit d’empoisonner Regan. A Edmund elle donne le commandement de ses troupes, et elle promet de l‘épouser et de régner avec lui. Au même moment, Cordelia apprend dans quel état se trouve Lear et donne l’ordre de partir à sa recherche. Gloster, aveugle, croise son fils Edgar sans toutefois le reconnaître. Il demande à Edgar de le mener à une falaise d’où il a l’intention de se donner la mort. Edgar dupe son père et le guide vers un vaste champ: Gloster saute, mais tombe de tout son long sur le sol. Edgar lui fait croire qu’un miracle l’a fait sortir indemne de cette chute. Ils rencontrent Lear qui erre, désorienté. Le roi de France retrouve Lear et le fait conduire dans le camp français, où Cordelia et son père se réconcilient. Edmund a emprisonné Lear et Cordelia et a ordonné l’exécution de celle-ci. Dans le but de prendre le pouvoir pour lui seul, il dresse Goneril et Regan l’une contre l’autre. Le duc d’Albany tente en vain de remettre Edmund à sa place et de sauver Lear et Cordelia. Durant ce temps, Regan constate les effets du poison que Goneril lui a préalablement administré. Elle meurt. Edgar, toujours déguisé, provoque Edmund en duel et le tue ; de désespoir, Goneril se poignarde. Lear pleure sa Cordelia assassinée et il finit par rendre l’âme.
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The Story
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Lear
First Part
Lear is tired of ruling and wishes to divide the governance of his empire between his three daughters. The largest part shall be destined for the daughter who loves him the most. While Goneril and Regan attempt to outdo one another with verbose expressions of love, Cordelia expresses her love in humble words only after Lear’s repeated requests. Her actions arouse anger within Lear, and he casts her out, denying her a dowry for her marriage to the King of France. The Earl of Kent, a follower and supporter of Lear, sides with Cordelia and is banished from the kingdom. To strengthen their positions, Regan and Goneril form an alliance in the full knowledge that each of them seeks sole power. A further inheritance dispute erupts between the Duke of Gloster and his sons Edgar and Edmund. The latter, as an illegitimate son, feels neglected for no reason and convinces his father with a forged letter that Edgar is planning his murder. The Duke places a bounty on Edgar’s head and appoints Edmund as his sole heir. The Earl of Kent returns to Lear in disguise. Believing him to be a spy, Goneril and Regan arrest him. By now, the maidens are tired of caring for their stubborn father and exhaust him with provocations. Upon realising that his daughters have conspired against him, he curses and threatens them. Regan eventually chases him away. Lear finds himself alone in a storm and despondent about his bleak situation until the Earl of Kent and the fool take him into their care. The three of them encounter Edgar, disguised as poor Tom to protect himself from his pursuers. Gloster, who is secretly loyal to Lear, appears and brings the King to safety.
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The Story
Second Part
A French invasion is imminent. Regan’s husband, the Duke of Cornwall, has taken the Duke of Gloster captive. Upon confessing that he supports Lear, Cornwall and Regan blind him. One of Cornwall’s servants then changes allegiance and kills his old master. Regan reveals Edmund’s betrayal to Gloster and leaves the blinded Duke to his fate. Goneril is disappointed in her husband, the Duke of Albany, who is plagued by scruples about her behaviour. She concocts a plan to poison Regan and hands Edmund command of her troops while promising to wed him and rule together. Meanwhile, Cordelia learns of Lear’s condition and orders him to be found. The now-blind Duke of Gloster meets his son Edgar without recognising him. He asks his son to lead him to a cliff from which he wishes to throw himself to his death, but Edgar deceives his father and leads him to an open field. Gloster jumps, but only falls to the ground, and he allows Edgar to convince him that his survival was due to a miracle. They meet the disoriented, wandering Lear. The King of France encounters Lear and has him taken to the French camp, where Cordelia and her father are reconciled. Edmund has captured Lear and Cordelia, and has ordered Cordelia’s execution. With his goal of sole rule in mind, Edmund plays Goneril and Regan off against each other. The Duke of Albany tries vainly to put him in his place and save Lear and Cordelia. In the meantime, Regan begins to notice the effects of the poison Goneril administered to her, and she dies. Edgar, still in disguise, challenges Edmund to a duel and kills him. In desperation, Goneril stabs herself to death. Lear mourns his executed Cordelia and finally dies.
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Bayerische Staatsoper
Eine Entomologin hat eine weiße Lichtfalle aufgespannt, um Insekten und Schmetterlinge zu fangen. Auf der folgenden Seite der Blick in die Auslage eines Evolution Stores in New York.
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Lear
„Aber dreht er wirklich komplett durch?“
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Ein Gespräch mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock
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CM: Christoph Marthaler AV: Anna Viebrock
Was ist für heute noch interessant an Reimanns Lear? CM: Ohne Zweifel ist es ein fantastisches Werk. Für mich ist es aber
nicht einfach, weil es eigentlich völlig konträr zu dem ist, wie ich arbeite und wie ich über Theater denke. Das ist eine Herausforderung. Der erste Teil ist ein unvorstellbares Fortissimo und das ist eigentlich das Gegenteil von dem, wie ich am Schauspiel King Lear inszenieren würde: nämlich sehr reduziert. Aber das interessante ist natürlich, damit umzugehen, auch mit dieser mächtigen Musik. Ich mag überdramatische Bewegungen im Gesang und ausladende Schauspieler nicht. Ich glaube ihnen meistens nicht und vor Allem verstehe ich nichts mehr, wenn sie da zu viel vorspielen. Für die Sänger ist das hier natürlich eine unglaubliche Herausforderung, weil die Komposition so dicht ist. Das Stück ist mit Sicherheit bewusst überladen. Das ist ein Prinzip. Gegensätze findet man auch in den Figuren. Es gibt die vermeintlich Guten, die Bösen; auf der einen Seite die Lieblingstochter Cordelia und Edgar und auf der anderen die beiden „bösen“ Schwestern und Edmund. Ist dieses Bild nicht zu einfach gezeichnet? CM: Natürlich! Es gibt nicht nur die Guten und die Bösen – vielleicht sind sogar alle böse? In gewissen Situationen. Was ist das für ein Lear, der seine drei Töchter zusammentrommelt, um zu sagen, ich übergebe das Reich: Die, die mir die schönste und die beste Liebeserklärung macht, die bekommt am meisten. Damit programmiert man doch schon die absolute Katastrophe, das absolute Chaos. Und dass er seine Tochter, die ehrlich ist, einfach verstößt, ist erstaunlich. Und dann verstößt er noch einen seiner wichtigsten Berater, nur weil der sich kritisch äußern will. Das hat etwas sehr Diktatorisches. Oder ist Lear hier schon wahnsinnig? Das ist bei uns offen, er ist in seinem Kopf woanders, aber die Tatsache ist, dass er handelt, wie er handelt. In solchen Situationen, wenn alles unklar ist, entstehen ja oft ganz böse Angelegenheiten. Die Töchter sind völlig verzweifelt, weil der Vater offensichtlich sein Reich nicht mehr im Griff hat. Aber sie verhalten sich schrecklich, sie wollen ihn weghaben. Man kann auch mitdenken, dass es gut ist, wenn er abdankt, aber dann löst das wieder diese
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„Aber dreht er wirklich komplett durch?“
furchtbaren Machtkämpfe aus. Und es ist auch etwas, was Parallelen zu unserer Zeit und zu anderen Zeiten hat. Zu Zeiten, wo Dinge nicht mehr klar sind. Ist Lear einen König mit drei Prinzessinnen oder ein Vater mit drei Töchter? CM: Ein Vater mit drei Töchter. Das Familiäre interessiert mich. AV: Es gibt jetzt gerade eine Fernsehdokumentation über den Medienmogul Rupert Murdoch. Dort geht es um mächtige Menschen, die viel Geld und Besitz haben. Sie wollen unbedingt, dass ihre Kinder ihr Erbe fortführen und bestimmen sie nach Talent zu ihren Nachfolgern. Für sie ist ihre Dynastie unheimlich wichtig. Hier sehe ich einige Parallelen zu Lear. CM: Ich finde es auch viel spannender, dass es um eine Familienstory
und nicht um einen König geht. AV: Die Oper heißt ja auch nicht König Lear, sondern nur Lear. Wir haben
in den Gesprächen mit der Kostümbildnerin Dorothee Curio auch an Juan Carlos von Spanien gedacht. Gerade bei so alten inzwischen abgedankten Herrschern wie ihm hat man nicht mehr diese Ehrfurcht, und es kommt plötzlich so viel über diese Personen heraus. Heutigen Royals sieht man das Königliche an ihrer Kleidung schließlich auch nicht mehr an, so ein Bild von Monarchie wie in England gibt fast nirgendwo mehr. Sprich, das Royale spielt für uns keine bedeutende Rolle mehr. Im Lear-Stoff spielt ja auch die Natur eine große Rolle. Lears Monolog im Sturm auf der Heide, oder das Bild von der Klippe, von der sich Gloster stürzen möchte. Welche Rolle spielt die Natur im Bühnenbild, was für ein Verhältnis zwischen Natur und Mensch entsteht dabei? AV: Seit wir miteinander arbeiten, sind wir der Meinung, dass Natur in ihrem unberührten Zustand nicht auf die Bühne gebracht werden kann – oder eben in einem bearbeiteten Zustand so wie in dieser Inszenierung: ausgestopfte Tiere oder aufgespießte Insekten.
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Lear
CM: Es ist vergangene Natur. Ich liebe die Natur zu sehr, und sie ist mir zu wichtig, sie hat bei mir im Theater eigentlich optisch auf der Bühne nichts zu suchen. Wenn ich im Theater an Natur denke, frage ich mich, was ich eigentlich hier mache, im Kunstlicht. Entscheidend ist für mich die innere Natur. Was steckt in uns drin? Der Sturm findet für mich in den Köpfen statt. Die Musik drückt den Sturm schon sehr eindrücklich aus, da braucht es keine zusätzlichen Windmaschinen. Das wäre dann ja schon fast ein Witz oder Ironie. Der Sturm findet in Lears Kopf und in den anderen Figuren statt. Vielleicht ist sogar alles nur Imagination.
Was hat es mit den Insekten auf sich, die Lear in dieser Inszenierung gesammelt hat? CM: Er sammelt Insekten, tötet und klassifiziert sie und präpariert sie
schließlich auch wieder. Am Ende sind die Insekten tot, aber wirken ironischerweise oft lebendiger als im lebendigen Zustand. Es gibt also einen Kreislauf des Lebens, eine Wandlung zwischen Leben und Sterblichkeit. Mich interessiert dieser Übergang: etwas Totes kann sehr lebendig wirken und umgekehrt. Diese Thematik hat für mich sehr viel mit dem Lear-Stoff zu tun. In deinen Regiearbeiten ist es nicht selten, dass gerade die Nebenrollen auf der Bühne sehr präsent sind und zu stummen Hauptrollen mutieren. Welche Bedeutung haben die beiden Sprechpartien, der Narr und der Ritter? CM: Nebenfiguren sind bei mir oft die, die am längsten und am meisten auf der Bühne sind. Das ist vielleicht eine Angewohnheit von mir. Ich mag es, viele Menschen auf einer Bühne zu haben. Gerade wenn Figuren so viel Text haben, so viel sprechen, singen, interessiert mich dann der Kontrapunkt: die anderen, die eben nicht oder kaum singen oder sprechen. Die transportieren aber trotzdem eine Handlung. Das heißt, man kann denen zuschauen, während die anderen singen, und sie lösen Assoziationen aus und sind assoziative Wesen. Der Narr ist sowohl bei Shakespeare als auch bei Reimann als Figur nicht so deutlich gezeichnet. Er ist einer, der einfach alle kennt. Ich bin mir sicher, dass er Kent
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und Edgar in ihren Verkleidungen sofort erkennt. Allerdings weiß ich nicht, ob Lear sie nicht selber erkennt, es aber nicht zugibt, aber das ist ein anderes Thema. Ich mag es einfach, aus diesen Figuren heraus etwas aufzubauen. Allein schon für die Figuren, gerade wenn man so tolle Leute hat wie hier. Marc Bodnar spielt natürlich nicht den Ritter. Wir sind in unserer Inszenierung in einer Art Museum, darum auch wieder der Bezug auf das ausgestellte Leben, das tote Leben, was hier im Überfluss vorkommt. Vielleicht ist das als Ganzes schon ein Museum, vielleicht sind das alles Museumserscheinungen. Und es gibt einen Museumswärter. Es beginnt ja wirklich im Museum. Auch die Darsteller sind erstmal ausgestellt. Gibt es auch Doppelbödiges im Bühnenbild? AV: Wenn ein Bühnenbild zu eindeutig wird, finde ich es langweilig. Hier
beim Lear ist es eine lange Geschichte, weil unser Bühnenbild sozusagen recycelt ist. In 20th Century Blues hatten wir auch schon ein Bühnenbild, wo das Naturkundemuseum in Basel als Vorlage gedient hat. Das wollte ich übernehmen, aber es ist gewissermaßen in den Zustand vor unserer Inszenierung in Basel, wo wir den ausgeräumten Museumsraum gezeigt haben, zurückversetzt. Deswegen gibt es bestimmte Dinge, wo man nicht weiß, wie alt sie sind: Ist das Museum schon voll in Benutzung oder ist es stillgelegt? Es gibt zum Beispiel Bilder, über die ich immer dachte, dass sie Cordelia gesammelt hat, Katastrophenmeldungen aus Zeitungen. Es gibt auch Dinge, die an Kolonialherrschaft erinnern, weil Museen damit eigentlich immer zu tun haben. Museen können auch viel darüber erzählen, wie die Machthaber die Dinge überall gestohlen und mitgebracht haben und dass auf dieser Enteignung ihre Macht beruht. Unterschwellig ist auch diese Dimension zu sehen, und das finde ich eine treffende Art, über Macht zu erzählen und nicht nur über die bekannten Äußerlichkeiten. Das Thema Macht ist bei Lear äußerst wichtig. Nachdem Lear die Macht abgegeben hat, und die Aufteilung des Reichs eigentlich geklärt ist, kommt es dennoch zum Streit, weil jede und jeder die alleinige Macht haben will. An das Thema Macht ist aber auch das Thema Verlust gekoppelt.
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CM: Verlust ist eigentlich für mich das wichtigste Thema. Lear, der alles verliert. Er hat keine vernünftige Übergabe organisiert hat, weil er schon in einer ganz anderen Welt ist. Und das löst böse Kräfte aus. Obschon die beiden Töchter gleich viel bekommen, will jede natürlich mehr haben. Dann sind da ihre Männer und die wollen sie auch noch loswerden, weil sie die Macht nur für sich haben wollen. Besitzergreifend! Und dann gibt es die beiden Brüder, die sich gegenseitig bekämpfen – irgendwie typisch für eine Familie. Man liest so viel über Erbstreitigkeiten. Es ist im Grunde genommen ein Klischee, sodass für mich mehr das Innenleben und der Verlust von Lear – wie er alles verliert, weil er das wirklich völlig falsch aufgebaut hat – zum Zentrum wird.
Das ist natürlich auch eine Frage zwischen Materialität und Immaterialität. Es geht einerseits um eine Sammlung – sein Reich, seine Insekten –, die er weitergeben möchte. Und andererseits die Liebe, die man in ihrer Immaterialität nicht so einfach zeigen kann. Zwei Töchter sind allerdings an etwas ganz anderem interessiert. CM: Lear interessiert sich extrem für Details, für Feinheiten, für Kleinigkeiten. Die Töchter aber interessieren sich für das große Ganze. Alle wollen alles, und darum bekämpfen sie sich gegenseitig, weil es für sie keine Kompromisse gibt. Die Fähigkeit, etwas untereinander wirklich aufzuteilen, ist absolut nicht vorhanden. Da ist kein Platz für Liebe, das kennen Goneril und Regan nicht.
In der Oper gibt die Musik beziehungsweise das Dirigat den Rhythmus vor. Im Schauspiel ist dies anders, da kann einfacher etwas wiederholt oder langsamer beziehungsweise schneller gespielt oder gesprochen werden. Welche Bedeutung hat Rhythmus im Musiktheater? CM: Ich mache eigentlich immer irgendeine Art Musiktheater – auch im Sprechtheater. Daher spielt der Rhythmus meistens eine sehr wichtige Rolle in meinen Inszenierungen. In der Oper ist Vieles vorgegeben, das ist klar. Da kann man auch keine Striche machen, auch wenn man manchmal gerne möchte. Inhaltlich, nicht in der Musik.
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Und wo sollte man streichen? CM: Ich meine das vom Text her. Da würde ich gerne noch kompakter
sein, oder etwas anderes haben. Hier beim Lear würde ich auch gerne andere Stellen aus dem selben Stück nehmen. Das geht aber nicht. Ich bin mir über dieses Element von Oper bewusst. Man arbeitet mit dem Rhythmus der Oper, musikalisch, aber es geht auch darum, wie die Sängerinnen und Sänger es interpretieren. Sie müssen ja nicht eins zu eines den Text verdoppeln, das finde ich immer schrecklich. Die Uraufführung war 1978. Ist es noch immer unangemessen, in das Werk einzugreifen? CM: Nein. Das macht man nicht. Es handelt sich um eine in sich abgeschlossene Komposition. Wie soll man das auch machen? Man kann höchsten bei einer Verdi-Oper etwas rausstreichen, eine Wiederholung, eine Nummer oder einen Chor zum Beispiel. Und bei noch älteren Opern ist das ohnehin gängige Praxis: Je älter sie sind, desto mehr. Da spielt nicht nur der Inhalt eine Rolle, sondern es geht auch um die musikalische Form. Auch bei Offenbach zum Beispiel kann man viel machen, weil es nicht in dem Sinne fertig ist. Offenbach hat auch selber geändert, aktualisiert und so weiter. Bei Lear nehme ich das, was ist, und kann allenfalls meinen eigenen Rhythmus dazugeben, der dann nicht in der Musik sondern in der szenischen Form stattfindet. Rhythmus ist ein sehr weit gefächertes Wort. Auch ein Raum hat für mich einen Rhythmus. Rhythmus hat auch etwas mit Stille zu tun. Darum freue ich mich immer über die ganz wenigen Momenten der Stille, die hier in der Oper vorhanden sind.
Welchen Rhythmus hat dann dieser Raum? AV: Er gibt durch seine Dimension oder seine Möglichkeiten etwas vor.
Es gibt zum Beispiel einen Aufzug. Da stellt sich die Frage, ob jemand, den man sieht, der fährt, während oben jemand durch die Tür reingeht, wieder rauskommt? Es kann auch Verzögerungen geben. Oder die Tür geht von selber auf, und der Raum entwickelt eine Eigenmächtigkeit. Zudem hat unserer Raum eine extreme Perspektive, deswegen weiß man eigentlich nicht, wie groß er wirklich ist. Die Insekten sind auch
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vergrößert. Es gibt sicher auch Verunsicherungen vom Maßstab, ob die Menschen klein oder groß wirken, ob sie sich vorne oder hinten befinden. Für mich hat auch das etwas mit Rhythmus zu tun. CM: Diese Musik – und das ist sicher mit ganz großem Bewusstsein – ist eigentlich eine unglaubliche Überforderung. Als Ganzes, insbesondere der erste Teil. Das ist so viel, so dicht. Auch für die Sänger ist das wahnsinnig herausfordernd. Wenn man dem etwas entgegensetzt, optisch durch einen Raum, durch Bewegung, durch Nebensinn, setzt man auch schon rhythmisch etwas dagegen. Rhythmus findet für mich nicht nur in der Musik statt.
Ganz am Ende gibt es kaum Überlebende. Es werden fast alle entweder umgebracht oder töten sich selber. Lear bricht zusammen. Gibt es am Schluss nicht doch auch eine kleine Hoffnungsbotschaft? CM: Das ist sehr schwer zu sagen. Es ist eines der brutalsten Theaterstücke, die je geschrieben wurden. Wenn man heute an das Stück herangeht, muss man sich erst mal fragen, wie man das überhaupt machen möchte. Wenn man nur das Drama psychologisch zu dieser Musik durchspielt, dann doppelt sich ja alles mehrfach. Und wir sind auch nicht mehr in den 1970er Jahren. Wie geht man da also ran? Wir haben uns vorgestellt, dass das wie eine Art Traum ist. Wie die verschiedenen Traumphasen. Es gibt diese Zwischenspiele. Und das sind vielleicht diese Momente, wo man überhaupt nicht träumt. Wo man wirklich schläft. Manchmal denke ich, das ist alles der Traum von Lear, dem Familienoberhaupt. Es ist nicht nur eine reale Geschichte. Ich muss immer einen Weg finden, um nicht ein dramatisches Werk eingleisig psychologisch zu inszenieren. Das kann und will ich nicht. Insofern denke ich immer an einen Traum. Hätte er das alles nicht, das Geld, die Familie, würde er das nicht träumen. Es gibt einen Konflikt in ihm: Einerseits interessiert er sich für diese kleinen Sachen und andererseits hat er ein riesiges Imperium. Da kann eigentlich nur alles schiefgehen.
Ein Naturkundemuseum, ein naturhistorisches Museum als Bühnenraum: Das ist eine starke Setzung.
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AV: Dieser Bühnenraum ist zwar eine Art Kopie des oberen Stockwerks des Basler naturhistorischen Museums, aber durch diese Perspektive erinnert der Raum auch an eine Kathedrale. Dann gibt es einen riesigen Balkon, einen Ort für Staatsauftritte – Reden halten aus superiorer Position von oben. So eindeutig ist der Raum also nicht als ein Naturkundemuseum wahrnehmbar. Wenn Lear das träumt, dann ist das eben zufällig dieser Ort. Und gerade dass er einen Widerspruch darstellt zu dem, was man sich als Ort für Lear vorstellt, dass man da nicht illustriert, dafür ist der Raum auch da. Das Ganze, was da passiert, wird letztendlich ausgestellt. Wie es im Theater ohnehin passiert. CM: Ich glaube in dem Sinne nicht an den Wahnsinn von Lear. Es ist schon klar, der wird schwer strapaziert, und er geht vielleicht an all dem zugrunde. Aber von Wahnsinn zu reden, ist zu einfach. Teilweise spielt Lear etwas vor, um Sachen herauszukriegen. Irgendwann dreht er natürlich durch, weil man ihm so entsetzlich mitspielt. Aber dreht er wirklich komplett durch? Ich glaube nicht, dass er geistig dem Wahn verfällt. Bei Reimann trägt die Musik dazu bei, dass er so klar wie möglich bleiben darf. Außer in den Albträumen, die er hat.
Das Gespräch führte Benedikt Stampfli.
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Fürstin Elisabeth von Bismarck posiert mit einem Schmetterling im Garten von Schloss Friedrichsruh in der Nähe von Hamburg. Auf der folgenden Seite ist die Sammlung des niederbayerischen Entomologen Hans Fruhstorfer aus dem 19. Jahrhundert zu sehen.
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„Wir kamen weinend auf die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mussten.“
Über das Libretto zu Aribert Reimanns Lear
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Das Libretto zu Aribert Reimanns Lear ist wohl einem Zufallsfund zu verdanken. Die ursprüngliche Idee für eine Lear-Oper kam vom Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, für den die Oper geschrieben werden sollte. Als er allerdings gemeinsam mit Aribert Reimann an den Librettisten Claus H. Henneberg herantrat, konnte dieser dem Plan zunächst gar nichts abgewinnen. Deutsche Shakespeare-Opern waren bis dato von wenig Erfolg gekrönt, und dann noch der King Lear? Schließlich war selbst Giuseppe Verdi im 19. Jahrhundert an dem Opernprojekt Re Lear gescheitert. Die deutsche Übersetzung Graf von Baudissins in der Schlegel-Tieck-Ausgabe bestärkte Henneberg in seiner Ablehnung: Was sollte man diesem Werk noch hinzufügen? Musik erschien ihm überflüssig. Doch dann, so berichtet er, habe er in einem Antiquariat Johann Joachim Eschenburgs Übersetzung Leben und Tod des Königs Lear (1777) gefunden. Dessen dreizehnbändige Neue Ausgabe von Shakes peare’s Schauspielen (1775–1782) war die erste vollständige Shakespeare-Übertragung ins Deutsche; sie korrigierte Christoph Martin Wielands Übersetzungen und ergänzte sie um die noch unbearbeiteten Stücke. Anders als Baudissins romantisierende Version von 1832 ist Eschenburgs Fassung nicht in Versform, sondern in Prosa niedergeschrieben; sie zeichnet sich durch eine besondere sprachliche Klarheit aus, die auf deutschen Bühnen noch immer geschätzt wird. Henneberg änderte seine Meinung und nahm das Projekt in Angriff. Im Unterschied zu anderen Opernbearbeitungen oder auch zu einer Vielzahl zeitgenössischer Shakespeare-Inszenierungen beziehungsweise -Adaptionen verzichtet das Libretto für Reimanns Lear auf Modernisierungen, Neudichtungen oder größere Umstrukturierungen. Es folgt sehr genau nicht nur der Handlung von King Lear, sondern übernimmt auch Shakespeares Zeilen (in der deutschen Übersetzung). Ein mit dem Stück vertrautes Publikum wird zahlreiche prägnante Zeilen wiedererkennen: „Das Beste unserer Zeit haben wir gesehen.“ (Gloster, 1.1); „Blast, Winde, sprengt die Backen.“ (Lear, 1.3); „Du bist das Geschöpf an sich. / Der nackte Mensch, nichts weiter“ (Lear, 1.4); „Wir kamen weinend auf die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mussten.“ (Lear, 2.5) Diese ‚Werktreue‘ des Librettos ist wiederholt betont worden, obwohl Henneberg zwangsläufig einen beträchtlichen Teil des Shakespeare-Textes gestrichen hat. Shakespeares Tragödie mit fünf Akten (in der Folio-Ausgabe von 1623) beziehungsweise 24 Szenen (in der Quarto-Ausgabe
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von 1607 / 08) ist im Libretto auf zwei Teile mit vier (Teil 1) bzw. sieben Szenen (Teil 2) verdichtet. Der erste Teil umfasst die Handlung der ersten beiden Akte sowie des größten Teils des dritten Aktes von Shakespeares King Lear; er endet mit Lears Wahnsinn. Der zweite Teil beginnt mit der Blendung Glosters (Akt 3, Szene 7 bei Shakespeare) und schließt mit Lears Tod. Der Plot ist folglich gestrafft und zeichnet sich durch eine schnelle Abfolge der Ereignisse aus. Unter anderem geschieht diese Verdichtung durch den Wegfall einiger Nebenfiguren: Burgundy, der zweite Bewerber um Cordelias Hand; Oswald, der Haushofmeister Gonerils; der Höfling Curan; der alte Mann, der den blinden Gloucester führt; der Arzt im Dienste Cordelias und mehrere Boten. Der Graf von Kent, Lears treuer Gefolgsmann, tritt nur im ersten Teil der Oper auf, während er am Ende der Shakespeare-Tragödie gemeinsam mit Albany und Edgar den Tod des Lear betrauert. Eine andere Strategie ist die Zusammenführung von Handlungssträngen, die sich bei Shakespeare über mehrere Szenen erstrecken: Die zweite Szene des Librettos verknüpft zwei lange Szenen (1.4 und 2.4) aus der Shakespeare-Tragödie, in denen Lear mit seinem Gefolge zunächst von seiner Tochter Goneril, dann von Regan fortgeschickt wird. Im Libretto agieren die beiden Schwestern von Anfang an gemeinsam und schicken den Vater hinaus in die Sturmnacht, als er sich nicht bereit erklärt, seine Männer zu entlassen. Eine ähnliche Verdichtung geschieht in der folgenden Szene, die Shakespeares ‚Heideszenen‘ (Szenen 1, 2, 4 und 6 des dritten Akts) umfasst. Schließlich sind die Szenen 2, 3 und 4 des zweiten Teils des Librettos ineinander verschachtelt beziehungsweise werden gleichzeitig gespielt. Zweifellos sind Straffungen und Textkürzungen den Erfordernissen der Oper geschuldet, die den Schwerpunkt vom Text auf die Musik verlagert. Gleichzeitig schafft das Libretto auf diese Weise Raum für die Formsprache der Oper: für einen Männerchor (Lears Gefolge), das Racheduett von Goneril und Regan oder auch die abschließende Arie des sterbenden Lear. Henneberg gelingt es darüber hinaus, latente Bedeutungsangebote des Shakespeare-Textes herauszuarbeiten. Das betrifft zunächst die Handlungsstruktur und die Figurenkonstellation: Das tragische Ende des Lear wird bereits am Ende des ersten Teils durch seinen Wahnsinn, gewissermaßen seinen psychischen Tod, antizipiert. Auf diese Wahnsinnsszene folgt zu Beginn des zweiten Teils die Blendungsszene, in der Gloster wie Lear zuvor die bittere Erkennt-
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nis macht, das er sich in seinen Kindern getäuscht hat. Regans physische Grausamkeit bei der Blendung Glosters findet ihre Entsprechung in Gonerils psychischer Erbarmungslosigkeit gegenüber ihrem Mann Albany in der darauffolgenden Szene, deren erste Zeile „Es fließt viel Blut“ (2.2) den letzten Satz der vorangehenden Szene, dort aus dem Munde des sterbenden Cornwall, wieder aufnimmt. Solche Verknüpfungen von Handlungen und Szenen, die in den Parallelszenen des zweiten Teils besonders deutlich werden, organisieren die Figuren in Paaren (Lear/Gloster, Lear/Narr, Goneril/Regan, Edgar/Cordelia, Edgar/ Narr) oder Gegensätzen (Goneril/Cordelia, Edmund/Edgar). Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Figuren werden durch die Stimmlagen der Personen unterstrichen (zum Beispiel Lear: Bariton, Gloster: Bassbariton, Albany: Bariton), aber auch durch musikalische Motive der Hauptfiguren. Im Fall von Cordelia und Edgar sind das chiastisch strukturierte, also kreuzförmig angelegte Zwölftonreihen (Cordelia: c h cis d es f | e fis g as b a; Edgar: e fis g as b a | c h cis d es f). Die Stimmlagen lassen jedoch keine einfache Binarität von Gut und Böse entstehen. Wenn nämlich die Geschwister jeweils in einer höheren Stimmlage als ihre Väter singen, sodass sowohl Edmund wie auch Edgar Tenorrollen und alle drei Töchter Lears Sopranrollen sind, zeigen sich Parallelen zwischen ihnen, trotz klarer Unterschiede zwischen Cordelias lyrischem und Gonerils dramatischem Sopran, während Regans Gesang durch deutliche Melismen charakterisiert ist. Musikalisch ebenso wie durch Kürzungen oder Ergänzungen des Textes werden Nuancen der ShakespeareFiguren stärker pointiert. Am Ende der Liebesprobe kann Cordelia nur noch stottern, dass sie „die glatte Kunst zu reden / nicht ver- nicht verstehe“ (1.1), und dieses Stottern bestätigt die Aussage des Satzes. Der Narr, der nebst dem Ritter eine Sprechrolle hat und damit als Fremdkörper in der Oper erscheint, hat weniger Text als bei Shakespeare, wodurch die befreiende Komik seiner Zeilen weitgehend wegfällt. Im King Lear ist der Narr zum letzten Mal in Szene 3.6 auf der Bühne; was danach mit ihm geschieht, bleibt in der Tragödie unklar, bis Lear in der letzten Szene wie beiläufig bemerkt: „Und’s arme Närrchen ist gehenkt!“ (5.3.305) Im Libretto dagegen wird sein Abgang am Ende des ersten Teils klar inszeniert; die Bühnenanweisung lautet: „Lear, Kent, Edgar, Gloster und sein Gefolge treten ab. Der Narr ist stehengeblieben und blickt fragend in die eine oder andere Richtung. Dann geht er in die
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entgegengesetzte Richtung als die übrigen ab.“ Mit Lears Wahnsinn scheint er überflüssig geworden zu sein. Aber auch zuvor spricht und interagiert er kaum mit den anderen Figuren. Stattdessen sind seine Kommentare die eines wissenden, aber distanzierten Beobachters, der an den Chor in der griechischen Tragödie erinnert: Und Gloster? Des Königs Spiegelbild. Er lässt sich leicht betrügen. Ihn macht das Alter dumm und mild. Edmund wird ihn belügen. (1.1) Dieser Kommentar, der sich bei Shakespeare nicht findet, betont die bereits erwähnte Parallele zwischen Lear und Gloster. Zudem unterstreicht sie eine Interpretation des Lear, die sich bereits in der ersten Szene zeigt: In Hennebergs Libretto ist Lear eben nicht „jeder Zoll ein König“ (2.5), wenn er schon bei seinem ersten Auftritt „von zwei Dienern gestützt“ werden muss und manchmal „wie vom Schlaf überwältigt“ (Bühnenanweisung) scheint. Bei Shakespeare (in der Übersetzung von Frank Günther für die zweisprachige dtv-Ausgabe, aus der ich zitiere) kündigt er die Reichsteilung wie folgt an: Derweil erklärn Wir Unsern tiefern Plan. Gebt mir die Karte: Hört, daß Wir das Reich Gedrittelt haben; und ’s ist fest Unser Vorsatz, Sorgen und Mühn von Unsern Jahrn zu schütteln, Sie jüngren Schultern aufzulasten, während Wir Entbürdet kriechen hin zum Tod. (1.1.36–41) Dagegen betonen die Zeilen Lears im Libretto – nicht zuletzt durch den eingeschobenen Seufzer und das hinzugefügte „Verlangen nach Schlaf“ – sein körperliches Altern. Die Hoffnung auf „jüngere Schultern“ verliert somit ihre rhetorische Funktion: Wir haben euch hierher befohlen, um unser Reich vor euren Augen unter unseren Töchtern aufzuteilen, ah, ah, dieses Verlangen nach Schlaf,
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dies letzte Staatsgeschäft ist noch zu tun. Die Natur hat mich alt werden lassen. Es ist unser fester Vorsatz, die Sorgen der Regierung auf jüngere Schultern zu legen, indessen wir uns frei dem Tod entgegenschleppen. (1.1) Mit anderen Worten: Die Oper zeigt ihren Protagonisten von Anfang an nicht primär als König, sondern auch und vor allem als alten Mann. Bezeichnenderweise ist der Titel der Oper ja nicht König Lear, sondern schlicht Lear. Die Selbstidentifikation als König ist im zweiten Teil nur mehr Gegenstand seiner hysterischen Rede, in der sich die Syntax auflöst: Nein, nein, nein, nein! Sie können mir nichts tun! Ich bin der König selbst der König ich bin der König ich selbst der König bin ich der König selbst ich der König der König bin […]. (2.5) Die Oper zeichnet ein vielschichtiges Psychogramm des Lear: Er erscheint als willkürlicher Herrscher und als Narr, als Opfer der Grausamkeit seiner Töchter und als mitfühlender Mensch, als verblendeter Patriarch und als liebender Vater. Auch die Figuren der Goneril und Regan sind im Libretto modifiziert. Als Gegenspielerinnen Lears erscheinen sie komplexer und stärker als bei Shakespeare; ihre Rollen sind auf Kosten von Edmund ausgebaut. Zu Ende der ersten Szene überlegen die beiden Schwestern, wie sie gemeinsam ihre Macht festigen können; dafür bekommen sie einige zusätzliche Zeilen, die sich im King Lear nicht finden. Von Beginn an gehen sie strategisch vor, gleichwohl deutet sich hier bereits ihre spätere Rivalität an. Wenn Lear dann zu Beginn der zweiten Szene gemeinsam mit seinen Männern das süße Leben und den schweren Wein besingt (eine von Henneberg hinzugefügte Szene), gibt er seinen beiden Töchtern einen willkommenen Anlass, aktiv zu werden und dem „zügellosen“ „Treiben“ dieser „Säuferhorde“ (1.2) Einhalt zu gebieten – nicht zuletzt, da der Refrain der Männer – „und verbietet den Töchtern das Maul“ – tatsächlich die Autorität der beiden Frauen zu untergraben droht. Albany findet deshalb auch wenig dabei, wenn Lear gebeten wird, sein Gefolge um die Hälfte zu verringern. Lears misogyner Ausbruch – „Bann
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Unfruchtbarkeit in Gonerils Leib! / Dörre ihren Schoß aus!“ – wirkt überzogen und offenbart seine tiefe Frauenfeindlichkeit. Es stellt sich mithin die Frage, ob Lear für die Eskalation des Streits, an dessen Ende er in die Sturmnacht hinausgeschickt wird, nicht auch mitverantwortlich ist. Trotzdem sind Goneril und Regan hier nicht die Opfer patriarchaler Gewalt, wie sie in Jane Smileys Romanadaptation der Tragödie, A Thousand Acres (1991), gezeichnet wurden. Vielmehr wird ihre Grausamkeit im Vergleich mit dem Shakespeare-Stück noch einmal hervorgehoben: In der Blendungsszene ist es nicht Cornwall, sondern Regan, die Gloster das zweite Auge ausdrückt. Die psychologischen Folgen dieser entsetzlichen Tat deuten sich aber bereits an, wenn sich Regans Lachen am Ende der Szene in ein „hysterisches Schütteln“ verwandelt und sie schließlich „erstarrt und verstummt“ (2.1). Regans Brutalität wird in der darauffolgenden Szene durch Gonerils Gewissenlosigkeit gespiegelt, die sich durch den Bericht über Glosters Blendung und den Tod Cornwalls „beflügelt“ zeigt, weil sie glaubt, diese neue Situation nun zu ihrem Vorteil nutzen zu können. Regans „hysterisches“ Lachen findet ein Echo in Gonerils „höhnischem“ Gelächter; gleichzeitig wird Lears Misogynie von Albany wieder aufgegriffen, wenn er seine Frau als „Teufel“ bezeichnet und sie ermahnt: „Nichts ist so grauenvoll / wie die Entartung einer Frau!“ (2.2) Wenn man – im 21. Jahrhundert – nicht mehr bereit ist, dieser patriarchalen Logik zuzustimmen, wird der scheinbar manichäisch angelegte Kampf zwischen Gut und Böse um einiges ambivalenter. Wie bei Shakespeare werden die beiden Schwestern am Ende zu Rivalinnen um die Liebe Edmunds. Goneril vergiftet Regan und ersticht sich dann selbst. In der Tragödie sterben sie offstage, und wenn ihre Leichen auf die Bühne gebracht werden, versteht Edmund ihren Tod als Beweis dafür, dass selbst er – der Bastard – geliebt wurde. Die Oper gewährt dagegen beiden Schwestern eine Sterbeszene auf der Bühne. Goneril nimmt sich hier erst nach Edmunds Tod das Leben – als Reaktion auf den Verlust des Geliebten, aber auch in vollem Bewusstsein ihrer Schuld: Er starb, so sterbe auch ich. Mir helfen keine Götter mehr. Leib und Seele habe ich selbst zu richten. Komm, Tod und nimm mich, die dir so reiche Ernte brachte … (2.7)
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Noch im Tod beansprucht sie folglich die Entscheidungsgewalt über ihr eigenes Leben – auf der Bühne hat Shakespeare dies nur seinen Tragödienheldinnen Julia und Cleopatra zugebilligt. Für den Shakespeare-Forscher Michael Schoenfeldt ist Shakespeares King Lear eine „veritable Symphonie des Leidens“ – eine treffende Beschreibung auch für Reimanns Lear. Der Stoff fungiert als Affektmaschine, der sich auch das Publikum nicht entziehen kann. Das stellte schon der englische Schriftsteller und Kritiker Samuel Johnson fest. In seinen Notes on Shakespeare’s Plays (1765) gestand dieser, dass ihn der Tod Cordelias so schockiert habe, dass er es lange nicht übers Herz habe bringen können, die letzten Szenen noch einmal zu lesen. Johnson war mit seiner Reaktion auf die Tragödie nicht alleine – auf dem Theater des 18. Jahrhunderts wurde King Lear in der Version von Nahum Tate (von 1681) gespielt, die mit einem Happy End schloss: Cordelia und Edgar heirateten, und Lear wurde wieder in Amt und Würden eingesetzt. In Aribert Reimanns Lear sucht man solche Sentimentalität vergebens. In seinen Notizen formulierte er, mit dieser Oper „die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit“ zeigen zu wollen, „der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens ausgesetzt“. Im Lear ist das Leben tatsächlich ein einziges Leiden: „Wir kamen weinend auf die Welt“, erinnert Lear den blinden Gloster, „weil wir auf diese Narrenbühne mussten.“ (2.5) Auf dieser Bühne nehmen der Schmerz und das Weinen kein Ende; die Figuren sind einem nicht enden wollenden Exzess psychischen und physischen Leidens ausgesetzt, das Edgar mit den Worten kommentiert: „Das größte Elend ist noch nicht da, / solange man sagen kann: / Dies ist das größte.“ (2.4) Lears anfänglicher Versuch, gegenüber seinen Töchtern die Fassung zu bewahren und seine Emotionen zu kontrollieren („Schmerz! Steig nicht auf“, 1.2), ist zum Scheitern verurteilt. In seinen affektgeladenen Ausrufen zu Beginn der Heideszene – „Blast, Winde, sprengt die Backen! / Wütet! Blast!“ (1.3) – wird das Wüten des Sturms zum Bild seines Zornes. Sucht er in der Auseinandersetzung mit Goneril und Regan die Tränen seiner „törichte[n] Augen“ (1.2) zu unterdrücken, bleiben ihm angesichts Cordelias Tod am Ende des Stücks eben nur noch diese Tränen: „Weint! Weint! Weint! Weint!“ (2.7) Den einzigen Ausweg aus diesem Leid bietet der Tod: Gloster ist bereit, „[s] ein Elend“ zu tragen, „bis es selbst aufschreit: Genug! / Dann will ich
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sterben.“ (2.5) Und Edgar hofft im Anblick von Lears Verzweiflung über Cordelias Tod: „Brich Herz, ich bitte dich, brich! / Lass ihn sterben, halte ihn nicht länger hin.“ (2.7) In Shakespeares Stück gibt es einige Momente der Hoffnung: Das ist vor allem die fast utopisch anmutende Gemeinschaft der Männer auf der Heide, in der soziale Hierarchien suspendiert zu sein scheinen und die Sorge für den Anderen im Mittelpunkt steht. Lear erkennt das Los der Armen und Schutzlosen, wenn er es am eigenen Leib erfährt („Oh! daran hab / Ich nie genug gedacht“, 3.4.32–33). Trotz seines beginnenden Wahnsinns erkennt er, dass es das kreatürliche Leben ist, das alle Menschen miteinander verbindet. Diese Rede fehlt im Libretto ebenso wie die letzten Zeilen der Tragödie, in denen Edgar das wahrhaftige Gefühl als Alternative zu Heuchelei und Pflichterfüllung entwirft: „Den Druck der trüben Zeit muss man nun tragen, / Was man fühlt, sprechen, nicht, was man sollte, sagen.“ (5.3.323–324) Im Libretto scheint es kaum eine Alternative zu der grausamen Narrenbühne zu geben, und mit der Kürzung der Zeilen des Narren gibt es auf dieser Bühne nichts mehr zu lachen. Auch Edgars Zeilen als wahnsinniger Bedlam-Bettler (gesungen in einer anderen ‚Stimme‘, als Countertenor) sind deutlich gekürzt und erschöpfen sich in der zweiten Hälfte der Szene in der zweisilbigen Klage, „Tom friert“ (1.4), die fünfmal wiederholt werden muss, bevor Lear reagiert und ihn in die Hütte einlädt. Durch die Straffung von Shakespeares drittem Akt bleibt die Gemeinschaft der Männer auf der Heide nur angedeutet und erscheint kaum mehr als Gegengewicht zu Verrat und Eigennutz am Hof. Die bewegende Wiedererkennungsszene zwischen Cordelia und Lear ist ebenfalls nur kurz; angesichts des allgegenwärtigen Schreckens und Sterbens kann Cordelias Vision – „Jetzt sollst du Ruhe finden / dem Lande Frieden schenken“ (2.6) – keine Hoffnung stiften. Die Diener, die in der Quarto-Version von Shakespeares King Lear Gloster nach seiner Blendung versorgen, sind ebenso gestrichen wie der alte Mann, der Gloster zunächst begleitet. Im Lear sind die Figuren folglich immer schon auf sich selbst gestellt. Edgar weiß ganz recht, „Wer einsam duldet, fühlt die tiefste Qual.“ (1.4) Diese existenzielle Einsamkeit begleitet Lear in den Tod. Auf seine Sterbeworte, „Seht ihr dies? Seht sie [Cordelias Leiche] an! / Seht, ihre Lippen … / Seht hier – seht …“ (2.7), antwortet niemand mehr, und es gibt auch keinen Kommentar, der aus dem tragischen Geschehenen noch eine Moral ableiten würde.
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Albany betont diese tiefgreifende Erschütterung, wenn er feststellt: „Uns bleiben Trauer … Klagen …“ (2.7) Was jedoch auch bleibt, ist das Mitleid, und das meint hier gerade nicht sentimentalen oder ästhetisierten Genuss wie im Topos des „Schiffbruchs mit Zuschauer“, den der Philosoph Hans Blumenberg in seiner gleichnamigen Untersuchung beschrieben hat. Der Schmerz des oder der Anderen kann im Lear nicht auf Distanz gehalten werden, es gibt kein festes Ufer, von dem aus man genussvoll fremdes Leiden betrachten könnte. Mitleid ist vielmehr qualvolles Mitleiden, das sich dem Gegenüber öffnet: „Trägt solch ein König meinen Schmerz, / so rührt das eigene Leiden kaum mich an“, sagt Edgar alias Tom (1.4). Angesichts der Qualen seines Vaters ruft er aus: Edgar: (mit Blick auf Gloster) Welt, Welt, o Welt! Wer kann sagen, ich bin der Elendeste? Jetzt bin ich noch elender, als ich jemals war. (2.4) Ganz ähnlich reagiert Cordelia, die in der Wiedererkennungsszene in Tränen ausbricht und Lear versichert, gemeinsam mit ihm „den Sturm des Elends überleben“ zu wollen (2.7). Als Lear und Gloster sich in der Näher des französischen Lagers begegnen, bietet Lear dem blinden Gloster seine Augen an, damit jener „sein Unglück beweinen“ kann (2.5). Er zeichnet so ein Bild gegenseitigen Mitleidens, das bereit ist, dem Anderen einen Teil des Schmerzes abzunehmen. Sieh die Welt durch meine Augen, versetze dich in meine Lage hinein, fühle meinen Schmerz, wie ich deinen fühle: Das Miteinander, das sich in der Oper entwickelt, basiert auf Empathie und nicht Katastrophenvoyeurismus. Diese Ethik schließt die Situation im Opernhaus mit ein, denn Lears Zeilen kann man auch metadramatisch lesen. Die verzweifelte Mahnung seiner Schlussarie würde sich damit gleichermaßen an das Publikum richten, dessen Mitgefühl sie nachdrücklich einfordert: „Weint! Weint! Weint! Weint! / Ihr seid Menschen aus Stein.“ (2.7)
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Bei einer königlichen Wohltätigkeitsveranstaltung im Hyde Park inspiziert Prinz Charles gemeinsam mit dem amerikanisch-britischen Autor und Journalist Loyd Grossman Insekten. Auf den folgenden Seiten präsentiert Clemens Rimaldi stolz seine Schmetterlingssammlung in einem Hamburger Einkaufszentrum. Er gab seinen Beruf in einer Zeitungsagentur zugunsten seiner Sammelleidenschaft auf.
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Jürgen Schläder
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Leidensgeschichten in herausragenden Opern des 20. Jahrhunderts
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Die Oper Lear von Aribert Reimann war im ersten Jahrzehnt nach ihrer Uraufführung ein beispielloser Selbstläufer – in Deutschland wie im europäischen und US-amerikanischen Ausland. Zehn Neuinszenierungen zwischen 1978 und 1989 belegen das große Interesse von Intendanten, Gesangssolisten, Musikern und Publikum, an diesem überwältigenden Stück Musiktheater. Schon die Uraufführung war neben der künstlerischen auch eine gesellschaftliche Novität: als Eröffnungsinszenierung der Opernfestspiele 1978 in München, was bis dato in mehr als drei Jahrzehnten Staatsoperntheater nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem neuen zeitgenössischen Werk undenkbar war. Schon nach der dritten Vorstellung hatte das Münchner Publikum Qualität und künstlerische wie gesellschaftliche Bedeutung dieser neuen Oper ohne PR-Wirbel erkannt: Der damalige Chefdramaturg der Bayerischen Staatsoper, Klaus Schultz, erinnerte sich, dass die Premiere ausverkauft war, weil die Eröffnung der Opernfestspiele zumeist als gesellschaftliches Ereignis begriffen wurde, dem man sich nicht entziehen zu können glaubte. Für die zweite Aufführung aber lagen am Premierentag noch 600 unverkaufte Karten an der Kasse, für die dritte Aufführung gar noch 900. Der uneingeschränkte Erfolg der Premiere stimulierte freilich die Opernfans: Die zweite Vorstellung war rasch ausverkauft und vor Beginn der dritten Vorstellung standen die Kartensucher mit ihren Pappschildern vor dem Haupteingang des Nationaltheaters. Die Abstimmung des Publikums mit den Füßen war eindeutig. Der Uraufführung am 9. Juli 1978 folgte keine drei Monate später, am 30. September, die Erstaufführung an der Düsseldorfer Rheinoper. Dieser Aufführungstermin stand mithin bereits vor der Uraufführung fest, was ein großes Wagnis für den Intendanten Grischa Barfuss war, denn niemand mochte vor der Münchner Uraufführung eine Prognose über die Erfolgsaussichten abgeben. Der Düsseldorfer Intendant trug das Risiko. Barfuss formulierte noch Jahre später, dass ein Musiktheater immer wieder aufs Neue verpflichtet ist, ein Werk, an das man glaubt, nicht der Einmaligkeit der Uraufführung zu überlassen. Innerhalb weniger Wochen hatte man in München und Düsseldorf den Beweis angetreten, dass mit völlig verschiedenen theatralen Interpretationsansätzen, in kaum vergleichbaren szenischen Lösungen und in gewiss unterschiedlichen musikalischen Interpretationen das Publikum beide Male in den Bann der musiktheatralen Aktion geschlagen wurde. Gert Westphal, der
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Regisseur der Düsseldorfer Inszenierung, fand in Reimanns Oper die Fortsetzung des Musiktheaters für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts auf der Höhe von Alban Bergs Wozzeck und Bernd Alois Zimmermanns Soldaten. Eine kühne Feststellung. Westphals interpretativer Zugriff orientierte sich an der Quelle, an Shakespeares genialer Zubereitung des Stoffs, in dem er die Tragödie des Unmaßes, der Liebe wie des Hasses, erkannte. Diese Tragödie ereignete sich auf einer nackten Schräge mit offenen Abgängen zu beiden Seiten der Bühne und einem Abstieg in die Tiefe des Bühnenhorizonts. Bühnenbildner Heinrich Wendel rückte die Bühne weit weg von einer realistischen Architektur. Das Parabelhafte der Handlung stand im Fokus. Auch Jean-Pierre Ponnelle, der in München die Uraufführung in Szene setzte, knüpfte in seinen Vorstellungen für den Bühnenraum an die Quelle für Reimanns Komposition an und begriff den Lear-Mythos als Katalysator aktueller gesellschaftlicher Probleme. Ponnelles geniale Raumlösung im Münchner Nationaltheater präsentierte statt der damals noch üblichen Portalhöhe von neun Metern nun eine Höhe von 14 bis 15 Metern, was die Sicht auf den Schnürboden freigab, also auf das Innere der Raumkonstruktion und ihrer mechanischen Möglichkeiten. Mit hydraulisch bewegten bühnentechnischen Zugstangen, ganz ohne Windmaschinen und andere theaterübliche Hilfsmittel ließ sich der Sturm auf der Heide inszenieren – eine geradezu realistisch-technische Präsentation dieses „letzten Zirkus der Welt“ (so Ponnelle), für die „Überlebenden“ der Arche Noah, eine Art makabrer Clownerie, wie Ponnelle sie empfand und in einem schriftlichen Kommentar zu seiner Münchner Inszenierung auch benannte. Die nächsten Aufführungen folgten in kurzen Abständen: im Mai 1981 im Nationaltheater Mannheim, drei Wochen später im War Memorial Opera House in San Francisco, im März 1982 im Musiktheater Nürnberg, im November desselben Jahres in der Pariser Opéra (als Spielzeiteröffnung und als erste Oper eines lebenden deutschen Komponisten im 20. Jahrhundert in diesem Haus). Mitte Januar 1983 folgte die Komische Oper Berlin mit einer eigenen Fassung des Werks (Regie Harry Kupfer), die bis April 1986 gespielt wurde; im Februar 1985 dann die Aufführung in Braunschweig und im September desselben Jahres die in Mönchengladbach. 1986 wurde Lear außerdem zweimal bei den Wiener Festwochen gespielt, 1987 im Muziektheater Amsterdam, 1988 in Zürich, von
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Januar 1989 bis März 1991 im Coliseum London, 1993 in Oldenburg und 1997 in der Neuen Oper Wien. Zwischen Februar 1999 und März 2004 stand Lear in Dresden mit 27 Aufführungen in einer Inszenierung von Willy Decker auf dem Spielplan, 2001 wurde die Oper gleich an drei Bühnen gespielt, in Innsbruck, Turin und abermals Amsterdam, dort erneut in einer Inszenierung von Willy Decker. 2001/02 stand die Oper in Essen innerhalb eines halben Jahres elfmal auf dem Spielplan. Von September 2008 bis April 2012 lief das Frankfurter Projekt mit zwölf Aufführungen, von November 2009 bis Januar 2012 zum zweiten Mal in der Komischen Oper Berlin, diesmal in der Inszenierung von Hans Neuenfels. Die weiteren Stationen waren Kassel (2010) und Hamburg (mit elf Aufführungen von Januar 2012 bis Mai 2014) sowie Malmö und Tokio (2013), Budapest und erneut Paris (beide 2016), sowie 2017 bei den Salzburger Festspielen, zwei Jahre später Calixto Bieitos Pariser Inszenierung von 2016 in Florenz und schließlich 2020 die gleiche Inszenierung als die Spanische Erstaufführung in Madrid. Drei Dutzend Inszenierungen in knapp vier Jahrzehnten, verteilt über die halbe Welt, bedeuten für eine zeitgenössische Oper einen singulären Erfolg. Er wurde nochmals gesteigert durch eine frühe, spontan angesetzte Schallplattenaufnahme der Deutschen Grammophon. Im Oktober 1978 wurde das für damalige Erfahrungen und Gewinnerwartungen riskante Unternehmen trotz aller Bedenken realisiert – als ein Mix aus den Live-Mitschnitten der vier in diesem Monat angesetzten Abonnementaufführungen mit der kompletten Originalbesetzung. Auch wenn das finanzielle Wagnis für die DGG und die mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler wohl nicht ganz bewältigt wurde, war der publizistische Erfolg dieser Aufzeichnung enorm. Im zumeist englischsprechenden Ausland wurden trotz des deutschen Textes doppelt so viele Plattenalben verkauft wie in Deutschland. Komposition, musikalische Interpretation und Thematik hinterließen tiefen Eindruck. 22 Jahre später, zum 75. Geburtstag von Dietrich Fischer-Dieskau, dem ersten Lear, erschien die Schallplatten-Aufnahme auch als CD. Sie lieferte das Vorbild für zwei weitere CD beziehungsweise DVD-Produktionen: 2009 erschien die CD-Einspielung der Frankfurter Inszenierung von 2008; 2014 brachte die Hamburger Staatsoper die DVD und Blu Ray der Aufführung von 2012 heraus. Gert Westphals Qualitätsvergleich des Lear mit Wozzeck und Soldaten öffnet heute mehr denn je den Blick auf die musikalisch-thematischen
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Analogien, aber auch auf die unterschiedlichen Akzentsetzungen der drei Opern. Im Zentrum der theatralen Botschaften steht jeweils ein strukturelles gesellschaftliches Problem, das an prominenten literarischen Beispielen benannt und ausformuliert wird – textlich wie musikalisch. In den Dramen Woyzeck (von Georg Büchner) und Die Soldaten (von Jakob Michael Reinhold Lenz) sind die dramatischen Ereignisse auf die Ständeordnung und ihre gesellschaftlichen Faktoren konzentriert – mit jeweils katastrophalem Ende. Die Soldateska fungiert in beiden Schauspielen als Metapher für menschenverachtende, aber die Gesellschaft und ihre Repräsentanten dennoch prägende Faktoren. Die kritischen Aspekte lassen sich in beiden Dramentexten mit Händen greifen, wenngleich sie auf jeweils andere Schwerpunkte hin konzentriert sind: in Woyzeck auf das verheerende Gefühl der individuellen Unzulänglichkeit des Einzelnen, die gleichsam naturhaft gegeben ist und zwangsweise in die Katastrophe mündet; in den Soldaten auf das konkurrierende Verhältnis des politisch ambitionierten (Klein)Bürgertums zum Ständesystem, in dem das adelig geprägte Offizierskorps immer noch eine führende gesellschaftliche Rolle einnimmt, die ein positives Verhältnis der Soldateska zu bürgerlicher Lebensweise nicht zulässt. Der Soldatenstand fungiert in Büchners Bühnentext mithin als Metapher für ein vernichtendes Gewaltpotenzial. Die Novitäten deutscher expressionistischer Dramenliteratur mit einer konkreten thematischen Hinwendung zu Krieg (nach dem soeben überstandenen Ersten Weltkrieg), mit der neuen Erfahrung von Großstadtleben, den Angstzuständen der Individuen und ihren apokalyptischen Vorstellungen, aber auch sorgsam ausformulierten Naturbildern sind partiell schon in Büchners Dramenfragment thematisiert – drei Generationen vor der konkreten historischen Erfahrung. Die späte Uraufführung 1913 – übrigens im Residenztheater München –, hundert Jahre nach Büchners Geburt und knappe 75 Jahre nach seinem frühen Tod, basierte editorisch noch auf einem korrumpierten Text, stimulierte aber trotz der unsicheren Quellenlage Alban Berg zur Verarbeitung des Textmaterials als Opernlibretto. Neben zahlreichen motivischen und thematischen Details dominiert in Bergs Oper die nicht kontrollierbare, schon gar nicht beherrschbare Angst der Titelfigur vor den Anfeindungen durch die Natur. Bergs interessanteste Veränderung des Schauspieltextes im Opernlibretto deckt diese thematischen Innovationen
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Mitte der 1920er Jahre auf: Der historische Johann Christian Woyzeck hatte seine Geliebte vor deren Haus auf der Straße erstochen und war dafür zum Tod durch das Schwert verurteilt und eben auf diese Weise für seine Untat bestraft worden. Berg hingegen verlegte Wozzecks Mord an Marie und das Ende des Mörders in die Natur, an einen Waldteich, der für den Mord die Kulisse abgibt und in den Wozzeck selber eintaucht ohne Rettung oder Wiederkehr. Die Naturvisionen dominieren das dramatische Geschehen. Anders als in den Opern Die Soldaten und Lear wird in Bergs Oper die dramatische Handlung nicht von handfesten politischen Ereignissen oder gesellschaftlicher Logik geprägt, sondern von seelischen Erschütterungen und einer tiefen Hoffnungslosigkeit, die große Teile der Bevölkerung erfasste und deshalb den Künsten Mitte der 1920er Jahre einen neuen, expressiven Sinn gaben. Präziser und direkter als jemals zuvor wurden die gesellschaftlichen Probleme im Kunstwerk gespiegelt und von Alban Berg im konkreten Ereignis der Wozzeck-Katastrophe als Unsicherheiten der modernen Gegenwartsgesellschaft um 1925 formuliert und verstanden. Vom verlorenen Weltkrieg bis zur scheiternden Demokratie als Staatsform spiegelt das schwankende Gesellschaftskonzept das reale Leben, konkret formuliert in der theatral-musikalischen Kunstform als unabwendbar desaströses Unglück der handelnden Figuren. Bergs Wozzeck übersetzt den knapp hundert Jahre alten Büchner-Text und dessen Dramaturgie in eine expressionistische Ausprägung des großen tragischen Musikdramas, das den Nerv der Zeit erstaunlich sicher traf. Mehr als eine Generation später eröffnete in Bernd Alois Zimmermanns Soldaten die Ausdeutung eines fast zweihundert Jahre alten gesellschaftskritischen Dramentextes durch Eingriffe in die Substanz der literarischen Vorlage neue Möglichkeiten der musikalischdramatischen Deutung und vor allem der theatralen Modernisierung im zeitgenössischen Musiktheater. Die von Jakob Michael Reinhold Lenz ausgewiesene komplexe Versuchsanordnung literarischer Strategien an der Zeiten und Stilwende der Sturm und Drang-Dramatik und dem antiaufklärerischen Zweifel an einer Selbstverständlichkeit des kulturellen Fortschritts Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt als kritischer Text seine eindrucksvolle dramatische Botschaft durch die strikte Orientierung am Eheverbot für Offiziere der Soldateska. Dieser gesellschaftliche Kodex rückte bei Lenz ins Zentrum der dramatischen Beglaubigung
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aller Ereignisse. Zimmermann eliminierte dieses Problem aus seiner Handlungsadaptation für die Oper und konzentrierte sich stattdessen auf die formalen Innovationen des Schauspieltextes, deren dramaturgische Möglichkeiten den Komponisten zu innovativen Formen der Szenenfolge und einem neuartigen Zeitkonzept animierten. Formal zerbrach Lenz in den Soldaten die Stringenz einer logischen Ereignisfolge, sodass dramatische Zeit und Plausibilität der Ereignisse die Handlung nicht mehr durchgängig konstituieren. Aus der sprunghaften, bisweilen geklitterten Szenenfolge entwickelte Zimmermann in seiner Opernfassung eine Reihe von Simultanszenen, in denen die Einheit und Folgerichtigkeit von Ort, Handlung und Zeit aufgehoben ist. In der Schlussszene offenbart sich der Sinn dieses formalen und zeitlichen Aufbrechens von Handlungszusammenhängen: In einem bühnenfüllenden Totalbild sieht man filmisch eingeblendete Truppen und Panzertransporte, auf der Bühne blicklos einem unbekannten Ziel entgegentaumelnde Soldaten, „ein unaufhörlicher grauer Zug, ins Unendliche“, wie es in der Regieanweisung der Partitur heißt, und schließlich „im harten Kontrast“ dazu Offiziere, die ins Bordell eilen und anschließend, wieder auf der Straße, orientierungslos dem Zug der Soldaten folgen. Parallel dazu ereignet sich die Begegnung von Wesener mit seiner Tochter Marie, ohne dass die beiden – anders als bei Lenz – sich wiedererkennen. Dies alles übertönt des Feldprediger Eisenhardts Stimme, die das lateinische Pater noster rezitiert – eben jenes wohlfeile Beruhigungsmittel einer zweitausendjährigen Tradition, die nichts mehr wert ist. Dem verebbenden Orchesterklang gleichgeschaltet ist nämlich ein symbolisches Ereignis, das die dramatische Handlung akustisch wie optisch zu einem fürchterlichen Ende bringt: Ein durch alle Lautsprechergruppen auf der Bühne umlaufender „Schrei-Klang“ von größter Lautstärke ist zusammengeschaltet mit einer langsam sich herabsenkenden Atomwolke, also nicht mit dem Bild des Atompilzes als der optischen Vergegenwärtigung einer Atomexplosion, sondern dem der schwerwiegenden Folgen der Explosion, nämlich die völlige Vernichtung alles Lebendigen und Lebenswerten in der vergifteten, strahlenden Wolke. Zimmermanns Regieanweisungen lassen an der verstörenden Wirkung dieses optisch-akustischen Totalereignisses keinen Zweifel. Die Reflexion des Bühnengeschehens zielte gleichermaßen auf Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Atombombenabwürfe der USA über Hiroshi-
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ma und Nagasaki wie auf die jüngsten politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der frühen 1960er Jahre. Um nur wenige markante zu nennen: Am 22. November 1963 wurde der amerikanische Präsident John F. Kennedy ermordet, nachdem er sich noch fünf Monate zuvor an der Berliner Mauer als Verteidiger und Beschützer Berlins im Kalten Krieg der Amerikaner gegen die Sowjets dargestellt hatte. Zwei Tage später erschoss der Nachtclubbesitzer Jack Ruby in Dallas vor laufenden Fernsehkameras den mutmaßlichen Attentäter Lee Harvey Oswald bei dessen Überstellung ins Gefängnis – verstörende Ereignisse in einer scheinbar zivilisierten Welt, deren Gesellschaft sich vor solch maßlosen Grenzüberschreitungen nicht zu schützen vermochte. Kennedys Amtsnachfolger Lyndon B. Johnson war, anders als Kennedy, außenpolitisch völlig auf den Vietnamkrieg und die Bombengewalt im Kampf gegen den kommunistischen Vietcong fixiert. Dieser Krieg hielt die Welt jahrelang in Atem und stürzte nicht nur die US-Soldaten im fernen Osten, sondern auch die amerikanische Bevölkerung in der Heimat in schwerwiegende Konflikte. Aber auch innenpolitisch stand die führende Weltmacht der 1960er Jahre vor dem Kollaps. Martin Luther King galt 1963 als herausragender Sprecher des Civil Rights Movement im gewaltfreien Kampf gegen Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und die soziale Ungerechtigkeit der Rassentrennung. 1964 erhielt King für sein Engagement den Friedensnobelpreis, 1968 wurde er bei einem Attentat in Memphis erschossen. In mehr als 100 amerikanischen Städten kam es zu Krawallen, bei denen 39 Menschen starben, etwa 2.600 verletzt und 21.000 verhaftet wurden. Deutschland erlebte in den mittleren 1960er Jahren keine spektakulären Gewalttaten, wenngleich sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) seit Beginn des Jahrzehnts formierte und sich wenig später zum brutalsten Staatsfeind radikalisierte, den die Bundesrepublik bis dato erlebt hatte. Auslöser der Radikalisierung der Studentenorganisation SDS war eine Protestdemonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Reza Pahlavi, in deren Verlauf der Student Benno Ohnesorg vom Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde. Weite Kreise der deutschen Nachkriegsgesellschaft nahmen ab 1963 an den zahlreichen Auschwitzprozessen in Frankfurt am Main und anderen deutschen Gerichtsorten teil, um sich ein Bild von der Unmenschlichkeit des NS-Regimes machen zu können.
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Fünf Jahre später, 1968, begann Aribert Reimanns intensive Beschäftigung mit einer der bedeutendsten und krassesten Tragödien der Weltliteratur: William Shakespeares King Lear. In seinen „Notizen zu Lear“, die von Klaus Schultz veröffentlicht wurden, formulierte Reimann in den ersten konkreten Eindrücken und Erkenntnissen 1972 als vorläufiges Resümee einen extremen Anspruch an die eigene Gestaltungskraft und zugleich eine erschütternde gesellschaftliche Erkenntnis, die ihm Shakes peares Text vermittelt hatte: „Die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens ausgesetzt.“ Mit dieser außergewöhnlichen Thematik tat sich sogar die puritanische Gesellschaft des frühen 17. Jahrhundert schwer, sodass Jahrzehnte hindurch diese Tragödie bei Aufführungen nicht ins menschliche und gesellschaftliche Desaster stürzte, sondern mit Happy End schloss: Lears jüngste Tochter Cordelia heiratete Glosters legitimen Sohn Edgar und König Lear wurde wieder in Amt und Würden eingesetzt – im extremen Unterschied zu Shakespeares dramatischer Lösung, in der Cordelia den König von Frankreich heiratet und mit den französischen Besatzungstruppen nach England zurückkehrt. Erst 1823 wurde durch den nachmals berühmten und sehr erfolgreichen Schauspieler Edmund Kean die ursprüngliche Schlussfassung mit der Auslöschung der gesamten Lear- und Gloster-Familien wieder gespielt, mithin das äußerst pessimistische Ende mit dem totalen Zerfall allen individuellen wie gesellschaftlichen Lebens. Darauf zielte wohl Reimanns Resümee von der Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens. Die 1970er Jahre gaben Reimanns prophetischem Blick Recht. Im „wahren“ Leben wurde das Jahrzehnt von 1968 bis 1978 weltweit geprägt von linksgerichteten Studenten und Bürgerrechtsbewegungen und von einer langen Reihe brutalster Mordtaten, um die eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen mit terroristischen Mitteln durchzusetzen: in den USA von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und dem tödlichen Anschlag auf Martin Luther King; in Frankreich 1968 von den sogenannten Mai-Unruhen, dem Zentrum der Protestbewegungen gegen Konsumgesellschaft und Vietnamkrieg und für den Frieden und die Demokratisierung der Gesellschaft, die mit der Besetzung der Pariser Universität Sorbonne begann und schließlich in einen Generalstreik mündete, der das gesamte Land wochenlang lahmlegte; in der Tschechoslowakei von der gnadenlosen Unterbindung des Prager Frühlings
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durch eine halbe Million Soldaten und Panzer aus den sozialistischen „Bruderstaaten“ der Sowjetunion in der Nacht zum 21. August 1968. In Deutschland rebellierten die APO (seit den mittleren 1960er Jahren) und die RAF (seit Anfang der 1970er Jahre) in einer den Deutschen völlig unbekannten Brutalität, um linksextreme Forderungen durchzusetzen. Im Oktober und Dezember 1971 wurden zwei deutsche Polizisten von RAF-Mitgliedern erschossen. 1972 gab den RAF-Aktionen die Geiselnahme eines Palästinensischen Terrorkommandos bei den Olympischen Spielen in München weiteren Auftrieb. Im „Deutschen Herbst“ 1977 ermordeten Terroristen der RAF den Generalbundesanwalt Siegfried Buback (am 7. April als Auftakt einer Mordserie), den Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto (am 30. Juli) und (am 19. Oktober) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Einzig in der Flugzeugentführung nach Mogadischu (13. bis 17. Oktober) konnte die Spezialeinheit GSG 9 alle Geiseln befreien. Am 18. Oktober 1977 nahmen sich die tags zuvor zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilten RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in ihren Gefängniszellen das Leben. Dieser reale gesellschaftliche Kontext der Jahre zwischen 1965 und 1978, in denen Reimann seine Oper Lear schrieb, perspektiviert „die Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens“ eindrucksvoll in ein Kunstwerk, dessen zentrale Figur gerade keine historische Wahrhaftigkeit mit einer nur begrenzten Gültigkeit beansprucht, sondern ein überzeitlich existentes Symptom repräsentiert, das die Gesellschaftsmodelle vergangener Jahrtausende rekapituliert. Deshalb wohl verzichtete Reimann im Titel auf die komplette Figurenbezeichnung des Königs. Er unterschied sorgsam zwischen dem Personenverzeichnis, in dem „König Lear“ steht, und dem Titel, der gleichsam das thematische Prinzip zitiert, eben „Lear“.
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Ein Violetter Laufkäfer wird mit Stecknadeln für den Präparationsvorgang drapiert. Auf der folgenden Seite gibt Gerd Fiebig Einblick in die Insektensammlung, die sich in seinem Laden für entomologische Lehrmittel in Berlin Schöneberg befindet.
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Über Gewicht und Gegengewicht in den Inszenierungen Christoph Marthalers
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Es gibt eine Auffälligkeit im Wirken (und damit auch in den Werken) des Schweizer Regisseurs Christoph Marthaler, die es etwas näher zu betrachten lohnt. Die Auffälligkeit, von der hier die Rede sein soll, erscheint den Zuschauerinnen und Zuschauer, die Marthalers Arbeiten kontinuierlich verfolgen, vielleicht schon gar nicht mehr als besonders auffällig. Es könnte sogar sein, dass sich für diesen Personenkreis die Auffälligkeit längst in eine Unauffälligkeit verwandelt hat – aber so ist es ja eigentlich immer, wenn etwas wirklich Bedeutung besitzt: irgendwann wird es eingemeindet und man muss ziemlich große Anstrengungen unternehmen, um einer ehemaligen Auffälligkeit dabei zu helfen, wieder auffällig zu sein. Wovon ist hier die Rede? Davon, dass bei Christoph Marthaler und den mit ihm zusammenarbeitenden Künstlerinnen und Künstlern anfallende Gewichte immer auf ihre Gegengewichte hin untersucht werden. Dies allerdings nicht in einem allzu physikalischen Sinne, sondern hinsichtlich der künstlerischen Erwägung, welches Gewicht den auf den Waagschalen liegenden Gewichten (Themen, Texte, Musikwerke oder ähnliches) zugemessen werden sollte. In der Regel scheint es bei solchen Fragen dennoch keine zwei Meinungen zu geben: Sprache ist Sprache und wesentliche Mitteilungsform menschlicher Gesellschaften, auch im Theater – weshalb also sollte man schweigen? Oder tonlos sprechen? Oder auf rätselhafte Weise mit den Händen kommunizieren? Immer wieder hört man Christoph Marthaler auf den Proben sagen, man könne den vorliegenden Umstand doch einfach einmal umdrehen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass man in der gigantischen Jahrhunderthalle Bochums ein Projekt mit circa 100 Musikerinnen und Musikern der städtischen Symphoniker konzipiert, und dann entscheidet, dass es für die Inszenierung die künstlerisch interessantere Wahl darstellen könnte, die Instrumentalisten niemals zu zeigen. Zumindest dann nicht, wenn sie aktiv spielen. So geschehen in Marthalers Produktion Universe, incomplete bei der Ruhrtriennale 2018, die sich mit dem Komponisten Charles Ives und dessen alle Aufführungskonventionen sprengenden Orchesterwerken 4. Symphonie und Universe Symphony auseinandersetzte. Kaum etwas hätte sich angesichts solcher Vorgaben mehr angeboten, als das Bild der 100 musizierenden Orchestermitglieder ausdrucksstark in Szene zu setzen. Marthaler hingegen setzt auf andere Hauptdarsteller: den Raum (Jahrhunderthalle) und die Imaginationskraft
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des Publikums. Während das Orchester in einem von der Zuschauertribüne nicht einsehbaren Bereich platziert wird und heftigste Klangereignisse in die Tiefe des Raumes versendet, blickt das Publikum in eine riesige, fast leere Industriehalle. Lediglich vereinzelt auf- und abtauchende Schauspielerinnen und Schauspieler und Tänzerinnen und Tänzer bevölkern die Szenerie. Ein Zustand, in dem die herrschenden Raum- und Zeitverhältnisse verrutschen und allen Beteiligten zur Herausforderung werden. Für Marthaler entsteht genau auf diese Weise das unvollständige Universum, von dem im Titel der Inszenierung die Rede ist. Im Fall von Universe, incomplete bildeten die Erwartungshaltung an ein Ereignis (Charles Ives! Symphonieorchester! Jahrhunderthalle!) das Gewicht, die Weite und Leere des Raums sowie die Abwesenheit der Musikerinnen und Musiker das Gegengewicht. Marthaler hat hier etwas Wesentliches umgedreht und Wunsch und Wirklichkeit in ein neues Verhältnis gesetzt. Doch dabei lässt er es nicht bewenden, sondern überrascht das Publikum ein weiteres Mal, und zwar dergestalt, dass er in einer langen Generalpause nach fast 70 Minuten Dauer der Inszenierung die Musikerinnen und Musiker der Bochumer Symphoniker plötzlich doch noch auftreten lässt. Einer nach dem anderen treten sie aus dem Nichts in den Raum, in einer scheinbar endlosen, immer weiter voranschreitenden Menschenschlange. Ihre Instrumente in der Hand durchmessen sie in vollkommener Stille die gesamte Halle. „Einfach einmal umdrehen“ bedeutet bei Marthaler also nicht Vorführung des Gegenteils oder der (vermeintlich schmucklosen) Rückseite einer Gegebenheit, sondern Hervorhebung dessen, was nicht auf der Hand liegt. Immer wieder geht es ihm in seinen Arbeiten darum, die unterirdisch verlaufenden Ströme zu vermessen, vor allem diejenigen, die in den Blut- und Nervenbahnen der Menschen verlaufen. So konnte man in Marthalers Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen beobachten, wie er jenen Aspekt „umdrehte“, der zweifellos einen (Glut-)Kern von Richard Wagners Oper darstellt: das kurze und ungetrübte Glück vollkommener Zweisamkeit im Garten des Schlosses von König Marke. Als Tristan und Isolde im 2. Aufzug endlich unbeobachtet zueinander finden, zeigt Marthaler ein Bild größtmöglicher Distanz. Keine in glückseligen Umarmungen verharrenden Liebenden sind hier zu erleben, sondern gegensätzlich magnetisierte Planeten, die einander in heftigen Umlaufbahnen umkreisen und immer wieder voneinander
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abprallen. Marthaler sieht keine Möglichkeit, den unbedingten Wunsch Tristans und Isoldes, beieinander zu sein, in einem Bild von körperlicher Nähe festzuhalten. Zumindest nicht in einem solchen, das sich mit realen Erfahrungswerten verbinden ließe. Wenig später nämlich, während Brangäne ihren legendäre „Ruf“ in das Dunkel der Nacht absetzt, platziert Marthaler die beiden Liebesverwundeten plötzlich nebeneinander auf einer viel zu schmalen Bank. Hier sitzen sie erst unbeweglich, fast linkisch eng an eng. Dann plötzlich entspinnt sich ein an surrealistische Filmszenen Luis Buñuels erinnerndes Leidenschaftsbild, das darin mündet, dass Isolde sich vor Begeisterung die eigene Faust in den Mund zu stecken versucht. Bei den Bayreuther Festspielen wurde die Verweigerung nachvollziehbarer Nähe- und Liebespaarbilder von allen Seiten heftig verurteilt. So ablehnend fiel das Urteil aus, als wohne Marthalers Inszenierungsentscheidungen das Potenzial inne, einem seit Jahrhunderten fest verankerten Kulturdenkmal den Sockel wegzusprengen. Wenn Reaktionen so kompromisslos ausfallen, könnte es aber auch bedeuten, dass diese Umdrehung Marthalers einen Nerv getroffen hat. Vielleicht sogar einen entzündeten? Einen, den man mit der Lupe suchen muss, um ihn zu entdecken? Diese Lupe gehört zu Marthalers zentralen Arbeitswerkzeugen. Genauso wie seine innere Uhr. Ein weiteres Gebiet nämlich, auf welchem er nach Gegengewichten forscht, sind die Zeitstrukturen im Kosmos des Komödiantischen. Was beispielweise ist ein Slapstick, was eine Pointe? Auf ganz bestimmten Bedingungen basierende dramatische Formen, die erst dann ihre ganze Komödienkraft entfalten, wenn die vortragenden Schauspielerinnen und Schauspieler ein ideales Timing erwischen. Slapstick und Pointe sind Sekunden- oder Hundertstelsekundenereignisse. Seit seinen frühesten Inszenierungen in Zürich und Basel jedoch hinterfragt Christoph Marthaler diese Gesetzmäßigkeiten und forscht nach Gegengewichten, mit Hilfe derer sich noch ganz andere Dimensionen des Komödiantischen entfesseln ließen. So entschieden sich Christoph Marthaler und Anna Viebrock bei ihrer ersten gemeinsamen Arbeit am Theater Basel, einem Komödientext von Eugène Labiche (Die Affäre Rue de Lourcine) den Pulsschlag radikal zu verlangsamen. Das Stück, welches normalerweise in 40 Minuten durchgespielt wird und stets mit einer weiteren Komödie kombiniert werden sollte, damit ein abendfüllendes Erlebnis entsteht,
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entfaltete sich auf der Bühne des Theater Basel in über 120 Minuten. Hierbei schlugen Marthaler und Ensemble zwischen Abflug und Landung der Pointen derart große zeitliche Lücken, dass das Publikum längst vergessen hatte, auf welche Vorlage sich die irgendwann ausgesprochene Pointe überhaupt noch bezog. Das auf diese Weise entstandene Vakuum erzeugte eine ganz neue Komik – die der verfehlten Verbundenheit. Situationen dieser Art finden sich in fast allen Inszenierungen Christoph Marthalers: Menschen, die auf Antworten warten und nichts mehr damit anfangen können, wenn sie sie schließlich erhalten. Musik, die in absolut unpassenden Momenten erklingt und auf diese Weise logische Erzählzusammenhänge außer Kraft setzt. Bühnenelemente, die sich verselbstständigen (herabfallende Buchstaben eines Schriftzuges, Klopfgeräusche aus Boilern, aufbrechende Bodenplatten). Slapsticks, die, wie in der einzigartigen Klappbetten-Sequenz aus Marthalers Produktion Stunde Null oder die Kunst des Servierens, so oft wiederholt werden, dass sich beim Betrachter alle unbeschwerte Freude am Lustigen mehr und mehr in heftige Schmerzen am Vergeblichen verwandelt. Überhaupt spielen Wiederholungen eine zentrale Rolle im Reich der Marthalerschen Gegengewichte. Während in der Affäre Rue de Lourcine die Pointen auseinandergerissen werden, wiederholen die Figuren aus Stunde Null immer und immer wieder die gleichen Plattitüden („Unsere Frauen leben heute wieder in Saus und Braus!“), bis man sie fast nicht mehr erträgt. In Marthalers Papperlapapp im Ehrenhof des Papstpalastes in Avignon fahren zwei Schauspieler eine gefühlte Ewigkeit mit einem absenkbaren Sarg auf und ab und danken dem anderen jedes Mal aufs Neue, wenn wieder einmal der Wendepunkt erreicht ist („Merci infiniment“), im legendären Murx den Europäer! gerät ein Dankeslied in eine sich stets um einen Halbton hinaufschraubende Endlosschlaufe, die sinnigerweise abseits der Bühne über viele Jahre hinweg ein Doppelleben als Telefonwarteschleifenmusik der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz führte. In Aribert Reimanns Lear wiederum lastet ein tatsächlich übergroßes Gewicht auf den Schultern der Titelfigur. Dieses Gewicht trägt die Bezeichnung „Wahn“ und gewinnt im Laufe des Dramas mehr und mehr an Schwere. Schließlich wird Lear davon zerdrückt. Soweit die Erzählung. So beklemmend die hochexpressive Vertonung Reimanns. Lässt sich in solchen Zusammenhängen tatsächlich „etwas umdrehen“? Und wa-
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rum sollte man das tun? Weil auch in Tiefen mit starken Druckverhältnissen ein paar selten beleuchtete Gegengewichte existieren. Auf ihnen eingeprägt einige durchaus besondere Antworten auf die Frage, was das eigentlich genau ist: ein „Wahn“. Marthaler wird in seiner Inszenierung wohl eher keine Krankheit zum Tode diagnostizieren, keine absente Geistesverfassung oder enttäuschte Hoffnungslosigkeit. Vielmehr nimmt er zur Kenntnis, wie Lear öffentliche Demontage der eigenen Position betreibt. Im Schachjargon würde man wohl von einer Rochade sprechen, denn bei diesem königlichen Zug wird nicht nur eine Figur bewegt, sondern mehrere zur gleichen Zeit. Bei klarstem Bewusstsein spielt Lear ein riskantes Spiel: das Spiel von der Vortäuschung des Erwartbaren. Eitel und stolz, wie ein König zu sein hat, entlohnt er geheuchelte Zuneigung (Regan, Goneril) und brandmarkt ungeschminkte Ehrlichkeit als Verrat (Cordelia). Lear, indem er wie erwartet handelt und dazu noch Verzweiflung und schließlich „Wahnzustände“ simuliert, befreit sich von aller royalen Verantwortung und kann endlich wieder frei atmen. Von nun an werden andere voll Neid und Missgunst die Machtverhältnisse regeln. Lear selbst zieht sich die Hose aus und schickt die Diener weg, die ihm zu Hilfe eilen. Der „Wahn“ als Mittel zur Selbstentkrönung macht vieles möglich: Endlich wird Lear nass, wenn es stürmt. Endlich kann Lear sagen, was er will – auch wenn es sich dabei um dadaistisch anmutende Sätze handelt. Der König hat abgedankt, das Gewicht der Krone soll andere belasten. Er interessiert sich mehr für Insektenstammbäume als für menschliches Versagen. Dass Letzteres derart tödliche Folgen haben würde, war für Lear nicht abzusehen. Ihm schwebte vor, sein Leben als einziger Besucher eines von ihm entworfenen naturhistorischen Museums zu vollenden: ganz allein und face to face mit einem ausgestopften Biber oder einer seltenen Riesenwespe aus dem Süden Englands. Der Audioguide spräche mit freundlicher Stimme und irgendwann wäre der Tag vorbei. Und irgendwann das Leben. Ob die (gerade noch so) Lebenden ihrem ehemaligen König diesen Traum erfüllen, muss abgewartet werden. Denn welche Umdrehungen Marthaler für seine Lear-Inszenierung noch in der Hinterhand versteckt, kann zum Druckzeitpunkt dieses Programmbuches noch nicht abschließend festgestellt werden. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass er auf seiner mittlerweile über vierzigjährigen Suche nach den Gegen-
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gewichten zum Gewichtigen solche Zustände und Vorgänge gefunden hat, die das komische Drama des Menschen aus ganz und gar unerwarteten Perspektiven zeigen. Die Gegengewichte liegen hierbei fast immer auf einer unsichtbaren Waagschale und es ist keine leichte Sache, sie aufzuspüren. Doch wenn es gelingt, dann ist die Verwunderung groß. Nicht die Freude.
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Ein russischer Entomologe bei der Arbeit mit den Sammlungsobjekten. Auf der folgenden Seite ist der ehemalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos im Naturhistorischen Museum London mit einem Bild gerahmter Schmetterlinge zu sehen. Dabei handelt es sich um eine neue Spezies namens Magneuptychia pax, die als Symbol für den kolumbianischen Friedensprozess stehen soll.
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Bemerkungen zur Verwechslung von Liebe und Macht
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Kaum jemals wird die Frage nach dem gerechten Herrscher, nach einem guten Souverän, dringlicher aufgeworfen als angesichts seines Alters und nahenden Todes. Wie soll die Macht übergeben, die Nachfolge geregelt werden, ohne die Risiken der Rivalität, womöglich gar eines Krieges, heraufzubeschwören? In einer Monarchie wird die Nachfolge häufig durch Berufung auf die Genealogie geregelt. Den Vorzug erhalten zumeist die Kinder der Herrschenden, nach Maßgabe ihres Lebensalters und Geschlechts. Doch welche Rolle spielen etwaige Brüder und Schwestern des toten Souveräns? Wie können uneheliche Kinder befriedet werden? Und was passiert, wenn sich etwaige Thronerben nachhaltig disqualifizieren, oder wenn Königinnen oder Könige gar keine Kinder geboren oder gezeugt haben? Erinnern wir uns: Zu Lebzeiten William Shakespeares herrschte Elisabeth I. als Königin von England, die im Alter von 25 Jahren – am 15. Januar 1559 – den Thron bestiegen hatte. Dabei stand das Leben der jüngsten Tochter Heinrichs VIII., aus seiner zweiten Ehe mit Anne Boleyn, zunächst unter einem ungünstigen Stern. Ihre Mutter wurde bereits drei Jahre nach der Geburt der Tochter wegen Hochverrats durch Ehebruch, im Alter von 29 Jahren, hingerichtet; Elisabeth selbst wurde von der Thronfolge ausgeschlossen. Thomas Seymour, der erste Bewerber um die Hand des Mädchens, zuvor jedoch der Liebhaber Catherine Parrs, der Witwe Heinrichs VIII., wurde angeblich wegen einer Verschwörung gegen seinen Bruder am 20. März 1549 hingerichtet; Elisabeth war fünfzehn Jahre alt. Den Thron besetzte damals ihre Halbschwester Maria I., die „Bloody Mary“, eine überzeugte Katholikin, die durch ihre Heirat mit Philipp II. von Spanien die Rückkehr zum Katholizismus in England durchsetzen wollte. Elisabeth wurde der Beteiligung an einer Verschwörung gegen diese Pläne beschuldigt und 1554, mit 21 Jahren, im Tower eingekerkert. Thomas Wyatt, Anführer der Verschwörung, hatte zunächst unter der Folter ihre Mitwirkung gestanden, dieses Geständnis aber später, nach Verhängung der Todesstrafe, widerrufen. Im November 1558 starb Maria I., kinderlos nach mehreren Scheinschwangerschaften, an einer Krebserkrankung. Wenig später, am 15. Januar 1559, wurde Elisabeth in der Westminster Abbey von London zur Königin gekrönt; fast ein halbes Jahrhundert lang blieb sie die Regentin Englands und Irlands. Mit ihrem Tod am 24. März 1603 erlosch die Dynastie der Tudors, denn Elisabeth hatte nie geheiratet. Nach schwerer Pockenerkrankung
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im Jahr 1562 konterte sie eine Petition des Parlaments, im dreißigsten Lebensjahr doch endlich zu heiraten, mit den berühmten Worten, sie sei mit England verheiratet, und der Krönungsring sei auch ihr Ehering. Elisabeth blieb die „Virgin Queen“. Den prominentesten Konflikt um den Thron führte Elisabeth während ihrer Regierungszeit mit Maria Stuart, ihrer Cousine und zugleich der Königin von Schottland seit dem 14. Dezember 1542; damals war Maria gerade einmal sechs Tage alt. In diesem Konflikt ging es einerseits um die Krone Englands und andererseits um den Streit der christlichen Bekenntnisse. Die Konstellation könnte geradezu als Wiederholung betrachtet werden; schon einmal hatte ja eine katholische Maria als englische Königin den Weg der anglikanischen Elisabeth gekreuzt, die Halbschwester der Verschwörung beschuldigt und inhaftiert. Während Maria I. den spanischen Kronprinzen geheiratet hatte, schloss Maria Stuart ihre erste Ehe mit dem französischen Dauphin, der 1559 als Franz II. zum König Frankreichs gekrönt wurde. Doch der König starb bald, und Maria kehrte nach Schottland zurück. Sie heiratete 1565 den jungen Lord Darnley, nachdem Don Carlos von Spanien die Ehe ausgeschlagen hatte. Diese Ehe scheiterte spätestens, als der eifersüchtige Darnley den Privatsekretär Maria Stuarts, David Rizzio, vor den Augen der hochschwangeren Königin ermorden ließ. Marias Sohn wurde drei Monate nach dem Attentat auf Rizzio geboren; acht Monate später kam Darnley unter ungeklärten Umständen zu Tode. Vermutet wurde ein Mordkomplott; und verdächtigt wurde James Hepburn, der vierte Earl of Bothwell. Er wurde zwar freigesprochen; aber seine baldige Hochzeit mit Maria, nur drei Monate nach dem Tode Darnleys, führte rasch zum Sturz der Königin, die zugunsten ihres einjährigen Sohns abdanken musste und inhaftiert wurde. Maria gelang es, dem Gefängnis zu entfliehen; sie bat ihre Cousine Elisabeth um Hilfe gegen den rebellischen Adel in Schottland, wurde aber erneut inhaftiert, zunächst wegen ihrer möglichen Verstrickung in die Ermordung Darnleys. 18 Jahre Gefangenschaft folgten; freilich wurde Maria in dieser Zeit ein standesgemäßes Hofleben ermöglicht. Elisabeths Beziehung zu Maria blieb tief ambivalent. Obwohl Maria der Mitwirkung an der Ridolfi-Verschwörung von 1570 bezichtigt wurde, die eine Ermordung Elisabeths und die Inthronisierung Marias bezweckte, verweigerte die Königin zwei Jahre später ihre Zustimmung zu einem Gesetz, das Maria von der Thronfolge ausgeschlossen hätte.
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Auch als im Jahr 1586 die Geheimbotschaften Marias an Anthony Babington, wiederum mit dem Ziel, Elisabeth zu ermorden und sie selbst zur Königin zu krönen, abgefangen und entziffert wurden, ließ Elisabeth das Parlament befragen, ob das Todesurteil gegen Maria nicht revidiert werden könnte. Doch kein Einspruch half; am 8. Februar 1587 wurde Maria Stuart in Schloss Fotheringhay enthauptet. Zu Lebzeiten sind die beiden Königinnen einander niemals begegnet. Wenige Stunden nach Elisabeths Tod wird Jakob VI. von Schottland, der Sohn Maria Stuarts, zum König ausgerufen. Seine Thronfolge wird mit dem Hinweis auf die direkte Abstammung von Heinrich VII. begründet; als Jakob I. vereinigt er erstmals die beiden Königreiche von England und Schottland. 1612 ordnet er die Beisetzung seiner Mutter in der Westminster Abbey an, nur neun Meter entfernt vom Grab Elisabeths. In den Jahren nach dem Tod Elisabeths – vermutlich zwischen 1603 und 1605 – arbeitet William Shakespeare an seiner Tragedy of King Lear; am Beispiel des legendären Königs aus vorrömischer Zeit veranschaulicht er die gerade aktuellen Themen der Machtübergabe und Thronfolge. Der alte König will abdanken und das Reich unter seinen drei Töchtern Goneril, Regan und Cordelia aufteilen. Doch er stellt den Töchtern die verhängnisvolle Frage nach ihrer Liebe zum Vater; und während die beiden älteren Töchter ihre Zuneigung überschwänglich ausdrücken, bekennt die vormalige Lieblingstochter Cordelia bloß, sie könne ihr Herz nicht in den Mund versetzen, sie liebe pflichtgemäß den Vater, nicht mehr und nicht weniger. Und sie fragt, wozu ihre Schwestern geheiratet haben, wenn sie doch nur den Vater, „mehr als Augenlicht, Raum und Freiheit“, lieben. Cordelias Aufrichtigkeit steht in Kontrast zum naheliegenden Wortspiel mit dem Namen Lear, der an „liar“, den Lügner, erinnert. Der erzürnte König verstößt und enterbt Cordelia und verheiratet sie ohne Mitgift mit dem König von Frankreich; die Erinnerung an Maria Stuarts Schicksal drängt sich geradezu auf, und als Graf Kent sich für Cordelia einsetzt, wird er ebenfalls verbannt. In einem zweiten Handlungsstrang erzählt Shakespeare die Geschichte der beiden Söhne des Grafen Gloucester, eines Ratgebers des Königs; darin geht es um den Konflikt zwischen dem unehelichen Sohn Edmund und seinem Halbbruder Edgar. Shakespeare demonstriert, wie die Vermischung der Frage nach der Legitimität des Anspruchs auf Thronfolge und Macht mit der Frage nach emotionaler Zuneigung und Liebe die Strategien des Verrats nahezu
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zwangsläufig erzeugt; der königliche Vater Lear wird von Goneril und Regan verraten, während Gloucester offenbar in die Vorbereitungen für eine französische Invasion Britanniens eingeweiht ist. Verrat, Wahnsinn und Krieg erscheinen als Konsequenzen der gescheiterten Machtübergabe; am Ende sind alle tot, und Edgar erringt die Herrschaft. Ein Zeitsprung von rund 440 Jahren nach dem Tod Elisabeths I. führt uns ins Jahr 1943. Ende Januar, so berichtet ihre Freundin und Biografin Simone Pétrement, besucht die französische Philosophin Simone Weil im Londoner Exil eine Theateraufführung von King Lear. Diese Tragödie hatte sie mehrfach studiert; Pétrement erwähnt, dass sie 1938 an Charles G. Bell geschrieben habe, dass sie „dieses Stück aus anderen Gründen liebte als er“. Sie betont, dass „Lear den Stücken Sophokles’ ähnlicher sei als jedes andere ihr bekannte Werk“ und dass „so die Dichtung unserer Epoche gestaltet sein sollte, einer Epoche des realen und nicht nur des metaphysischen Unglücks“. Sie zitiert den Schrei Christi: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, und sie kommentiert: „Die Poesie, die dem Unglück Ausdruck verleiht, ist nur dann wirklich groß, wenn dieser Schrei durch jedes Wort hindurch widerhallt. Das geschieht in der Ilias wie auch in bestimmten Stücken von Aischylos, in fast allen Stücken von Sophokles und in King Lear von Shakespeare. Lear scheitert an der äußeren Welt, und sein Leid ist insofern etwas Großes, als er zwar ein Gescheiterter ist, aber ungebeugt bleibt.“ Derselbe überraschende Vergleich findet sich auch in Simone Weils Londoner Notizbuch: „Lear: ‚Gibt es irgend eine Ursache in der Natur, die diese harten Herzen hervorbringt?’ Das ist der Punkt von Christi Schrei.“ In einem Brief an die Eltern vom 4. August 1943, wenige Wochen vor ihrem Hungertod am 24. August 1943, schreibt sie: „Als ich den Lear hier sah, fragte ich mich, wie es möglich war, dass der unerträglich tragische Charakter dieser Narren nicht schon längst jedem, auch mir selbst, klar geworden war. Die Tragödie ist nicht so sentimental, wie sie manchmal betrachtet wird; sie besteht darin: Es gibt eine Klasse von Menschen auf dieser Welt, die dem niedrigsten Grad der Demütigung, weit unterhalb der Bettelarmut, unterworfen wurden, die nicht nur aller sozialen Rücksichtnahme, sondern auch, nach allgemeiner Ansicht,
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jeder Menschenwürde, ja der Vernunft selbst, beraubt sind, und das sind die einzigen Menschen, die tatsächlich in der Lage sind, die Wahrheit zu sagen. Alle anderen lügen. Bei Lear ist das auffällig. Selbst Kent und Cordelia dämpfen, mildern und verschleiern die Wahrheit; und wenn sie nicht gezwungen sind, zwischen Wahrheit und Lüge zu wählen, weichen sie ihr aus. [...] Was die Tragödie so extrem macht, ist die Tatsache, dass, weil die Narren keine akademischen Titel oder bischöflichen Würden besitzen, und weil sich niemand bewusst ist, dass ihre Äußerungen auch nur die geringste Aufmerksamkeit verdienen – jeder ist a priori vom Gegenteil überzeugt, da sie Narren sind –, ihre Äußerung der Wahrheit nicht einmal angehört wird. Niemandem, auch Shakespeares Lesern und Publikum seit vier Jahrhunderten, ist klar, dass das, was sie sagen, wahr ist. Und nicht satirisch oder humoristisch wahr, sondern einfach die Wahrheit. Reine, unverfälschte Wahrheit – leuchtend, begründet und wesentlich.“ Die Ungleichheit der Menschen, der Herrscher und Sklaven, spiegelt sich im traurigen Blick des Hofnarren Sebastián de Morra, den Diego Velázquez 1636 porträtiert hat; vielleicht hat Simone Weil gerade an dieses Bild gedacht, als sie ihren Brief fortsetzte: „Besteht darin auch das Geheimnis der Narren von Velasquez? Sind ihre Augen so traurig wegen der Bitterkeit, die Wahrheit zu wissen und um den Preis namenloser Erniedrigung gewonnen zu haben, die Macht, sie auszusprechen, und dann von niemandem (außer Velasquez) gehört zu werden?“ Dieser Blick korrespondiert dem Atem der Könige, von dem Simone Weil 1941 – abermals unter Bezug auf Shakespeare – notierte: „ein Mensch, der die Macht hat, in wenigen Sekunden über zwanzig Lebensjahre eines anderen Menschen zu entscheiden; ‚such is the breath of kings‘.“ Und dieser Atem der Könige kann lange währen; Queen Victoria herrschte 63 Jahre lang, die Regierungszeit von Elisabeth II. wird bald siebzig Jahre andauern. Aribert Reimanns Lear-Oper wurde am 9. Juli 1978 in München uraufgeführt. Und natürlich ist die Frage der Machtübergabe damals wie heute, mehr als dreihundert Jahre nach der „Glorious Revolution“ in England (1688/89), mehr als zweihundert Jahre nach dem Sturm auf
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die Bastille, immer noch aktuell. Diese Aktualität bezeugen nicht nur Bürgerkriege nach dem Sturz von Diktatoren, etwa in der arabischen Welt, deren Frühling allzu rasch von militärischen Unwettern verdüstert wurde, sondern auch etwa die Besetzung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 nach der Abwahl Donald Trumps. Dagegen wirken die Konflikte um die Kandidatur für die Kanzlerschaft beinahe harmlos, die wir gerade erst in Deutschland – nach sechzehn Jahren der Regierung Angela Merkels – erlebt haben. Gleichwohl wird stereotyp die Diagnose von einer „Spaltung der Gesellschaft“ wiederholt, einer Spaltung in rechts und links, arm und reich, mächtig und ohnmächtig. „Der nackte Mensch ist nichts weiter, als ein armseliges, gespaltenes Tier“ (1.4) heißt es in Reimanns Oper, und in Shakespeares Tragödie: „Unaccommodated man is no more but such a poor, bare, forked animal“ (3.4). Shakespeare schildert eine atemberaubende Serie der Spaltungen, die nahezu jede Person des Stücks betreffen: die Spaltung nicht nur zwischen Lear und Gloucester, zwischen böser und guter Tochter (Goneril/Regan und Cordelia), zwischen bösem und gutem Sohn (Edmund und Edgar), sondern auch eine phantasmatische Spaltung der Protagonisten selbst: die Spaltung zwischen dem König, der sein Erbe übergibt, und dem irrsinnigen Greis im Gewittersturm, die Spaltung zwischen Gloucester und dem Blinden, der sich von der Klippe stürzen will, die Spaltung zwischen Kent und dem scheinbaren Bediensteten, der des Verrats bezichtigt und in den Block gelegt wird, die Spaltung zwischen Edgar und dem verwirrten poor Tom in der Hütte, die Spaltung zwischen dem offenkundig schwachen Herzog von Albany, Ehemann Gonerils, und dem einzigen Überlebenden der Familie, der zum Ende des Dramas (wenngleich nicht der Oper), im Angesicht zahlreicher Leichen – Lear, Goneril, Regan, Cordelia, Cornwall, Edmund – die Initiative ergreift, staatsmännisch die kollektive Trauer artikuliert, Lears Werk der Reichsaufteilung vollendet und die Macht an Edgar und Kent überträgt. Der Mensch ist ein „gespaltenes Tier“; und niemand könnte diese Wahrheit klarer und zugleich paradoxer ausdrücken als der Narr. So ist es auch der Narr, zu dem Lear (in Shakespeares Version) diesen Satz zu sagen scheint, kurz bevor er sich die Kleider vom Leib reißt. Der Narr personifiziert geradezu das gegabelte („forked“), „zweizinkige Tier“ (wie Graf Baudissin übersetzt, 3.4), vielleicht auch wegen seiner Narrenkappe mit den beiden Eselsohren oder Zipfeln. Kurz nachdem der verbannte Kent
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Lear
(in Reimanns Oper) dem König seine Dienste angeboten hat – mit einer Antwort auf die Frage: „Was kannst du?“, die an einen närrischen Rätselspruch erinnert: „Erlaubte Geheimnisse bei mir behalten. Reiten, Laufen, gute Witze schlecht erzählen. Fechten, keine Fische essen. Klares verwirren. Ich bin für alle da.“ (1.2) – tritt der Narr selbst auf und kündigt an, den Grafen ebenfalls in seine Dienste nehmen zu wollen: „Ich will ihn auch in meine Dienste nehmen. Hier ist meine Kappe.“ Kent fragt: „Was soll ich damit?“ Und der Narr antwortet: „Du nimmst dich eines Mannes an, der in Ungnade fiel. Wenn du ihm anhängst, musst du seine Kappe tragen. Ich wollte, ich hätte zwei Kappen und zwei Töchter.“ Unklar bleibt, auf wen sich das Possessivpronomen bezieht: auf Lear, Kent oder den Narren; unklar bleibt aber auch der Sinn der Bemerkung, die der Narr an Lear richtet: „Wenn ich auch all mein Hab und Gut gäbe, so behielte ich doch die Kappen für mich.“ Die Kappen und „Gugel“ mit ihren Ohren und Schellen bringen die Macht und den Status des Narren zum Ausdruck, jene Spaltung, die ihn zum Pendant und Spiegel des Souveräns erhebt. Auch und gerade der König ist ein „gespaltenes Tier“, und das alter ego seiner Spaltung repräsentiert der Narr. „Nun sind unser zwey“, so lautet die Inschrift unter dem Steinporträt des Narren am Rathaus von Nördlingen; und in der fünften Szene des ersten Akts – in Shakespeares Tragödie – entspinnt sich folgender Dialog zwischen Lear und dem Narren: „Narr: Ja, wahrhaftig, du würdest einen guten Narren abgeben. Lear: Mit Gewalt muss ich’s wiedernehmen. Scheusal Undankbarkeit! Narr: Wenn du mein Narr wärst, Gevatter, so bekämst du Schläge, weil du vor der Zeit alt geworden bist. Lear: Was soll’s? Narr: Du hättest nicht alt werden sollen, eh’ du klug geworden wärst. Lear: O schützt vor Wahnsinn mich, vor Wahnsinn, Götter! Schenkt Fassung mir, ungern wär’ ich wahnsinnig.“ (1.5) Im Gegensatz zum König, der in der Oper zu stammeln beginnt (wie seine Tochter Cordelia in der ersten Szene, als sie bekennen will, dass sie die „glatte Kunst zu reden nicht verstehe“), formuliert der Narr seine Sätze wie ein antiker Chorführer, mit poetischer Kraft und seherischer Eindringlichkeit: „Der König hat zwei Töchter verbannt, um wider Willen die dritte zu segnen.“ (1.1)
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Der Atem der Könige
Der Narr verweist auf den „zweiten Körper“ des Königs im System genealogischer Ordnung, wie es Ernst H. Kantorowicz in Die zwei Körper des Königs beschreibt. Nicht umsonst wurde schon seit dem Altertum ein aufwendiger Totenkult praktiziert, um die Kontinuität der Herrschaft zu demonstrieren, um zu verhindern, dass Gesellschaften ins Interregnum, ins Chaos anarchischer Unruhe stürzten, wenn ihre Herrschenden abtraten oder starben, wenn ihr Atem erloschen war. Der Atem des Königs muss andauern. Daher wurde den Königen ein zweiter Körper zugesprochen, ein symbolischer, ewiger Leib, eine Repräsentation der Macht und des Königtums als Idee und Prinzip. Dieser zweite Körper, in den Beisetzungszeremonien oft dargestellt durch eine lebensgroße Puppe, die Effigies, repräsentierte wie eine Mumie das Leben, das der König in seinen Erben und Thronfolgerinnen fand, nachdem er es seinerseits von den toten Vorfahren übernommen hatte. Insofern spiegelt sich das Ende der Tragödie vom König Lear schon in der ersten Szene; der Narr fungiert als Doppelgänger des Königs, der stets die Wahrheit sagt, aber nicht gehört werden kann. Worin besteht der Irrsinn Lears? Lears Narretei entspringt der Verwechslung von Liebe und Macht. Wie kommt er nur dazu, das Reich nach Kriterien rhetorisch artikulierter Zuneigung zu verteilen? Wie kann er die Regeln der Dynastie mit den Affekten familialer Bindung vermischen? Nicht zufällig sind die Töchter am Ende alle tot; doch wenigstens kann der mörderische Krieg um die Krone beendet werden, während wir selbst – als Lesende und Hörende – die Bitterkeit des Narren teilen, seine Gewissheit, dass eben die Wahrheit, die wir ahnen, niemand erkennen will.
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Bayerische Staatsoper
In Shanghai legt ein Mann Insekten und Insektenteile in verschiedene Flüssigkeiten ein, um sie zu konservieren. Auf der folgenden Seite positioniert ein Wissenschaftler im Jahr 1921 ein Insekt, um es mit einem Mikrofotogerät zu fotografieren.
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Benedikt Stampfli
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Der Schmetterlings effekt
Die Beziehung zwischen dem Detail und dem großen Ganzen in Aribert Reimanns Oper Lear
Lear
„Wir haben euch hierher befohlen, um unser Reich vor euren Augen unter unseren Töchtern aufzuteilen“ – mit Lears Befehl beginnt Aribert Reimanns gleichnamige Oper. Es ist der zentrale Wendepunkt in Lears Leben. Geordnet will er sein Reich seinen Nachfahren überlassen und sich aus den täglichen Geschäften eines Herrschers zurückziehen. Hat Lear aufrichtig gute Absichten, will er tatsächlich loslassen und das Spielfeld anderen überlassen? Später erklärt er: „Es ist unser fester Vorsatz, die Sorgen der Regierung auf jüngere Schultern zu legen, indessen wir uns frei dem Tod entgegenschleppen.“ Am Ende wird er jedoch erkennen, welch großen Fehler er zu Beginn des Stückes gemacht hat. Lear hat nämlich nicht damit gerechnet, dass die jüngste seiner drei Töchter, seine Lieblingstochter, den geforderten Liebesbeweis nicht wie gewünscht erbringt. Cordelias einfache und ehrliche Worte waren ihm nicht gut genug, er enterbt sie. Anstatt das Reich zu dritteln, wird es nun zwischen den beiden anderen Töchtern Goneril und Regan aufgeteilt. Es ist der Beginn einer von Morden gezeichneten Intrige darum, wer die alleinige Macht hat und das Reich regieren soll – am Ende gibt es kaum Überlebende. Zu Beginn wirkt Lear einsam. Es ist seine rein persönliche Entscheidung abzudanken, er wird von niemandem dazu gedrängt. Er hat genug: „ah, ah, dieses Verlangen nach Schlaf, – dies letzte Staatsgeschäft ist noch zu tun“. Ist es ein Todeswunsch oder soll „dieses Verlangen nach Schlaf“ kennzeichnen, dass ab hier alles nur ein Albtraum Lears ist? Aribert Reimann schrieb dazu: „Die Musik setzt ein – Lear ist im Netz, seine Reaktion […] lässt erkennen, dass er diesen ersten Satz in einer Art Absence gesagt hat. Nun beginnt der Weg, den seine Psyche antritt.“ Träumt Lear den verbitterten Erbschaftsstreit, die Lügen und Mordanschläge und sein eigenes Dahinvegetieren als Wahnsinniger oder ist alles Realität? Lears Einsamkeit wird musikalisch sehr deutlich gezeigt, denn er singt a cappella, mutterseelenallein, niemand – auch kein Orchester – begleitet ihn. Nackt, wie er später als Wahnsinniger über die Heide irren wird, ist er zu Beginn – von allen verlassen. Der König lebt in seiner eigenen Welt. Christoph Marthaler zeigt Lear in seiner Inszenierung als einen leidenschaftlichen Insektensammler, der aufgrund seiner Liebe zum Detail das große Ganze, die Übergabe seines Reiches, aus den Augen verliert. Insekten zu sammeln, zu klassifizieren und zu präparieren, ist seine Welt.
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Der Schmetterlingseffekt
Dabei vergisst er aber sein Amt. Gerade das letzte Staatsgeschäft ist vielleicht das zentralste, um einen ruhigen Lebensabend verbringen und seinen persönlichen Interessen nachgehen zu können, ohne um sein eigenes Leben bangen zu müssen. Das Abdanken ist musikalisch in einen einzigen mehrfach repetierten Ton gefasst. Aus diesem Ton (Fis) entwickelt sich eine Klangsprache, eine ganze Oper. Nun ist die Ruhe vorbei, es brodelt, zunächst unterschwellig, doch immer nervöser, aufgeregter und schwankender. Auf Cordelias Liebesbeweis „Ich liebe dich wie eine Tochter, nicht mehr, nicht weniger“ folgt der erste große Ausbruch Lears und gleichzeitig die Vorwegnahme seines Wahnsinns. Der Komponist beschrieb diesen Vorgang wie folgt: „Lears Wahnsinnsanzeichen beginnen eigentlich im Sonnengeflecht, von dort breitet sich das Ganze aus wie ein schmerzendes Geschwür, bis um ihn herum (später Heide) alles zu Wahnsinn wird und wieder auf ihn zurückschlägt.“ Beispielsweise im zweiten Zwischenspiel des ersten Teils wächst alles mehr und mehr als Steigerung zu Lears Ausbruch. Der Sturm wächst von unten langsam herauf. Viertel-, Halb-, Dreiviertel, Ganz- und Eineinvierteltöne schichten sich übereinander – mächtige Clustergebilde formen einen brachialen Klang. Das ist die Ausgangslage für die anschließende dritte Szene, in der Lear einsam im Sturm auf einer Heide dem Wind seine Verzweiflung über seine Situation kundtut. Alle Streicher spielen solistisch, daraus ergibt sich ein 48-töniger Streicherakkord und bildet die Begleitung für Lears Monolog. Ständig ist die Musik in Bewegung, wird dichter, intensiver, lauter und zerfällt wieder, wird karg und spröde, erinnert an Geräusche und ist nur noch als Klangfetzen wahrnehmbar. Einerseits schöpft Aribert Reimann das große symphonische Orchester in seiner gesamten Fülle mit seinen überbordenden Anhäufungen des Schlagwerks aus und schafft Klangfarben, die sich über mehrere Oktaven erstrecken und auch heute – über 40 Jahre nach der Uraufführung – noch überraschend und herausfordernd klingen, andererseits sucht der Komponist nach dem solistischen Streichquartett, der einsamen Bassflöte und dem Viertelton. Auch Zwölftonreihen spielen in der Lear-Partitur eine Rolle: Beispielsweise die beiden wichtigsten Zwölftonreihen – diejenige von Cordelia und die von Edgar – sind eng miteinander verwandt. Die Töne 1 bis 6 und 7 bis 12 von Cordelias Reihe sind die Töne 7 bis 12 und 1 bis 6 von Edgars Reihe (siehe dazu S. 52). „Diese Reihen, wie ein Kreuz angelegt, ziehen sich durch das Stück,
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kanonisch geführt, als eine Art Motiv für Cordelia und Edgar“, schrieb Aribert Reimann. Da Krebs und Umkehrung identisch sind, könnten die beiden Reihen auch als eine verstanden werden. Multipliziert man diese mit den vier Modi der Zwölftonreihen (Grundreihe, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung), sprich 4 x 12, ergibt dies 48, die Anzahl der möglichen Reihen, die sich aus der Grundreihe ableiten lassen, und die Anzahl der Streicher die im Orchester spielen. Vielleicht sind daher die Bezüge zwischen Zwölftonreihen und Orchesterbesetzung viel größer, als aufs erste Hören und Analysieren der Partitur wahrgenommen werden kann. Obschon den Zwölftonreihen eine wichtige Bedeutung zukommt, spielen im Lear die Clusterschichten eine noch größere Rolle. Die Klangschichtungen wirken oft opulent und großflächig, bestehen jedoch fast immer aus kleinen Keimzellen (einzelne Intervalle, einzelne Töne, Material aus Reihen, Melodiefetzen und weiteres): der Mikrokosmos der Partitur. Das Sezieren oder das Vergrößern unter dem Mikroskop, wie es beispielsweise auch die filigrane Tätigkeit eines Insektensammlers mit seinen Objekten ist, hat sehr viel mit der Lear-Partitur zu tun. Zusätzlich könnte man auch die unterschiedlichen Cluster mit Lears Schlafphasen seines Albtraums vergleichen. Konflikt zwischen Vater und Lieblingstochter
Aribert Reimanns Lear mit Richard Wagners Musikdramen zu vergleichen, mag auf den ersten Blick als etwas weit hergeholt scheinen. Doch die Bezüge sind nicht uninteressant. Beispielsweise stellte der Musikwissenschaftler Jürgen Maehder fest: „Das vermeintliche Einverständnis der Schwestern Regan und Goneril, wenn diese in der zweiten Szene des ersten [Teils] ihre Entschlossenheit bekunden, gemeinsam gegen den Vater zu intrigieren, wird [von Aribert Reimann] in die musikalische Gestalt eines traditionellen Racheduetts gefasst, wie es idealtypisch etwa durch das Duett Ortrud/Telramund im zweiten Akt von Wagners Lohengrin („Der Rache Werk sei nun beschworen“) repräsentiert wird.“ Noch stärker ist der Bezug zwischen Reimanns Oper und Wagners Opus magnus, seinem Ring des Nibelungen. Rein thematisch ist das inhaltliche Motiv des Konflikts zwischen Vater und Lieblingstochter in beiden Werken vorhanden. In der Walküre stellt sich Brünnhilde gegen den Willen ihres Vaters Wotan – der als Gott auch eine Herrscherstellung wie
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Der Schmetterlingseffekt
König Lear einnimmt und auch von einem Bariton gesungen wird – wofür er die Tochter bestraft, bis ihr Erlöser Siegfried sie erwecken wird. Der Vater-Tochter-Konflikt wird im Ring nicht gelöst. Am Ende von Siegfried zieht sich Wotan nach Walhall zurück, nachdem sein Enkel Siegfried furcht- und respektlos den Speer des Göttervaters zerschlagen hat; im letzten Teil (Götterdämmerung) tritt Wotan nicht mehr auf. In Reimanns Oper Lear trennen sich Vater und Tochter relativ schnell, Cordelia heiratet ohne Mitgift den König von Frankreich. Es kommt nicht wie im Ring des Nibelungen ihr Held. Dafür kommt es am Ende der vorletzten Szene des zweiten Teils zur Versöhnung zwischen ihr und ihrem Vater. Aber ein gutes Ende kann dies auch nicht mehr einläuten: Edmund hat schon zu viel Macht erlangt und kann die beiden gefangen nehmen und die Hinrichtung Cordelias anordnen. Am Ende tritt Lear mit der Leiche seiner Tochter im Arm klagend auf und stirbt ebenfalls – ob aus Kummer, Verzweiflung oder doch aus Altersschwäche. Die Beziehung zwischen Tönen und Tonarten weist eine weitere Gemeinsamkeit beider Werke auf: So beginnt Das Rheingold nur mit dem Ton Es. Aus der Tiefe des Rheines baut sich über die acht Hörner das Vorspiel auf. Sowohl Es-Dur als auch es-Moll sind zentrale Tonarten im Ring des Nibelungen: Zum einen erklingt Es-Dur oft, wenn Natur thematisiert wird – wie eben zum Beispiel zu Beginn –, und zum anderen wird es-Moll oft mit dem Bösen bei Lügen und Trug konnotiert. Da es im Lear keine Tonarten gibt und daher eine klassische Tonartendisposition im Sinne Wagners unmöglich ist, muss ein anderer Vergleich angestellt werden. Der große Bogen soll untersucht werden. So beginnt Der Ring des Nibelungen mit dem Es und endet schließlich einen Ganzton tiefer in Des-Dur – in einem fulminanten Klang wird die Musik leiser und erinnert so an den Beginn des Rheingolds. In Lear beginnt es mit einem Fis – dieser Ton spielt im Gesamtwerk immer wieder eine wichtige Rolle – und endet quasi einen Ganzton tiefer in einem spektakulären E/F-Cluster. Edgars Reihe beginnt übrigens mit dem Ton E und endet mit dem Ton F. Dass am Ende der Oper diese beiden Töne sehr wichtig sind, ist kein Zufall. Nachdem fast alle gestorben sind, wird er (bei Shakespeare) als einer der wenigen Überlebenden vom Herzog von Albany als Lears Nachfolger bestimmt. Beginnt nun alles wieder von vorne? Den apotheotischen Schlussakkord mit seinem satten Klang über mehrere Oktaven beschrieb Aribert Reimann folgendermaßen:
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Lear
„Das Irdische muss allmählich vergehen. Aus der Trauerlinie wächst der neue Flageolettklang in den Streichern nach oben. [...] Aufsteigen in schwebende Höhe. Sphärenhafter Raumklang, Lear betritt eine neue Welt.“ Entscheidend scheint, dass sowohl bei Wagner als auch bei Reimann zu Beginn ein einziger Ton erklingt und sich aus diesem alles entwickelt – in ähnlicher Weise prägt übrigens das Hauptmotiv zu Beginn des ersten Satzes von Beethovens Fünfter Symphonie das gesamte Werk. Aus etwas sehr kleinem, vielleicht auch Einfachem, entwickelt sich etwas sehr großes, das sich weder klar fassen noch bremsen lässt. Lears fatales Versagen bei der Übergabe seines Reiches an seine Töchter zeigt schlicht, dass er unfähig ist, in die Zukunft zu blicken und nicht in der Lage ist, eine geordnete Übergabe zu sichern, davon zu schweigen, dass ihm nicht einmal bewusst ist, dass er dabei sogar sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Dieser eine Fehler von Lear wirkt wie ein „Schmetterlingseffekt“: Der US-amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward N. Lorenz hat die kühne These aufgestellt, dass beispielsweise der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. Dabei geht es darum, dass kleinste Ursachen in Kombination von Unvorhersehbarem langfristige Auswirkungen haben können. In Lear lässt sich dieses Prinzip kombinieren mit den kausalen Kettenreaktionen: Wie ein Schneeballeffekt lässt sich auch nichts mehr aufhalten – von wem auch? Auch wenn Lear seinen Fehler frühzeitig einsehen würde und seine missglückte Aufteilung rückgängig machen wollen würde, wäre es zu spät. Die Ereignisse lassen sich nicht mehr stoppen. Die Verbindung zwischen dem Detail und dem großen Ganzen ist nicht nur in der Musik verankert, sondern auch in der Handlung vorgegeben und bestimmt daher die Dramaturgie, in der die unzertrennliche Verbindung dieser beiden Polen den Hauptmovens des Geschehens formt.
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Die Autorinnen und Autoren
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Bayerische Staatsoper
Katrin Dillkofer
Katrin Dillkofer wurde in München geboren und studierte Kunst- und Kulturwissenschaften in Berlin. Nach ihrer Promotion über Henri Matisse und die Ästhetik des östlichen Bildes arbeitete sie als Tutorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Sie kuratierte Ausstellungen u. a. an der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München sowie am Museum Frieder Burda in Baden-Baden. Berufliche Erfahrungen in der Dramaturgie sammelte sie an der Komischen Oper und an der Schaubühne in Berlin. Seit Dezember 2019 ist sie Bilddramaturgin an der Bayerischen Staatsoper. Thomas Macho
Thomas Macho, geboren in Wien, promovierte in seiner Geburtsstadt. 1983 folgte seine Habilitation an der Universität Klagenfurt. Von 1993 bis 2016 war er an der Humboldt-Universität Berlin Professor für Kulturgeschichte. Er ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Minerva-Center for Interdisciplinary Study of the End of Life an der Universität Tel Aviv. Das Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik in Berlin wurde von ihm mitbegründet. 2007 bis 2017 hatte er den Vorsitz des Kuratoriums des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden inne. Er ist Preisträger der Aby-Warburg-Stiftung Hamburg und Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Christoph Marthaler
Christoph Marthaler, geboren in Erlenbach bei Zürich, wurde 1993 mit seiner Inszenierung Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! an der Volksbühne Berlin bekannt und inszeniert seitdem an den großen Schauspielbühnen im deutschsprachigen Raum. Von 2000 bis 2004 war er Intendant des Schauspielhauses Zürich, das in dieser Zeit zweimal zum Theater des Jahres gewählt wurde. Die Abende Das Theater mit dem Waldhaus und Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Er inszeniert des Weiteren regelmäßig Opern wie Les contes d’Hoffmann am Staatstheater
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Stuttgart, Lulu an der Staatsoper Hamburg, welche die Auszeichnung Performance of the Year und den Theaterpreis Faust erhielt, Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen sowie zuletzt Orphée et Euridice am Opernhaus Zürich. An den Münchner Kammerspielen entstand 2017 Tiefer Schweb. Ein Auffangbecken. Jürgen Schläder
Jürgen Schläder, geboren in Hagen, promovierte 1978 in Musikwissenschaft mit der Dissertation „Undine auf dem Musiktheater. Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Spieloper“. 1986 folgte die Habilitation mit einer Arbeit über das Opernduett. Ab 1987 bis zu seinem Ruhestand war er Professor für Theaterwissenschaft, Schwerpunkt Musiktheater, an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er veröffentlichte mehrere Bücher über die Bayerische Staatsoper, das Prinzregententheater und Giacomo Meyerbeer. Zudem war er Leiter des Forschungsprojekts zur Aufarbeitung der Geschichte der Bayerischen Staatsoper in den Jahren 1933 – 1963 und kuratierte die Ausstellung „Vision und Tradition. 200 Jahre Nationaltheater in München“ am Deutschen Theatermuseum. Sabine Schülting
Sabine Schülting promovierte im Rahmen des Graduiertenkollegs „Geschlechterdifferenz und Literatur“ an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Sie war Visiting Fellow am Graduate Research Centre in Culture and Communication der University of Sussex in Brighton und wissenschaftliche Assistentin an der Universität Erfurt. Seit 2002 ist sie Professorin für Englische Philologie (Cultural Studies) an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Cultural und Gender Studies und englische Literatur und Kultur. Sie ist Mitglied des Vorstandes der Deutschen Shakespeare Gesellschaft und Herausgeberin des Shakespeare Jahrbuchs. Benedikt Stampfli
Benedikt Stampfli, geboren in Bern, studierte Musik- und Theaterwissenschaften an den Universitäten in Bern, Freiburg und München. Im Som-
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Die Autorinnen und Autoren
mer 2013 schloss er den Master-Studiengang Dramaturgie an der Theaterakademie August Everding mit einer Arbeit über „Gustav Mahlers Wagner-Rezeption und die musiktheatrale Dramaturgie in seinen Symphonien“ erfolgreich ab. Praktische Erfahrung sammelte er u. a. am Stadttheater Bern und am Theater Biel Solothurn. Seit der Spielzeit 2013/14 ist er Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper. Zudem ist er Dozent an der Münchner Volkshochschule. Malte Ubenauf
Malte Ubenauf arbeitete zunächst als Regisseur, bevor er 2003 als Dramaturg zu Christoph Marthaler an das Zürcher Schauspielhaus wechselte. Danach war er bei Frank Castorf an der Berliner Volksbühne sowie am Hamburger Thalia Theater engagiert. Seit 2005 ist er vorwiegend als freiberuflicher Schauspiel- und Musiktheaterdramaturg tätig. Er begleitete Produktionen von u. a. Karin Henkel, Stefan Pucher, Christopher Rüping, Luk Perceval und arbeitet kontinuierlich mit Christoph Marthaler, Anna Viebrock, Christiane Pohle sowie mit der Berliner Opernkompanie Novoflot zusammen. Stationen seiner Theatertätigkeit waren u. a. das Teatro Real Madrid, das Zürcher Opernhaus, die Opéra national de Paris, das Theater Basel, die Ruhrtriennale, die Staatsoper Hamburg sowie die Festspiele in Salzburg und Bayreuth. Anna Viebrock
Anna Viebrock studierte Bühnenbild an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Bühnen- und Kostümbildnerin eng mit dem Regisseur Christoph Marthaler sowie dem Regieteam Jossi Wieler/Sergio Morabito zusammen. So schuf sie Bühnenbilder und Kostüme u. a. für Inszenierungen an der Volksbühne Berlin, am Theater Basel, am Schauspielhaus Hamburg, an der Oper Frankfurt, der Staatsoper Stuttgart, der Opéra national de Paris, dem Teatro Real Madrid, den Salzburger und den Bayreuther Festspielen, am Opernhaus sowie am Schauspielhaus Zürich, dessen künstlerischem Leitungsteam sie von 2000 bis 2004 angehörte. Seit 2002 führt Anna Viebrock auch Regie. Sie ist Professorin für Bühnengestaltung an der Akademie der Bildenden Künste Wien.
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Insekten werden sorgfältig beschriftet und in Kompartimenten ausgestellt. Auf der folgenden Seite präsentiert sich Königin Elisabeth II. mit einem Schmetterlingshut.
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Aribert Reimann Lear
Libretto
Oper in zwei Teilen nach William Shakespeare eingerichtet von Claus H. Henneberg (1976 / 78)
In memory of Nicolas Nabokov
Personen
Mein Dank gilt Dietrich Fischer-Dieskau, der mir die Anregung gab und den Mut, diese Oper zu schreiben, und Uwe Schendel für seine Hilfe
König Lear – Bariton König von Frankreich – Bassbariton Herzog von Albany – Bariton Herzog von Cornwall – Tenor Graf von Kent – Tenor Graf von Gloster – Bassbariton Edgar, Sohn Glosters – Countertenor Edmund, Bastard Glosters – Tenor Goneril – dramatischer Sopran Regan – Sopran Töchter König Lears Cordelia – Sopran Narr – Sprechrolle Bedienter – Tenor Ritter – Sprechrolle Wachen, Soldaten Diener Männerchor (König Lears und Graf von Glosters Gefolge)
Kompositionsauftrag der Bayerischen Staatsoper
„Im Lear muss der Seelenschmerz, nachdem er durch alle Irrgänge des menschlichen Elends gegangen, sich zuletzt bis zum Wahnsinn steigern, weil der trostlose Heidenglaube der Leidenden nur in dem Erdenleben Hilfe sucht, dieses nicht als ein bloßes Vorspiel des vergeltenden Jenseits zu erkennen vermag.“ Joseph von Eichendorff
Lear When we are born, we cry that we are come To this great stage of fools.
Orchesterbesetzung Albany O Goneril! I fear your disposition: That nature, which contemns its origin, Cannot be border’d certain in itself.
3 Flöten (auch Piccolo, 3. auch Bassflöte), Altflöte in G, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten in B (2. auch Klarinette in Es), Bassklarinette in B, 2 Fagotte, Kontrafagott; 6 Hörner in F, 4 Trompeten in C, 3 Posaunen, Tuba; Pauken, Schlagzeug (6 Spieler; 5 Bongos, 5 Tomtoms, 5 Tempelblocks, 5 Holzblocks, 3 Schlitztrommeln, Rührtrommel, Kleine Trommel, Große Trommel, Becken, 4 hohe Gongs, 3 tiefe Gongs, 4 Tamtams, hängende Bronzeplatten, Metallfolie, Metallblock, Holzfass); 2 Harfen; 24 Violinen, 10 Violen, 8 Violoncelli, 6 Kontrabässe
Edgar The oldest hath borne most: we that are young Shall never see so much, nor live so long.
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ERSTER TEIL
Galt nicht mein ganzes Tun dir zur Freude? Kannst du dich nicht erinnern?
1. Szene (Während sich der Vorhang öffnet, ziehen Lear – von zwei Dienern gestützt –, Goneril, Regan, Cordelia, Cornwall, Albany, France, Narr, Gloster, Edmund, Edgar, Kent ein. Manchmal scheint Lear wie vom Schlaf überwältigt und der Zug gerät ins Stocken. Alle nehmen dann Aufstellung für die folgende Zeremonie.) Lear Wir haben euch hierher befohlen, um unser Reich vor euren Augen unter unseren Töchtern aufzuteilen, – ah, ah, dieses Verlangen nach Schlaf, – dies letzte Staatsgeschäft ist noch zu tun. Die Natur hat mich alt werden lassen. Es ist unser fester Vorsatz, die Sorgen der Regierung auf jüngere Schultern zu legen, indessen wir uns frei dem Tod entgegenschleppen. Der Tochter, welche mich am meisten liebt, erweise ihm die größte Gunst. So spreche jede von ihrer Liebe zu mir. Du, Goneril, Erstgeborene, beginne.
Lear So gehört dir, Regan, das andere Drittel unseres Reiches, nicht kleiner, nicht größer, nicht weniger fruchtbar. (mit großer Wärme) Und jetzt zu dir, Cordelia, Jüngste, aber nicht Geringste. France wirbt um deine Liebe. Was sagst du, damit dein Anteil dir gesichert werden kann? Cordelia Nichts, Vater! Lear (nüchtern) Nichts? Cordelia Nichts!
Goneril Ich kann an keinen Augenblick des Lebens mich erinnern, da dir nicht meine ganze Liebe galt. Die Mutter hätte ich für dich verraten. Dich, Vater, liebe ich mehr als meiner Augen Licht und Freiheit, mehr als Anmut und Würde, mehr als ich sagen kann liebe ich dich. (Diener tragen eine Karte herbei und breiten sie vor Lear aus.) Cordelia (für sich) Was kann ich sagen? Wie soll ich meine Liebe bezeugen, die ich zum Vater im Herzen trage? Stumm ist sie, weil sie nur fühlt. Ich liebe ihn wie eine Tochter und schweige.
Cordelia (entschlossener) Mein Vorsatz bleibt, ich werde schweigen.
Lear Aus nichts wird nichts. Ich kenne deine Schüchternheit. Ich weiß, dass du mich liebst. Cordelia Ich liebe euch wie eine Tochter, nicht mehr, nicht weniger. Lear Und kommt dir das von Herzen? Cordelia Ja, Vater! Lear So jung und so wenig zärtlich? Cordelia So jung und so aufrichtig.
Lear Von diesen schattigen Wäldern zu dem fruchtbaren Land hier vermache ich dir, Goneril, alles. – Was sagt Cornwalls Gattin, Regan?
Lear So jung und plötzlich so kalt?
Regan Was andere mit vielen Worten schwören, das sahst du längst an meinen Taten. Hätte ich für dich nicht Leib und Seele geopfert?
Lear (apathisch) So, – so, – meine Augen, – Stimme. – (kommt langsam wieder zu sich) Du – dein Blut ist nicht das meine.
Cordelia Zu jung für die Lüge.
Erster Teil
(sich steigernd) Du bist mir fremder als der Wilde, der sich am Fleisch der eigenen Kinder mästet.
lassen sie euch kalt und herzlos scheinen. Wenn das sie euch abscheulich macht, dann sei sie mein. Mein Volk wird sie verehren, mein Land sie nähren, meine Flüsse tragen.
Kent Halt, König! Lear Kent, tritt nicht zwischen sie und mich. Goneril, Regan, teilt euch Cordelias Erbe.
Lear Dann führe sie in dein Land, … Cordelia Vater, lasst euch bitten!
Kent Was machst du, alter Mann?
Lear … dass meine Augen sie nicht seh’n, dass ihr verräterischer Mund durch seine Stummheit meine Ohren nicht verletzt.
Lear Schweig! Kent Königlicher Lear, der ich dir immer …
France Komm mit mir, Cordelia. Nimm Abschied.
Lear Mir aus den Augen! Der Bogen ist gespannt. Gehe dem Pfeil aus dem Weg.
Regan, Goneril Die entartete Schwester, die entartete Schwester, die von der Tochterliebe nichts weiß, verdiente wohl zu fühlen, was ihr selber fehlt.
Kent Mag er mich treffen. Was willst du, alter Mann, denn tun? Soll ich nicht reden, wo es Pflicht ist, da die Macht der Schmeichelei sich beugt? Wenn Majestät zur Torheit wird, ist Offenheit Ehre!
France Cordelia, reich, weil du arm, Lear erwählt, weil du verlassen. Du stellst dich gegen meinen Spruch, drum scher’ dich fort. Die Verachtung anderer Fünf Tage bleiben dir, dann will dich weckte meine Liebe. unser Auge nicht mehr sehen. Lear Kent Ich habe solche Tochter nicht. So gibt es keine Freiheit hier, – ich gehe. Geht ohne Segen, ohne Liebe, ohne Gnade. Cordelia, die Götter schützen dich, leb’ wohl. (Kent geht ab.) Gloster Wie dauert mich der arme Vater, Lear der so sein jüngstes Glück verliert. Frankreichs König, Hielt er sie nicht wie eine Königin? nimm Cordelias Ehrlichkeit als Mitgift. Mehr geb’ ich nicht. Edgar Welch’ böser Zwist ward hier gesät; Cordelia es steht der Vater gegen seine Jüngste, Wenn ich – wenn ich die – wenn ich die glatte – wenn ich die Schwester gegen Schwester. – wenn ich die glatte Kunst – die glatte Kunst zu reden Sie irren alle. Wo liegt Wahrheit? nicht ver- nicht verstehe, nicht die glatte Kunst zu reden nicht verstehe, bin ich, – bin ich froh, Edmund froh, bin ich, froh, froh, bin ich froh darüber. So träumen Väter, die das Alter Es ist ein –, ein Mangel, der mich reicher macht. stark verwirrte, die mit Liebe Böses säen und viel Hass. France Sie, die ihr am meisten liebtet, Cordelia wird verstoßen. Die Worte, die ihr fehlen, Vater, Schwestern, lebt wohl.
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Goneril Das Alter hat den Vater sehr verändert, …
Die Zeit wird das enthüllen, was noch durch List verborgen liegt. Wer Fehler entdeckt, wird am Ende verlacht.
Regan Er ist schwach und müde.
Narr Wer nicht lächeln kann, wie der Wind weht, der wird bald Schnupfen bekommen. Der König hat zwei Töchter verbannt, um wider Willen die dritte zu segnen. Der arme, alte Mann.
Goneril … doch nützt sein Starrsinn uns. Regan Der Vater gab sich selbst in unsere Macht.
Cordelia Vater, Vater, stände ich in eurer Gnade, ihr fändet einen guten Platz an meiner Seite.
Goneril Die arme Ehrlichkeit Cordelias, – Regan Wie sinnlos neideten wir ihr die Vaterliebe.
France Du verlierst die Heimat, um eine bessere zu finden.
Goneril … sie bringt uns Reichtum, Länder.
Regan, Goneril Versuche, dem Mann zu gefallen, der dich aus Milde aufgenommen hat.
Regan Doch hat er noch die Liebe seines Volkes. Erst wenn er ohne sein Gefolge ist, hat er sich wehrlos ausgeliefert.
Lear Erhoffe dir die Liebe, die sie mir versagte.
Goneril Daran erkenne ich die Schwester. Du willst die ganze Macht. Doch hüte dich. Sind wir Rivalinnen, ist leicht der Sieg bei dritten. Nur wenn wir fest zusammenstehen, ist der Vorteil auf unserer Seite.
Gloster Von meinen beiden Söhnen erbt der eine Land und Titel, den andern ehre hohes Amt. Edgar Es sollte meinem Vater nicht gelingen, dass ich und Edmund streiten werden.
Regan Den werden wir zu nutzen wissen.
Edmund Ich schulde keinem Dank, nicht meinem Vater, nicht meinem Bruder. Mein Recht verschaffe ich mir selbst.
Goneril Lass uns langsam drum zu Werke gehen. Regan Wir sind die Stärkeren.
(France und Cordelia ab, Regan eilt zu Goneril. Lear geht mit Gloster in die France entgegengesetzte Richtung ab. Edgar und Edmund stehen dicht beieinander und beobachten die Schwestern.)
Goneril Ich weiß mich zu wehren. (Beide einmütig ab)
Narr So, glaubt der König, schafft man Glück durch dumme Gleichnerei. Er stößt sein jüngstes Kind zurück und wird noch arm dabei. (Der Narr beobachtet aus großem Abstand die beiden Geschwisterpaare.)
Narr Und Gloster? Des Königs Spiegelbild. Er lässt sich leicht betrügen. Ihn machte das Alter dumm und mild. Edmund wird ihn belügen. (Narr läuft davon. Edmund und Edgar kommen vor.)
Erster Teil
Edmund Mein Bruder Edgar, verzeih, dass ich nicht früher mit dir sprach. Von meiner langen Reise kehre ich eben erst zurück und habe den Vater nur begrüßen können.
Edmund Nichts, mein Herr.
Edgar Die erste Szene in der Heimat zeigte dir dies Unglück.
Edmund Nichts von Bedeutung. Es ist nur ein Brief.
Edmund Zwiefach war das Unglück: Ich traf den Vater gegen dich erzürnt. Was hast du ihm getan?
Gloster Wenn so bedeutungslos, dann gib ihn mir.
Gloster Was hältst du in der Hand?
Edmund Nein, besser nicht.
Edgar Nichts, Edmund, nichts.
Gloster Von wem bekamst du ihn?
Edmund Doch irgendetwas brachte ihn gegen dich auf. Ich bitte dich, weiche ihm aus. Suche seine Gesellschaft nicht, die Zeit ist jetzt nicht günstig für Dispute. Später, wenn ich ihn besänftigt habe, erkläre ich dir alles.
Edmund Von Edgar, meinem Bruder. Gloster Lass mich ihn sehen.
Edgar Ich verstehe nichts ...
Edmund Nein, das wäre Unrecht.
Edmund Geh’ schnell! Ich gebe dir später Nachricht.
Gloster Gib her, gib her!
(Edgar entfernt sich.)
Edmund Ich hoffe, mein Bruder schrieb den Brief nur mich zu prüfen. (Er gibt Gloster den Brief.)
Edmund Warum Bastard? Ich kam ein Jahr später auf die Welt als Edgar, mein Bruder, und bin von gleichem Blute. Doch ich entstamme glühenderem Feuer als dem des Ehebettes. Natur, du bist meine Göttin, deinem Gesetz allein will ich dienen. Warum soll mich der Starrsinn des Hergebrachten beugen? Warum Bastard? Warum nennt man mich Bastard? Dein Vater, Edgar, ist auch meiner! Ich will dein Land und deine Rechte. (Gloster erscheint und geht auf Edmund zu.) Jetzt, Götter, nehmt Partei für den Bastard! (Edmund zieht einen Brief aus der Tasche und tut, als wolle er ihn verbergen.)
Gloster (liest) „Die Ehrfurcht vor dem Vater macht uns bitter. Sie enthält uns das Vermögen und damit das Glück vor. Wenn unser Vater so fest schliefe, dass man ihn nicht wecken könnte, erhieltest du die Hälfte meines Erbes. Dann sollst du der Liebling deines Bruders Edgar sein.“ – Hat Edgar dies geschrieben? Edmund Ja! Ich wünschte, es wäre nicht so. Auch wünschte ich, er hätte nicht den Degen gegen mich gezogen.
Gloster Mein Edmund, was gibt es?
Gloster Heuchelei! Hinterlist! Verrat!
127
Lear Versäumen sie darum die Pflichten gegen die Natur?
Was wird noch kommen? Diese Mond- und Sonnenfinsternisse im letzten Jahr bringen uns nichts Gutes. Das Beste unserer Zeit haben wir gesehen. Wer Edgar findet, wird belohnt. Wer ihn beschützt, den trifft der Tod. Du, mein Sohn, wirst Erbe meiner Länder. Edgars Vater bin ich nicht länger. (Gloster ab)
Lears Gefolge Lasst uns noch einmal trunken sein. (Kent tritt in Verkleidung auf.) Kent Nun, verbannter Kent, wirst du dort dienen, wo man dich verdammte.
Edmund Ein leichtgläubiger Vater, ein edler Bruder – mit ihnen habe ich leichtes Spiel. Gab mir Geburt keine Güter, schafft sie mir mein Verstand. Die Natur, wie sie mich schuf, sorgt für Gerechtigkeit. (Edmund ab)
Lear Wer ist der? Kent Ein Mann, so arm wie der König. Lear Dann bist du arm genug.
ZWISCHENSPIEL Kent Ich will dem dienen, der mir traut, und liebe den, der ehrlich ist.
2. Szene (Hof im Palast) Lears Gefolge Ist nicht das Alter lustig und faul und sind wir nicht frei von Sorgen? Es trifft der Tod den müden Gaul an der Tränke vielleicht schon morgen.
Lear Wem willst du dienen?
Lear (kommt mit dem Narren) Sauft, fresst, reißt Witze! Ab ist die Last des Herrschens von unseren Schultern. Jetzt leben wir dem Tag, der Sonne, Regen, Wind.
Lears Gefolge Ist nicht das Alter lustig und faul? Sind wir nicht frei von Sorgen?
Lears Gefolge Leicht ist der Dienst, schwer ist der Wein, … Lear Um mich ist es kalt geworden. Lears Gefolge … lasst uns noch einmal trunken sein und verbietet den Töchtern das Maul! Lear Die Töchter lassen sich vor mir verleugnen. Sind sie krank? Lears Gefolge Leicht ist der Dienst … und verbietet den Töchtern das Maul! Schwer ist der Wein.
Kent Euch!
Lear Was kannst du? Kent Erlaubte Geheimnisse bei mir behalten. Reiten, Laufen, gute Witze schlecht erzählen. Fechten, keine Fische essen. Klares verwirren. Ich bin für alle da. Lears Gefolge Es trifft der Tod den müden Gaul an der Tränke vielleicht schon morgen. Lear Wenn du mir nach dem Essen noch so gut gefällst wie jetzt, sollst du mir dienen. Narr Ich will ihn auch in meine Dienste nehmen. Hier ist meine Kappe.
Erster Teil
Kent Was soll ich damit?
Lear … gehen wir ihnen aus dem Weg.
Narr Du nimmst dich eines Mannes an, der in Ungnade fiel. Wenn du ihm anhängst, musst du seine Kappe tragen. Ich wollte, ich hätte zwei Kapperl und zwei Töchter.
Lears Gefolge … den müden Gaul an der Tränke vielleicht schon morgen.
Lear Wozu?
Lears Gefolge Schwer ist der Wein, leicht ist der Dienst, lasst uns noch einmal trunken sein und verbietet den Töchtern das Maul.
Lear Kommt, Männer!
Narr Wenn ich auch all mein Hab und Gut gäbe, so behielte ich doch die Kappen für mich. Lear Nimm dich in Acht, sonst droht die Peitsche.
(Lear und sein Gefolge mit Narren ab, Kent setzt sich in einen Winkel. Goneril und Regan treten auf. Sie bemerken Kent nicht.)
Narr Die Wahrheit ist ein Hund, sie wird gepeitscht. Indessen liegt der Schoßhund am Kamin und darf stinken.
Goneril So geht es nun. Die hundert Ritter saufen und fressen. Ich weiß mir nicht zu helfen.
Lear (zu Kent) Ich lass’ dich hier.
Regan Ich muss meine Diener gegen dies Gesindel schützen. Zank gibt es, Streit. Was soll ich tun? Kein Bitten hilft, kein Flehen.
Lears Gefolge Schwer ist der Wein. Leicht ist der Dienst.
Goneril Ich bitte ihn, die Hälfte zu entlassen, er aber weigert sich, schimpft mich ein übles Weib.
Lear Wir kehren bald zurück.
Regan Er spielt den Herrscher, will, dass wir gehorchen.
Lears Gefolge Lasst uns noch einmal trunken sein …
Goneril Er kennt seine Grenzen nicht, weiß sich nicht zu betragen.
Lear Goneril und Regan gönnen uns nicht die Heiterkeit, …
Regan Und ist doch nur ein Greis, dem man sagen muss, was Recht, was Unrecht.
Lears Gefolge … und verbietet den Töchtern das Maul. Lear … doch wird es eine Laune sein.
Goneril Sein vergreister Verstand richtet Unheil an. Er muss fort und vorher seine Männer.
Lears Gefolge Ist nicht das Alter lustig und faul und sind wir nicht frei von Sorgen?
Regan Ja, er muss fort!
Lear Kommt, Männer, …
Goneril Welch eine Erbschaft! Mit diesem Vater kann man nicht handeln. Cordelia – vielleicht hat sie es besser gemacht.
Lears Gefolge Es trifft der Tod …
129
Verflucht sei mir ihr Glück. (Sie entdeckt Kent.)
Lear Nun, Töchter, beide so entschlossen?
Was tust du hier? Wer bist du?
Goneril Vater, deine zügellosen Männer suchen ständig Streit.
Kent Ich bin ein neugeworbener Diener eures Vaters. Goneril Um Neugeworben zu entdecken, was wir planen, unsere Gesinnung, was wir zu tun gedenken. Spion! Du sollst gestraft sein für dein Lauschen. An den Stock mit dir. – Wachen! Wachen! (Wachen stürzen herein.) Kent Was tat ich euch? Friedlich hockte ich in meiner Ecke und dachte eher ans Schlafen als ans Horchen. Goneril Wachen, setzt ihn für zwölf Stunden an den Stock. Da mag er sinnen, was Hinterhältigkeit nützen kann.
Regan Unerträglich führen sie sich auf. Mein Gefolge muss ich schützen. Goneril Dies alles hätten wir dir längst gesagt, hätten wir nicht Grund, zu denken, du schütztest dieses Treiben. Regan Jeden Hergelaufenen nimmst du auf, wie diesen! (Sie zeigt auf Kent am Stock.) Narr Grasmücke so lange den Kuckuck speist, bis ihr sein Junges den Kopf abreißt. Da ging das Licht aus und wir saßen im Dunkeln. Lear Seid ihr wirklich meine Töchter?
(Regan springt dazwischen.) Regan He, Wachen! Dies ist mein Palast. Ich befehle! An den Stock mit ihm für vierundzwanzig Stunden. Da mag er hocken, bis mein Vater ihn befreit. Schwester, wir müssen alles selbst entscheiden, denn uns stehen nur Feiglinge zur Seite. Cornwall! Goneril Und Albany! Beide Schwächlinge! Regan Eine Schande für das Land! Beide Wir schwören Seite an Seite uns zu schützen, die eine sei der Schild der anderen. Der Vater, der mit seiner Säuferhorde uns immer noch Gehorsam abverlangt, der uns zur Last fällt, den jagen wir davon. Wir sind die Herrschenden, wir starken Schwestern! (Lear tritt mit seinem Gefolge und Narren auf.)
Goneril Lass das Getue! Lear Wer kennt mich hier? Wer kann mir sagen, wer ich bin? Narr Lears Schatten! Goneril Lass das! Begreif! Du hältst dir einen Hofstaat. – Ein liederliches Volk! Mein Hof verkommt. Die Sauferei und Frechheit muss ein Ende haben. Verring’re um die Hälfte dein Gefolge da ich sonst, was ich erbitte, mit Gewalt erzwinge. Die dir bleiben, sollen sich betragen. Lear Alles hat sich gegen mich verschworen. In jeder Speise kann Gift sein, jeder Schlaf mein letzter. Mache das Tor nicht auf! Dein Mörder tritt ein. Vielleicht du, du oder du! (Albany, Cornwall und Gloster treten auf.) Ach, seid, ihr auch da?
Erster Teil
Ist dies auch euer Wille, dass mein Gefolge um die Hälfte soll verringert sein?
Schließt nicht dein Schlüssel das Tor dem Mörder auf?
Albany Lässt dich das so verzweifeln?
Gloster Die Natur geht in die Irre. Ich verstehe nichts mehr.
Lear Bann’ Unfruchtbarkeit in Gonerils Leib! Dörre ihren Schoß aus! Muss sie gebären, schaffe ihr ein Kind im Zorn! Lasse es leben, damit es sie voll Bosheit peinige, damit sie den Undank ihres Kindes fühlt.
Regan Sind deine Männer … Gloster Ich werde blind.
Goneril (zu Albany) Kümmere dich nicht um ihn. Er ist verrückt!
Regan … nicht deine Feinde? Vater, mir scheinen fünfzig Ritter noch zuviel.
Lear Fluch über dich! Törichte Augen, weint, weint noch einmal mir zum Trotz, als ob sie es verdiente. Mir blieb doch Regan. Mit ihren Nägeln wird sie dein Wolfsgesicht zerfleischen.
Lear Nein, nein, das hast du nicht gesagt. Soll ich bekennen, dass ich alt bin, das Alter unnütz?
Narr Der Winter ist noch nicht vorbei.
Lear Nein, nein! Du willst mir nicht auch noch mein übriges Gefolge nehmen. Dein zärtlich’ Herz lässt das nicht zu. Du schiebst mir nicht den Riegel vor die Tür, Du kennst die Pflichten der Natur, das Band der Kindheit. Du hast noch nicht das halbe Königreich. das ich dir schenkte, vergessen.
Regan Nichts mehr! Führe keine Possen auf!
Lear Regan! Narr Väter, die in Lumpen geh’n … Lear Wie der Krampf mein Herz zum Stocken bringt.
Regan Schluss mit der Heulerei!
Narr … machen ihre Kinder blind, …
(Lear wendet sich an das Gefolge.)
Lear Schmerz! Steig nicht auf, dein Element ist unten.
Lear Was steht ihr da und glotzt? Es geht um mein, um euer Leben! Wart ihr nicht immer eures Königs Wille?
Narr ... die zu gerne Väter seh’n …
(Das Gefolge weicht vor ihm zurück.) Lear Hilf mir!
Auch ihr zu feige?
Narr … die mit Gold beladen sind.
Wer legte meinen Diener an den Stock? Regan Sie und ich! Schwester, deine Hand!
Regan (mit geheuchelter Sanftmut) Mein Vater, du bist alt! Du fühlst dich von allen verfolgt. Bist du nicht dein eigener Feind? Hältst du nicht dem Gift die Schüssel hin?
Lear Regan, nicht die Hand!
131
Goneril Warum nicht meine Hand? Wir Schwestern stehen zusammen.
Regan Dies Haus ist nun zu klein. Nicht alle können unterkommen.
Lear Wie kam mein Diener an den Stock?
Goneril Er mag die Folgen seiner Torheit tragen. Man lasse den, der selbst sich führen will. Schließt die Tore. Es wird eine schlimme Nacht.
Goneril Wir befahlen, …
(Regan, Cornwall, Gonetil, Albany gehen auf den Eingang zu. Lears Gefolge wird von den Wachen zur anderen Seite hinausgedrängt. Gloster macht einen unentschlossenen Schritt auf Lear zu, der stehengeblieben ist.)
Regan … deinen Spitzel … Beide ... zu bestrafen …
Regan Bringt ihn uns nicht zurück!
Lear Ihr beide?!
(Der Narr und Lear lösen Kent vom Stock. Kent und Narr führen Lear fort.)
Goneril Vater, erkenne die Ohnmacht deiner Lage. Entlasse deine Männer, dann sollst du in Ruhe bei uns dem Tod entgegenwarten. Lear (entschlossen) Eher will ich selbst kein Dach, setze mich dem Sturm aus, leide ich Mangel und Not. Lieber knie ich vor Cordelia und bett’le um Gnade. Goneril Ganz wie du willst, mein Herr! Lear Macht mich nicht verrückt. Ich will euch nicht zur Last sein. Scham komme über euch! Ich gab euch alles. Regan Und es war höchste Zeit. Lear (verzweifelt) Geduld! Himmel, ich brauche Geduld! Hier bin ich, ein armer, alter Mann, niedergedrückt vom Leid, vom Alter. Lasst mich vor euch nicht weinen. Lasst Tränen mich nicht entehren. – Ich werde mich an euch noch rächen. Dinge will ich tun – die ganze Welt soll sich davor entsetzen. Cornwall Kommt ins Haus. Es nähert sich ein Sturm. (Lear will auf den Eingang zugehen.)
ZWISCHENSPIEL 3. Szene (Heide, es stürmt) Lear Blast, Winde, sprengt die Backen! Wütet! Blast! Orkane und Wolkenbrüche, speit Fluten aus und überschwemmt die Türme. Donner, schlage die Erdkugel flach. Vernichte die Natur, ersticke den Schöpfungskeim, der undankbare Menschen macht. – Regen, Blitz und Donner, ihr seid nicht meine Töchter. Euch gab ich keine Königreiche, euch nannte ich nicht meine Kinder. Ihr seid mir nicht Gehorsam schuldig. Doch nenne ich euch Helfer meiner Töchter. Im Bund mit ihnen türmt ihr Schrecken auf dieses alte Haupt. (Lear versinkt in Apathie. Narr und Kent treten auf.) Narr Ach, Hofweihwasser im trockenen Haus ist besser, als Regenwasser auf der Gasse. Kent Ich schickte einen Boten an Cordelia – vielleicht wird sie verzeihen. Narr Diese Nacht ist weder Weisen noch Narren gnädig.
Erster Teil
Lear (aus seiner Apathie erwachend) Die so entsetzlich toben über uns, sucht eure Feinde auf. Ich bin ein Mann, an dem man mehr gesündigt, als er sündigte.
Kent (geht zur Hütte) Hier hinein. Lear Lass mich gehen! Dir ist es hart, dass dieser Sturm uns bis auf die Haut durchnässt, Doch wo die große Krankheit sitzt, spürt man die kleine kaum. (Der Narr geht in die Hütte.) O Goneril, o Regan! Auf dem Weg liegt Wahnsinn. Der Mund zerfleischt die Hand, weil sie ihm Brot gibt.
Kent Herr, in der Nähe ist eine Hütte. Dort ruht euch aus. Lear Mein Geist beginnt sich zu verwirren. Kommst du, mein Junge? Frierst du? Mich friert. Wo ist Stroh, mein schützendes Lager? Zeig’ mir die Hütte. Komm, mein Junge. Der Rest meines Herzens bedauert dich.
(Der Narr kommt aus der Hütte gelaufen.) Narr Nicht hier hinein! Hier ist ein Gespenst!
Narr Wenn Richter ohne Furcht und Tadel, wenn ohne Schulden Hof und Adel, wenn Zungen das Lästern nicht mehr lohnt, der Gauner des Nächsten Börse schont, dann wird dem Reiche von Albion gewaltige Verwirrung droh’n.
Kent Gib mir die Hand. Narr Ein Geist! Ein Geist!
(Die Bühne wird langsam dunkel.)
(Edgar erscheint im Eingang.)
ZWISCHENSPIEL
Edgar Durch den scharfen Hagedorn bläst der Wind. Geh’ ins kalte Bett und wärme dich.
4. Szene (Eine Hütte)
Lear Gabst du deinen Töchtern alles? Kamst du deshalb so herunter?
Edgar (läuft auf die Bühne) Habe ich mein Leben retten können, nahm ich ärmlichste Gestalt an, – erniedrigt zum Vieh, das Gesicht geschwärzt, den Körper mit Lumpen umwickelt, das Haar voll Schmutz. So setze ich mich dem Wetter aus. Schreiend treiben sich Wahnsinnige Späne, Nadeln, Dornen in die abgestorbenen Arme … Mondsüchtiger Fluch, – krankes Gebet, – ich bin der arme Tom … als Edgar nichts. Weine, Edgar, doch der Tränen und des Regens Wasser sollen dein wahres Gesicht nicht durchscheinen lassen.
Edgar Wer gibt dem armen Tom was? Böse Feinde durch Feuer und Flammen, durch Fluten, Strudel, Sumpf und Flur. – Ich jagte meinem eigenen Schatten wie einem Verräter nach. – Gott schütze dich vor schlimmen Sternen. – Tom friert. Do di do – do di do – Gebt dem armen Tom was.
(Lear, Kent und Narr treten auf. Edgar flieht in die Hütte.)
Lear Brachten deine Töchter dich so weit? Gabst du alles fort? Jede Plage über deine Töchter!
Kent Hier ist der Platz.
Kent Er hat keine Töchter.
Lear Lass mich allein!
Lear Still, Verräter!
133
Nichts erniedrigt die Natur so tief als undankbare Töchter.
(Lear will sich die Kleider vom Leib reißen.) Lear Weg, weg, du erborgter Plunder!
Edgar Hüte dich vor dem bösen Feind. Gehorche deinen Eltern. – Halte deine Versprechen. – Fluche nicht! – Tom friert.
Narr Ich bitte euch, bleibt ruhig. Die Nacht taugt nicht zum Schwimmen. Ein kleines Feuer auf der Heide wäre jetzt gerade wie eines Buhlers Herz: Ein kleiner Funken im kalten Leib.
Lear Was bist du gewesen?
(Man sieht in der Ferne Fackelschein.) Edgar Einer, der Schwüre tat und sie vor den Augen des Himmels verriet.
Glosters Gefolge (hinter der Szene) Sankt Veit schritt dreimal über die Flur, …
Lear Ist der Mensch nicht mehr als das? Seht genau hin!
Narr Seht, ein wandelndes Feuer! Glosters Gefolge … wo die Nachtmahr mit ihren Nonnen fuhr.
Edgar Einer, der mit unzüchtigen Gedanken einschlief und sie am Morgen ausführte. Ein Schwein in Faulheit, ein Fuchs im Stehlen, ein Wolf in Gier, ein Hund in Tollheit! Do di do – do di do – do – do di do
Lear Was ist das? Glosters Gefolge Er zwang sie herab, bis ihr Wort sie ihm gab.
Lear Du bist dem Wurm keine Seide schuldig, der Bestie kein Fell. Du bist das Geschöpf an sich. Der nackte Mensch ist nichts weiter, als ein armseliges, gespaltenes Tier.
Lear Wer ist der? Glosters Gefolge Weg, Alp, rief er, hinweg! (Gloster und sein Gefolge treten mit Fackeln auf.)
Kent Es trafen sich zwei Wahnsinnige, denen die Wirklichkeit keinen Schlaf gönnt, – nackte Geschöpfe, den Stürmen ausgeliefert, Auge und Ohr verschlossen voreinander.
Edgar (wie wahnwitzig) Doch Ratten und Mäuse und solche Waren sind Toms Speise seit vielen Jahren.
Edgar Tom friert.
Gloster Wen habt ihr da bei euch? So entartet unser Fleisch und Blut, dass es hasst, was es gezeugt.
Kent Wir müssen viel erdulden, bevor Gezeitenwechsel uns Gewähr gibt, dass wir sind.
Edgar Tom friert.
Narr Wer ein Haus hat, in das er seinen Kopf stecken kann, der hat ein gutes Heim. Wer nur ein wenig Verstand behält, macht der aus Regen und Wind sich was? Der nimmt fürlieb, wie’s kommt, wie’s fällt, – Wind macht trocken, Regen nass.
Gloster (zu Lear) Kommt mit mir. Ich konnte mich nicht dem Befehl eurer Töchter fügen. Folgt mir, wo Essen, Feuer und Schlaf ihr findet. Kent Mein König, nehmt das Anerbieten an.
Erster Teil
Lear (zu Edgar) Komm mit mir, Freund.
Glosters Gefolge Er ging zu Quellen, Wald und Höh’n und jammernd klagt er ihnen, bis selbst die Quellen, Wald und Höh’n mit ihm zu seufzen schienen.
Edgar Tom friert. Lear Kommt, gehen wir zu ihm hinein. Ich will für immer bei ihm bleiben.
(Lear, Kent, Edgar, Gloster und sein Gefolge treten ab. Der Narr ist stehen geblieben und blickt fragend in die eine oder andere Richtung. Dann geht er in entgegengesetzter Richtung als die übrigen ab.)
Gloster Nehmt den Menschen mit.
ENDE DES ERSTEN TEILS
Lear Komm, Tom. Wir bringen meine Töchter vor Gericht. Vor’s Gericht, Frau Herzogin. Komm über den Bach, mein Kind, zu mir. Narr Ihr Boot ist leck, doch sagt sie nicht, warum sie nicht kommt herüber zu dir. Lear Sie sollen Regan den Leib aufschneiden, sehen, was um ihr Herz herum wächst. Es muss für harte Herzen Gründe geben, die in der Natur verborgen liegen. Kent Kommt, tragt den König hinweg. Gloster Sein Leben ist noch nicht verloren. Ich will ihn in die Sicherheit geleiten, will ihn mit meinen Armen schützen, wie es die Schwachheit meines Alters vermag. Edgar Trägt solch ein König meinen Schmerz, so rührt das eigene Leiden kaum mich an. Wer einsam duldet, fühlt die tiefste Qual. Narr Wer nur ein wenig Verstand behält, macht der aus Regen und Wind sich was? Der nimmt fürlieb, wie’s kommt, wie’s fällt, – Wind macht trocken, Regen nass. Gloster Bringt ihn nach Dover, wo er sicher ist. Lear Du – Goneril! – Nein! Ruhe – Schlafen …
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ZWEITER TEIL
Cornwall Hast du Nachricht aus Frankreich bekommen?
1. Szene (Die Szene ist in verschiedene Orte unterteilt, so dass ein rascher Wechsel möglich ist.) (In Gloster’s Schloss) Cornwall Edmund, wir fingen deinen Vater ein. Bei ihm befand sich ein Brief mit Nachricht, dass die Armee von Frankreich in Dover landet.
Gloster Ich habe einen Brief voll von Gerüchten von einem, der auf keiner Seite steht. Cornwall Wie schlau! Regan Wie falsch!
Edmund Mylord, man wird mir vorwerfen, dass ich ihn nicht verteidige …
Cornwall Wohin brachtest du den König?
Regan Hängt den Verräter Gloster auf der Stelle!
Gloster Den König brachte ich nach Dover, weil ich nicht sehen wollte, wie deine Nägel, Regan, seine alten Augen auskratzen, – wie deine Schwester ihre Krallen in seinen königlichen Leib schlägt. Doch werde ich noch sehen, wie Rache solche Töchter trifft.
Edmund … und so des Sohnes Pflicht verletze. Goneril Reißt ihm die Augen aus! Edmund Mein Unglück ist gerecht zu sein.
Cornwall Sehen sollst du das nie! Haltet ihn fest! (Er stürzt sich auf Gloster und drückt ihm ein Auge aus. Gloster schreit auf.)
Cornwall Überlasst ihn mir. Edmund, die Rache, die wir an deinem verräterischen Vater vornehmen werden, verbietet deine Gegenwart. Geh’ und mahne Albany, sein Heer zu rüsten. (Goneril und Edmund ab) Bringt Gloster! Wir können ihm nicht ans Leben, doch unserer Gewalt entgeht er nicht. Bald wird Edmund Graf von Gloster, – und da er uns die Macht verdankt, muss er uns willig dienen.
Regan Das andere auch! (Ein Bedienter springt dazwischen.) Bedienter Halt, Herzog! (Cornwall wendet sich abrupt zu dem Bedienten um und zieht den Degen.)
(Gloster wird gebracht.) Regan Hat man dich endlich aufgetrieben, du alter, lästiger Verräter?
Cornwall Du Hund, misch dich nicht ein! (Sie fechten. Cornwall fällt schwerverwundet nieder. Regan zieht den Dolch.)
Gloster Ich habe euch nicht verraten!
Regan Lehnst du dich auf! (Sie fällt den Bedienten hinterrücks an und ersticht ihn.)
Cornwall Bindet ihn fest! Regan Bist du noch nicht grau genug, dass du mit solchem Übermut deine Herren betrogst?
Zweiter Teil
Bedienter Herr, noch bleibt Euch ein Auge, um diese hier gestraft zu sehen. (Er stirbt.) Regan Da weiß ich Rat: Heraus damit! (Sie kniet sich über Gloster und drückt ihm das andere Auge aus. Gloster schreit wieder auf.) Gloster Edmund! (Regan lacht auf.) Edmund! (Regan lacht wieder.) Wo bist du? Regan (unter Lachen) Du rufst den Falschen an. Gloster Hilf mir! Regan (lacht mehr) Er ist auf unserer Seite. (Sie lacht noch mehr.) Gloster Nein! (Sie lacht jetzt grell, hysterisch.) Alles Nacht und trostlos. (Ihr Lachen wird leiser, hysterisches Schütteln überfällt sie.) Edgar! (Sie erstarrt und verstummt.) Edgar! Ich tat dir Unrecht. Mein Gott! Regan Werft ihn hinaus! (Sie packen Gloster.) Gloster Mein Gott! Vergib mir und beschütze ihn! (Er wird hinausgeschleppt.) Regan Soll er den Weg nach Dover riechen! Cornwall Es fließt viel Blut. (Er stirbt.) (Die Bühne wird allmählich dunkel.)
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ZWISCHENSPIEL 2. Szene (In Albanys Palast)
3. Szene (Im französischen Lager bei Dover)
Goneril Es fließt viel Blut, und mein Gemahl wird schwach. Er fürchtet die Macht. Du, Edmund, gehe zum Schwager, rüste die Heere zur Schlacht. Cordelia Man fand den Vater rasend wie das empörte Meer. Ich schickte Leute aus, dass sie ihn suchen und vor mein Auge bringen. Ich werde bleiben und die Waffen tauschen. Edmund Ich bin der Eure in der Gefahr der Schlacht. All ihr glücklichen Geheimnisse, … Goneril Mein tapferer Edmund, Graf von Gloster! ... ihr unbekannten Heilkräfte der Erde, ... Ich schicke Nachricht über alles, was hier vorgeht. … sprießt unter meinen Tränen hervor, heilt diesen alten Mann. Bald führst du die Befehle einer Liebenden aus. Wie ahnte ich sein Unglück, als ich den Zornigen verließ. Schon lange widert mich Albanys Schwäche an. Nun hat der Wahnsinn ihn ergriffen. Schierling, Nesseln, wilde Blumen in den Haaren … Du sollst statt seiner mit mir herrschen. (Sie gibt ihm ein Andenken.) Vater, Vater, ich warte hier auf dich.
Zweiter Teil
2. Szene
3. Szene
Trag’ dies und rede nicht. Bald bin ich frei. Ich will an deinem Lager sitzen und über deine Tränen wachen!
(Edmund umarmt Goneril und küsst sie.) Dieser Kuss zog dich zu mir! Erfülle, was ich erbitte, wenn dich der Befehl erreicht! Mein Freund! Geliebter! Edmund Ich steig’ so schnell empor, mir schwindelt! Goneril Nein, taumele nicht! Wir kämpfen Seit’ an Seite! (Edmund ab) Wie tapfer ist der eine, wie feig’ der andere Mann. (Goneril ins Dunkel ab)
4. Szene (Freies Feld) (Gloster und Edgar von entgegengesetzter Seite aufeinander zu, bleiben aber beide für sich.) Edgar (mit Blick auf Gloster) Welt, Welt, o Welt! Wer kann sagen: Ich bin der Elendeste? Jetzt bin ich noch elender, als ich jemals war. Und doch kann ich noch elender werden. Das größte Elend ist noch nicht da, solange man sagen kann: Dies ist das größte. (Edgar geht auf Gloster zu.) Guter Freund, wo geht ihr hin?
139
2. Szene
4. Szene Edgar Ja, Mylord. Gloster Dann nimm dein bisschen Verstand zusammen und führe mich nach Dover. Gloster Die Zeiten sind so grausam, dass Wahnwitzige Blinde führen. Kennst du den Weg? Edgar Hecken und Zäune, Fahrweg und Fußsteg. Ja, Herr! Gloster An ihm liegt eine Klippe, deren Gipfel über einer furchtbaren Tiefe hängt. Bring’ mich hinauf. Von dort werde ich keinen Führer brauchen. Edgar Der arme Tom wird dich führen.
(Gleichzeitig Albany und Goneril ins Licht)
(Langsames Dunkel, beide ab)
Albany O Goneril, wie fürchte ich die Folgen unseres Handelns, – und du gehst weiter noch. Ich sah deinen Blick auf Edmund. Hüte dich! Denn ein Geschöpf, das seine Herkunft verachtet, kann sich nicht erhalten in den Grenzen der Natur. Goneril Schweig still und schwätze nicht! Du Feigling, dessen Kopf für Schläge und Beschimpfungen gemacht ist! Wo ist dein Mut, um Frankreich, unseren Feind zu schlagen? Dein Mörder naht, und du sitzt still und fragst: Warum tut er das? Gloster Ich habe keinen Weg, weil mir die Augen fehlen. Bist du der Tolle aus dem Moor?
Zweiter Teil
2. Szene Albany Sieh dich an, Teufel: Nichts ist so grauenvoll wie die Entartung einer Frau! Du bist Regans Ebenbild, doch die trägt schon an ihrem Los. Dass du es weißt: Cornwall ist tot, – von einem Knecht erschlagen, als er Glosters Auge ausriss! Goneril Nein! Albany Regan nahm dem alten Mann das zweite. So ist Cornwalls Tod Beweis, wie bald die Richter droben strafen. Goneril Und wieder siehst du unseren Vorteil nicht! Regan ist Witwe. Kommt das nicht gelegen? Nun ist sie schwach und ich die Herrscherin. Gloster tappt erblindet durch die Welt. – Wie mich die Nachricht doch beflügelt. Schon seh’ ich mich dem Ziele nah: Sobald der Augenblick gekommen, lösch ich ihr Leben aus durch Gift. Dann herrsche ich in England und er mit mir! Es schaudert dich, Albany? Spreche ich in Rätseln? Jetzt zeige dich als Mann und handle! (Goneril lacht auf, geht auf den Ausgang zu, dreht sich zu Albany um, lacht höhnisch und geht ab.) Albany Noch lebe ich, Gloster! Ich danke dir für die Liebe, die du dem König erwiesen. – Ja, Goneril, mich schaudert! (Dunkel)
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ZWISCHENSPIEL 5. Szene (Freies Feld) (Sehr langsam hell) Gloster Wann kommen wir zum Gipfel dieser Höhe? Edgar Jetzt steigen wir hinauf. Gloster Mir scheint der Boden eben. Edgar Furchtbar steil! Hörst du die See? Gloster Nein. Ich höre nichts. Edgar So macht der Schmerz in deinen Augenhöhlen auch die anderen Sinne stumpf. Gloster Das mag wohl sein. – Mir scheint, du redest klarer als vorhin. Edgar Folgt mir, Herr. – Hier ist der Ort. Steht still! Schrecklich, so tief hinabzuschauen! Die Krähen und Wasserraben in der Luft scheinen kaum so groß wie Käfer. Die Meereswoge, die an die Felsen schlägt, hört man hier oben nicht. Ich will nicht mehr hinabsehen, mir schwindelt. Gloster Stelle mich dahin, wo du stehst. Edgar Gib mir deine Hand. Vom Abgrund trennt dich nur noch ein Schritt. Gloster Lass meine Hand los. Geh! sag’ Lebewohl! Und lass mich hören, dass du gehst. Edgar (indem er tut, als ginge er) Leb’ wohl. Gloster Mein Gott! So entsage ich der Welt und schütt’le meine Leiden ab. Wenn Edgar lebt, so schütze ihn! (Er springt und fällt der Länge nach hin.)
Edgar Herr, hört ihr mich? Redet! Gloster Hinweg, lass mich sterben. Edgar Ein Wunder, dass du lebst! Nach solchem Sprung wäre jeder andere tot. Du aber blutest nicht, du redest, bist gesund. Gloster Bin ich denn gefallen oder nicht? Edgar Von dem Gipfel dieses Felsens. Sieh hinauf! Gloster Ich habe keine Augen. Edgar Steh auf. Gib mir deinen Arm. Fühlst du deine Beine noch? Gloster Nur zu gut, zu gut. Edgar Das geht über alles Wunderbare hinaus. Was war denn das für ein Geschöpf, das auf der Felsenspitze euch verließ? Gloster Ein armer, unglücklicher Bettler. Edgar Mir schien er wie ein böser Geist. Zweifle nicht, dass dich die Götter retteten. Gloster Von jetzt an trage ich mein Elend, bis es selbst aufschreit: Genug! – Dann will ich sterben. (Lear tritt auf.) Lear Nein, nein, nein, nein! Sie können mir nichts tun! Ich bin der König selbst der König ich bin der König ich selbst der König bin ich der König selbst ich der König der König bin Seht, seht, eine Maus. Still, still! Das Stückchen von geröstetem Käse wird gut sein. Hier ist mein eiserner Handschuh, ich führe ihn gegen einen Riesen. Hui, wie heißt wie heißt das das Wort das Wort wie heißt das Wort heißt das wie heißt das Wort Wort heißt das?
Zweiter Teil
Gloster Ich kenne diese Stimme.
Ritter Wir kamen, euch zu retten. Nichts soll euch fehlen.
Lear Ha, Regan! Goneril! Als einst der Regen mich nässte, der Wind mich Schaudern macht’, der Donner auf mein Geheiß nicht schweigen nicht schweigen schweigen schweigen wollte nicht, da spürte da spürte da ich ich euch da spürte ich euch ich euch ich euch euch euch euch euch
Lear Keiner steht mir bei. Ich bin ganz allein. – Ich bin ein König, wisst ihr das? Ritter Ihr seid ein König. Wir gehorchen euch.
Gloster Ist das nicht der König?
Lear Heißt das noch Hoffnung auf Leben? (Lear, Ritter und die beiden Soldaten ab.)
Lear Ja, jeder Zoll ein König! Seht, wie das bebt, was mir unterworfen ist.
Gloster Der König ist wahnsinnig. Wie starr ist mein verhasstes Gefühl, dass ich noch bei mir selber bin. Besser, ich wäre verrückt, dann trennte der Gram die Gedanken.
Gloster (geht langsam auf Lear zu) Lass mich deine Hand küssen. Lear Lass sie mich erst abwischen. Sie trägt einen Leichengeruch.
Edgar Gib mir deine Hand.
Gloster Kennst du mich?
Gloster Nicht weiter, mein Junge! Man kann auch hier verfaulen.
Lear Ich erinnere mich deiner Augen sehr wohl.
Edgar Komm!
Gloster Sie wurden herausgerissen.
(Dunkel)
Lear Schaff’ dir gläserne an, und stell’ dich, als sähst du Dinge, die du gar nicht siehst. Nun, nun, nun, zieht mir die Stiefel aus. Willst du mein Unglück beweinen, so nimm meine Augen. Ich kenne dich gut. Dein Name ist Gloster. Habe Geduld. Wir kamen weinend auf die Welt, weil wir auf diese Narrenbühne mussten.
ZWISCHENSPIEL 6. Szene (Im Lager der Franzosen) Cordelia Mein lieber Vater! Genesung schenke dieser Kuss und stille deinen wilden Gram. Wärest du nicht der Vater meiner Schwestern, dies weiße Haar verlangte Mitleid. Sie gaben dein Gesicht dem Sturm, dem Regen und den Blitzen preis. Ein Wunder, dass Verstand und Leben nicht zugleich zugrunde gingen. (Lear erwacht.) Vater, du bist bei mir geborgen und in Sicherheit.
(France, ein Ritter und zwei Soldaten treten auf.) France Hier ist er. Führt ihn zu Cordelia. (France ab) Lear Ich wieder ein Gefangener? Ein wahrer Herr des Glücks! Behandelt mich gut, ich zahle Lösegeld. 143
Lear Es ist nicht recht, mich wieder aus dem Grab zu nehmen. Du bist ein seliger Geist, – mich aber band man an ein Feuerrad. Cordelia Erkennst du mich? Lear Du bist ein Geist, ich weiß es. Wann bist du gestorben? Cordelia Du bist noch immer weit, weit fort von dir. Lear Wo bin ich? Heller Tag? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sind dies meine Hände? Ich möchte wissen, was ich bin. Cordelia Seht mich an, mein Vater. Streckt eure Hände aus und segnet mich.
7. Szene (Lager bei Dover) Edmund Der König und Cordelia gefangen. Goneril und Regan versprach ich meine Liebe. Beide hassen sich und kämpfen um die Macht. Die Heere Frankreichs sind besiegt. Englands Thron ist nicht mehr fern. (Cordelia und Lear werden als Gefangene hereingeführt.) Vater und Tochter in der Niederlage vereint? Cordelia Wir sind die ersten nicht, die sich in bester Absicht das Schlimmste zugezogen haben. Edmund Die er verfluchte ist ihm nun Stütze auf dem Weg in den Kerker? Cordelia Nur deinetwegen, Vater, bin ich verzweifelt.
Lear Spotte meiner nicht! Alt bin ich und nicht mehr bei Verstand. Lache mich nicht aus. Ich glaube, du bist mein Kind, Cordelia!
Edmund Sperrt sie ein, bis über sie gerichtet wird!
Cordelia Ja, Vater, das bin ich.
Lear Nein, nein, nein! Komm! Besser ins Gefängnis. Der Vogel in den Käfig.
Lear Sind deine Tränen nass? Ja, wirklich. Ich bitte, weine nicht. Bin ich in Frankreich? Cordelia Nein, in deinem Königreich. Lear Habe Geduld mit mir. Bitte, vergib, – vergiss! Ich bin zu alt und kindisch. Cordelia Jetzt sollst du Ruhe finden, dem Lande Frieden schenken. Mein Arm wird dich umfassen und dich schützen. Lear Jetzt will ich Ruhe finden, dem Lande Frieden schenken. Dein Arm wird mich umfassen und mich schützen. (Dunkel)
Cordelia Müssen wir vor diese Töchter, diese Schwestern?
Cordelia Wir wollen beten und singen, … Lear … uns Märchen erzählen, … Cordelia … im festgefügten Kerker den Sturm des Elends überleben. Lear Wer uns trennen will, muss einen Brand vom Himmel schleudern. Bittest du um meinen Segen, dann knie ich vor dir nieder, erbitte dein Verzeihen. Niemand soll dich mehr weinen machen. Edmund Führt sie hinweg! (Lear und Cordelia werden abgeführt.) Hauptmann, du weißt, was du zu tun hast. Befolge den Befehl, sonst suche anderswo dein Glück.
Zweiter Teil
Beeile dich und lass mich wissen, wenn es getan ist. (Hauptmann ab) Nun bin ich nah am Ziel. Albany kommt zu spät, denkt er an Gnade für Cordelia und den König. Ich, ein Bastard, werde dies Reich regieren. Das Vorurteil hat euer Blut geschwächt, mich aber macht die Mischung stark.
(Regan bricht zusammen. Edgar tritt bewaffnet auf. Alle sehen ihn überrascht an.) Edgar Edmund, Graf von Gloster, ich fordere dich zum Zweikampf auf.
(Albany, Goneril und Regan treten auf.)
Edmund Was forderst du mich auf? Was hast du mir zu sagen?
Albany Du hast die Schlacht gewonnen, wofür wir danken. Gefangen nahmst du, die sich unserem Willen widersetzten. Wir fordern sie von dir, um so mit ihnen zu verfahren, wie ihr Stand und unsere Sicherheit es fordern.
Edgar Ich handle, wie es die Ehre von mir verlangt. Dein neues Glück, dein Sieg können nicht verbergen, dass du ein Verräter bist. Leugnest du, so bin ich mit dem Schwert bereit, dir zu beweisen, dass du lügst.
Edmund Ich fand es ratsam, den Alten und die Tochter in sichere Verwahrung zu bringen. Birgt nicht Gefahr sein Alter und ihr Wesen in sich, das Herz des Volkes zu gewinnen? Die beiden zu verhören, erfordert einen kluggewählten Ort.
Regan Ein schleichendes Gift bemächtigt sich meiner. Goneril Das Gift des Neides. Edmund Ich sollte dich nach Stand und Namen fragen, doch schlag’ ich die Bedenken aus. Ich schleudere aber jeden Vorwurf des Verrates auf dein Haupt zurück!
Albany Du bist mein Untertan, nicht Bruder! Regan Er übernahm die Führung meines Heeres und ist dir darum ebenbürtig.
(Sie fechten, Edmund fällt. Regan kriecht zu Edmund hin.) Regan Stirb nicht! Steh auf und kämpfe!
Goneril Nicht so hitzig! Sein eigener Verdienst hat ihn geadelt.
Goneril Nach Recht des Zweikampfs bist du dem unbekannten Gegner nicht verpflichtet!
Regan Edmund, beweise ihnen, dass meine Rechte deine sind!
Regan Mein Recht ... mein Anspruch ... Du ... (Regan stirbt.)
Albany Werde nicht zum Hochverräter!
Goneril Du bist nicht überwunden, Edmund, nur betrogen und getäuscht.
Regan Gib nicht nach, Edmund, rufe das Heer! Edmund Wer mich Verräter nennt, der lügt!
Albany Schweig, du, die schlimmer ist als jede hier! Mich überrascht nicht dein Verrat. Du dauerst mich in deiner Bosheit. Dein Glück kann nicht das meine sein.
Regan Oh! – Ich bin krank! ... Krank! Oh! Helft mir! ... Mir ist so elend!
Goneril Das Gericht ist nicht in deiner Hand. Wer außer mir kann mich zur Rede stellen?
Goneril (beiseite) Wenn nicht, so trau’ ich keinem Gift.
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Albany Weißt du nicht mehr, was du getan hast?
Sanft war ihre Stimme, zärtlich und leise. Ich kann euch nicht mehr seh’n und will es nicht! Zurück in Schlaf und Nacht … (Er bricht zusammen.)
Goneril Frag mich nicht, was ich weiß! Regan, du starbst durch mein Gift. (Goneril hockt sich neben Regans Leiche.)
Edgar Brich, Herz, ich bitte dich, brich! Lass ihn sterben, halte ihn nicht länger hin.
Edmund Wessen ihr mich anklagt, das tat ich und viel mehr. Euer Tod, Herzog von Albany, war schon geplant. Des Mordens und des Schlachtens sollte kein Ende sein. Goneril Mir scheint, wir haben ausgespielt. Edmund Wer bist du? Edgar Ich bin nicht weniger als du, Edmund. Wenn mehr, dann ist dein Unrecht größer. Ich bin Edgar, deines Vaters Sohn.
Albany Uns bleiben Trauer … Klagen … Lear (sich etwas aufrichtend) Nein, nein! Kein Leben mehr! Du kehrst nie zurück. Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals. Seht ihr dies? Seht sie an! Seht, ihre Lippen … Seht hier – seht … (Lear versagt die Stimme. Er stirbt.) (Langsamer Vorhang) ENDE
Edmund Das Rad ist abgelaufen. Albany Wo ist der König, wo Cordelia? Edmund Ich gab Befehl, Cordelia zu erwürgen, wie es dein Weib mir aufgetragen. (Edmund stirbt.) Goneril Er starb, so sterbe auch ich. – Mir helfen keine Götter mehr. Leib und Seele habe ich selbst zu richten. Komm, Tod und nimm mich, die dir so reiche Ernte brachte … (Sie ersticht sich.) (Lear kommt mit der toten Cordelia im Arm. Er legt sie auf die Erde.) Lear Weint! Weint! Weint! Weint! Ihr seid Menschen aus Stein. Sie ist auf ewig dahin! Ich weiß, ob einer tot, ob einer lebt. Sie ist auf ewig dahin, – ist tot. Verderben über euch alle! Verräter! Mörder! Ich hätte sie noch retten können. Cordelia, Cordelia, bleibe noch bei mir!
Zweiter Teil
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Wilfried Hösl Fotos der Klavierhauptprobe am 11. Mai 2021
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Christian Gerhaher (König Lear)
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Graham Valentine (Narr), Matthias Klink (Edmund), Andrew Watts (Edgar), Georg Nigl (Graf von Gloster), Dean Power (Bedienter), Marc Bodnar (Ritter), Edwin Crossley-Mercer (König von Frankreich), Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Jamez McCorkle (Herzog von Cornwall), Ausrine Stundyte (Regan), Ivan Ludlow (Herzog von Albany), Angela Denoke (Goneril), Statisterie der Bayerischen Staatsoper
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Christian Gerhaher (König Lear)
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Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Edwin Crossley-Mercer (König von Frankreich), Ausrine Stundyte (Regan), Jamez McCorkle (Herzog von Cornwall), Ivan Ludlow (Herzog von Albany), Angela Denoke (Goneril)
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Christian Gerhaher (König Lear), Edwin Crossley-Mercer (König von Frankreich), Georg Nigl (Graf von Gloster), Angela Denoke (Goneril), Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Ausrine Stundyte (Regan), Ivan Ludlow (Herzog von Albany), Andrew Watts (Edgar), Jamez McCorkle (Herzog von Cornwall)
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Graham Valentine (Narr)
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Graham Valentine (Narr), Brenden Gunnell (Graf von Kent), Angela Denoke (Goneril)
Ausrine Stundyte (Regan), Angela Denoke (Goneril)
Christian Gerhaher (König Lear)
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Georg Nigl (Graf von Gloster), Brenden Gunnell (Graf von Kent), Andrew Watts (Edgar), Christian Gerhaher (König Lear), Marc Bodnar (Ritter)
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Graham Valentine (Narr), Georg Nigl (Graf von Gloster)
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Marc Bodnar (Ritter), Angela Denoke (Goneril), Ivan Ludlow (Herzog von Albany)
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Matthias Klink (Edmund)
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Andrew Watts (Edgar), Christian Gerhaher (König Lear)
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Ausrine Stundyte (Regan), Angela Denoke (Goneril), Graham Valentine (Narr)
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Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Christian Gerhaher (König Lear)
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Christian Gerhaher (König Lear)
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Bayerische Staatsoper
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Textnachweise
Bildnachweise
Die Texte von Dr. Katrin Dillkofer (S. 8), Prof. Dr. Sabine Schülting (S. 48), Prof. Dr. Jürgen Schläder (S. 64), Malte Ubenauf (S. 80), Prof. Dr. Thomas Macho (S. 92) und Benedikt Stampfli (S. 106) sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch.
Umschlag © Yudy Sauw S. 9 – 16 © Yudy Sauw S. 30 © Aurélien Brusini/hemis.fr/ddp S. 32 – 33 © Randy Duchaine/Alamy Stock Foto S. 44 © United Archives GmbH/Alamy Stock Foto S. 60 © PA Images/Alamy Stock Foto S. 61 – 62 © Keystone Press/Alamy Stock Foto S. 77 © Heiti Paves/Alamy Stock Foto S. 78 – 79 © Doris Spiekermann-Klaas/Der Tagesspiegel S. 87 © SPUTNIK/Alamy Stock Foto S. 88 – 89 © PA Images/Alamy Stock Foto S. 102 Images & Stories/Alamy Stock Foto S. 103 – 104 © publiziert in Bulletin of the Hill Museum. A magazine of lepidopterology, 1921 S. 188 – 119 © agefotostock/Alamy Stock Foto S. 121 © PA Images/Alamy Stock Foto
„‚Aber dreht er wirklich komplett durch?‘ Ein Gespräch mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock“ (S. 34) hat Sören Sarbeck transkribiert. „Zitat von Aribert Reimann“ (S. 6) ist aus dem Programmbuch der Uraufführung von Lear (Bayerische Staatsoper, 1978, S. 59) entnommen. Die Handlung (S. 18): Sören Sarbeck Übersetzung ins Englische (S. 22): James McCallum Übersetzung ins Französische (S. 26): Laurence Orgeret
S. 148 – 164 Fotos der Klavierhauptprobe am 11. Mai 2021 © Wilfried Hösl Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.
Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion.
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Impressum Bayerische Staatsoper Staatsintendant Nikolaus Bachler Spielzeit 2020 / 21 Programmbuch zur Premiere Lear von Aribert Reimann am 23. Mai 2021 im Nationaltheater München Redaktion Benedikt Stampfli Bildredaktion Dr. Katrin Dillkofer Mitarbeit Sören Sarbeck Gestaltung Bureau Borsche, Mirko Borsche, Robert Gutmann, Stefan Mader, Julian Wallis Satz und Druck Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Aufführungsrechte © Mit freundlicher Genehmigung von Schott Music, Mainz
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