BAYERISCHE STAATSOPER Carl Maria von Weber
Der Freischütz Romantische Oper in drei Aufzügen – 1821 Text von Friedrich Kind In deutscher Sprache Mit Untertiteln in deutscher und englischer Sprache
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ONLINE-PREMIERE Samstag, 13. Februar 2021 Nationaltheater
Musikalische Leitung Antonello Manacorda Inszenierung und Bühne Dmitri Tcherniakov Kostüme Elena Zaytseva Licht Gleb Filshtinsky Video-Produktion Show Consulting Studio Mitarbeit Dramaturgie Tatjana Wereschtschagina Dramaturgie Lukas Leipfinger Chor Stellario Fagone
2020
2021
BESETZUNG
Ottokar Boris Prýgl Kuno Bálint Szabó Agathe Golda Schultz Ännchen Anna Prohaska Kaspar / Samiel Kyle Ketelsen Max Pavel Černoch Ein Eremit Tareq Nazmi Kilian Milan Siljanov Vier Brautjungfern Sarah Gilford, Eliza Boom, Daria Proszek, Yajie Zhang
Beginn: 19.00 Uhr Ende: ca. 21.20 Uhr keine Pause Anfertigung der Bühnenausstattung und der ostüme in den eigenen Werkstätten. K
S TAATSOPER.TV: Die Vorstellung wird live auf www.staatsoper.tv und BR-KLASSIK Concert übertragen.
Solo-Viola Adrian Mustea Solo-Violoncello Emanuel Graf
ostenloses Video-on-Demand K ab 15. Februar, 19.00 Uhr
Bayerisches Staatsorchester Chor der Bayerischen Staatsoper Statisterie der Bayerischen Staatsoper
ie Vorstellung wird live D auf BR-KLASSIK übertragen.
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Online-Matinee Nikolaus Bachler spricht mit Regisseur Dmitri Tcherniakov, Dirigent Antonello Manacorda und Dramaturg Lukas Leipfinger über die Neuproduktion.
Video-Magazin Die Protagonisten der Produktion geben Einblicke in die Inszenierung und Erarbeitung des Werks.
MAX JOSEPH 2020-2021 No 2 Der Freischütz erzählt vom Kampf um Aufnahme in die Gesellschaft. Wie schwer dieser sein kann, weiß die Sopranistin Golda Schultz. Von Lisa Frieda Cossham
„ZORNIGEN MENSCHEN HÖRT NIEMAND ZU. ZORNIGEN SCHWARZEN FRAUEN ERST RECHT NICHT“ Weil Schweigen keine Alternative ist: Der Freischütz erzählt unter anderem vom Kampf um weiterlesen Aufnahme in die Gesellschaft. Die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz kann davon ein Lied singen. Eine Begegnung.
Text Lisa Frieda Cossham Fotografien Constantin Mirbach Premiere Der Freischütz 60
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Dmitri Tcherniakov, Regisseur des Freischütz, will die Oper zu neuem Leben erwecken – dafür muss er sie zuvor töten. Von Marina Davydova
WASSERDES DESTODES, TODES, WASSER WASSERDES DESLEBENS LEBENS WASSER
Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov arbeitet nach einem Grundsatz: Wer die klassische Oper zu neuem Leben erwecken will, muss sie zuvor töten.
In den ersten Wochen des neuen 21. Jahrhunderts hatte auf der Bühne des Mariinski-Theaters in Sankt Petersburg Dmitri Tcherniakovs Inszenierung der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch Premiere, rund hundert Jahre nach der Uraufführung dort. Tcherniakovs Interpretation, die mit sämtlichen Konventionen der russischen Opernbühne brach, kam scheinbar aus dem Nichts, wie ein Komet am dunklen Morgenhimmel. Die zwei Lager aus gleichermaßen leidenschaftlichen Fans und Gegnern des Regisseurs, die sich quasi sofort nach der ersten Vorstellung bildeten, staunten unisono: Wer war dieser junge Mann, den keiner kannte und der es da wagte, sich am Allerheiligsten der russischen Kultur, am klassischen Opernrepertoire zu vergreifen? Wenige Jahre später sollte Tcherniakov in seine Inszenierung des Eugen Onegin am Moskauer Bolschoi-Theater (2006) ein sarkastisches Porträt dieser Traditionalisten einbauen: In der Duellszene ließ er Lenski in derselben Pelzmütze auftreten, die 1940 schon Sergej Lemeschew, den legendären Interpreten dieser Partie, geziert hatte, und während Lenskis letzter Arie saß neben ihm plötzlich eine alte Dame auf einem Stuhl, die stumme Gesten der Begeisterung vollführte – ein Seitenhieb auf den Typus so rührender wie komischer Liebhaberinnen klassischer Inszenierungen. Es bedurfte nicht nur eines großen Talents, sondern auch einiger Besessenheit, um aus dem weihevollen, von konservativen Zuschauern, einflussreichen Primadonnen und mächtigen Intendanten sorgsam bewachten Raum der russischen Oper einen Ort des Gesprächs über die wichtigen Fragen der Gegenwart zu machen. An Besessenheit allerdings hat es Tcherniakov nie gemangelt. Schon als Schüler stand er stunden-, oft auch nächtelang nach Karten fürs Bolschoi-Theater Schlange. Mit 16 trat er an eben diesem Theater eine Stelle als Beleuchtungsassistent an, um dem verborgenen Leben hinter den Kulissen möglichst nahe zu sein. Und er machte in jungen Jahren schon rastlos Jagd auf sämtliche Aufzeichnungen von Arbeiten der großen westlichen Opernregisseure, die er in die Finger bekommen konnte – in puncto internationale Inszenierungen ist er nicht weniger beschlagen als noch der ehrwürdigste Theaterhistoriker. Damals, kurz nach der Perestroika, hatte der Eiserne Vorhang sich eben erst ein wenig gehoben, und die Welt dahinter war von magischer Anziehungskraft.
Text Marina Davydova Illustration Yvonne Gebauer Premiere Der Freischütz 56
Under construction, 2020, Holzschnitt und Pyrographie, 40 x 33 cm
Under construction, 2020, Holzschnitt und Pyrographie, 40 x 33 cm
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Schon zu dieser Zeit empfand er sich als Kosmopolit. Während die meisten russischen Regisseure davon träumen, mit einem festen Ensemble an ihrem eigenen Haus zu arbeiten, geht Tcherniakov einem Engagement dieser Art bislang konsequent aus dem Weg. Am wohlsten fühlt er sich, glaubt man seinen Interviews, in Hotels und Flughäfen – entfremdeten, exterritorialen Räumen. Er arbeitet häufiger im Ausland als in Russland. Er hat ganz gezielt einen Weltbürger aus sich selbst geformt, der in keiner Stadt dieser Erde verwurzelt ist und darauf manchmal fast stolz zu sein scheint. Doch trotz dieses betonten Kosmopolitismus verbinden ihn – oder genauer: seine Erinnerung – nicht nur dünne Fäden, sondern armdicke Seile mit Russlands Vergangenheit, und gerade an seiner Kitesch-Inszenierung, die die Geschichte des russischen Musiktheaters in ein Vorher und ein Nachher geteilt hat, zeigt sich das deutlich. Nikolai Rimski-Korsakows auf einer volkstümlichen Legende beruhendes Werk lässt dem Regisseur wenig Chancen, nicht in süßlichen Kitsch zu verfallen: Wie soll man auf der Bühne denn umgehen mit all den Löwen, Einhörnern und Paradiesvögeln auf Turmspitzen, die das Libretto der Oper bevölkern? Doch Tcherniakov hatte für die religiöse Parabel eine in ihrer Schlichtheit frappierende Lösung gefunden: Er ließ die Märchenszenerie einfach weg, und mit ihr auch das folkloristische Zubehör, all die Sarafane, Kaftane und geschmückten Hauben, die vermeintlich zu Rimski-Korsakow gehören. Seine Inszenierung handelte trotzdem von Russland, und mehr noch: Sie verlieh der überzeitlichen Ebene der Oper eine historische Dimension und der nationalen Geschichte metaphysische Tiefe. Jedes einzelne Element hatte eine fantastische Metamorphose durchlaufen, und doch wirkte alles vertraut – das rote Barett der Heldin, ihre an Gummibändern befestigten Fäustlinge (ein Standardaccessoire jeder russischen Schulzeit), der mitten im Wald an einem Baum aufgehängte mannshohe Wasserspender (wer die Sowjetunion noch erlebt hat, dürfte das kleinere Original kennen), der Kinderschlitten, auf dem Fewronija ins Jenseits gezogen wird und der das Publikum nicht ins imperiale Sankt Petersburg zurückversetzte, wo die Oper entstanden war, sondern in das geschundene, von der Wehrmacht belagerte Leningrad. Sowohl die Waldtiere, die im ersten Akt auf den
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CARL MARIA VON WEBER (1786 – 1826)
DER FREISCHÜTZ
Uraufführung am 18. Juni 1821 im Königlichen Schauspielhaus Berlin
Premiere am Samstag, den 13. Februar 2021 im Nationaltheater München
Münchner Erstaufführung am 15. April 1822 im Königlichen Hof- und Nationaltheater
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Romantische Oper in drei Aufzügen Text von Friedrich Kind
BAYERISCHE STAATSOPER 2020 – 2021
Musikalische Leitung Inszenierung und Bühne Kostüme Licht Mitarbeit Dramaturgie Chor Dramaturgie
Antonello Manacorda Dmitri Tcherniakov Elena Zaytseva Gleb Filshtinsky Tatjana Wereschtschagina Stellario Fagone Lukas Leipfinger
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INHALT
Die Handlung
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Synopsis
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L’ Argument
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Wolfgang Adolph Gerle Der schwarzbraune Jäger (1819)
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Clive McClelland Webers fantastische Wolfsschlucht
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Otto von Graben zum Stein Monatliche Unterredungen von dem Reiche der Geister (1730)
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Sebastian Werr Nationaloper: Die Amalgamierung von Traditionen
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Thea Dorn Waldeinsamkeit
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Andrej Sorin Gebet der Agathe über der Wolfsschlucht Der Freischütz in der russischen Kultur
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Herlinde Koelbl Targets
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Johann August Apel Der Freischütz (1811)
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Friedrich Kind Der Freischütz
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Friedrich de la Motte Fouqué Auch ein Gespräch über den Freischützen (1822)
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Libretto
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Fotos der Klavierhauptprobe
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Nachweise / Impressum
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DMITRI TCHERNIAKOV DIE HANDLUNG
ERSTER AUFZUG
Die Handlung spielt an einem Tag und in einer Nacht, am Vorabend der Hochzeit von Agathe und Max.
Agathe, die Tochter des einflussreichen Kuno, wird den jungen Max heiraten. Als Max in Kunos Haus kommt, versteht er, welch neue Perspektiven sich für sein Leben und seine Karriere eröffnen. Als Agathes Ehemann wird er Eintritt in völlig andere mächtige Kreise erhalten. Das angespannte Verhältnis zwischen Kuno und seiner Tochter könnte dabei jedoch ein Hindernis werden. Kuno, unzufrieden mit Agathes Verhalten, seine Einwilligung zur Hochzeit nicht erfragt zu haben, stimmt der Hochzeit dennoch zu. Am Tag vor der Hochzeit stellt Kuno Max aber vor allen Leuten eine Bedingung: Der Neuling müsse in aller Öffentlichkeit eine Prüfung bestehen, bei der er mit einem Gewehr auf das von Kuno gewählte Ziel schießen soll. Max spürt, dass er dazu nicht in der Lage ist. Alles steht auf dem Spiel – seine Position, seine Karriere, Agathes Hand. Kuno setzt Max’ schicksalhaften Probeschuss für den morgigen Hochzeitstag an. Max ist aufgewühlt. Sein alter Bekannter Kaspar versucht, ihn zu beruhigen und bietet ihm seine Hilfe an. Er bestellt Max zu einem Treffen um Mitternacht.
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ZWEITER AUFZUG
DRITTER AUFZUG
Am selben Abend, der Vortag zur Hochzeit, wartet Agathe zur vereinbarten Zeit auf Max. Doch er kommt immer noch nicht. Ihre enge Freundin Ännchen versucht, Agathe davon zu überzeugen, sich nicht zu viele Sorgen deswegen zu machen. Der verspätete Max erklärt sofort, dass er nur für eine Minute bleiben werde. Er habe viel zu tun und müsse gleich wieder gehen. Beunruhigt versucht Agathe, ihn vom Bleiben zu überzeugen. Max jedoch bleibt hartnäckig und verschwindet. Agathe ist verzweifelt. In der Nacht trifft sich Max mit Kaspar. Aber noch jemand ist anwesend: ein gewisser Samiel, dessen Hilfe und Unterstützung Kaspar ständig bedarf. Kaspar bittet Samiel, Max’ Waffe am Morgen direkt aufs Herz der Braut zu richten. Von Agathe besessen kann Kaspar auf keinen Fall zulassen, dass etwas geschieht, was nicht wieder rückgängig zu machen ist – nämlich dass Agathe morgen Max’ Ehefrau wird. Von den Vorgängen entsetzt verliert Max das Bewusstsein.
Am Morgen nach einer qualvollen Nacht fühlt sich Agathe allein. Sie wird heimgesucht von düsteren Vorahnungen. Ännchen versucht, Agathe mit Hochzeitsvorbereitungen aufzumuntern. Doch in der von Ännchen mitgebrachten Geschenkschachtel findet Agathe einen Totenkranz. Im Vorfeld der Hochzeitsfeier stellt sich Max dem von Kuno angekündigten Test: einem Probeschuss. Er richtet die Waffe auf Agathes Herz …
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DMITRI TCHERNIAKOV SYNOPSIS
ACT ONE
The action takes place during one day, on the eve of the wedding of Agathe and Max.
Agathe, the daughter of the powerful Kuno, is about to marry the young Max. Max understands what life and career prospects will open up if he enters the house of Kuno. As Agathe’s husband, he will receive a pass to completely different circles. Kuno’s strained relationship with his daughter might become an obstacle. Dissatisfied with the behavior of Agathe, who did not ask for his consent, Kuno nevertheless agrees to the wedding. But on the eve of the wedding, in front of everyone, Kuno puts forward a condition for Max. The new one is obliged to publicly pass a test by firing a rifle at the target chosen by Kuno. Max feels that he cannot go for it. But everything is at stake – his position, career, Agathe’s hand. Kuno assigns Max’s fateful test shot for the following day of the wedding. Max is in turmoil. His old friend Kaspar tries to calm him down and offers his help. He sets up a meeting for midnight.
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ACT TWO
ACT THREE
The same night, on the eve of the wedding, Agathe is waiting for Max at the appointed hour. But he is not there yet. Her close friend Ännchen tries to convince Agathe not to worry too much about this. Right on arrival the latecomer Max declares that he is in only for a minute. He has a lot to do and must leave shortly. Agathe, alarmed, tries to reason with him and stop him. But Max is adamant, he leaves. Agathe is in despair. At night, Max comes to see Kaspar. But someone else is there: a certain Samiel, whose help and support Kaspar constantly needs. Kaspar asks Samiel to aim Max’s gun right at the heart of the bride. Obsessed with Agathe, Kaspar cannot afford to let the irreparable happen – for Agathe to become Max’s wife in the morning. Horrified by what is happening, Max loses consciousness.
The next morning, after an agonizing night, Agathe feels left all alone. Gloomy forebodings do not leave her. Ännchen tries to entertain Agathe with wedding preparations. But in the gift box Ännchen brought, Agathe discovers a funeral wreath. On the eve of the wedding, Max passes the test announced by Kuno: a test shot. He points the gun at Agathe’s heart …
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DMITRI TCHERNIAKOV L’ ARGUMENT
PREMIER ACTE
L’action se déroule en un jour et une nuit, la veille du mariage d’Agathe et de Max.
Agathe, la fille de l’influent Kuno, va épouser le jeune Max. Lorsque Max entre dans la maison de Kuno, il entrevoit les nouvelles perspectives qui s’ouvrent à lui dans sa vie et pour sa carrière. Devenir le mari d’Agathe lui permettra d’accéder à des cercles d’influence complètement nouveaux. Cependant, la relation tendue entre Kuno et sa fille pourrait devenir un obstacle. Kuno, mécontent du comportement d’Agathe qui ne lui a pas demandé son consentement pour le mariage, donne néanmoins son accord. Mais à la veille du mariage, en présence de tous, Kuno pose une condition à Max. Celui-ci doit, devant tout le monde, réussir une épreuve : il devra tirer avec une arme sur la cible désignée par Kuno. Max ne se sent pas en mesure de réussir ce défi. Tout est remis en jeu – sa position sociale, sa carrière, la main d’Agathe. Kuno prépare pour le lendemain, le jour du mariage, l’épreuve de tir qui sera décisive pour l’avenir de Max. Celui-ci est tourmenté. Kaspar, une de ses vieilles connaissances, tente de l’apaiser et lui propose son aide. Il lui donne rendez-vous à minuit.
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DEUXIÈME ACTE
TROISIÈME ACTE
Le soir même, la veille du mariage, Agathe attend Max à l’heure convenue. Mais il n’arrive toujours pas. Ännchen, une amie proche, essaie de la convaincre de ne pas s’inquiéter outre mesure. Max arrive en retard et explique aussitôt qu’il ne va rester qu’une minute. Il aurait beaucoup à faire et doit repartir tout de suite. Alarmée, Agathe tente de le persuader de rester. Mais Max demeure inflexible et disparaît. Agathe est désespérée. Au cours de la nuit, Max retrouve Kaspar. Mais une autre personne est présente : un certain Samiel, qui, par son aide et son soutien, tient Kaspar dans une constante dépendance. Kaspar demande à Samiel de diriger le lendemain matin l’arme de Max sur la mariée, en plein cœur. Fou d’Agathe, Kaspar ne peut en aucun cas tolérer que l’irréparable se produise – à savoir qu’Agathe devienne demain la femme de Max. Epouvanté par ces événements, Max perd connaissance.
Au matin, après une nuit atroce, Agathe se sent seule. Elle est envahie par de sombres pressentiments. Ännchen s’efforce de la réconforter avec les préparatifs du mariage. Mais dans la boîte à cadeaux apportée par Ännchen, Agathe découvre une couronne mortuaire. Juste avant la célébration du mariage, Max se prête au test annoncé par Kuno : un tir d’essai. Il pointe l’arme sur le cœur d’Agathe ...
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WOLFGANG ADOLPH GERLE
DER SCHWARZBRAUNE JÄGER (1819)
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Auf einem Gute in Böhmen lebte einst ein junger Mensch von kaum neunzehn Jahren, der bei dem Amtmann als Schreiber diente, und so sehr für das Jagdvergnügen eingenommen war, dass er schier jede freie Stunde dem Weidwerk widmete, und da er übrigens ein guter und ausrichtsamer Jüngling war, so vergönnte ihm sein Gebieter diese Freude, nahm ihn auch jedesmal mit, wenn der Gutsherr eine große Jagd veranstaltete; aber sein Geschick kam der Lust nicht gleich, und er wurde oft ausgelacht, wenn er den ganzen Tag über kaum ein einzelnes Häslein geschossen hatte, oder etwa gar keine Beute mit heim brachte, sodass er viel lieber einsam in den Forst ging, wo das Missvergnügen, wenn er fehlschoss, doch wenigstens nicht durch spöttische Anmerkungen vermehrt wurde. Als nun der Schreiber eines Tages, nach seiner Gewohnheit dem edlen Weidwerk obliegend, im Walde herumstrich, gesellte sich zu ihm ein schwarzbrauner Jägersmann mit tiefliegenden schwarzen Äuglein und großen Reiterstiefeln an den Füßen, der ihm Anfangs nicht gar wohl gefallen wollte; aber bald verlor sich diese Abneigung, da es schien, als sei sein Jagdunglück von ihm gewichen, wenn er an seiner Seite ging. Dieser Mann von schier bedenklichem Aussehen, lehrte ihn auch allerhand Weidestückchen und versprach, wenn er sich seiner Leitung gänzlich überlassen wolle, werd’ er ihm binnen kurzer Zeit durch seine Anweisungen zum geschicktesten Jäger auf zehn Meilen in die Runde machen. Dem Schreiber gefiel es sehr wohl, dass er nun alle Tage große Lasten von Wildbret mit nach Hause brachte, und sein Herr zu glauben anfing, er sei ein gar gewandter Weidmann geworden; aber als eines Tages abermals eine große Jagd angestellt wurde, siehe! da traf der arme Jüngling wieder so wenig wie zuvor, und nicht genug, dass man ihn ob seines Ungeschicks noch bitterer verspottete als ehemahls, so wurde auch allgemein behauptet, das Wild, welches er täglich heimbringe, sei keineswegs von ihm erlegt, sondern wahrscheinlich von irgendeinem Jäger in der Nachbarschaft erkauft, um mit fremder Schützenkunst groß zu prahlen. Das tat dem armen Schreiber so weh, dass er sich im Innersten seiner Seele zuschwor, dieses Spottes ledig zu werden, es möge auch kosten was es wolle, und als er seines schwarzbraunen Jagdgenossen gedachte, da kam es ihm vor, als müsse er selben nun beim Worte nehmen. Er suchte ihn daher mit doppelter Geflissenheit auf, und wie er mit seinem Anliegen herausrückte, fand er jenen sehr willfährig. – Mit freundlich grinsender Miene gelobte er ihm Gewährung seines Begehrens, doch solle er mit ihm in der Nacht des St. Abdons-Tages in den Wald gehen, dort wollten sie 63 Kugel gießen, von welchen
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60 gewiss treffen, und nur drei fehlen würden, aber es würde ihm nimmer möglich sein, diese von jenen zu unterscheiden. Der Schreiber war mit allem zufrieden, und konnte kaum die bestimmte Nacht erwarten, in welcher sie sich mit Schmiedekohlen, Gießkelle, Blei und Formen versahen, und dann wohlgemut in den Forst hinausgingen. Als die beiden Nachtwandler im dichten Wald an einen Kreuzweg kamen, machte der Jäger einen weiten Kreis mit seinem Hirschfänger und schrieb allerhand wunderliche Zeichen auf den Rand desselben, welche sein Geselle nicht zu lesen verstand, und als ihn jener in die Mitte des Kreises führte, ihm gebietend, er solle sich ganz nackt ausziehen und mit lauter Stimme seinen Gott verleugnen, da schauderte ihm die Haut, und er wäre lieber davongelaufen; aber bald gedachte er wieder des Spottes, welchen er von der Jagdgesellschaft seines Herren erdulden musste, und wollte viel lieber selbst seine ewige Seligkeit daran setzen, als solche Beschämung noch ein einzig Mal erdulden. Als er das Geheiß des schwarzbraunen Jägers vollzogen und ganz entblößt vor dem Kohlenbecken stand, sagte ihm jener, er möge sich wohl sputen, dass er von 11 bis 12 Uhr mit seinem ganzen Guss fertig werde, denn, wenn mit dem ersten Schlage der Mitternacht noch eine einzige Kugel an den 63 fehle, so müsse er alsogleich ein Eigentum des Satans sein, ferner ermahnte er ihn, sich durch nichts in seiner Arbeit stören zu lassen, was ihm etwa vorkommen könnte, und ohne einen Laut von sich zu geben, sich des Gusses seiner Kugeln zu befleißen. Dann stellte sich der schwarzbraune Jäger mit seinem Rücken an jenen des Schreibers, in welchem Augenblick es eben 11 Uhr schlug; – da entzündeten sich die toten Kohlen von selbst und begannen so rot zu glühen, als würden sie von einem unsichtbaren Schmied mit dem besten Blasbalg angeblasen. Der Schreiber hatte kaum einige wenige Kugeln gegossen, als ein altes Weib von scheußlichem Ansehen auf sie zukam, welche ganz mit hölzernen und Blechlöffeln behangen war, und mit selben gewaltig gegeneinander klapperte. Die Alte blieb an dem Kreise stehen, bot den beiden Jägern von ihrer Ware zum Verkauf an, und als sie keine Antwort erhielt, ging sie wieder mit großem Geräusche fort, das man noch lange nach ihrer Entfernung durch den Wald schallen hörte. Dann kamen mehrere sechsspannige Kutschen durch den Wald auf die fleißigen Arbeiter zugefahren, und als der erschreckte Schreiber sich umsah, erblickte er die schwarzen Pferde mit feuersprühenden Augen, und aus dem
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Schlage der Kutschen lehnten sich Unholde heraus, gar gräulich anzuschauen; aber wie das furchtbare Fuhrwerk an den Kreis kam, erhoben sich Kutschen und Pferde in die Luft und drehten sich gleich dem Wirbelwinde durch die finstre Nacht davon. Nach einer Weile kam ein Trupp geharnischter Reiter mit flammenden Lampen auf den Helmen und später ein großer Jagdzug, flüchtige Hirsche und Rehe von bunten und solchen Farben, welche ein natürliches Wild besitzt; heulende Wölfe an Farbe und Glanz dem Feuer ähnlich, bellende Hunde und eine wilde Jägerschaar mit gellenden Hörnern, und wie all diese Gebilde sobald sie an den Kreis gelangt, sich hoch über die Häupter der beiden Kugelgießer erhoben, und durch die Nacht davon geschwunden waren, kam endlich ein Mann von gar finstrem Ansehen auf einem magern schwarzen Ross einher geritten, hielt dicht an dem Kreis stille und fragte die Arbeiter, was ihr Begehr sei? Der schwarzbraune Jäger antwortete: „Wir haben in deinem Namen 63 Kugeln gegossen, davon sollen drei dein Eigentum sein, die andern aber uns angehören.“ Da begehrte der Schwarze, sie sollen ihm die Gießkelle und die gegossenen Kugeln alsogleich ausliefern; aber der Jäger entgegnete: „Mitnichten! Denn wir haben sie in deinem Namen gegossen, und sind, trotz aller Schrecknisse, die du uns entgegen sandtest, damit fertig worden, ehe die Stunde um war; deshalb bleiben die Kugeln unser.“ Als der Jäger so gesprochen, wurde der schwarze Reiter immer größer, sodass er schier in den Wolken zu ragen schien; – er zog eine weiße Rolle aus dem Busen und wie er dem schwarzbraunen Jäger die aufgewickelte Schrift entgegenhielt, da stürzte dieser, ohne mehr einen Laut von sich zu geben, auf den Boden nieder, welcher sich alsbald gähnend öffnete und vielfarbige Flammen ausspeiend, diese beiden verschlang; aber der betäubende, höllische Qualm, welcher aus der Tiefe hervorging, warf den Jüngling ohnmächtig zu Boden und als er am Morgen in diesem Zustande gefunden, und ins Dorf getragen sich erholte, gestand er aufrichtig die Wahrheit, worauf man ihn den Gerichten übergab, die ihm den Prozess machten, und endlich zum Tode verurteilten; aber die Gerichte erbarmten sich seiner großen Jugend und milderten die Sentenz auf dreijährige strenge Haft und Kirchenbuße. Als nun der Schreiber wieder aus seinem Gefängnisse loskam, wollte er nimmer dem edlen Weidwerk obliegen, weil ihm, so oft er den Schall eines Jagdhorns hörte, die große Gefahr erinnerlich wurde, worin er seine arme Seele der eitlen Jagdlust zu Liebe geführt hatte.
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Clive McClelland ist Associate Professor für Musikwissenschaft an der University of Leeds und Autor der Bücher Ombra: Supernatural Music in the Eighteenth Century und Tempesta: Stormy Music in the Eighteenth Century. Er ist Vorsitzender des Schubert Institute (UK).
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CLIVE MCCLELLAND
WEBERS FANTASTISCHE WOLFSSCHLUCHT
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Zwischen 1805 und 1812 wurden in Deutschland drei einflussreiche Sammlungen mit Gedichten und Volksmärchen veröffentlicht: Des Knaben Wunderhorn (1805) von Clemens Brentano, das Gespensterbuch (1811) von Johann August Apel und Friedrich Laun und die Kinder- und Hausmärchen (1812) der Brüder Grimm. Diese Texte bildeten eine Art Hallraum für das deutsche Nationalbewusstsein, das mit dem nahenden Ende der Napoleonischen Kriege wieder stärker wurde. Der Wald, der Volksglaube und alte Sagen waren wiederkehrende Motive darin. Das Übernatürliche spielte eine enorme Rolle und trug zur Beliebtheit der Texte bei. Ihr Einfluss war auch in der Oper spürbar, und so wurden in den folgenden zwei Jahrzehnten Motive des Übernatürlichen zu Grundthemen deutscher Opern. Einer der ersten Komponisten, die darauf reagierten, war Carl Maria von Weber. Kurz nachdem die Geschichte vom Freischütz im Gespensterbuch erschienen war, bat er seinen Freund Alexander von Dusch, ein Libretto dazu zu verfassen. Es kam aber keines zustande, und so wandte sich Weber 1817 an den Dresdner Dichter Friedrich Kind, der in nur zehn Tagen ein Libretto fertigstellte. Weber begann umgehend zu komponieren und präsentierte 1819 dem Generalintendanten der Königlichen Schauspiele in Berlin, Carl von Brühl, das Vorhaben einer dortigen Aufführung seines Werks. Weber hatte damals wohl das Königliche Opernhaus ins Auge gefasst, da das Nationaltheater zwei Jahre zuvor niedergebrannt war. Doch schließlich sollte ihm das geplante, von Karl Friedrich Schinkel entworfene Neue Schauspielhaus Gelegenheit geben, die neuesten Entwicklungen in der Theatertechnik zu nutzen. Diese Neuerungen betrafen die Innenraumstruktur, die Beleuchtung und die Akustik, und sie trugen dazu bei, die Wirkung der zentralen Szene, der Wolfsschluchtszene, zu steigern. Viel ist über den Einfluss der Musik dieser Szene auf nachfolgende Generationen deutscher Opernkomponisten, allen voran Wagner, geschrieben worden. Doch zuerst sollte man den Blick auf die erstaunliche Wirkung des szenischen Spektakels richten. Der Erfolg von Opern mit übernatürlichen Szenen erklärt sich nämlich nicht nur durch die sie begleitende betörende Musik, auch das Bühnenbild und die Spezialeffekte, die man als das „Paratheatrale“ bezeichnen könnte, trugen dazu bei. Seit einiger Zeit schon wurden Vorrichtungen wie Flugwerke und Falltüren zum Auf- und Abtritt von Dämonen eingesetzt oder Toneffekte wie Windmaschinen und Donnerbleche, um Gewitter zu simulieren. Aber Weber reichte das nicht mehr. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gab es zwei große Publikumsmagneten: das Panorama und die Phantasmagorie. (Auch Karl Friedrich Schinkel
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war ein berühmter Gestalter von Panoramen.) Weber interessierte sich besonders für die Phantasmagorie. Sie wurde von dem erfolgreichen Unternehmer ÉtienneGaspard Robert entwickelt und 1798 in Paris zum ersten Mal vorgestellt. Das Publikum war ganz versessen darauf, sodass die Vorstellungen einen Siegeszug durch ganz Europa antraten. In Deutschland waren sie zuerst 1805 in Frankfurt und Leipzig zu sehen, dann 1810 auf der Sommerausstellung in München. Sie sollten das Publikum mit Bildern von Geistern, Hexen und Dämonen, die im Verein mit kleinen Explosionen, bunten Flammen, Rauch und maschinell erzeugten Klangeffekten (hauptsächlich Sturmgeräuschen) von mehreren Laternae magicae auf Musselin projiziert wurden, in Angst und Schrecken versetzen. Tonangebende Intellektuelle wie Johann Wolfgang Goethe oder E. T. A. Hoffmann, aber auch Schinkel und sein Bühnenbildner Karl Wilhelm Gropius rümpften die Nase über solch billige Unterhaltung, sodass Weber, der auf der Nutzung dieser Effekte auf der Bühne bestand, sicher einigen Gegenwind bekam. Dennoch, er hatte das richtige Gespür. Die Menschen kamen in Scharen zu den ersten Vorstellungen des Freischütz, um das Spektakel zu erleben. Zu den Innovationen im Theater gehörten auch gedimmtes Licht im Haus und ein um 0,6 Meter absenkbares Parkett, was einen dichteren Orchesterklang ermöglichte. Das wohlanständige protestantische Publikum war schockiert von den auf der Bühne nachgestellten Ritualen, die auf Schwarze Messen und Alchemie anspielten. Die Kombination von Visuellem, Ton und Gerüchen muss eine aufregende Erfahrung gewesen sein. Als Mary Shelley, die Autorin von Frankenstein, 1824 eine Freischütz-Aufführung im Lyceum Theatre in London besuchte, schrieb sie: Die Musik ist wild, aber oft schön – sobald die Wundermaschinen ihre Ladung abfeuern, füllt sich die Bühne mit allen nur erdenklichen Schrecknissen – flügelschlagenden Eulen – herumspringenden Kröten – wild blickenden Feuerschlangen – geisterhaften Wolkenjägern, während immer wieder mitten im Fluss wilder Harmonien eine krachende Dissonanz einschlägt – alle Arten schönster Szenerien, versichere ich Ihnen, während das gesamte Haus, außer der Bühne, in Dunkelheit gehüllt ist. Hieraus wird klar, welch enorme Wirkung auch die Musik auf das Publikum hatte. Webers Musik ist zwar hochinnovativ, aber die besonderen Effekte, die er einsetzt, stehen in einer langen Tradition, die bis zu den frühesten Opern der Musikgeschichte zurückgeht. Schon immer boten Szenen mit Geistern, Hexen, Dämo-
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nen, Zauberhandlungen und zeremoniellen Riten Gelegenheit sowohl für spektakuläre Bühneneffekte wie für außergewöhnliche Musik. Für den Komponisten kam es darauf an, musikalische Störelemente einzubauen, um das Publikum zu verunsichern. Um Gefühle von Erhabenheit oder Furcht hervorzurufen, verwendeten Komponisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Techniken wie langsame Tempi, Molltonarten mit b-Vorzeichen, tonale Uneindeutigkeiten, unübliche Harmonien (speziell chromatische Akkorde), fragmentierte oder Melodielinien mit weiten Sprüngen, beharrlich wiederholte Töne, Tremoli, synkopierte und punktierte Rhythmen, unerwartete Pausen, Kontraste im Klanggefüge oder der Dynamik und dunkle Klangfarben in ungewöhnlicher Instrumentierung, speziell mittels Posaunen. Diesen Stil bezeichnet man heute mit dem Begriff „Ombra“ („Schatten“), und es gibt außerordentlich schöne Beispiele dafür in der Musik von Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli, Henry Purcell, Georg Friedrich Händel, Niccolò Jommelli, Christoph Willibald Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart (speziell die Komtur-Szene im zweiten Akt von Don Giovanni). Um Chaos und Schrecken zu erzeugen, wurden darüber hinaus eher brachiale Stilmittel verwendet. Vieles daran ähnelt dem Ombra-Stil, mit dem wichtigen Unterschied, dass das Tempo viel schneller ist. Es wurde mit Elementen wie Passagen mit schnellen Tonleitern (oft auf Streichinstrumenten), vorwärtsdrängenden Rhythmen, starken Akzenten, dichter Vollstimmigkeit und kraftvoller Instrumentierung sowie einer Dominanz von Blechbläsern und Pauken gearbeitet. Musik dieser Art wurde für Sturmszenen verwendet – in den Opern des 17. und 18. Jahrhunderts gehen sie fast immer auf übernatürliche Mächte zurück –; aber auch für andere Angstzustände wie Verfolgungen (besonders durch Dämonen oder Furien), Wahnsinn und Zorn (wie in den Arien der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte). Dieser stürmische, sich aus dem Übernatürlichen speisende Musikstil wird oft als „Sturm und Drang“ bezeichnet, was problematisch ist, da viele Beispiele dafür vor die gleichnamige deutsche literarische Strömung datieren (die zudem nur wenig mit dem Übernatürlichen zu tun hat). Heute hat man sich auf den Begriff „Tempesta“ („Sturm“) für alle Formen dieser Art Musik geeinigt – eine Bezeichnung, die dem Stürmischen des Stils Rechnung trägt, ihn aber zugleich als komplementär zu Ombra setzt. Der Erfolg von Ombra und Tempesta trug enorm zur anhaltenden Beliebtheit von Opern bei, die im Genre des Übernatürlichen angesiedelt waren, und die beiden Stile überschritten schnell die Grenzen zur Sakral- und Instru-
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mentalmusik (Joseph Haydns Sturm und Drang-Symphonien sollten eigentlich Tempesta-Symphonien genannt werden). Der Reiz dieser Musik liegt darin, dass sie nicht eine bloße Repräsentation des Übernatürlichen ist, sondern eine Gefühlsreaktion im Hörer bewirkt. Furcht und Schrecken waren spätestens seit Edmund Burke als Quellen des Erhabenen bekannt, und Musik, die eine Gefühlsreaktion solchen Ausmaßes hervorrufen konnte, war schwere Munition im kreativen Arsenal des Komponisten. Weber suchte also neue Möglichkeiten, um sein Publikum musikalisch zu erschüttern. Ein hervorstechendes Merkmal bei ihm ist die Anordnung der tonalen Zentren. Die Wolfsschluchtszene beginnt und endet in fis-Moll, einer selten verwendeten Tonart mit ätherischer Anmutung. Die eher furchterregenden und extremeren Elemente der Partitur stehen, dazu diametral entgegengesetzt, in c-Moll. Völlig unvorbereitet durch die vorhergehende Musik findet bei Samiels erstem Auftritt der Wechsel in diese Tonart statt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden ungefähr ein Drittel der Ombra- und Tempesta-Opernszenen in dieser Tonart gespielt. Die beiden Tonarten stehen im Abstand eines Tritonus voneinander, des sogenannten Teufelsintervalls, das einer um einen Halbton verminderten Quinte entspricht. Die Symbolik ist hier eindeutig. Die anderen Haupttonarten sind a-Moll und Es-Dur, ihrerseits ebenfalls von einem Tritonus getrennt. Spielte man diese vier Noten auf einem Klavier, so würde man den verminderten Septakkord hören – ein Klang, der wegen der ihm eigenen Instabilität stets mit dem Übernatürlichen in Verbindung gebracht wird. Dieser Akkord ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwar wohlbekannt, doch war es bahnbrechend für Weber, mit diesen Tonarten zu arbeiten. Obwohl sicher nur wenige im Publikum das Verhältnis dieser Tonarten zueinander bewusst wahrnehmen, wirkt das Verunsichernde und Geheimnisvolle der langsameren, ruhigeren Passagen (Ombra) doch verstörend, und die vielen Dissonanzen, plötzlichen Ausbrüche und ausgedehnten Phasen gewaltsamer und chaotischer Musik (Tempesta) erzeugen Schrecken. Mag Weber sich auch etablierter Konventionen bedienen, so ist es dennoch sein großes Verdienst, diese musikalischen Ausdrucksweisen ins Extrem getrieben zu haben. Webers Begeisterung für das Übernatürliche spiegelt sich auch in seinen beiden Opern Euryanthe (1823) – mit der jungen Gespensterfrau – und Oberon (1826). Auch andere deutsche und österreichische Komponisten teilten Webers Begeisterung. Zwei frühe Experimente des jungen Franz Schubert im Operngenre sind diesem Bereich zuzurechnen: Der Spiegelritter (1811–13) und Des
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Teufels Lustschloss (1813–14). Auch die vielleicht wichtigste Zauberoper der Periode zwischen Mozart und Weber, E. T. A. Hoffmanns Undine (1814), stammt aus dieser Zeit. Hoffmann bewunderte Gluck und Mozart, und deren Einfluss ist in der übernatürlichen Musik seiner Oper deutlich erkennbar. Es gibt ein gotisches Schloss, einen mittelalterlichen Ritter, Geister der Unterwelt, und das Gute kämpft gegen das Böse. Die Sterblichen – der einfache Fischer und seine Frau (die den Wassergeist Undine adoptiert haben), der Herzog und die Herzogin, der moralisierende Priester Heilmann, eine Art Sarastro-Figur, die Webers Eremit in Der Freischütz auffällig ähnelt – bilden den Kontrast dazu. Die Auftritte des Wassergeistes Kühleborn lösen ein Spektrum von Ombra-Effekten aus, die beinahe leitmotivisch wirken und Vergleiche zu Webers Samiel-Motiv nahelegen. 1814 fand die Premiere von Johann Nepomuk Hummels Die Eselshaut statt, einem bizarren Feenspiel, das trotz seines eher schwachen Librettos einen mittleren Erfolg verbuchen konnte. Im Publikum saß Louis Spohr, dessen auf der Faust-Sage basierende Oper zwei Jahre später uraufgeführt wurde. Bemerkenswert ist, dass es in Spohrs Oper nicht wie in Hummels Eselshaut nur eine, sondern gleich zwei Verdammungsszenen mit ausgedehnten Tempesta-Passagen gibt. Ombra-Referenzen spielen innerhalb der musikalischen Gestaltung des Mephistofeles-Charakters natürlich eine wesentliche Rolle. Mehrere Rezitative werden mit unheilschwangerer Stimme auf gleichbleibendem Ton vorgetragen, eine in den Opern des 18. Jahrhunderts verbreitete Technik für Beschwörungsformeln oder sprechende Statuen und ausgesprochen passend für eine Höllengottheit. Die ausgedehnte Hexensabbat-Szene auf dem Blocksberg, in der er die Hexe Sycorax anruft, ist ein markantes Beispiel dafür und weist schon auf die spätere Beschwörung in der Wolfsschluchtszene voraus. Nach dem Erfolg von Faust begann auch Spohr Musik für eine Oper basierend auf dem Freischütz-Motiv zu komponieren, die den Titel Der schwarze Jäger trug. Sie folgte Bearbeitungen desselben Stoffs durch Carl Neuner (1812), Ferdinand Rosenau (1816) und Franz de Paula Roser (1816) – die des letzteren mit dem eher reißerischen Titel Die Schreckensstunde am Kreuzwege –, aber Spohr verwarf das Vorhaben, nachdem er gehört hatte, dass Weber an ebendiesem Sujet arbeitete. Dennoch ließ ihn der Gegenstand des Übernatürlichen nicht los, das in seinen folgenden Opern Zemire und Azor (1819), Jessonda (1823), Der Berggeist (1824) und Pietro von Abano (1827) eine wichtige Rolle spielt. Letztere löste nach der Premiere wegen sexueller Anstößigkeit und der schreckenerregenden Geschichte einen Skandal aus. Spohr schrieb auch die Begleit-
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musik für eine Produktion von Macbeth 1825 in Berlin, deren Ouvertüre er als Einleitung des dritten Akts für die überarbeitete Fassung von Faust 1852 in Paris adaptierte. Seine anhaltende Begeisterung für übernatürliche Opernthemen hatte zweifellos mit seiner Vorliebe für die dazu passenden Musikstile zu tun. Faust aber unterscheidet sich von all seinen anderen Opern, weil es sein einziges Stück mit tragischem Ende ist. Sogar als Spohr Gelegenheit hatte, das Werk zu überarbeiten, überzeugte ihn die Erlösung am Schluss von Goethes Stück nicht. Diesen Beispielen kann man verschiedene Werke anderer Komponisten zur Seite stellen, so auch zwei Opern von Peter Joseph von Lindpaintner – Der Bergkönig (1825) und Der Vampyr (1828) – und zwei von Heinrich Marschner – eine weitere Version von Der Vampyr (1828), die auf demselben Libretto basiert wie Lindpaintners Oper, und Hans Heiling (1833). Marschners Der Vampyr ist dabei am überzeugendsten. Die Oper beginnt mit einer Schwarzen Messe und einem Auftritt von Satan, der dem Vampir verspricht, sein Leben zu verlängern, wenn dieser ihm drei Mordopfer darbringt. Am Schluss entkommt die als drittes Opfer auserwählte Heldin nur knapp dem Tod – der Vampir wird im letzten Moment entlarvt und in die Hölle verbannt – eine spektakuläre Verdammungsszene, die denen bei Mozart und Spohr nicht nachsteht. Sujets des Übernatürlichen spielten also in den frühen deutschen romantischen Opern eine wesentliche Rolle. Und auch wenn Weber nicht der Impulsgeber dieser Obsession war, so stellt sein Beitrag in Form der Musik zur Wolfsschluchtszene doch den Höhepunkt in der Darstellung des Übernatürlichen auf der Opernbühne vor Wagner dar. Übersetzung aus dem Englischen: Sabine Voss
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OTTO VON GRABEN ZUM STEIN
MONATLICHE UNTERREDUNGEN VON DEM REICHE DER GEISTER (1730)
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ODER: Gründliche Untersuchung von dem Wesen der Geister, deren Fall, und was dieselben für Eigenschaften vor und nach dem Falle bekommen, ob und wie es ihnen möglich, Körper anzunehmen, wie weit ihnen Gott nach seiner heiligen Ordnung zugelassen, in der Welt die Elemente zu verwalten, was von der Zauberei, Bindnissen mit den Geistern, der Bewahrung verborgener Schätze und deren Entdeckungen zu halten, in was für einem Zustande sich die Besessenen befinden. Hierzu kommen die verschiedenen Meinungen von den Seelen der Verstorbenen, ihren Erscheinungen, wie weit man die vielfältigen Erzählungen von den Geistern für wahr halten solle. — Nach den Grundsätzen der heiligen Schrift, alter Kirchenväter, der besten Philosophen und anderer berühmten Männer, untersuchet, und der gelehrten Welt sowohl als andern Liebhabern solcher wunderlichen Begebenheiten zum Nutzen angestellt zwischen ANDRENIO und PNEUMATOPHILO. — Das V. Stück. —
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PNEUMATOPHILUS So oft es der große Gott zulässt, kann dieser höllische Proteus alle erdenklichen Farben und Gestalten an sich nehmen, zumal er die beiden Elemente der Luft und des Feuers allezeit zu seinen Diensten hat. Wir finden von dieser Sache ein artiges Gleichnis an uns selbst: Wenn wir in einen Wald hineinrufen, so kehret der Schall aus demselben wieder zurück und uns entgegen; also auch wenn der verwilderte Mensch gegen die teuflische Wüste seine Stimme erschallen lässt, so kommt eben der gleiche Wiederruf zurück. Weil aber der Mensch durch eine bloße Stimme nicht genugsam würde betöret werden; so müssen auch körperliche Gestalten dem Gesicht erscheinen, und der Teufel muss denen Menschen leibliche Glückseligkeit versprechen, damit sie desto gewisser in das aufgestellte Netz fallen. Da geschieht es denn sehr oft, dass sich elende und fast mit der Verzweiflung kämpfende Menschen, durch einen zeitlichen und oftmals sehr geringen Gewinn bewegen lassen, mit ihrem größten Seelenfeind in ein vertrautes Bündnis zu treten. Da weiß sich dieser Tausend-Künstler in unzählige Gestalten und angenommene Bilder zu verhüllen, auch den Augen allerhand annehmliche Vorstellung zu machen, um den sonst unbeständigen Willen des Menschen beständig auf seiner Seite zu behalten. Ich will dir hiervon noch eine augenscheinliche Probe geben, welche ich selbst aus den gerichtlichen Akten zusammengezogen habe. Es befand sich Anno 1710 in einer gewissen Stadt des Königreichs Böhmen, ein junger Mensch Namens Georg Schmid, welcher einen Schreiber abgab und ungefähr 18 Jahr alt sein mochte. Dieser stand in einer vertraulichen Bekanntschaft mit einem Bergjäger dasiger Herrschaft, welcher nicht allein seine Weidestücken vortrefflich verstand, sondern auch aus der Zaubertasche sehr wohl zu spielen wusste. Nun war besagter Schreiber ein großer Liebhaber im Scheibenschießen, suchte aber allezeit dabei seinen Vorteil und Gewinn zu befördern; deswegen ging er einstmals zu diesem Jäger, um sich bei demselben Rat zu erholen, welcher ihm auch darin behilflich zu sein angelobte. Nur verlangte er von ihm, dass er am 30. Juli als am Abdons bei der Nacht mit ihm möchte hingehen, Kugeln zu gießen; als denn sollte er 63 Kugeln bekommen, aus welchen 60 alle treffen müssten, wo er nur hinzielen würde, drei aber von denselben, welche er gleichwohl nicht vor den andern kennte, müssten notwendig fehlen. Der Schreiber war von blinden Eifer Geld zu gewinnen, dergestalt eingenommen, dass er kaum des Tages erwarten konnte, auch alles mit zu machen bereit war. Sie versahen sich hierauf mit großen Schmiedekohlen,
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Gießkellen, Formen und was sonst zu dieser Arbeit erfordert wurde, und begaben sich mit einbrechender Nacht auf einen Kreuzweg, welcher eine Stunde davon gelegen war. Sobald sie daselbst angekommen, machte der Jäger einen breiten Kreis um sich her mit seinem Weidemesser und setzte gewisse Characteres auf dem Rande rings herum, welche aber der Schreiber nicht lesen konnte. Nach diesen hieß er ihn in den Kreis treten und sich mutternackend ausziehen und zugleich Gott und die heilige Dreifaltigkeit verleugnen. Hiernächst befahl er ihm, dass er seine Kohlen nebst dem Gießzeuge vor sich hinlegen und wohl Achtung geben sollte, damit er von elf bis zwölf Uhr mit seinem Guss fertig wäre; denn wenn nach verflossener Zeit nur eine einzige Kugel daran fehlte, so müsste er des Satans eigen sein. Er redete ihm ferner zu, sich durch nichts abwendig machen zu lassen, was ihm auch zu Gesichte käme, damit er sich nur an seiner Arbeit nicht versäumen möchte. Nachdem er ihm diese Ermahnung bestens eingeschärft, auch anbefohlen hatte kein Wort zu reden, was ihm auch immer zustoßen möchte; so machten sie miteinander einen gedoppelten Adler und erwarteten in aller Stille, bis die Glocke elf schlug. Kaum hatte der Zeiger angefangen, als die toten Kohlen von sich selbst begonnen zu glühen, als wenn sie von einem Schmied wären angefeuert worden. Sie machten also den Anfang zum Kugelguss, da sie aber einige wenig Stücke mochten fertig haben, kam ein altes Weib auf sie losgegangen, welches mit lau-hölzernen Kochlöffeln umhangen war und mit denselben ein starkes Geräusche machte. Diese fragte sie, ob sie nichts von ihrer Ware vonnöten hätten? Sie aber fuhren stillschweigend in ihrer Arbeit fort, worauf dieselbe wiederum vor ihren Augen verschwand. Gleich darauf hörten sie von weitem Kutschen kommen, welche gerades Weges auf sie zufuhren, worüber dem Schreiber die Haut nicht wenig anfing zu schauern. Da sie aber nahe an den Kreis gelangt, sind sie gleich einem heftigen Wind über sie fortgestrichen, wie etwa sonst ein Sturmwind überhin zu rauschen pfleget. Kaum war dieses vorbei, so hörten sie einen ganzen Trupp Reiter herzu traben, welcher aber gleichfalls seinen Weg über ihnen durch die Luft nahm; endlich vernahmen sie ein Parforcehorn und ein großes Geheule von vielen Hunden, zugleich bemerkten sie ein verfolgtes Stück Wild, welches gerade auf sie losrannte und seinen Lauf nebst allen Hunden über sie fortsetzte. Diesen folgten sehr viele Jäger zu Pferde, welche sich insgesamt im Nachsetzen höchst eifrig bezeigten. Zuletzt kam einer ganz langsam geritten, welcher sich mit einem schwarzen Pferd vor den Kreis stellte und sie befragte: Was ihr Begehren wäre, dass sie diese Arbeit in seiner Gegend vorgenommen hätten? Weil sie nun gleich mit dem
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Gießen fertig waren, gab der Jäger für sich und seinen Gefährten diese Antwort: Wir haben in deinem Namen 63 Kugeln gegossen, von welchen drei deine seien, die übrigen aber sollst du uns geben. Hierauf begehrte jener, sie sollten ihm die Gießkelle, nebst den gegossenen Kugeln herausgeben; allein der Jäger sagte zu ihm: Wir haben sie in deinem Namen gegossen, und weil die Zeit noch nicht um ist, so bleiben sie unser. Alsbald warf jener mit Zähneknirschen etwas darauf, welches einen solchen Gestank von sich gab, dass sie beide halbtot zur Erden sanken und die gegossenen Kugeln im Kreise umher fallen ließen. Sie blieben in dieser Stellung bis zum Anbruch des Tages liegen, da sich zwar der Jäger, als welcher bei solchen Verrichtungen schon öfter gewesen, gar bald wieder erholte, dem Schreiber aber schlechterdings unmöglich fiel, von der Stelle zu kommen. Jener raffte demnach seine Kugeln zusammen und eilte dem nächstgelegenen Dorfe zu, um denen Einwohnern desselben anzudeuten, dass ein armer kranker Mensch auf dem Wege liege. Er machte sich darauf, ohne sonst das geringste zu melden, und ohne sich aufzuhalten, aus dem Staube, und nahm seinen Weg durch abgelegene Gegenden gegen das Salzburgische Gebirge. Da aber der halbtote Schreiber in die Stadt gebracht, und so wohl vor dem geistlichen als weltlichen Gerichte wegen seines gehabten Zufalls befraget wurde, hat er endlich nach vieler angewandten Mühe den ganzen Verlauf entdeckt, ist auch seiner Krankheit ungeachtet, in gerichtliche Haft gebracht worden. Nachdem er sich in etwas erholet, wurde die Inquisition ordentlicher Weise wider ihn vorgenommen, auch nach getaner eidlichen Aussage und Bekenntnis, der Kriminalprozess formieret. Nun war ihm zwar durch Urteil und Recht zuerkannt, dass er mit dem Schwert gerichtet und darauf mit Feuer sollte verbrannt werden; allein die vielfältigen Vorbitten und Betrachtung seiner Jugend verursachten, dass die ausgesprochene Sentenz gemildert und ihm eine sechsjährige Gefangenschaft mit harter Handarbeit auferleget wurde. Hieraus siehst du abermals, lieber Andrenio, was für Gestalten der Teufel aus der Luft annehmen, und wie er die Sinne der Menschen betören könne, dass also dawider nichts mehr wird einzuwenden sein. Gewiss es wäre ein höchst verdammliches Verbrechen von einem Richter, wenn er wegen einer ungegründeten Aussage das Todesurteil fällen wollte; vielmehr ist zu glauben, dass die erzählten Umstände wahrhaftig sich also ereignet haben. Gehe nur alle Archive in Deutschland, Italien, Spanien und andern Ländern durch, so wirst du eine gar große Anzahl von solchen Zufällen darin antreffen, da die rächende Justiz über dergleichen Leibeigene des Teufels das Schwert ausgezogen oder sie zum Scheiterhaufen verdammt hat.
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Sebastian Werr studierte Musikwissenschaft an der FU Berlin und in Mailand. Promotion und Habilitation an der Universität Bayreuth. Von 2002 bis 2010 war er freier Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung. Er ist Privatdozent der Fachgruppe Musiktheater der Universität Bayreuth und Lehrbeauftragter am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität München. Zurzeit ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bayerischen Staatsbibliothek München tätig.
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SEBASTIAN WERR
NATIONALOPER: DIE AMALGAMIERUNG VON TRADITIONEN
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Der Freischütz von Carl Maria von Weber gilt, neben Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg, als die deutsche Nationaloper. Er ist Teil eines Repertoires, das unter anderem dann zum Einsatz kommt, wenn es Ereignisse mit politischkultureller Tragweite zu begehen gilt, und zwar in allen Herrschafts- und Staatsformen, die in Deutschland in den letzten 200 Jahren herrschten. Selbst in der DDR wurde die Eröffnung der nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebauten Dresdner Semperoper 1985 nicht mit einer sozialistischen Auftragskomposition, sondern mit einer Aufführung von Webers Oper begangen. Dass man auch hier nationalstaatlichen Denkmustern verpflichtet war, zeigte sich weiterhin bei der Eröffnung der Oper Leipzig, des einzigen Opernneubaus, bei der die Meistersinger gespielt wurden. Die Einschätzung, man habe es bei ihr mit dem tiefsten Ausdruck deutschen Wesens zu tun, reicht ins 19. Jahrhundert zurück. 1841 schrieb Richard Wagner in Paris: „Oh mein herrliches deutsches Vaterland, wie muss ich dich lieben, wie muss ich für dich schwärmen, wäre es nur, weil auf deinem Boden der Freischütz entstand“. Selbst Theodor W. Adorno, der als jüdischer Exilant gegenüber nationalistischen Bestrebungen besonders sensibilisiert war, sah im Freischütz die deutsche Nation verkörpert, wobei ihn ansprach, dass bei Weber der Nationalismus fehle, der das deutsche Element sonst oft kompromittiere. Wie viele seiner Zeitgenossen erfasste den ansonsten wenig politischen Weber die patriotische Hinwendung zum Deutschtum, die viele seiner Landsleute bewegte, nachdem die Befreiungskriege die politische Vorherrschaft Napoleon Bonapartes gebrochen hatten. Die Uraufführung seiner Oper wurde bewusst auf den 21. Juni 1821 gelegt, auf den Tag genau sechs Jahre nach der Schlacht bei Waterloo, die das endgültige Ende des Ersten Kaiserreichs bedeutete: Napoleon wurde nach St. Helena verbannt und das französische Königreich unter Ludwig XVIII. wiederhergestellt. Dennoch vermögen selbst Superlative wie die des frühen Weber-Biografen Friedrich Wilhelm Jähns, der das Werk bereits 1873 als die „deutscheste aller Opern“ lobte, nicht darüber hinwegzutäuschen, dass dieser Charakter alles andere als eindeutig zu bestimmen ist. In einer begriffslosen Kunst wie der Musik erlauben allein die Textgrundlagen eindeutige Schlüsse; vielfach beruht das Nationale auf außermusikalischen Zuschreibungen, sodass es sich um ein Phänomen handelt, das sich nicht allein durch den Blick in die Partitur klären lässt. Die Frage, wie sich das Deutsche in der Musik nachweisen lasse, war seit dem frühen 19. Jahrhundert virulent und prägte lange Zeit auch die akademische Musikforschung, die ihre Institutionalisierung dem obrig-
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keitlichen Bedürfnis nach einer deutschen Nationalmusikgeschichtsschreibung verdankte. Trotz aller Bemühungen kam man nie zu abschließenden Ergebnissen, denn schon die Frage, was überhaupt als spezifisch „deutsch“ anzusehen ist, lässt sich nicht eindeutig klären. Noch heute taucht analog dazu von Zeit zu Zeit in der politischen Debatte der Begriff der „deutschen Leitkultur“ auf, deren Klärung darauf ergebnislos erneut vertagt wird. Bis 1945 dominierte im Diskurs über deutsche Musik das Bedürfnis, die Zugehörigkeit der großen Werke zur eigenen Tradition herauszuarbeiten. Als man sich in der Nachkriegszeit allmählich von belasteten Denkmustern abzugrenzen versuchte, zu denen auch die durch die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus besetzte Übersteigerung des Nationalen zählte, gelangte man zu umfassenden Neubewertungen des Opernrepertoires. Den vorherigen Beschwörungen des Deutschtums stellte man nun die vielfältigen nichtdeutschen Quellen und Traditionen entgegen, die sich im Freischütz nachweisen lassen. Dieser schließt nicht an deutschsprachige Opern aus Wien an wie Mozarts Entführung aus dem Serail, die Joseph II. als Nationalsingspiel in Auftrag gegeben hatte, die Zauberflöte und Beethovens Fidelio, sondern vor allem an die französische Opéra comique – selbst für als besonders „deutsch“ geltende Nummern wie den Jägerchor und den Jungfernkranz lassen sich entfernte Vorbilder bei den damals sehr bekannten François-Adrien Boieldieu und Luigi Cherubini finden. Der Befund der formalen Unselbstständigkeit der älteren deutschen Musik ist allerdings keine neue Erkenntnis, sondern galt bereits unter den Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts als Tatsache. Von ihnen wurde der Eklektizismus meist ins Positive gewendet als die allumgreifende, Totalität realisierende Vereinigung des sonst Getrennten – charakteristisch Deutsch sei es, die aus den ausländischen Traditionen übernommenen musikalischen Formen zu vereinen, wobei man davon ausging, die daraus resultierende Synthese sei künstlerisch höherstehend als die Vorbilder. Webers Melodik verleugnet nicht, dass er die Opern von Étienne-Nicolas Méhul schätzte, so wie sein überwiegend deklamatorischer Gesangsstil generell auf das Repertoire aus Frankreich verweist. Französische Vorbilder lassen sich für die Wolfsschlucht-Szene entdecken, die an verbreitete Gewitter- und Seesturm-Szenen anschließt, während Agathes Bravour-Arie „Wie nahte mir der Schlummer“ im zweiten Akt das italienische Modell von Scena ed Aria aufgreift. Wollte Weber ein breites Publikum ansprechen, dann blieb ihm allerdings gar nichts anderes übrig, als sich bewährter Formen zu bedienen: Ein Theatererlebnis beruht auf dem Wechselspiel von
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wiedererkennbaren Strukturen – für den damaligen Zuschauer waren dies die starken Konventionen der französischen und italienischen Oper –, die durch den Abend leiten, und gezielten Abweichungen von ihnen, die den Zuschauer überraschen und Spannung erzeugen. Im frühen 19. Jahrhundert wurden nicht wenige deutschsprachige Opern komponiert, aber ihre Wirkung war zumeist eng begrenzt. Eine stehende Klage war, dass es deutschen Libretti meist an Bühnenwirksamkeit fehle, woraus Wagner die Konsequenz zog, seine Texte selbst zu verfassen; mitunter sollte der Vorwurf freilich verdecken, dass es auch deutschen Komponisten, die die mangelhaften Texte vertonten, an Gespür für packende Situationen fehlte. Im Handwerklichen bestand ein Gefälle gegenüber ausländischen Textautoren, das sich mit dem in der heutigen TV- und Filmindustrie vergleichen lässt, bei der die modellbildenden Erfolgsproduktionen zumeist aus den USA stammen. Der Nervenkitzel der Schauerliteratur, der auch im Freischütz durchscheint, war aus England importiert worden; rasch wurde der Pakt mit dem Jenseitig-Bösen zu einem Modethema auf der deutschen Opernbühne. Er findet sich schon im Faust (1816) von Louis Spohr und wird variiert in den damals populären Opern Der Vampyr (1828) und Hans Heiling (1833) von Heinrich Marschner sowie im Fliegenden Holländer (1843) von Wagner, aber auch in der Grand opéra Robert le diable (1831) von Giacomo Meyerbeer. Obwohl im Freischütz eine Amalgamierung verschiedener Bühnentraditionen stattfand, unterscheidet er sich offenkundig von den französischen und italienischen Bühnenwerken seiner Zeit. Eine genuin deutsche Oper war zu dieser Zeit noch nicht mehr als ein diffuses Wunschbild. Wenn der Freischütz als Nationaloper wahrgenommen wurde, dann deshalb, weil Weber bestimmte rhetorische Kombinationen wie die nachfolgend behandelte Kopplung von Wald und Horn überhaupt erst als „deutsch“ etabliert hatte. Zu diesem Bild trug entscheidend die frühzeitige Stilisierung des Werks bei, das zu einer Manifestation des Nationalen erklärt wurde. Max Maria von Weber, der Sohn des Komponisten, stellte die Uraufführung als eine politische Demonstration dar, denn im überfüllten Berliner Schauspielhaus standen dicht gedrängt „die jugendliche Intelligenz, das patriotische Feuer, die erklärte Opposition gegen das Ausländische: Studenten, junge Gelehrte, Künstler, Beamte, Gewerbetreibende, die vor acht Jahren geholfen hatten, den Franzmann zu vertreiben“. Als Deutsche lassen sich die handelnden Charaktere identifizieren, auch wenn sie überwiegend altbekannten Rollencharakteren des Theaters zuzuordnen sind; so repräsentiert die fromme und abergläubische Agathe etwa das Fach der
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jugendlich Naiven. Die Handlung spielt in Böhmen, aber gemeint war die deutschsprachige Bevölkerung dort. Sie entspricht auch dem damals verbreiteten Wunsch nach Besinnung auf eigene Wurzeln, denn ihr Grundmotiv geht auf Volkserzählungen zurück, die sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und auch bei den Brüdern Grimm zu finden sind. Für eine Nationaloper ist die Wahl des Schauplatzes offenbar nicht entscheidend, denn Euryanthe (1823), Webers folgende Oper, spielt in Frankreich, ohne dass der Verdacht aufkommt, es gehe dort um die französische Nation. Zur Erklärung der Innovationen im Freischütz erscheint der Einbruch der Romantik in die Welt der Musik als ein geeigneteres Erklärungsmodell als das der Betonung des Nationalen. Im Musiktheater bis zum späten 18. Jahrhundert war die musikalische Charakterisierung des Schauplatzes mittels Lokalkolorit nur rudimentär ausgebildet gewesen. Wie in Mozarts Entführung aus dem Serail hatte sie sich meist auf den Einsatz von Janitscharenmusik zur Vergegenwärtigung eines diffusen Orientalismus beschränkt – ansonsten war es der Musik nicht anzuhören, ob die Oper im mittelalterlichen Schottland oder im antiken Rom spielt. In der Romantik wurde es üblich, dem jeweiligen Ort (und auch der dargestellten Epoche) ein unverwechselbares musikalisches Gepräge zu verleihen. Der in Paris wirkende böhmische Komponist Anton Reicha, dessen mehrbändige Kompositionslehre (1814–1824) weithin rezipiert wurde, riet explizit, „bisweilen eine Nationalmelodie einzuflechten, oder noch besser ein solches Lied, wenn es schon vorteilhaft bekannt ist und ein melodisches Interesse hat“. Wiewohl Weber auf originale deutsche Volkslieder verzichtete, versuchte er einen volkstümlichen Ton zu treffen, der für einen deutschen Schauplatz glaubhaft war. Bei diesem Bestreben scheinen ihn allerdings eher künstlerische als patriotische Anliegen geleitet zu haben, denn der Wunsch zur musikalischen Charakterisierung findet sich bei ihm gleichfalls bei anderen Handlungsorten; so verwendete er etwa in seiner Schauspielmusik zu Friedrich Schillers Turandot eine chinesische Melodie aus dem Dictionnaire de Musique (1768) von Jean-Jacques Rousseau, die dieser wiederum einem damaligen Standardwerk über das Land entnommen hatte. Für den Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus war der national-deutsche Ton im Freischütz bloß eine „Variante eines umfassenderen Interesses an ethnischem Kolorit, das Weber mit einigen Komponisten der Opéra comique teilt, eines Interesses, das sich bei Weber in spanischen, polnischen oder russischen Assoziationen ebenso dokumentiert wie in Zitaten von arabischen oder chinesischen Melodien“.
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Weber bezeichnete als die Hauptelemente seiner Oper, denen er in innovativer Weise jeweils bezeichnende Klangfarben zuordnete, das „Walten dämonischer Kräfte“ und das Jägerleben. Naturschilderungen sind typisch für die Romantik, in der die Darstellung dunkler, unerklärlicher Erscheinungen breiten Raum einnahm, was der Oper wiederum Gelegenheit zu reizvoller musikalischer Charakteristik eröffnete. Für den sich immer wieder nationalchauvinistisch artikulierenden Komponisten Hans Pfitzner war der deutsche Wald der eigentliche Hauptakteur im Freischütz, womit er auf die in der Oper immer wieder deutlich hervortretende Klangfarbe der Hörner abhob, mit der die Welt der Jäger gezeichnet wird. Die historischen Ursprünge weisen allerdings weg vom Deutschtum, denn die Verbindung von Horn und Jagd wurde ursprünglich durch die Parforcejagd geprägt, einen von der französischen Aristokratie übernommenen Zeitvertreib des europäischen Adels, der erst nach den Napoleonischen Kriegen zum Brauchtum wurde. Bei der von mehreren Jägern gemeinsam ausgeübten Gesellschaftsjagd dienen die weithin hörbaren Signale der Kommunikation; bei der Jagd zu Pferd waren weite Entfernungen zu überbrücken, weshalb die Windungen der Instrumente so weit sein mussten, dass man Kopf und Arme hindurchstecken konnte, um beim Reiten beide Hände frei zu haben. Es wäre noch genauer nachzuvollziehen, wie die Assoziation des Hornklangs als „deutsch“ vor allem durch die Oper Webers geprägt wurde. Im nationalistischen Musikdiskurs wurde immer wieder die Vermutung aufgestellt, in den Klängen tiefer Blechblasinstrumente komme ein spezifisches Musikempfinden des germanisch-deutschen Menschen zum Ausdruck, das man bis auf die altgermanischen Luren zurückführte; dabei handelte es sich um ein im religiösen Kult der Bronzezeit gebrauchtes Blasinstrument, dessen genaue Verwendung unklar ist. Der Nationalsozialist Hermann Matzke, Professor an der Technischen Universität Breslau, hielt es für keinen Zufall, dass sich „den großen deutschen Meistern […] eine Art Urklang offenbart, der dem Kenner unmittelbar das Klangerlebnis der Luren zurückruft“, was sich unter anderem bei Wagner und Bruckner zeige. Die Rezeptionsgeschichte des Freischütz macht hingegen deutlich, dass es sich bei dieser Verbindung zum deutschen Wesen nicht um eine quasi naturwissenschaftliche Konstante, sondern um eine Zuordnung handelt. Als das Nationale wird letztlich vor allem das verstanden, was zum Nationalen erklärt wird – selbst die akustischen Signale eines adligen Amüsements.
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THEA DORN
WALDEINSAMKEIT
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Der Wald ist groß. Der Wald ist finster. Im Wald bist du allein. Mit Wölfen, die dich zu Abwegen verleiten, wenn du der Großmutter Kuchen und Wein bringen willst. Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig hausen in dem Wald … Du bist allein mit Hexen, die dich in ihr Knusperhäuschen locken und mit Pfannekuchen, Äpfeln, Nüssen mästen. Doch ehe du dich’s versiehst, sitzt du im Stall und sollst gefressen werden. Hinter jedem Stamm lauert ein Holländer-Michel, der es auf dein Herz abgesehen hat. Und nur wenn du so unschuldig bist wie der Kohlenmunk-Peter, erscheint dir das Glasmännlein und hilft, dein gestohlenes Herz zurückzuerobern. Im deutschen Wald darf das Obskure seine fantastischsten Blüten treiben. Kein Wunder, dass er den Angehörigen von Völkern, die sich früher und rückhaltloser als die Deutschen zu Fußbodenheizung, manierlichen Umgangsformen und bürgerlichem Recht, kurz: zur Zivilisation, bekannt haben, nie recht geheuer war. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus bescheinigte in seiner Germania dem rauen Land hinter dem Limes, „mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck“ zu machen. Selbst Caesar, der Unerschrockene, berichtete nicht ohne Schaudern von jenem „Hercynischen Wald“ (gemeint sind die dicht bewaldeten Mittelgebirgszüge von den Donauquellen bis nach Siebenbürgen), in dem es vor sonderbar gehörnten Tieren wimmle und aus dem auch der geübte Marschierer erst nach sechzig Tagen wieder herausfinde. Nach dem Zweiten Weltkrieg gar soll ein britischer Verbindungsoffizier auf den Vorschlag eines Hamburger Buchhändlers, Grimms Märchen in den Kanon der demokratisch unverdächtigen Bücher aufzunehmen, geantwortet haben: „Oh no, that’s too much wood!“ Doch plötzlich bricht die Sonne durchs Blätterdach, die düstren Stämme schimmern silbrig, der moosige Boden leuchtet im zartesten Grün, und in dem Astloch, das dich eben noch so finster angestarrt hat, entdeckst du einen emsigen Käfer bei der Arbeit. Verschwunden sind die Spukgestalten, und du bist bereit, Adalbert Stifter, dem Schriftsteller des Biedermeier, der kaum eine Erzählung geschrieben hat, die ohne Wald auskommt, zu glauben, wenn er versichert: „Alle, die je in jene Waldländer gerieten, fanden eine schöne Wildnis voll gesunder Blumen, Kräuter und herrlicher Bäume, die Wohnung unzähliger fremder Vögel und Tiere, aber nicht das mindeste Verdächtige.“
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Deine Seele möchte vor Erleichterung jauchzen, doch kommt ihr ein Waldvöglein zuvor, das schöner singt, als du es je könntest: „Waldeinsamkeit, / Die mich erfreut, / So morgen wie heut’ / In ew’ger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit.“ Aber kannst du dem zierlichen Sänger wirklich vertrauen? Du versuchst, dich an deine Schullektüre zu erinnern: War es nicht Ludwig Tieck, der romantische Dichter, der dies Vöglein so hinreißend singen lässt? Es fällt dir wieder ein: Der blonde Eckbert, so heißt das Rittermärchen. Ein ungeliebtes Mädchen flieht aus seinem Elternhaus in den Wald und findet dort jenen Frieden, den ihm die Welt verwehrt. Steht dort auf der Lichtung nicht die Klause, in der das Kind sein beschaulich geborgenes Leben führt? Doch halt! Überlege es gut, bevor du anklopfst! Das Mädchen Bertha lebt nicht mehr. Musste sterben, weil seine Sehnsucht nach Prinzen es aus dem Wald getrieben hat. Waldverrat rächt sich. Wer im Wald einmal heimisch geworden ist, den lässt er nicht mehr los. Den holt er zurück, selbst wenn er sich in Ritterburgen verschanzt. Einer, der dies sehr genau wusste, war Ernst Jünger, der Autor, der die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs pries, um nach dem Zweiten zum leidenschaftlichen Waldgänger zu werden: „Der Wald ist heimlich. Das Wort gehört zu jenen unserer Sprache, in denen sich zugleich ihr Gegensatz verbirgt. Das Heimliche ist das Trauliche, das wohl geborgene Zuhause, der Hort der Sicherheit. Es ist nicht minder das Verborgen-Heimliche und rückt in diesem Sinne an das Unheimliche heran.“ Ganz gleich, ob heimlich oder unheimlich – der Wald vermag nur den in seinen Bann zu schlagen, der sich nach einem Ort jenseits der Zivilisation sehnt. Wer im deutschen Wald lustwandeln will, und sei’s mit wohligem Schauer, der muss noch Dickicht in sich tragen. Aber gibt es dieses Dickicht da draußen überhaupt noch? Ist das Dickicht nicht längst in unseren Städten angekommen, und findet sich der, dessen unbehauste Seele den Wald sucht, nicht einzig im wohlgeordneten Forst wieder? „Wer hat dich, du schöner Wald / Aufgebaut so hoch da droben?“, fragte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Joseph Freiherr von Eichendorff mit heiligem Staunen und versprach: „Wohl den Meister will ich loben, / So lang noch mein’ Stimm’ erschallt.“ Ein kaltes Jahrhundert später erhielt der deutsche Waldpoet, der ein preußisches Beamtenleben lang nicht aufhören konnte, seine oberschlesischen Kindheitswälder anzusingen, die spöttische Antwort: „Der Meister ist ein Forstmeister, Oberforstmeister oder Forstrat, und hat den Wald so aufgebaut, dass er mit Recht sehr böse wäre, wenn man darin seine sachkundige
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Hand nicht sofort bemerken wollte. Er hat für Licht, Luft, Auswahl der Bäume, für Zufahrtswege, Lage der Schlagplätze und Entfernung des Unterholzes gesorgt und den Bäumen jene schöne, reihenförmige, gekämmte Anordnung gegeben, die uns so entzückt, wenn wir aus der wilden Unregelmäßigkeit der Großstädte kommen.“ Mit dieser Einschätzung lag der österreichische Schriftsteller Robert Musil richtig. Und daneben zugleich. Das Verhältnis von deutscher Waldver- und -entzauberung ist verschlungener. Es stimmt: Die Deutschen sind Weltmeister, wenn es darum geht, Forst straff und „nachhaltig“ zu bewirtschaften. Das älteste Lehrbuch der Forstwissenschaft, die Sylvicultura oeconomica, stammt von Hannß Carl von Carlowitz, einem sächsischen Oberberghauptmann. Veröffentlicht wurde es 1713, zu einer Zeit, da es um die gesamten mittel- und westeuropäischen Urwälder nicht mehr gut bestellt war – von den südeuropäischen Wäldern ganz zu schweigen, die von den Griechen und Römern bereits in der Antike erbarmungslos abgeholzt worden waren. Wald war Baustoff, Brennstoff, Weideland. Städte und Bergwerke fraßen den Wald mit wachsender Gier. Doch nur die Deutschen beunruhigte der „große Holz-Mangel“, wie es bei Carlowitz im Untertitel heißt, schon damals so sehr, dass sie begannen, systematisch aufzuforsten. Jener Untertitel ist es wert, genauer betrachtet zu werden: Der Pionier der Forstwirtschaft verspricht dort nämlich eine „Anweisung zur wilden BaumZucht“. Dürfen wir einem, der für das grandios paradoxe Konzept der „wilden Zucht“ plädiert, unterstellen, dass ihm das Herz erst aufgeht, wenn er Bäume in Reih und Glied stehen sieht, wie Musil es unterstellt? Ein anderer Gründervater der deutschen Forstwissenschaft erklärte gar: „Die Wälder bilden sich und bestehen also da am besten, wo es gar keine Menschen und folglich auch keine Forstwissenschaft gibt.“ Ist dies die Sprache ordnungswütiger Baumbändiger? An keinem lässt sich die Ambivalenz der deutschen Forstwirtschaft im Märchenwald besser ablesen als an Johann Heinrich Jung-Stilling. Der Enkel eines Köhlers war Augenarzt, außerdem in den verschiedensten technisch-ökonomischen Wissensgebieten zu Hause und einer der bekanntesten Dichter der Empfindsamkeit obendrein. 1777 veröffentlichte er den ersten Teil seiner Autobiografie und erzählte darin die Geschichte von Jorinde und Joringel: „Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen dicken Wald; darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin […]“ Ein Märchen, so romantisch versponnen, dass es in der Sammlung der Gebrüder Grimm nicht fehlen durfte. Und dennoch war es derselbe Jung-Stilling, der ein zweibändiges Lehr-
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buch der Forstwirtschaft schrieb, in welchem er unter anderem empfahl, die Wildbestände zu kontrollieren, um den Wald zu schützen. Im Märchen rettet Joringel seine zur Nachtigall verzauberte Jorinde, indem er die blutrote Blume findet, von der er des Nachts geträumt hat. Im wirklichen Leben sollte der Jäger mit seiner Büchse auf Wild anlegen, auf dass es keinen Flurschaden anrichte. Bewahrt der Förster/Jäger den deutschen Wald, damit Joringel weiter von blutroten Blumen und Nachtigallen träumen kann? Oder ist der Märchenknabe Joringel in Wahrheit selbst ein Förster/Jäger, der es darauf abgesehen hat, den althochdeutschen „wuastwaldi“, den wüsten Wald, zu entzaubern? In seiner berühmten Studie Masse und Macht von 1960 stellte Elias Canetti dem deutschen Wald ein noch schneidenderes Zeugnis aus, als Robert Musil es kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs getan hatte. „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald […] Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz der Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude.“ Der jüdische Autor Canetti, der vor den Nazis aus Wien nach London fliehen musste, kannte den braunen Terror, der sich auch des grünen Waldes zu bemächtigen wusste, indem er Schilder aufstellte, die verkündeten, dass „Juden in unserem deutschen Wald nicht erwünscht“ seien. Alfred Rosenberg, einer der führenden Nazi-Ideologen, versuchte sich an einem Montage-Film, der den Hauruckbogen vom „ewigen Wald“ zum „ewigen Volk“ schlagen wollte. In der Tat gibt es dort eine historische Sequenz, in der preußische Soldatenbeine nebst aufgepflanzten Gewehren und die Stämme eines Waldes ineinander übergeblendet werden. Und ja: Viele der Bilder, die Leni Riefenstahl ihrem „Führer“ vom Reichsparteitag 1934 geliefert hat, erinnern an marschierende Botanik. Aber ist es wirklich noch Wald, der da marschiert? Oder sind es nicht erbarmungslos gestutzte Hecken? Wenn eine blutige Operettenfigur wie Hermann Göring, seines Zeichens auch Reichsjäger- und Reichsforstmeister, auf die Pirsch ging, suchte er nicht das Domestizierte. Im Gegenteil. Und wenn es nur die Illusion von Wild war, die ihm seine Domestiken vor die Flinte trieben. Wer das Suspekte am deutschen Wald im Preußisch-Rigiden vermutet, verkennt, woher dieser seine Aura – auch die militärisch-heroische – vor allem bezieht: aus seiner Undurchdringlichkeit. Arminius, von deutschen Nationalisten in „Hermann, der Cherusker“ umgetauft, gewann die legendäre Schlacht, die er im Jahre neun nach Christi
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gegen Varus schlug und welche die römischen Expansionspläne in Richtung Nord- und Ost-Germanien beendete, nicht deshalb, weil er einen marschierenden Wald hinter sich gehabt hätte. Sondern weil die Legionen des fern in Rom weilenden Kaisers Augustus im Dickicht und gewittrigen Morast des Teutoburger Waldes stecken blieben. Als es 1813/14 darum ging, die napoleonische Herrschaft über Deutschland zu beenden, sammelten sich preußische Studenten und illustre Zeitgenossen wie Joseph von Eichendorff oder der spätere Erfinder des Kindergartens, Friedrich Fröbel, zum Lützowschen Freikorps. Das strenge Marschieren war ihre Sache jedoch nicht. Die bewaffnete lntelligenzija tummelte sich im Unterholz und trug dabei selbst gefärbte Uniformen, die es ihr erlaubten, sich „Schwarze Jäger“ zu nennen. Einer von ihnen, der Schriftsteller Theodor Körner, setzte sich und seinen Kameraden noch ein literarisches Denkmal, bevor er 1813 fiel: „Was zieht dort rasch durch den finster’n Wald / Und streift von Bergen zu Bergen? / Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt, / Das Hurra jauchzt, und die Büchse knallt, / Es fallen die fränkischen Schergen. / Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt: / Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.“ Carl Maria von Weber verhalf dem Gedicht durch seine Vertonung für Männerchor mit Waldhornklängen zu immenser Beliebtheit. Nur wenige Jahre später, 1821, erblickte Webers romantische Waldoper Der Freischütz das Licht der großen Bühne. Und in welchem seiner vielen Gewänder darf Satan hier auftreten? Als „Schwarzer Jäger“ … Deutsche Präzisionsarbeit am Mythos, der damals schon ein dämonischer zu sein hatte. Im Wald, da sind die Räuber. Das zwitschern nicht nur – halli hallo – die Volkslied-Spatzen. Vom Wirtshaus im Spessart bis zum Hotzenplotz: kein Stamm, hinter dem nicht eine Räuberpistole hervorlugte. Friedrich Schillers Räuber rotten sich in den böhmischen Wäldern zusammen, um zum Sturm auf die alten Adelsschlösser zu blasen. Selbst die Terroristen der RAF, die sich dem Zeitgeist der 1970er gemäß als „Stadtguerilla“ definierten, mochten nicht darauf verzichten, ein Waffendepot im Sachsenwald östlich von Hamburg anzulegen, einem der geschichtsträchtigsten und urwüchsigsten deutschen Laubwälder. Ob Christian Klar, der 1982 dort verhaftet wurde, je Wilhelm Heinrich Riehl gelesen hat? „Der Wald allein lässt uns Kulturmenschen noch den Traum einer von der Polizeiaufsicht unberührten persönlichen Freiheit genießen“, schrieb der Begründer der Volkskunde 1854 in seiner Studie Land und Leute und begrüßte den Wilderer, der vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein von den Feudalherren grausam
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bestraft worden war, als einen Freischärler des Waldes. Wahrscheinlich hätte der linke Terrorist den Verfechter der „germanischen Waldfreiheit“ für einen „Faschisten“ gehalten – oder hätte Christian Klar klammheimlich zugestimmt, wenn Riehl den Franzosen und Italienern, die über keine „wirklichen Wälder“ mehr verfügten, ein „halbwegs ausgelebtes Volkstum“ bescheinigte? Wie auch immer, der Gedanke, dass die Freiheit aus den Wäldern Germaniens stamme, findet sich sogar bei einem der geschmähten Franzosen selbst: beim Baron de Montesquieu in dessen staatstheoretischer Abhandlung Vom Geist der Gesetze. Wenn man sich die Geschichte der Deutschen anschaut – zumindest seit sie ihre Urwälder verlassen haben –, kann sich jedoch der Verdacht aufdrängen, sie hielten es eher mit den Gesetzen und deren Befolgung als mit der Freiheit. Ist die germanische Waldfreiheit am Ende nichts weiter als eine pathetische Schimäre? Die radikalste Verknüpfung von Freiheit und Wald findet sich bei Ernst Jünger im bereits zitierten Essay Der Waldgang von 1951. Hier hat der Waldgang nichts mit einem harmlosen Ausflug ins Grüne zu tun, er wird zur Metapher für den Gang in die Freiheit schlechthin. Der „Waldgänger“ ist ein ebenso elitärer wie solitärer Partisan, der sich gegen die Befehle der verwalteten Welt auflehnt. Jünger erzählt die Geschichte eines jungen Sozialdemokraten aus dem Berlin der Nazizeit, der im Hausflur seiner Mietwohnung ein halbes Dutzend Hilfspolizisten erschossen haben soll, als diese sich anschickten, den Befehl zur Enteignung jüdischen Wohneigentums in die Tat umzusetzen. „Der war noch der substanziellen, der altgermanischen Freiheit teilhaftig, die seine Gegner theoretisch feierten“, heißt es rühmend, und weiter: „Wenn wir nun ferner annehmen wollen, dass in jeder Berliner Straße auch nur mit einem solchen Falle zu rechnen gewesen wäre, dann hätten die Dinge anders ausgesehen.“ Ist dies das Eingeständnis einer Kollektivschuld à la Jünger? Und wieso hat der Wehrmachtsoffizier selbst seine Dienstwaffe nicht zum „Waldgang“ in Goslarer, Überlinger oder Kirchhorster Nachbarhäusern eingesetzt, sondern stattdessen bis ins Hotel „Raphael“ nach Paris getragen? Aber machen wir es uns mit dem Aburteilen nicht zu leicht. Denn wie Jünger schreibt: „Lange Zeiten der Ruhe begünstigen gewisse optische Täuschungen.“ Und ein zentraler Gedanke steckt im Waldgang, der allemal wert ist, nicht vergessen zu werden – der Gedanke, dass der Wald der Ort ist, an dem jeder mit seinen Urängsten konfrontiert wird: „Der alte Wald mag nun zum Forst geworden sein, zur ökonomischen Kultur. Doch immer noch ist in ihm das verirrte Kind.“ Ist
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es auch ein Missverständnis, den deutschen Wald für eine preußische Kadettenanstalt zu halten – das „große Todeshaus“, wie Jünger ihn nennt, bleibt er. Jedes verirrte Kind muss allein sehen, wie es die Todesangst in ihm erträgt. „Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / Da kommen die Wolken her, / Aber Vater und Mutter sind lange tot, / Es kennt mich dort keiner mehr. / Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit, / Da ruhe ich auch, und über mir/ Rauschet die schöne Waldeinsamkeit / Und keiner mehr kennt mich auch hier.“ Das Kind, das so anrührend im Walde pfeift, dass seine Todesangst gar nicht anders kann, als den Zug einer wehmütigen Todessehnsucht anzunehmen, ist natürlich niemand anderes als der Freiherr von Eichendorff. Wer einmal gehört hat, welche Töne Robert Schumann, der Komponist der abgrundtiefen Traurigkeit, durch dieses Gedicht hindurchgewebt hat, der ist sofort bereit zu sterben. Nicht im Auftrag eines klirrenden Vaterlandes. Sondern ganz allein. Für sich. Und dennoch getröstet. Dieses urromantische Im-Wald-Sterben ist eines, das Herz und Kopf befreit, und damit auch das Leben, weil es bis zu seinem Schlussakkord noch wuchern darf. Wie ganz und gar anders war dagegen die Grundstimmung, in welcher die deutsche Angst vorm Waldsterben in den 1980er Jahren in die Welt hinausposaunt wurde. „Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima“, orakelte Der Spiegel. Und der Stern verkündete: „Die Reihen der Bäume lichten sich wie Armeen unterm Trommelfeuer.“ Mitten im bundesrepublikanischen Wohlstandsfrieden verlangten überschäumende Zivilisationskritiker: „Was das Waldsterben von uns fordert, ist die totale Umstellung unseres Produktions- und Reproduktionssystems – und die wiederum erfordert die totale Revision unserer sogenannten Werte. Darunter läuft nichts mehr.“ Hätte der bayerische Schriftsteller und Ökoaktivist Carl Amery nicht lieber den Schumannschen Waldszenen lauschen sollen anstatt dem propagandistischen Sound des „Totalen“? Oder wenigstens dem Prosagedicht seines westfälisch-badischen Dichterkollegen Otto Jägersberg, der 1985, auf dem Höhepunkt der Erregung, klagte: „Das ewige Reden über den Sauren Regen / macht den Wald ganz krank / Niemand geht mehr in ihm rum / und bewundert ihn / Alle bemitleiden ihn nur noch / Kein Leben für den Wald.“ Franzosen und Amerikaner lachen heute noch, wenn sie „le / the waldsterben“ sagen. Sorge um den Wald ist eine Sache. Geschrei im Gewand der Sorge eine andere. Und jene Sorge schließlich, um die es am Schluss einzig geht, die Sorge, selbst nicht mehr zu sein, während die Wälder immer noch rauschen, lässt sich
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nicht beruhigen, indem man sie ins Gegenteil travestiert, die Wälder könnten nicht mehr sein, während die Menschheit immer noch rauscht. Du kannst den Wald sterblicher machen, als er ist. Du kannst dich mit schuldzerknirschter Miene zu seinem Retter aufspielen. Nur kannst du nicht erwarten, dass er dich zur Belohnung weniger sterblich macht, als du bist. Am besten, du legst die Rüstung ab, gehst leise hinein in den Wald und bittest ihn, eines Tages für immer in ihm verschwinden zu dürfen.
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Andrej Sorin hat eine Professur für Russisch an der University of Oxford inne. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen russische Literatur und Kulturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im europäischen Kontext, russische Literatur und Ideologie, Emotionsgeschichte sowie späte sowjetische und postsowjetische Literatur.
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ANDREJ SORIN
GEBET DER AGATHE ÜBER DER WOLFSSCHLUCHT DER FREISCHÜTZ IN DER RUSSISCHEN KULTUR
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Der Titel der berühmtesten Oper von Carl Maria von Weber ist in der russischen Sprache seit Langem, in einer etwas verfälschten Transliteration, zu einem geflügelten Wort geworden, dank einem Zitat aus dem Roman in Versen Jewgenij Onegin von Alexander Puschkin: „Ein Frejšiz, wenn ihn durchgespielt / die Finger zag der Schülerin.“ Die Wendung meint eine unzulängliche Darbietung oder Nachahmung von herausragenden Kunstwerken und wird oft wiederholt, ohne dass daran gedacht wird, wer oder was dieser „Frejšiz“ sei. Puschkin selbst kann freilich bis zum Jahr 1824, wenn er diese Zeilen notiert, den Freischütz nicht gehört haben: Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Dichter schon seit vier Jahren in der Verbannung, erst am Schwarzen Meer, in Odessa, wo es zwar eine italienische, aber weder eine deutsche noch eine russische Oper gibt, und dann auf seinem Landgut Michailowskoje nahe Pskow, der ihm zum Aufenthalt zugewiesen wurde. Dennoch zeigt der Dichter an dieser Stelle ein weitaus tieferes Verständnis für das Wesen der Weber’schen Innovationen, als es sich aus den beiden – hier aus dem Kontext herausgelösten – Zeilen schließen ließe. Puschkin bezieht den Vergleich mit einer schülerhaften Darbietung des Freischütz auf die „Übertragung“ in russischen Versen, die der Erzähler des Onegin von dem Liebesbrief verfertigt, den die Romanheldin Tatjana Larina in einem für die adligen Gepflogenheiten üblichen Französisch geschrieben habe. Auf diese Weise wird der von einem jungen Mädchen aus der Provinz hingeworfene „rührselige Unsinn“ mit einer allgemein bewunderten Oper gleichgesetzt, während die von einem berühmten Dichter vorgetragenen Strophen mit einer dilettantischen Darbietung dieser Oper parallelisiert werden. Eine solche Bevorzugung der Unbefangenheit gegenüber der Meisterschaft ist ein charakteristisches Kennzeichen der Epoche der Romantik. In den folgenden Kapiteln des Onegin, entstanden schon in Michailowskoje, wird das adlige Fräulein, das sich zu seiner Liebe in französischer Sprache bekennt, für Puschkin zu einer idealtypischen Verkörperung einer „Russin ihrer Seele nach“. Zum wichtigsten Ausdruck und vielleicht zum eigentlichen Ursprung der wahren ‚Volkstümlichkeit‘ ihres Charakters gehört hier der Aberglaube: „Tatjana glaubte an die Sagen / der Vorzeit, aus dem schlichten Volk, / an Träume und an Kartenlegen, / an Vorbedeutungen des Monds.“ Die Hauptheldin beteiligt sich an den vorweihnachtlichen Wahrsagereien und findet im „Grauen selbst“ einen „geheimen Reiz“. In ihrem prophetischen Albtraum erkennt sie ihren Geliebten im dämonischen Anführer einer Monsterbande, nicht unähnlich den Abgesandten der Hölle, die bei Weber durch die Wolfsschlucht ziehen.
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Nachdem Russland im Zuge der Napoleonischen Kriege eine militärische Macht und ein politisches Gewicht von bisher ungekanntem Ausmaß erlangt hat, zeigt sich dort vor allem das gebildete Publikum bestrebt, sich von der Dominanz der französischen Kultur zu befreien und das Geheimnis der eigenen ‚Volkstümlichkeit‘ zu ergründen. Muster und Vorbild für diese Bemühungen ist nicht zuletzt Deutschland, wo ein solcher Prozess schon mit dem Sturm und Drang begonnen hat. In der Oper äußert sich diese Tendenz in der Entgegensetzung der Innovationen der deutschen Tonkunst und der italienischen Belcanto-Tradition, die von dem Sänger vorgeblich nur eine kalte Virtuosität verlange. Auch Puschkin beteiligt sich am sogenannten Streit der ‚Mozartisten‘ und der ‚Rossinisten‘ mit seiner ‚Kleinen Tragödie‘ Mozart und Salieri (1830), wo der italienische Komponist, der „durch Algebra die Harmonie geprüft“ hat, seinen Zunftgenossen ermordet, weil er ihn um seine himmlische Gabe beneidet. Starke Argumente in dieser Polemik liefert gerade Der Freischütz und sein gesamteuropäischer Triumph. Friedrich Kind gelingt es, in seinem Libretto mehrere Tendenzen der romantischen Bewegung zu vereinen: die Suche nach der nationalen Identität im einfachen „Volk“ mit seinem Liedgut und seinen Legenden und Gebräuchen; die Faszination für das Fantastische und Diabolische, das sich in seiner Wirksamkeit jedoch auf verwunschene Orte beschränkt, wodurch dem „Grauen selbst“ der „geheime Reiz“ verliehen wird; schließlich die engelhafte Figur der schönen Jungfrau, die bereit ist, sich für ihren Geliebten aufzuopfern. Das russische Publikum erlangt Kenntnis von der neuen musikalischen Sensation, noch bevor Der Freischütz in Petersburg auf die Bühne gebracht wird. Wassili Schukowski, Puschkins poetischer Mentor und einer der Begründer der literarischen Romantik in Russland, der die fantastischen Balladen von Gottfried August Bürger und Johann Wolfgang Goethe, aber auch von Ludwig Uhland und Walter Scott ins Russische übersetzt und sich als den „Oheim der Teufel und der Hexen, der deutschen wie der englischen“, bezeichnet, hält sich Ende 1821 in Berlin auf, wo er im Laufe eines Monats dreimal den Aufführungen von Webers Oper beiwohnt. Fjodor Tjuttschew, ein führender Vertreter der nachfolgenden Dichtergeneration, der 1822 in München den diplomatischen Dienst antritt, erinnert sich später, in Deutschland „bei Freischützens Klängen“ eingetroffen zu sein. Auch die russische Presse schreibt viel über den Erfolg der Oper. So berichtet die Petersburger Kulturzeitschrift Der Wohlgesinnte: „Ganz gleich in welcher Stadt die Oper aufgeführt wurde, überall wurde sie mit größter Begeisterung aufgenommen, überall wurde sie mehrere dutzendmal hintereinander
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gespielt, überall war die Musik des glücklichen Weber zu hören: in den Salons, in den Klubs, in den Gaststätten, auf den Straßen. Irgendein guter Deutscher suchte über eine Zeitungsannonce nach einem Kammerdiener, mit einer Bedingung: nichts aus dem Zauberschützen zu singen.“ Den Titel Der Zauberschütze bekommt die Oper in Russland aus Zensurgründen: Das Wort „frei“ könnte beim Publikum unerwünschte politische Assoziationen hervorrufen. Überdies verbietet das russische Zensurreglement, Geistlichkeit auf der Theaterbühne auftreten zu lassen, sodass der heilige Eremit aus dem Finale in einen Zauberer umgewandelt werden muss. Die russische Übersetzung des Librettos, die 1824 im Druck erscheint, ziert der Stich von Stepan Galaktionow mit dem Titel „Der Einsiedler rettet Agathe vor dem Schuss“. Als sich in Russland die Nachrichten von Webers letzter Oper verbreiten, erhält der Einsiedler den Namen ihres Titelhelden: Oberon. Der Stich wird erneut im beliebten Jahrbuch Newa-Almanach auf das Jahr 1826 abgedruckt, nunmehr unter dem Titel „Oberon rettet Agathe“. Die russische Erstaufführung des Freischütz findet im Januar 1824 in Petersburg statt. Da es in der Hauptstadt keine deutsche Oper gibt, wird die Vorstellung von der deutschen Sprechbühne der Kaiserlichen Theater bestritten, die, laut der ersten Besprechung der Inszenierung, jedes Lob verdient habe, sowohl „für die Auswahl der Stücke für ihre Benefizvorstellungen“ wie auch dafür, dass sie „jede herausragende Neuheit aus Deutschland“ in der Hauptstadt präsentiere. Der Rezensent bezeichnet den Freischütz als „die deutsche Nationaloper“, „erfüllt vom Wunderbaren und gegründet auf dem mittelalterlichen Aberglauben“, hält die Musik für „vortrefflich“ und die aufwendige Bühnentechnik für „aller Aufmerksamkeit würdig“, bedauert jedoch, „dass die deutsche Truppe keine Sänger hat und dass das Publikum über die Musik nur nach dem Orchesterpart urteilen kann“. Trotz der Unzulänglichkeit einer solchen szenischen Umsetzung sorgt die Aufführung für Furore. Schon im März bittet Fürst Peter Wjazemski, ein Dichterkollege und Freund Puschkins, einen Petersburger Bekannten, seiner Frau, die zu diesem Zeitpunkt in Odessa lebt, alles zu schicken, „was es aus der Oper Freischütz für Klavier gibt: Walzer, Märsche, die Ouvertüre usw.“. Am 10. April nimmt Wjazemski den Auftrag zurück, nachdem er die Noten, die er benötigt, in Moskau gefunden hat. Der berühmte russisch-amerikanische Schriftsteller Vladimir Nabokov vermutet in seinem Kommentar zu Jewgenij Onegin, Puschkin habe noch die Gelegenheit gehabt, Auszüge aus dem Freischütz in der Darbietung der Fürstin
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Vera Wjazemskaja zu hören. Der bessarabische Generalgouverneur Graf Michail Woronzow, der seit 1823 in Odessa residiert, lässt später im Park von Alupka, seinem romantisch-märchenhaften Sommersitz auf der Krim, eine FreischützKaskade errichten, die sowohl an den Wasserfall, in dem Max Agathe zu erblicken vermeint, wie auch an einen mit Rosen geschmückten Brautschleier erinnert. Die erste Freischütz-Aufführung in russischer Sprache findet am 12. Mai 1824 als Benefizvorstellung für den Kapellmeister der Truppe Catterino Cavos statt. Die versifizierte Nachdichtung des Librettos besorgt der Theaterschriftsteller Rafail Sotow, das Bühnenbild entwirft der Maler Karl Friedrich Sabath. Auf Plakaten und in Zeitungsannoncen wird eine „romantische Oper mit Chören, Flügen und Maschinen“ angekündigt. Im Unterschied zu der deutschen Aufführung ohne Sänger ist dies zwar eine richtige Opernvorstellung, dennoch gibt es auch hier missliche Einschränkungen: Die russische Truppe verfügt über keine hinlänglich kräftige Bass-Stimme, um die Partie des Kaspar zu bewältigen. Die Rolle wird darum zunächst von Pawel Toltschenow, einem Schauspieler der Sprechbühne, und später vom Tenor Wassili Samoilow, dem ersten Sänger der Truppe, übernommen. Um die Musik an die Möglichkeiten der Darsteller anzupassen, muss Cavos, laut dem späteren Zeugnis des Komponisten Alexej Werstowski, die Partie „verunstalten“ und „beinahe in eine Sprechrolle verwandeln“. In einem Artikel, der im Februar 1825 in drei Ausgaben der Zeitung Journal de Saint-Pétersbourg erscheint, schreibt der Schriftsteller und Musikliebhaber Alexej Ulibischew, der nachmalige Verfasser einer vielbeachteten Mozart-Biografie: „Von den Ufern der Spree und der Donau bis zu den Ufern der Themse und von den Ufern der Seine bis zu den Ufern der Newa erschallen in allen Theatern die Akkorde des Freischütz und die Beifallsstürme, die diesem Meisterwerk gelten. Seit es vor ungefähr einem Jahr auch bei uns zum ersten Mal gegeben wurde, hat es alles andere verdrängt: Auf den Bühnen, in philharmonischen Gesellschaften, auf Spaziergängen, auf der Heeresschau, überall hört man nur den Freischütz, komplett und in Auszügen.“ In dieser Oper ersteige Weber „einen Gipfel der Kunst, den bis jetzt noch niemand erreicht hat“. Der Kritiker begründet seine Einschätzung mit einer „ungewöhnlichen Wahrhaftigkeit“ der musikalischen Figurenzeichnung und mit einer „tiefen und fortwährenden Entsprechung zwischen der Musik und dem Sujet“ sowie mit der Verbindung der „Emotionen des Religiösen“ mit den „Elementen des Wunderbaren bei vollkommen originalem Lokalkolorit“. Weber verfüge über die Fähigkeit, „die fromme Demut der Verliebten“, „die finstere Verzweiflung des Verliebten“,
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„das Gebrüll der Abgründe“, „die düsteren Fanfaren der Wilden Jagd“, „die vom Schmerz getroffene Natur“ und „die erhabene und tröstliche Stimme der Religion“ zum Ausdruck zu bringen. Zu den Abschnitten, die „den übrigen vorzuziehen wären, wenn es denn die Gelegenheit zu wählen gäbe“, zählt Ulibischew vor allem die Ouvertüre, die „Königin aller Ouvertüren“, ferner das Gebet der Agathe und natürlich die Szenen in der Wolfsschlucht. Im Januar 1825 wird das Moskauer Bolschoi-Theater eröffnet, und schon im Sommer wird auch dort Der Zauberschütze gegeben. Die Theaterplakate versprechen dem Moskauer Publikum noch mehr Wunderwerke: „Bühnenbilder, die ländliche Szenerien darstellen“, „die Wolfsschlucht, die von Bergen mit Wasserfällen umgeben ist“, „Erscheinungen der Ungeheuer, Flüge von Nachtvögeln und Fledermäusen sowie eines Drachen, der den größten Teil der Bühne in Anspruch nimmt, Bewegung von Zaubereule, Wilden Jägern, Hund, Tieren, Erscheinung von Schlangen, die über Berge kriechen, Zerstörung von Felsen und Fließen von Strömen“. Als Puschkin im September 1826 nach Petersburg zurückkehrt, ist das Wort „Frejšiz“, in genauer Entsprechung zu der von ihm geprägten Formel, zum Synonym für künstlerische Vollkommenheit und die Musik der Oper zu einer festen Größe im kulturellen Alltag der adeligen Gesellschaft geworden. Schon im Jahr 1825 verfasst der junge Dichter Alexander Poleschajew das Poem Saschka, eine Nachahmung der ersten Kapitel des Jewgenij Onegin. Deren Hauptheld, ein sorgloser Lebemann, erweist sich als unfähig, „Frejšizens Musik“ zu bewundern, wenn der ganze Saal in stürmischen Beifall ausbricht und alle Zuschauer, „groß und klein“, „trunken und gerührt“ sind. Der Dichter Jewgeni Boratinski schreibt ein Liebesgedicht ins Stammbuch seiner Cousine, die unter den Versen vermerkt, der Eintrag sei nach einem gemeinsamen Besuch des Freischütz am 31. November gemacht worden. Natürlich existiert ein solches Datum nicht – vielleicht sind die dämonischen Kräfte, die auf der Bühne walten, bis zu den Seiten des Poesiealbums vorgedrungen. Der Triumphzug des Frei- bzw. Zauberschützen erreicht auch russische Provinzstädte, die noch nicht über Möglichkeiten für Opernaufführungen verfügen. Besondere Popularität genießt die Ouvertüre, die in beinahe jedem Liebhaberkonzert gespielt wird. In der kleinen ukrainischen Stadt Nischyn hört sie der 18-jährige Nikolai Gogol, der bald darauf das vielleicht ‚webereskeste‘ Werk der russischen Literatur verfasst. Die Erzählung Bisawrjuk oder Die Johannisnacht erscheint zuerst Anfang 1830 in der führenden Literaturzeitschrift Vaterländische
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Annalen und wird im Jahr darauf in die Sammlung Abende auf dem Weiler bei Dikanka aufgenommen, die ihrem Autor nationalen Ruhm einträgt. Der Hinwendung zur ‚Volkstümlichkeit‘ geht auch bei Gogol eine intensive Beschäftigung mit der europäischen und namentlich mit der deutschen Literatur voraus. Nach der Ankunft in Petersburg debütiert der junge Autor mit dem epigonal-romantischen Poem Hans Küchelgarten, das jedoch keinerlei Erfolg hat. In der Folge orientiert sich Gogol an der Folklore der heimatlichen Ukraine, die den Vorstellungen der hauptstädtischen Leserschaft von einer Quelle der lebendigen und authentischen Tradition entspricht. Johannisnacht ist eine Variation auf das Thema der romantischen Fantastik und Dämonologie im Geiste Tiecks und Hoffmanns und zugleich eine glänzende Stilisierung zu einer Sage „der Vorzeit, aus dem schlichten Volk“. In der Erzählung verführt der Abgesandte der Hölle mit dem Namen Bisawrjuk, der in sich Kaspars und Samiels Züge vereinigt, in einer Schenke beim Glase Branntwein den jungen Petro dazu, mit Hilfe der bösen Geister einen Schatz zu gewinnen, der an einem verwunschenen Ort am „Wolfswehr“ vergraben ist. In der Buchfassung ersetzt Gogol, um zu eindeutige Assoziationen mit Weber zu vermeiden, das „Wolfswehr“ durch die „Bärensenke“. So wie Max die Freikugeln, benötigt Petro den Schatz, um die von ihm geliebte Pidorka zu heiraten. Um die richtige Stelle zu finden, muss Petro die magische Farnblüte pflücken, die kompositorisch den sieben Kugeln entsprechen, die im Freischütz gegossen werden. Dabei erscheinen ihm chthonische Kräfte und zauberische Mächte, die ihn letztendlich dazu treiben, ein ungeheures Verbrechen zu begehen: ein kleines Kind zu töten. Die Ehe bringt den Verliebten kein Glück: Der Teufel holt Petro in die Hölle, und Pidorka büßt ihre Sünden im Kloster. Die Untat ist bestraft, doch werden die Schrecken der Bärensenke nicht in einer Wendung der Versöhnung aufgehoben. Im selben Jahr 1830, in dem Gogols erste Erzählung veröffentlicht wird, trifft in Russland Karl Wilhelm Gropius ein, der Dekorationsmaler der Berliner Freischütz-Uraufführung, um die Petersburger Inszenierung zu überholen. Gropius bringt fünf Bühnenbild-Entwürfe mit: „Böhmerwald“, „Jägerstube“, „Wolfsschlucht“, „Agathes Stübchen“, „Jagdlandschaft“. Gemeinsam mit dem Ingenieur François Thibaut verfertigt er für die Neuproduktion eine imposante Ausstattung. Besonders wichtig ist auch hier das Bühnenbild für die Zauberei-Szene. Blaue Lampengläser sorgen für den Eindruck der nächtlichen Lichtverhältnisse und fünf perspektivische Kulissen erzeugen die Illusion der Tiefe. Das Publikum ist begeistert und begrüßt jede Verwandlung mit Ovationen. Einer der Rezensenten
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bezeugt: „Diese Oper wurde auf unserem Theater noch nie mit einer solchen Pracht und mit einem solchen Geschmack ausgestattet wie jetzt. Ihre Bühnenbilder, gemalt in Berlin von Herrn Gropius, sind von höchstem Reiz. Die Wolfsschlucht und das Stübchen im dritten Akt stellen Herrn Gropius an die Seite der besten Dekorationsmaler Europas.“ Einige Monate zuvor gastiert die berühmte Sängerin Henriette Sontag, die in Prag und Wien die Partie der Agathe gesungen hat und nun den piemontesischen Diplomaten Carlo de Rossi zu heiraten vorhat, im Rahmen ihrer Abschiedstournee in Petersburg. Ihr Triumph verstärkt zusätzlich das Interesse an der Neuinszenierung des Freischütz. Derselbe Rezensent erinnert – nach dem Hinweis, die „schönste Arie“ der Agathe im zweiten Aufzug in der Darbietung der jungen Sängerin Sofia Birkina habe „der Zuhörerschaft ein unparteiisches ‚Bravo‘ entlockt“ –, dass „das himmlische Talent der Sontag“ mit diesem „Gebet“ erst kürzlich „Petersburg entzückt“ habe. Den dauerhaften Erfolg der Oper sichert die 1831 veranlasste Übernahme der Partie des Kaspar durch Osip Petrow, den berühmtesten Bass der russischen Musikbühne vor Fjodor Schaljapin. Der Weber’sche Bösewicht hat kein Alter: Petrow behauptet sich in dieser Rolle für mehrere Jahrzehnte und wählt den Freischütz regelmäßig für seine Benefizvorstellungen. Webers Triumph auf der Petersburger Bühne vollendet sich im Jahre 1833, als in der Stadt eine deutsche Operntruppe etabliert wird, mit dem dramatischen Tenor Hermann Breiting in der Rolle des Max und dem Bass Wilhelm Versing in der Rolle des Kaspar. Über die „Mächtigkeit und Energie“ von Versings Gesang bemerkt 1838 der Begründer der russischen Literaturkritik Wissarion Belinski in einem Brief an den nachmaligen Anarchisten Michail Bakunin, der Sänger erscheine ihm als „ein Dämon der menschlichen Natur, ein gefallener Engel“, und er spüre in Bakunin „jenes fantastische Grauen, das in die Seele eindringt, wenn man im Freischütz Kaspars Beschwörungen hört und die unterirdischen Höllenchöre, die ihnen, in dumpf-schneidenden Dissonanzen, nachhallen“. Ungefähr zeitgleich notiert der Komponist und Schriftsteller Dmitri Strujski in seinem Artikel über Weber im Enzyklopädischen Lexikon, der ersten russischsprachigen Universalenzyklopädie: „Die von Weber gestiftete Schule ist bis jetzt die einzige dramatische Schule, die nun von Meyerbeer fortgeführt wird. Diese erlösende Schule drückt die italienischen Rouladen nieder und steigt allem Anschein nach für lange Zeit zur einzigen Beherrscherin unserer Musikbühnen auf.“ Diese Prophetie geht freilich nicht in Erfüllung. Das russische Publikum begeistert sich hauptschlich für die vermeintliche ‚Volkstümlichkeit‘ von Webers
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Musik, so etwa der populäre Journalist Nikolai Polewoi, der 1832 in einem Aufsatz bemerkt: „Der größte Vertreter dieser Gattung ist Weber, Sohn der Harmonie, der uns mit seinen wundersamen Volksweisen und seinem abergläubischen Glauben an die zauberische Mythologie der Heimat berückt.“ Zugleich beschwört Polewoi ein künftiges russisches Genie, „an die nationale musikalische Entwicklung zu denken, in einer wahrhaft russischen Oper“, und deren Grundlagen „in der russischen Seele, in den Melodien des Volkes, in unserer geistlichen Musik“ zu suchen: „Neige dich deiner eigene Seele zu, du russischer Weber! Begeistere dich, erfülle dich von Geist und Religion der Heimat und erfinde neue Formen für Schöpfungen aus heimatlichen Worten und Gesängen!“ Am 27. November 1836 findet in Petersburg die Uraufführung von Das Leben für den Zaren von Michail Glinka statt. Das patriotische Stück, das unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel Iwan Sussanin auch in der Sowjetunion zum gängigen Repertoire gehört hat, gilt als der Beginn der russischen Nationaloper. Die Jahre 1830 bis 1834 verbringt Glinka in Italien und Deutschland, wo er Komposition studiert. Während Sontag in Petersburg mit der Arie der Agathe glänzt, zieht Glinka zusammen mit dem jungen Tenor Nikolai Iwanow und einem nicht weiter bekannten Studenten „israelitischer Herkunft, der die Basspartie übernahm“, durch deutsche Städte, wo sie in Herbergen und Gaststätten das Terzett aus dem ersten Aufzug des Freischütz darbieten. Auf der Rückreise aus Italien weilt der Komponist einige Monate in Berlin. Nach einem Besuch des Freischütz im Jahr 1834 schreibt Glinka schon am darauffolgenden Tag an einen Freund, er möchte eine Oper auf ein nationales russisches Sujet komponieren. Nach der Rückkehr nach Petersburg wird dieses Vorhaben in Angriff genommen. Glinkas engere Freunde, die nähere Kenntnis von der Arbeit an der neuen Oper erhalten, glauben eine Parallele zu Webers Hauptwerk ziehen zu können. So schreibt der Dichter Nestor Kukolnik im Herbst 1836 an eine Bekannte nach Rom: „In der Musik bereitet sich bei uns ein wahres Wunder vor: Michail Glinkas Oper mit dem Titel Iwan Sussanin. Reizend, wunderbar volkstümlich, vielfältig, prächtig. […] Kaum eine Nation wäre imstande, sich einer in so hohem Grade volkstümlichen Oper zu rühmen. Vom Freischütz abgesehen, reicht nichts auch nur im Ansatz an sie heran.“ Natürlich verwendet hier Glinka nicht die alten Sagen über höllische Mächte, sondern die nicht minder legendenhaften Seiten der Nationalgeschichte. Fantastische Motive nutzt er reichlich in seinem darauffolgenden Werk, der Zauberoper Ruslan und Ljudmila (1842), die sich in einem noch höheren Maße an Weber orientiert, jedoch nicht so sehr am Freischütz, sondern vielmehr am Oberon.
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Glinka selbst bestreitet seine Abhängigkeit von der deutschen Musik. Als er jedoch, laut seinen eigenen Memoiren, im April 1842 in einem Gespräch mit Franz Liszt einige technische Aspekte des Freischütz kritisiert, erwidert jener: „Vous êtes avec Weber comme deux rivaux, qui courtisez la même femme.“ („Sie und Weber sind wie zwei Rivalen, die derselben Dame den Hof machen.“) Mit der Dame, um welche die beiden Komponisten werben, ist offenkundig die ominöse ‚Volkstümlichkeit‘ gemeint. Der Komponist und Musikkritiker Alexander Serow überliefert in seinen Erinnerungen an Glinka eine lakonische Äußerung zum Freischütz: „Eine gute Oper, es gibt ausgezeichnete Nummern, vor allem das Terzett im ersten Akt.“ Von sich aus fügt Serow hinzu: „Ich, der ich im Freischütz jede Note bewunderte, war überrascht von diesem recht kalten und ökonomischen Lob.“ Serow selbst hält den Freischütz schon zu diesem Zeitpunkt für „die beste Oper von der Welt“. Noch als Student der Justizhochschule beeindruckt er seine Kommilitonen mit der Darbietung des Terzetts aus dem ersten Akt. Anfang 1841 schreibt er an den Kritiker Wladimir Stassow, seinen damaligen engsten Freund und späteren ärgsten Widersacher, er habe das Glück gehabt, die „entzückende Arie der Agathe“ in der Darbietung der „göttlichen Rossi“ (geb. Sontag) zu hören, die über eine ideale „engelhafte Frauenstimme“ verfüge, welcher „kaum je eine gleichkam oder gleichkommen wird“. Im selben Jahr liefert Serow, wiederum in einem Brief an Stassow, eine umfangreiche Analyse der Oper, in der einmal mehr deren bekannte Vorzüge aufgezählt werden: „echt deutsche Einfalt“ der Chöre, „engelhafte Schlichtheit“ der „unsterblichen Arie“ der Agathe, „maßlose Wildheit und Kühnheit der Harmonien“ in der Wiedergabe der „schwefligdüsteren Atmosphäre“ der Wolfsschlucht. Am meisten jedoch begeistert sich der junge Enthusiast für die „Bestimmtheit der Darstellungen“, d. h. für die Anschaulichkeit der Verbindungen zwischen der Entwicklung der musikalischen Themen und den Wendungen und Stimmungen der Handlung. Skeptisch beurteilt hier Serow die Rezitative, die Hector Berlioz, den er im Ganzen überaus schätzt, 1841 für eine Pariser Freischütz-Aufführung komponiert: Auch der begabteste französische Komponist könne die Oper nur verderben, die doch den „Geist der deutschen Sage“ vollkommen verkörpere. Serow relativiert den vorweggenommenen Einwurf, der Walzer aus dem ersten Akt sei durch den Eingang ins Repertoire der Leierkastenspieler „unerträglich“ geworden: „Schuld daran gebührt nicht Weber, sondern den Deutschen.“ Auf diese Weise werden, in einer für die Romantik charakteristischen Wendung, die Tiefen des Nationalbewusstseins, die sich der Inspiration des schöpferischen Genies öffnen,
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der banalen philiströsen Realität entgegengesetzt. Beim allgemeinen Erfolg des Freischütz erweist sich gerade eine solche Gegenüberstellung in vielerlei Hinsicht als Gefahr für die Popularität der Oper. 1844 schreibt derselbe Serow, nachdem er die Oper in der Benefizvorstellung für Petrow gehört hat, „der Eindruck einer unsagbar angenehmen Fülle“ werde „durch den Ton einer bürgerlichen Natur, der über das gesamte Stück ausgegossen worden ist“, gestört. Ungefähr zwanzig Jahre nachdem Der Freischütz die russische Bühne erobert hat, beginnt das Stück, für das russische Publikum den Reiz der Neuheit einzubüßen. Die Anhänger des Dämonischen bevorzugen Robert le diable von Giacomo Meyerbeer (1831), mit dem leiblichen Sohn des Teufels als Haupthelden, und La damnation de Faust von Hector Berlioz (1846), wo der Protagonist von Méphistophélès durch einen blutigen Regen zu den Pforten der Hölle gebracht wird. Diese finsteren Figuren bilden einen weitaus effektvolleren Kontrast zu den engelhaften und opferbereiten Heldinnen, wie etwa Marguerite und Isabelle, als der gutmütige Max, der sich auf die heimtückischen Versprechungen des Trunkenbolds Kaspar einlässt. Diejenigen aber, die in der Oper den Geist der alten Sagen wiederbelebt wissen wollen, begeistern sich nunmehr für Richard Wagner. Zudem wollen die Parteigänger der ‚Volkstümlichkeit‘ nach Glinka vor allem russische, nicht aber deutsche Nationalopern hören. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der Freischütz immer mehr wie ein Kindermärchen aus, das nur noch nostalgische Erinnerungen hervorruft. Überdies favorisiert der größte Teil des Publikums nach wie vor die Italiener. 1843 kehrt die italienische Oper, zu deren Truppe einige Weltstars zählen, im Triumph nach Petersburg zurück. Die deutsche Oper hält der Konkurrenz nicht stand und löst sich auf. Auch die russische Oper erleidet im Wettstreit mit den Italienern eine Niederlage und sieht sich genötigt, nach Moskau zu wechseln. Gleichwohl greifen die beiden Truppen, die italienische wie die russische, wiederholt auf den Freischütz zurück, der zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Standardrepertoires zählt. In der Musikalischen Chronik für das Jahr 1855 lobt Serow die Leitung der italienischen Oper für den „segensreichen Gedanken“, den Freischütz aufzuführen, bemerkt jedoch zugleich: „Diejenigen, die sich gut an die Petersburger deutsche Truppe mit Breiting, Versing usw. erinnern oder aber die Gelegenheit hatten, den Freischütz im Ausland zu hören, zum Beispiel in Dresden, konnten nicht umhin, schwer aufzuseufzen, indem sie ihre gegenwärtigen Eindrücke mit den früheren verglichen.“ Bei allen stimmlichen Qualitäten der Sänger gerate die Oper auf der italienischen Bühne „kalt und leblos“,
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„unpassend gravitätisch, vornehm-wichtigtuerisch und exquisit“. Solche Missgriffe seien gleichwohl unvermeidlich: „Weber, ein Deutscher von Geburt, nach seiner Erziehung und nach der ganzen Natur seiner Begabung, komponierte seine Opern für Deutschland und für deutsche Sänger. Mithin ist eine mustergültige Darbietung dieser Opern nur auf den deutschen Bühnen zu erwarten.“ Dagegen macht die Aufführung, die 1862 von der russischen Truppe bestritten wird – wiederum in einer Benefizvorstellung für Petrow, der auch dreißig Jahre nach seinem Rollendebüt immer noch in der Partie des Kaspar auftritt – auf Serow einen vorteilhafteren Eindruck: Das berühmte Terzett von Kaspar, Max und Kuno sei „ein Vergnügen, welches im Leben nicht eben oft begegnet“. Mit besonderer Aufmerksamkeit wird auch hier, wie in beinahe allen Rezensionen der Oper, das Bühnenbild der Wolfsschlucht kommentiert, das, im Hinblick auf die „Bestimmtheit der Darstellungen“, nach einer möglichst genauen Umsetzung der vom Komponisten und Librettisten geplanten Effekte verlangt. Serow bemängelt die Maschinerie der „höllischen Geister“, „nicht übel, doch etwas dürftig, vor allem aber nicht auf die Musik abgestimmt, während Weber auch hier, wie in den Repliken der Figuren, jede Absicht seines Librettisten genial in Tönen verkörpert“. Die Eulen etwa, die Weber „im Orchester mit frappanter Wahrhaftigkeit“ zeichne, seien auf der Bühne „kaum sichtbar“, und „der riesige Eber“, den „Posaunen und Fagotte malen“, werde durch „zwei Schlangen“ ersetzt: „Ist es das, was hier nötig ist?“ Das größte Manko der russischen Inszenierung bleibt für Serow jedoch das „hässliche“, „vandalische“ Libretto, eilig hingeworfen von Sotow noch im Jahr 1824: „Wie lassen sich nur die Wunder der Weber’schen Inspiration in einer solchen Übersetzung hören, in der […] kaum eine Zeile nicht in einem mehr oder weniger deutlichen Widerspruch zum Original steht, und mithin auch zur Musik, worin Weber mit der tiefsten dramaturgischen Wahrhaftigkeit jede feinste Wendung der Rede, manchmal jedes einzelne Wort wiedergibt.“ Die vehemente Forderung nach einer „neuen, richtigen und künstlerischen Übersetzung“ für den Freischütz, vorgebracht von einem hochangesehenen Musikkritiker, sorgt möglicherweise dafür, dass die russischen Theater seit den 1860er Jahren immer öfter neue Nachdichtungen des Librettos in Auftrag geben. Zwischen 1861 und 1881 werden in Petersburg, Moskau, Odessa und Kiew mindestens sechs neue Versionen veröffentlicht, in Programmheften, manchmal als Paralleldruck zur italienischen Textfassung. Zu deren Autoren zählen der Schriftsteller Peter Kalaschnikow (die berühmten Arien des Méphistophélès aus Charles Gounods
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Faust und des Herzogs aus Giuseppe Verdis Rigoletto werden auf russischen Bühnen noch heute in seinen Übersetzungen gesungen) und die Pianistin Anna Awramowa, eine Schülerin von Peter I. Tschaikowsky und Nikolai Rubinstein, sowie der in den Kreisen der freisinnigen Jugend populäre Lyriker Liodor Palmin. Natürlich benötigen nicht alle Zuhörer eine Übersetzung. In den OstseeProvinzen des Reiches, vor allem in Riga und Reval (dem heutigen Tallinn), wird die Oper in der Originalsprache aufgeführt. 1855 verfasst der russische Lyriker Afanasi Fet das Gedicht Reval (nach der Vorstellung des Frejšiz): „Das Theater im Dunkel schweigt. Agathe, / in zarten Schützen festem Arm, / ist noch von dem Gesang umfangen, / die Seele licht – das Leben leicht. / […] / Und so in silberhellen Klängen, / dem Strahl, der in das Finstre dringt, / fliegt deine Stimme zu den Sternen / und hallt doch meinem Herzen nach.“ Fet, dessen Muttersprache eigentlich Deutsch ist, schreibt hier den Titel der Oper in der auf Puschkin zurückgehenden unkorrekten Transliteration, und auch die Handlung wird nicht sehr genau wiedergegeben: Bei Kind und Weber wird das Stück nicht mit der Vereinigung der Liebenden beschlossen, sondern mit dem Gelübde, sich für ein Jahr zu trennen. Im Vordergrund steht freilich nicht der Inhalt, sondern die zauberhafte Musik, die die Seele zum Himmel trägt. Im selben Jahr 1855 beginnt Iwan Turgenjew mit der Arbeit an der Erzählung Gespenster, die 1864 in Druck erscheint. Auch hier wird auf den Freischütz zurückgegriffen, aber nicht auf die engelgleiche Stimme der Agathe, sondern auf die Erscheinung der höllischen Mächte. Der weibliche Vampir mit dem Namen Ellis versetzt den Erzähler in andere Länder und in andere Zeiten. Über dem Wolgatal, dem historischen Schauplatz der blutigen Kosakenaufstände, zwingt sie den Helden, den Kampfruf der alten Räuberbanden in die Weite zu schreien. „Ich wusste im Voraus, dass gleich darauf, wie in der Wolfsschlucht des Freischütz, etwas Ungeheures erscheinen würde, doch meine Lippen öffneten sich gegen meinen Willen, und ich stieß einen Schrei heraus. […] Mit einem Male und von überall her erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm. Was schallte nicht alles in diesem Chaos der Töne: Geschrei und Gekreisch, wütendes Gefluche und Gelächter, Gelächter vor allem […], ersticktes Geröchel und übermütiges Gepfeife, Geschnarre und Gepolter des Tanzes.“ Turgenjew assoziiert hier die Szene des Kugelgießens akustisch – gleichsam nach der kanonischen Formel aus Puschkins Hauptmannstochter (1836) – mit dem „russischen Aufruhr, sinnlos und gnadenlos“. 1843 begegnet Turgenjew in Petersburg der berühmten französischen Sängerin Pauline Viardot, in die er sich leidenschaftlich verliebt und der er ins
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Ausland nachreist, um jahrzehntelang in ihrer Nähe zu leben. 1872 schreibt Turgenjew die Erzählung Frühlingsfluten, worin die für seine Jugend charakteristische Entgegensetzung von Italien und Deutschland neu überdacht wird. Der Protagonist der Erzählung, der russische Adlige Sanin, verliebt sich in Frankfurt in die schöne Italienerin Gemma. Indem sie auf der Straße einen Leierkastenspieler hört, der die Arie „Durch die Felder, durch die Auen“ „weinerlich“ darbietet, beginnt Gemma „selbst kaum hörbar Webers schöne Melodie zu singen, in welcher Max das ganze Staunen der ersten Liebe ausdrückt. Sodann fragte sie Sanin, ob er den Freischütz kenne und Weber möge, und setzte hinzu, dass sie, obwohl sie selber Italienerin sei, eine solche Musik am meisten liebe.“ Die Hauptheldin, die die idealische Schönheit der italienischen Natur und Kunst in sich aufgenommen hat, zeigt sich außerordentlich empfänglich für die Schöpfungen des deutschen romantischen Genies, die sie über den philiströsen Alltag in Deutschland erheben, wohin sie das Schicksal geführt hat. Ein romantisches Genie ist auch der Hauptheld von Lew Tolstois 1858 entstandener Erzählung Albert: ein trunksüchtiger deutscher Geiger, der in Petersburg sein Dasein fristet. Indem er sich an seine einzige und hoffnungslose Liebe erinnert, singt Albert einige Zeilen aus der Cavatine der Agathe und aus dem Lied Des Mädchens Klage von Franz Schubert. Vier Jahrzehnte später, in seinem Aufsatz Über die Kunst, erwähnt Tolstoi im Abschnitt über die Musik, die „sich an die Anforderungen einer universellen Kunst annähert“, Haydn, Mozart, Weber, Beethoven, Chopin, ersetzt aber in der Schlussredaktion Weber durch Schubert. 1904 jedoch vergleicht Tolstoi in seinem Tagebuch den Materialisten, der behauptet, das Universum könne ohne den Schöpfer entstanden sein, mit dem Kritiker, der annimmt, die Ouvertüre zum Freischütz sei von den Musikinstrumenten ohne das Zutun des Komponisten geschrieben worden. Freilich hätte für einen solchen Vergleich jedes große Kunstwerk getaugt, dennoch wählt Tolstoi als Musterbeispiel der künstlerischen Vollkommenheit eben die Weber’sche Ouvertüre. Die Jugend von Fet, Turgenjew und Tolstoi fällt in die Epoche, in der Weber in Russland den größtem Ruhm genießt. Doch auch für die nachfolgende Generation der russischen Schriftsteller bleibt er noch ein lebendiger Dialogpartner. Eine Art Abschied vom Freischütz nimmt die russische Kultur in Tschechovs Drama Die Möwe (1895). Weber wird bei Tschechow an keiner Stelle explizit erwähnt, doch als leidenschaftlicher Opernliebhaber, der eine Zeit lang beabsichtigt, ein Libretto für Tschaikowsky zu schreiben, kennt er mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Werk, das sich fest auf dem russischen Musiktheater etabliert hat.
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So wie sich die Seele der Agathe in der Taube verkörpert, die Max durch die Anstiftung der bösen Mächte hätte totschießen sollen, so verbindet sich hier das Schicksal der Nina Saretschnaja symbolisch mit der Möwe, die von Konstantin Treplew, einem in die Hauptheldin verliebten jungen Dichter, geschossen wird. Noch vor dem fatalen Schuss verfasst Treplev ein mystisches Theaterstück und zieht somit auch seine Geliebte in den Zauberkreis der Bühne hinein. Der „arme Mond“, nunmehr eine überflüssige Dekoration, „zündet umsonst seine Laterne an“ über der wüsten Erde. „Kalt, kalt, kalt. Wüst, wüst, wüst. Schaurig, schaurig, schaurig“, deklamiert die Protagonistin den von ihrem glücklosen Verehrer geschriebenen Text. Um das Sommertheater herum „irrlichtern bis zum Morgengrauen“, nach dem Willen „Satans, des Vaters der ewigen Materie“, nur die „bleichen Flämmchen“, die dem „faulen Sumpf“ entstiegen sind. Es erscheint auch kein heiliger Eremit, der imstande wäre, die Verliebten von dem bösen Zauber der Wolfsschlucht zu retten, vielmehr wird sein Platz von einem abgeschmackten Literaten eingenommen, der sowohl Nina wie auch Konstantin in den Untergang treibt. Die beiden jungen Leute erwiesen sich lediglich als zage Schüler, die ein letztes Mal den Frejšiz durchgespielt haben, vor einem Publikum, das die Melodie nicht wiedererkannte. Übersetzung aus dem Russischen: Sergej Liamin
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Norwegen, 2008 Vereinigte Arabische Emirate, 2014 Japan, 2010 Mali, 2013 Pakistan, 2012 Mongolei, 2008 Westsahara, 2013 Vereinigte Arabische Emirate, 2014 Deutschland, 2010 Russland, 2012 Ukraine, 2012 Libanon, 2013
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HERLINDE KOELBL
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Sechs Jahre lang (2008–2014) fotografierte Herlinde Koelbl in rund 30 Ländern auf der ganzen Welt Targets – Ziele, die das Militär zu Übungszwecken verwendet. In diesen Targets wird sichtbar, wie flexibel sich das Bild des Feindes, der im realen Kampf getötet werden soll, über Kulturräume hinweg gestaltet. Manchmal ist das Ziel abstrakt, manchmal hat es ein konkretes Gesicht. Wenn ein US-Soldat erzählt, er sei noch an der „Iwan-Figur mit einem roten Stern am Helm“ ausgebildet worden, ist der Feind die Sowjetunion. Heute haben die Ziele orientalische Gesichtszüge und Kleidung. Der Feind, der sich jeweils darstellt, ist immer der andere. Alle motiviert Kämpfenden müssen überzeugt sein, auf der richtigen Seite zu stehen, die es objektiv nicht gibt. Gezeigt wird eine Auswahl.
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JOHANN AUGUST APEL
DER FREISCHÜTZ (1811)
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Der fürstliche Kommissarius kam, und verlangte vor der ernsthaften Probe eine kleine Jagdpartie mit dem jungen Förster zu machen. Denn – sagte er – es ist ganz gut, dass wir die alte Solennität beibehalten, aber die Kunst des Jägers zeigt sich draußen im Wald am besten. Frisch auf, Herr Erpestant, in den Wald! Wilhelm erblasste und wollte Entschuldigungen vorbringen, und als diese bei dem Landjägermeister nichts fruchteten, bat er, seinen Probeschuss wenigstens zuvor tun zu dürfen. Der alte Förster schüttelte bedenklich den Kopf. Wilhelm, Wilhelm – sagte er, mit bebender, tiefer Stimme – hätte ich gestern doch richtig geahndet? Vater! – rief dieser, und Verzweiflung erstickte seine Stimme. Er entfernte sich schnell, und in wenig Augenblicken war er zur Jagd fertig bei dem Vater und folgte dem Jägermeister in den Wald. Der alte Förster suchte seine Ahndungen zu unterdrücken, doch bemühte er sich vergebens um eine frohe Miene. Auch Käthchen war niedergeschlagen, und ging, wie träumend im Haus umher. Sie fragte den Vater, ob es nicht möglich sei, die Probe aufzuschieben? Ich wollt’ es auch, sagte dieser, und umarmte sie schweigend. Jetzt kam der Pfarrer glückwünschend, und erinnerte die Braut an den Kranz. Mutter Anne hatte ihn verschlossen, und in der Eil’ beschädigte sie aufschließend das Schloss. Ein Kind wurde geschwind zu einer Kranzhändlerin geschickt, um einen andern Kranz für die Braut zu holen. Lass dir den schönsten geben, rief Mutter Anne dem Kinde nach, aber dieses griff in der Unwissenheit nach dem glänzenden, und die missverstehende Verkäuferin gab ihm einen Totenkranz für eine Braut von Myrte und Rosmarin mit Silber durchwunden. Mutter und Braut erkannten das Deutungsvolle des Zufalls; jede schauderte, und beide suchten, sich umarmend, ihr Grauen in ein Lächeln über den Missgriff des Kindes umzuwandeln. Das Schloss wurde noch einmal versucht, es öffnete sich leicht, die Kränze wurden gewechselt, und der Brautkranz in Käthchens Locken gewunden. 15.
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Die Jäger kamen zurück. Der Kommissar war unerschöpflich in Wilhelms Lobe. Es dünkt mich fast lächerlich – sprach er – nach solchen Proben noch einen Probeschuss zu verlangen. Doch, dem alten Recht zu Ehren, müssen wir schon einmal etwas Unnötiges tun, und so wollen wir denn die Sache so kurz als möglich abtun. Dort auf dem Pfeiler sitzt eine Taube, schießen Sie die herunter. Um Gottes Willen – schrie Käthchen herzueilend – Wilhelm, schieß nicht danach. Ach mich träumte diese Nacht, ich war eine weiße Taube, und die Mutter band mir einen Ring um den Hals, da kamst du, und die Mutter ward voll Blut. Wilhelm zog das schon angelegte Gewehr zurück, aber der Jägermeister lächelte. Ei, ei! – sagte er – so furchtsam? Das schickt sich nicht für ein Jägermädchen. Mut, Mut, Bräutchen! Oder ist das Täubchen vielleicht ihr Favoritchen? Nein – erwiderte sie – mir ist nur so bang. Nun dann – rief der Kommissar – Courage, Herr Förster, schießen Sie! Der Schuss fiel, und in demselben Augenblick stürzte Käthchen mit einem lauten Schrei zu Boden. Wunderliches Mädchen! – rief der Landjägermeister – und hob Käthchen auf, aber ein Strom Blut quoll über ihr Gesicht, die Stirn war ihr zerschmettert, eine Büchsenkugel lag in der Wunde. Was ist? – rief Wilhelm – als lautes Geschrei hinter ihm ertönte. Beim Zurückblicken sah er Käthchen totenbleich in ihrem Blut. Neben ihr stand der Stelzfuß und mit höllischem Hohnlachen grinste er: Sechzig treffen, drei äffen. Wilhelm riss wütend seinen Hirschfänger aus der Scheide, und hieb nach dem Verhassten. Verfluchter – schrie er verzweifelnd – so hast du mich getäuscht? Mehr konnte er nicht sprechen, denn er sank besinnungslos neben der blutenden Braut zu Boden. Der Kommissar und der Pfarrer suchten vergebens den verwaisten Eltern Trost zuzusprechen. Mutter Anne hatte kaum der bräutlichen Leiche den prophetischen Totenkranz auf die Brust gelegt, als sie den tiefen Schmerz in der letzten Träne ausweinte. Der einsame Vater folgte ihr bald. Wilhelm beschloss sein Leben im Irrenhause. 16.
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Friedrich Kind legte großen Wert darauf, dass Der Freischütz in der gedruckten Fassung des Librettos mit zwei Szenen (einerseits Eremit sowie Agathe/Eremit) beginnt, die der Komponist nie vertont hatte. Weber schrieb seiner Verlobten und späteren Ehefrau Caroline Brandt, nachdem er Kind davon überzeugt hatte, die beiden Einleitungsszenen zu streichen: „Diese Verbesserung habe ich Dir mein guter Schneefuß eigentlich zu danken: denn du fasstest zuerst den kühnen Gedanken, den ganzen ersten Akt wegzuwerfen, und auch den Einsiedler – wett! wett! schriest Du immer. Nun ist er zwar nicht ganz wett! Aber er erscheint erst wo Agathe vom Schusse scheinbar tödlich getroffen in seine Arme sinkt, und versöhnt und heilet das Ganze.“ Gegen den Willen des Komponisten, nach der Ouvertüre direkt mit dem Wettschießen zwischen Max und Kilian zu beginnen und auf die Exposition zur Einführung des Eremiten zu verzichten, konnte sich der Textdichter nicht durchsetzen. Seine eigene Position innerhalb der Debatte um den Strich der Eremitenszenen hat Kind in seinen Theaterschriften klar dargelegt: „Dass diese beiden Einleitungsszenen sehr mit Unrecht in der Komposition hinweg gelassen worden sind, ist nicht bloß des Dichters, sondern auch mehrerer Kenner Urteil, z. B. Fouqués“.
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FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉ
AUCH EIN GESPRÄCH ÜBER DEN FREISCHÜTZEN (1822)
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Wieder einmal schwermütig, Bernhard? Und doch hallen die Marschesklänge so fröhlich aus dem Tal herauf! Albert
Bernhard
Eben darum! –
Albert
Ach so! –
Du bildest dir’s einmal wieder ein, du lieber, hofmeisternder Freund, als verständest du mich durch und durch; – wenigstens machst du die Miene darnach; – und doch könnt’ ich eine siegreiche Wette drauf eingehn, dass du mich für diesen Augenblick missverstehst. Bernhard
Möglich, – aber eben wahrscheinlich nicht. Ich habe doch wohl schon oftmal tief in dich hineingesehn; – denn mir fehlt es, Gottlob, nicht an den Augen der Liebe. Albert
Gewiss, die hast du, mein guter Albert, und die trügen dich nimmer, und wo du mir gegenüberstehst, lässest du ihnen beinahe fort und fort ihr edles Recht!
Bernhard
Albert
Also hätt’ ich auch fort und fort Recht dir gegenüber.
Bernhard
Du überhörtest das: Beinahe, in meiner Antwort.
Albert Jetzt wenigstens behielten die Augen der Liebe ihr volles Gewaltrecht bei mir; – ich hätte sonst nicht so zudringlich gefragt.
Siehe mir nicht etwa gekränkt drein, alter Freund, – du immer jung bleibender in treuer Liebe! Ich meinte ja nur: dein Verstand war diesmal seiner Sache allzu gewiss, und wo der Verstand sich seines Verstehens allzu bewusst ist, behaupten jene höheren Anschauungen nicht allemal ihre volle Kraft.
Bernhard
Das führt weit! Allzuweit vielleicht überhaupt für sterbliche Augen! – Wenigstens für die freundliche Rechthaberei dieses Stündleins! – Also – die Probe lobe das Werk! – Vernimm’s, ob ich hineinsah in deine Seele oder nicht, und ich will dir als ein verunglückter Hexenmeister gelten, wenn ich für dasmal Albert
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irrte. Die Marschesklänge von dort unten regten dich so wehmütig an, weil du nicht mehr mit den Kriegsleuten ausrückst, denen sie voraustönen! Und daran hast und tust du Unrecht, geliebter Freund. Denn erstlich – Halt inne, du lieber, verunglückter Hexenmeister. An mein kriegerisches Jägerleben dacht’ ich für diesmal so ganz unmittelbar nicht. Diese Klänge tönten ja damals noch nicht. Sie sind ja aus Friedrich Kinds und Maria Webers Freischütz.
Bernhard
Nun, so behalt’ ich dennoch Recht. So ist dir’s wehmütig zu Sinne, dass damals die ganze schöne Oper noch nicht existierte, und dass Ihr diese echten Jägerworte und Jägerklänge noch nicht mit hinaus nehmen konntet ins Feld! Albert
Da hast du schon etwas besser zum Ziele getroffen, mein kritischer Jäger. Wenigstens ist mir’s schon öfter in die Seele gefallen, wie schön dieses Jägerlied hätte klingen müssen, aus den frischen Herzen und Kehlen meiner wackern Kriegsgenossen herausgesungen, sei es vor rühmlich beginnender, sei es nach rühmlich bestandener Gefahr. – Für diesmal jedoch lag dabei etwas Beängstenderes über mir. Bernhard
Beängstendes vor diesen fröhlichen, die Brust adlergleich ausspannenden Klängen? – Albert
Nun ja, Klänge! – Klänge, die uns mahnen, dass wir fliegen sollen, wie die Adler, und doch zugleich uns erinnern, wie ärgerlich festgebannt wir an diese mangelhafte Erde sind! Festgebannt selbst mit den sogenannt freiesten Erzeugnissen unsrer Geister! Da siehest du nun einen Dichter, edel, fantastisch, liebreich und fromm, wie Friedrich Kind! Siehst ihn im heitern Künstlerverein mit einem Komponisten, liedesgewaltig, tief, zärtlich und kühn, wie Maria von Weber! – Hättest du nicht meinen sollen, ein vollendetes Kunstwerk müsse aus ähnlichem Bunde hervorgehn? So vollendet, als es die gebrechliche Natur des erdumbaueten Menschen hervorzubringen vermag! Bernhard
Nun freilich. Und nicht eben anders auch ist mir davor zu Mute geworden. Aber du, mein leichtentzündeter, den Dichtern des Liedes und der Albert
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Melodie noch obenein herzlich zugetaner Freund, – wie kam es denn, dass dir nur irgend anders davor zu Mute werden konnte? Du fragst noch erst! – Da beginnt die schauerliche Sage vor uns aufzusteigen mit allem Hohn, welchen ein feindseliges Geschick auszugießen vermag über ein edelkühnes, ritterlich liebendes Menschenleben! Da zerreißt uns der bäurische Lachchor mit tausend Schmerzen die Brust, und zum Waidmesser möchten wir greifen mit dem wackern Jägerburschen, um die rohe Schmach mit einem scharfen Hiebe abzuwälzen von ihm und von Allem, was man edel hienieden heißen darf! Bernhard
Albert
Und das geht nun eben mit Schwerthieben nicht!
Und das ist nun eben das Unglück! – Aber auf dieses und alles sonstige tragische Unheil ist man einmal gestellt, – wie sehr auch mit teilnehmenden Wünschen widerstrebend, dennoch nach solchem Eingang nun einmal schier unwiderruflich darauf gestellt! – Und die schauerlich sinnvollsten Ahnungen erheben sich, den furchtbaren Ausgang näher und näher ankündigend, ihn bestätigend mehr und mehr, – und plötzlich – Nein! Ich kann nicht mehr weiter! Ich muss mich erholen! Die innige Liebe regt mir den Unwillen allzu gewaltig auf! – Bernhard
Nimm dir nur Zeit, und schilt dann rüstig fürder. Wo Menschen auf diese Weise schelten, hör’ ich es gern.
Albert
Es wird aber dennoch etwas arg damit kommen; darauf halte dich gefasst. Denn scheint es doch, als hätte der Dichter einen poetischen Supplementband liefern wollen zu Allem, was je wider Ahnung geschrieben worden ist, oder für den nüchternen Satz: mir gilt nur, was ich mit beiden Händen fassen kann! Bernhard
Jetzt bitte ich dich: höre lieber auf, zu schelten! Denn jetzt schiltst du nicht gut. Möchtest du denn, dass ein Triumph der heraufbeschwornen Hölle an den Platz des Festes träte, wo Liebe und Glück ihre neuentblühende Sühnung feiern? Und hat der arme, vielfachgekränkte Jüngling nicht seinen Fehltritt hart genug gebüßt?
Albert
Bernhard
Das hat er. Aber der unversehens hereingeschneite Eremit genügt
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mir zur vollen Sühnung nicht. „Woher?“ fragt man sich staunend. „Aus welcher Machtgewalt?“ erwidert das Angesicht des Nebenmannes, dem man eben nichts zu erwidern hat, als die weltalte Antwort: „ich weiß es nicht!“ Albert
Nun, du könntest doch antworten: die weißen Rosen!
Lieber Freund, aber ich bin vielleicht ein so großer Bewunderer von weißen Rosen, als es je auf Erden einen gegeben haben mag, und höchstens etwa die weißen Lilien möchten mir noch drüber gehn. Aber was hör’ ich denn im Freischütz von den weißen Rosen, bevor sie wirklich ihr Schützeramt ausgeübt haben? – Bernhard
Die sinnvollsten und entschiedensten Andeutungen hörst du davon, und zwar gleich von Anfang herein. – Du schüttelst staunend den Kopf? – Wie denn? Solltest du wider all deine Gewohnheit ein Dichterwerk so ausnehmend nachlässig gelesen haben, und in so höchst vergesslichen Mute? Albert
Gelesen! Ich hab’ es gar nicht gelesen, aber unterschiedliche Male mit inniger Achtsamkeit auf der Bühne gehört und erschaut.
Bernhard
Albert
Aber du sonst fleißiger Leser, warum bliebst du denn diesmal zu-
rück? Weil Dichter und Musiker die Oper doch wohl zunächst fürs Sehen und Hören geschaffen haben. Eine gelesene Oper! Das ist ja nicht viel anders, als eine gehörte Pantomime!
Bernhard
Albert
Auch wenn Friedrich Kind der Operndichter ist?
Ich sage dir, ich habe mich an der Liederpoesie des Opernbuches erquickt, wie wohl kaum an der Gesamtpoesie manches Musenalmanaches. Aber zu viel mutet der Dichter seinem schauenden und hörenden Publikum zu, wenn es nach einer rauschenden und in der Tat den Sinn befangenden Eröffnungsszene noch Ohr haben soll für einzelne leise Anspielungen im Dialog. Dergleichen gehört in die Exposition der ersten Szene herein, wenn es den Geist ohne störende, ja wirklich ängstende Rätselhaftigkeit erfassen soll. Bernhard
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Albert Glücklicherweise hat mich mein lieber Freischütz hier mit herausbegleitet. – (Indem er ihm das Buch hinhält) – Da! Mir zu Liebe lies nur einmal die ersten Seiten.
Gern. – Aber halt! Du hast ja in einer deiner Zerstreuungen, – wie sie sich zuweilen für allzu strenge Bedachtsamkeit an dir rächen, – das unrechte Buch mit herausgebracht. Eine Agathe und ein Einsiedler kommen freilich auch drin vor. Aber der Eremit eröffnet ja das Stück, und – und dann tritt gleich Agathe herzu. –
Bernhard
Albert
Lies doch nur, was sie mitsammen verhandeln.
Von bedrohlicher Gefahr, sprechen sie, durch ernste Ahnungen dem frommen Manne verkündet, – noch abzuwenden durch zarte Reinheit des Herzens; – von geweihten weißblühenden Rosen; – vom Pressen der Rosen singt anmutig ernst der Eremit, – von prüfenden Läuterungsschmerzen der Menschenseele anmutig ernst Agathe! – Mein Himmel, da ist ja auf einmal alles klar! Nicht prosaisch verraten das magische Geheimnis des Ausganges, aber vorbereitet doch Alles, sowohl in der frommen Gewalt des Eremiten, als in der geheimnisvollen Macht der weißen Rosen! – Nun wahrhaftig, da möchte man ja mit einstimmen in das jetzt modegewordene Schreien über die Theater-Direktionen! Hört man doch von keiner Seite, dass irgend der Freischütz in dieser notwendigen Vollständigkeit aufgeführt worden sei! Und ich dachte Wunder, was für treffliche Darstellungen ich davon erlebt hätte! Bernhard
Albert
Die hast du auch wirklich davon erlebt.
Jaja, nur mit amputierter Exposition! Und dazu müssen sich nun Geister hergeben, wie Maria Weber und Friedrich Kind! Bernhard
Sacht mit deinem Eifer! Diesmal trägt niemand die Schuld als die zwei künstlerischen Geister selbst, wenn man freilich ihre Sünden eigentlich nur Unterlassungssünden heißen darf. Carl Maria von Weber hat die Einleitungsszene nicht komponieren wollen, und Friedrich Kind hat sich’s gefallen lassen. – Nun, du stehst ja ordentlich da, wie verdonnert und wie versteint! –
Albert
Bernhard
Freilich steh’ ich so! – Schon über die Nachgiebigkeit des Dichters
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bin ich ganz erstarrt; – aber nein, da hätt’ ich Unrecht. Das fröhlich wehmütige Dichtervolk hat es nicht anders an der Art, besonders, wo Einer gar viele Gebilde in sich herumträgt, und sein liebstes irdisches Leben findet im Aussprechen dieser Gebilde, – ja einen Teil seines ewigen Lebens dazu! – Da meint denn so Einer: was diesmal nicht voll zum Erblühen kam, bricht wohl aus irgendeinem andern Zweige ans Licht! – Und überdem: nachgiebiger in allen Dingen, wo die Ehre unverletzt bleibt, findet sich wohl auf Erden keine andere Innung, als die der Poeten. – Aber dass ein Komponist, wie Maria Weber, dies Weglassen fordern konnte, – da, da, liegt’s! möchte ich mit Hamlet ausrufen. Albert
So bedenke doch nur –
Verzeih! Es ist da gar nichts zu bedenken. Ja, wenn die Expositionsszene matt gewesen wäre, prosaisch, oder auch nur unmusikalisch, – aber sieh doch nur einmal selbst an! – Der feierliche Morgenhymnus des Einsiedlers, – dann das furchtbare Visionsrezitativ, – dann wieder das Rückgehn und Erheben zu dem Hymnus; – nun die einfach idyllischen Reden des Eremiten mit sich, und die deutungsvollen mit Agathen, bis sich alles in das holde Duo auflöst: Bernhard
„Nimm hin des Freundes Gabe, / Geweihet, keusch und rein!“ Ist dir denn nicht, als ahntest du schon in dir Maria Webers tiefe, sinnige Musik dazu? So mag es wohl dem Maria Weber schier selbst gewesen sein, nur dass er natürlicherweise um ein gar schönes Teil deutlicher geahnt hat, als du und ich.
Albert
Bernhard
Und warum brachte er die Ahnung nicht zur Wirklichkeit?
Vermutlich nur, weil sich nicht jede Ahnung zur Wirklichkeit bringen lässt. Was in hochzarter, idyllischer Kraft vor des Dichters innerem Auge schwebte, was ihm auch wohl dem Sinne seines Lesers in gleicher oder doch ähnlicher Kraft einzuströmen gelingt, – wie selten vermag sich eben das auf der Bühne zu gestalten, ohne die Menge kalt zu lassen, – vielleicht höhnisch erkältet sogar!
Albert
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Bernhard
Nun ja, die Menge! die Menge!
Man baut nun doch einmal die Theater für die Menge, und tut wohl daran. Ja, der Schriftsteller auch schreibt als solcher eigentlich für die Menge. Wie leicht würde es ihm sonst, die paar Abschriften für ganz gleichfühlende Seelen zu besorgen, oder diese sorgten wohl in ihrer anmutigen Liebe untereinander selbst dafür. Aber, wie unser jubelgekrönter Poetenfürst sehr wahrhaft sagt:
Albert
„Dichter lieben nicht zu schweigen, / Wollen sich der Menge zeigen!“ Und also muss auch mit auf diese Menge der Blick des Dichters fallen; wie viel mehr noch der Blick des Theaterdichters und des Theaterkomponisten! Bernhard
Du hast einigermaßen Recht. Verstehe mich wohl: einigermaßen.
Nein, das verstehe ich gar nicht wohl. Man hat Recht oder Unrecht. Ein einigermaßen gibt es dabei nicht.
Albert
In unsern schwindlichen Erdeverhältnissen doch wohl öfter, als man denkt. Wenn ich hier zum Beispiel nachgebe, dass Maria Weber es nicht wagen durfte, den ganzen Eindruck der Dichtung und Musik in theatralischer Hinsicht an die Idyllenzartheit jener ersten Szene zu wagen, – wer hindert ihn jetzt, wo der Siegerkranz um seine Schläfe grünt, der Poesie seines Kunstgenossen ihr volles Recht angedeihen zu lassen, und das anmutige Einleitungsbild nachzukomponieren? Bernhard
Du fragst seltsam. Seine eigne Ouvertüre hindert ihn. Wie sie hinüberjubelt in das Getümmel des Schützenfestes, kann sie doch unmöglich zu gleicher Zeit uns die Wohnung des frommgewaltigen Einsiedlers erschließen sollen. Albert
Ich ging eines Abends spät, sinnend über Vieles, auf den stillgewordenen Straßen einer großen Hauptstadt umher. Da schwebten Pianofortklänge aus hohen Fenstern halb verhallend zu mir herab. Aber was ich vernahm, bannte mich fest, und drang tief in meine Seele. Die kühnste Wildheit verschmolz in die zarteste Weichheit, und dennoch blieb die gleiche Kraft darin lebendig, Bernhard
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schwang sich wieder adlergleich zu den früheren gewaltigen Flügen empor, gestaltete sich dann zum feierlichen Choral, „das muss Maria Weber sein!“ sprach ich erglühend vor mich hin. Und ein Freund – mir unbemerkt von gleichem Gefühl an dieselbe Stelle gezogen – erwiderte: „jawohl! das ist er! In der Wohnung eines wundersam begabten Kunstverwandten gießt er diesmal ganz frei und kühn vor nur wenigen Hörern die Urne seiner Töne aus.“ – Ich aber fühlte seitdem in mir: „es gibt wohl kein unauflösbares Problem für Maria Webers Begeisterung!“ – Sieh dort, wo das ferne Gewitter in den Schimmern des sanften Abendrotes verschwimmt! Albert
Bernhard
So meine ich es.
LIBRETTO
Der folgende Abdruck des Librettos gibt die Textfassung von Dmitri Tcherniakovs Inszenierung wieder. Innerhalb der musikalischen Nummern bleibt der Text unverändert und folgt dem Klavierauszug, der auch Grundlage für die Proben dieser Produktion gewesen ist (Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text von Friedrich Kind. Nach den Quellen herausgegeben von Joachim Freyer). Innerhalb der gesprochenen Dialoge kam es zu teils weitreichenden Kürzungen, darüber hinaus jedoch lediglich zu kleinen sprachlichen Veränderungen.
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DER FREISCHÜTZ
CARL MARIA VON WEBER (1786 – 1826)
Romantische Oper in drei Aufzügen Text von Friedrich Kind
PERSONEN Ottokar, böhmischer Fürst – Bariton Kuno, fürstlicher Erbförster – Bass Agathe, seine Tochter – Sopran Ännchen, eine junge Verwandte – Sopran Kaspar, erster Jägerbursche – Bass Max, zweiter Jägerbursche – Tenor Ein Eremit – Bass Kilian, ein reicher Bauer – Bass Vier Brautjungfern – Soprane Samiel, der schwarze Jäger – Sprechrolle Jäger und Gefolge, Landleute und Musikanten, Erscheinungen
Ort und Zeit der Handlung: Böhmen, kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges Orchesterbesetzung 2 Piccoloflöten, 2 große Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher Auf der Bühne 1 Klarinette, 2 Hörner, 1 Trompete, 2 Violinen, Violoncello
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ERSTER AUFZUG
Platz vor einer Waldschenke, sogenanntem Schenkgiebel, die geräumig, doch bloß mit Schoben gedeckt ist.
Erster Auftritt (Max. Kilian. Landleute. Später Musikanten. Max sitzt allein im Vordergrunde an einem Tisch, vor sich den Krug. Im Hintergrunde eine Vogelstange, von Volksgetümmel umgeben. Böhmische Bergmusik. In dem Augenblick, da der Vorhang aufgeht, im 11. Takt, fällt ein Schuss, und das letzte Stück einer Sternscheibe fliegt herunter.) Kuno Drück ab! Max Ich kann nicht auf Lebendiges schießen.
Kilian Schau’ der Herr mich an als König, Dünkt Ihm meine Macht zu wenig? Gleich zieh’ Er den Hut, Mosje! Wird Er, frag’ ich, he, he, he? Mädchen (aushöhnend, Rübchen schabend, mit den Fingern auf Max deutend) He, he, he, he, he, he, he, he, he, he! Männer Wird Er, frag’ ich, wird Er, frag’ ich, Gleich zieh’ Er den Hut, Mosje? Wird Er, frag’ ich, wird Er, he, he, he? Kilian Stern und Strauß trag’ ich vorm Leibe, Kantors Sepherl trägt die Scheibe! Hat Er Augen nun, Mosje? Was traf Er denn, he, he, he? Mädchen He, he, he, he, he, he, he, he, he, he!
Nr. 1 Introduzione Chor der Landleute Viktoria, Viktoria, der Meister soll leben, Der wacker dem Sternlein den Rest hat gegeben, Ihm gleichet kein Schütz von fern und von nah! Viktoria, Viktoria, Viktoria! (Allgemeiner Jubel. Die Stange wird herabgelassen.) Max Immer frisch, schreit, schreit! (Er stampft mit der Büchse auf den Boden und lehnt sie an einen Baum.) War ich denn blind? Sind die Sehnen dieser Faust erschlafft? (Es ordnet sich ein Zug. Voran die Musikanten, diesen Marsch spielend. Dann Bauernknaben, die das letzte Stück der Scheibe auf einem alten Degen und mancherlei neues Zinngerät als Gewinn tragen. Hierauf Kilian als Schützenkönig, mit gewaltigem Strauß und Ordensbande, worauf die von ihm getroffenen Sterne befestigt sind. Schützen mit Büchsen, mehrere mit Sternen auf Mützen und Hüten, Weiber und Mädchen folgen. Der Zug geht im Kreise herum, und alle, die bei Max vorbeikommen, deuten höhnisch auf ihn, verneigen sich, flüstern und lachen. Zuletzt bleibt Kilian vor ihm stehen, wirft sich in die Brust und singt.)
Männer Was traf Er denn, was traf Er denn? Gleich zieh’ Er den Hut, Mosje? Wird Er, frag’ ich, wird Er, he, he, he? Kilian Darf ich etwa Eure Gnaden ’s nächste Mal zum Schießen laden? Er gönnt andern was, Mosje? Nun, Er kommt doch, he, he, he? (Chor wie oben.) Max (springt auf, zieht den Hirschfänger und fasst Kilian bei der Brust.) Lasst mich zufrieden! (Getümmel, auf Max eindringend.)
Zweiter Auftritt (Die Vorigen. Kuno, Kaspar und mehrere Jäger mit Büchsen und Jagdspießen.) Kuno Max! Max! Ist’s möglich? Du, sonst der beste Schütze weit und breit! Kaspar Hey du, glaube mir, es hat dir jemand einen Waidbann gesetzt, und den musst du lösen, oder du triffst keine Klaue.
Erster Aufzug
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Kuno Possen! Kaspar Geh nächsten Freitag auf einen Kreuzweg, zieh mit dem Ladestock … Kuno Schweig! Oder du hast auf der Stelle den Abschied! Aber auch du, Max, sieh dich vor! Ich bin dir wie ein Vater gewogen. Aber wenn du morgen beim Probeschuss fehltest, müsst’ ich dir doch das Mädchen versagen. Kilian Was ist das eigentlich mit dem Probeschuss? Kuno Mein Urältervater hieß Kuno, wie ich, und war fürstlicher Leibschütz. Einst trieben die Hunde einen Hirsch heran, auf dem ein Mensch angeschmiedet war – so bestrafte man in alten Zeiten die Waldfrevler. Dieser Anblick erregte das Mitleid des damaligen Fürsten. Er versprach demjenigen, welcher den Hirsch erlege, ohne den Missetäter zu verwunden, eine Erbförsterei, und zur Wohnung das nah gelegene Waldschlösschen. Der wackere Leibschütz besann sich nicht lange; er legte an und befahl die Kugel den heiligen Engeln. Der Hirsch stürzte und der Wilddieb war unversehrt. Kilian Ein Meisterschuss! Kaspar Oder ein Glücksfall … Kilian Also davon schreibt sich der Probeschuss her. Kuno Hört noch das Ende! Kunos Neider wussten es an den Fürsten zu bringen, der Schuss sei mit Zauberei geschehen, Kuno habe nicht gezielt, sondern eine Freikugel geladen. Kilian Eine Freikugel? Sechse treffen, aber die siebente gehört dem Bösen. Kaspar Unsinn! Nichts als Naturkräfte!
Doch genug nun! Wir wollen uns wieder auf den Weg machen! Du aber, Max, nimm dich zusammen! Der Waidbann, der dir gesetzt ist, mag die Liebe sein! Ich erwarte dich noch vor Sonnenaufgang. Nr. 2 Terzett mit Chor Max (der erst bei Kunos Anrede aus seiner Zerstreuung zurückgekommen ist) Oh, diese Sonne, Furchtbar steigt sie mir empor! Kuno Leid oder Wonne, Beides ruht in deinem Rohr! Max Ach, ich muss verzagen, Dass der Schuss gelingt! Kuno Dann musst du entsagen! Leid oder Wonne, Beides ruht in deinem Rohr! Kaspar (zu Max, mit bedeutungsvoller Heimlichkeit) Nur ein keckes Wagen Ist’s; was Glück erringt! Max Agathen entsagen, Wie könnt’ ich’s ertragen? Doch mich verfolget Missgeschick! Chor Seht, wie düster ist sein Blick! Ahnung scheint ihn zu durchbeben! Die Jäger (zu Max) O lass Hoffnung dich beleben, Und vertraue dem Geschick! Kuno und die Frauen O lass Hoffnung dich beleben, Und vertraue dem Geschick! Max Weh mir! Mich verließ das Glück! Kuno und Chor O vertraue!
Kuno Aus diesem Grunde machte der Fürst bei der Stiftung den Zusatz: „Dass jeder von Kunos Nachfolgern zuvor einen Probeschuss ablege, schwer oder leicht.“
Max Unsichtbare Mächte grollen, Bange Ahnung füllt die Brust!
Erster Aufzug
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Chor O vertraue dem Geschick! Max Unsichtbare Mächte grollen, Bange Ahnung füllt die Brust! Nimmer trüg’ ich den Verlust! Kuno So’s des Himmels Mächte wollen, Dann trag männlich den Verlust! Kaspar Mag Fortunas Kugel rollen; Wer sich höh’rer Kraft bewusst, Trotzt dem Wechsel und Verlust! Max Agathen entsagen, Wie könnt’ ich’s ertragen! Nimmer trüg’ ich den Verlust, nimmer! Chor Nein, nein, nimmer trüg er den Verlust! Nein! Kuno (fasst Max bei der Hand) Mein Sohn, nur Mut! Wer Gott vertraut, baut gut! – (zu den Jägern) Jetzt auf! In Bergen und Klüften Tobt morgen der freudige Krieg! Chor der Jäger Das Wild in Fluren und Triften, Der Aar in Wolken und Lüften Ist unser, und unser der Sieg! Chor der Landleute Lasst lustig die Hörner erschallen! Chor der Jäger Wir lassen die Hörner erschallen! Alle Wenn wiederum Abend ergraut, Soll Echo und Felsenwand hallen: Sa! Hussah, dem Bräut’gam, der Braut! (Kuno mit Kaspar und den Jägern ab.)
Dritter Auftritt (Die Vorigen ohne Kuno und sein Gefolge)
Erster Aufzug
Kilian Hey, für morgen das beste Glück! Schlag dir die Grillen aus dem Kopf! Nimm dir ein Mädchen und tanz mit ihr! Nr. 3 Walzer und Arie Max Nein, länger trag’ ich nicht die Qualen, Die Angst, die jede Hoffnung raubt! Für welche Schuld muss ich bezahlen? Was weiht dem falschen Glück mein Haupt? Durch die Wälder, durch die Auen Zog ich leichten Sinns dahin; Alles, was ich konnt’ erschauen, War des sichern Rohrs Gewinn. Abends bracht’ ich reiche Beute, Und wie über eignes Glück, Drohend wohl dem Mörder, freute Sich Agathens Liebesblick! Hat denn der Himmel mich verlassen? (Samiel tritt, fast bewegungslos, im Hintergrund einen Schritt aus dem Gebüsch.) Die Vorsicht ganz ihr Aug’ gewandt? (mit verzweiflungsvoller Gebärde) Soll das Verderben mich erfassen? Verfiel ich in des Zufalls Hand? (Samiel verschwindet wieder.) Jetzt ist wohl ihr Fenster offen, Und sie horcht auf meinen Tritt, Lässt nicht ab vom treuen Hoffen; Max bringt gute Zeichen mit! Wenn sich rauschend Blätter regen, Wähnt sie wohl, es sei mein Fuß; Hüpft vor Freuden, winkt entgegen – Nur dem Laub, nur dem Laub den Liebesgruß. (Samiel schreitet im Hintergrund mit großen Schritten langsam über die Bühne.) Doch mich umgarnen finstre Mächte! Mich fasst Verzweiflung! foltert Spott! – O dringt kein Strahl durch diese Nächte? Herrscht blind das Schicksal? Lebt kein Gott? (Samiel, schon ganz an der entgegengesetzten Seite, macht bei dem letzten Worte eine zuckende Bewegung und ist verschwunden.) Mich fasst Verzweiflung! foltert Spott!
Fünfter Auftritt (Max. Kaspar, herbeischleichend. Samiel, größtenteils unsichtbar. Ein Schenkmädchen.) Kaspar Ich kann’s nicht verschmerzen, dass du hier zum Spott der Leute geworden bist. Schlag dir’s aus den Gedanken!
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Wie? Was? Bier hast du? Das taugt nicht zum Sorgenbrecher! Ich kann dich nicht so traurig sehen! Du musst mit mir trinken.
Max Elender! Agathe hat recht, wenn sie mich immer vor dir warnt.
Max Ich mag aber nichts.
Kaspar Willst du schon nach Hause?
Kaspar Der Herr Kuno soll leben! Auf die Gesundheit deines Chefs wirst du doch mittrinken?
Max Ja, es wird Zeit.
Max So sei’s! Kaspar Nun lass uns singen! Nr. 4 Lied Kaspar Hier im ird’schen Jammertal Wär’ doch nichts als Plack und Qual, Trüg’ der Stock nicht Trauben; Darum bis zum letzten Hauch Setz’ ich auf Gott Bacchus Bauch (gesprochen:) Meinen festen Glauben! Ei, du musst mitsingen! (Er trinkt.) Max Lass mich! Kaspar Agathe soll leben! Kaspar Eins ist eins, und drei sind drei! Drum addiert noch zweierlei Zu dem Saft der Reben; Kartenspiel und Würfellust Und ein Kind mit runder Brust Hilft zum ew’gen Leben! (gesprochen) Mit dir ist aber auch gar nichts anzufangen! Unser Herr Kuno soll leben! Kaspar Ohne dies Trifolium Gibt’s kein wahres Gaudium Seit dem ersten Übel. Fläschchen sei mein Abc, Würfel, Karte, Katherle, Meine Bilderfibel!
Erster Aufzug
Kaspar Wie wär’s, wenn ich dir noch heute zu einem recht glücklichen Schuss verhülfe, der Agathe beruhigte und zugleich euer künftiges Glück verbürgte? Da, nimm das Gewehr! Max Was soll ich damit? Kaspar Geduld! Zeigt sich denn nichts? Da! da! Siehst du den Vogel dort? Schieß! Max Ich kann nicht auf Lebendiges schießen. Kaspar Schieß! Max Ich kann nicht. Bist du ein Narr, oder glaubst du, ich bin’s? Kaspar Ein guter Schuss! Du hast es geschafft. So, dies als Siegeszeichen. Max! Du bist zu hohen Dingen ersehen! Heute, in der Nacht, bevor du den Probeschuss tun, Amt und Braut dir gewinnen sollst, wo du die Hilfe unsichtbarer Mächte so sehr brauchst, bin ich dir zu Diensten! Sei punkt zwölf Uhr in der Wolfsschlucht! Max Um Mitternacht – in der Wolfsschlucht? Kaspar Pah! – Wie du denkst! Ich bin dein Freund! Ich will dir gießen helfen. Max Auch das nicht! Kaspar Das Mädchen ist auf dich versessen, kann nicht ohne dich leben: Sie wird verzweifeln! Und du wirst zum Spott aller Menschen.
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Max Ich komme!
Erster Bursche Der Bräutigam. (Fünfter Bursche lacht.)
Kaspar Schweig gegen jedermann! Es könnte dir und mir Gefahr bringen. Ich erwarte dich! Glock zwölf!
Zweiter Bursche Was?
Max Was ist die Wolfsschlucht?
Vierter Bursche Der Schuss!
Kaspar Du wirst sehen.
Erster Bursche Er hat es echt geglaubt.
Max Glock zwölf! Ich komme!
Zweiter Bursche Ich verstehe gar nichts.
Sechster Auftritt (Kaspar allein)
Erster Bursche Valentin! Der Schuss war nicht echt. Das war alles nur gespielt. (Fünfter Bursche lacht.)
Nr. 5 Arie Kaspar (höhnisch Max nachsehend) Schweig, schweig – damit dich niemand warnt! Schweige, damit dich niemand warnt! Der Hölle Netz hat dich umgarnt! Nichts kann vom tiefen Fall dich retten, Nichts kann dich retten vom tiefen Fall! Umgebt ihn, ihr Geister mit Dunkel beschwingt! Schon trägt er knirschend eure Ketten! Triumph! Triumph! Triumph! die Rache gelingt! (auf der entgegengesetzten Seite ab)
Vierter Bursche Niemand wurde getötet. Zweiter Bursche O mein Gott!
Szene nach Kaspars Abgang (Fünf Burschen.) Erster Bursche Meine Güte! So eine Sauerei! Zweiter Bursche Was ist passiert? Dritter Bursche Meint ihr, er hat alles geglaubt? Vierter Bursche Ja, ganz sicher. (Fünfter Bursche lacht.) Erster Bursche Na klar! Zweiter Bursche Wer hat was geglaubt?
Zweiter Aufzug
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Ännchen Grillen sind mir böse Gäste! Immer mit leichtem Sinn Tanzen durchs Leben hin, (Vorsaal mit Seiteneingängen im Forsthaus. Hirschgeweihe Das nur ist Hochgewinn! und düstere Tapeten mit Jagdstücken geben ihm ein alterSorgen und Gram muss man verjagen! tümliches Ansehen und bezeichnen ein ehemaliges fürstImmer mit leichtem Sinn! liches Waldschloss. In der Mitte ein mit Vorhängen bedeckter Grillen sind mir böse Gäste! Ausgang, der zu einem Altan führt. Auf einer Seite Ännchens Immer mit leichtem Sinn Spinnrad, auf der andern ein großer Tisch, worauf ein Lämp- Tanzen durchs Leben hin, chen brennt und ein weißes Kleid mit grünem Band liegt.) Das nur ist Hochgewinn!
ZWEITER AUFZUG
Erster Auftritt (Agathe. Ännchen. Ännchen steht auf einem Fußtritt, hat das Bild des ersten Kuno wieder aufgehängt und hämmert den Nagel fest.) Nr. 6 Duett Ännchen Schelm! halt fest; Ich will dich’s lehren! Spukerein kann man entbehren In solch altem Eulennest. Agathe (bindet einen Verband von der Stirn) Lass das Ahnenbild in Ehren! Ännchen Ei, dem alten Herrn Zoll’ ich Achtung gern; Doch dem Knechte Sitte lehren, Kann Respekt nicht wehren. Agathe Sprich, wen meinst du? Welchen Knecht? Ännchen Nun, den Nagel! Kannst du fragen? Sollt’ er seinen Herrn nicht tragen? Ließ ihn falln! War das nicht schlecht? Agathe Ja, gewiss, das war nicht recht. Ännchen Ließ ihn falln, war das nicht schlecht? Gewiss, das war recht schlecht! (Sie steigt herab.) Agathe Alles wird dir zum Feste, Alles beut dir Lachen und Scherz? O wie anders fühlt mein Herz!
Zweiter Aufzug
Agathe Wer bezwingt des Busens Schlagen? Wer der Liebe süßen Schmerz? Stets um dich, Geliebter, zagen. Muss dies ahnungsvolle Herz. Ännchen Grillen sind mir böse Gäste! Immer mit leichtem Sinn Tanzen durchs Leben hin, Das nur ist Hochgewinn! Sorgen und Gram muss man verjagen! Das nur ist Hochgewinn! Grillen sind mir böse, böse Gäste! (Sie besieht sich das Bild.) Agathe Wo nur Max bleibt? Nr. 7 Arietta Ännchen (mit lebhafter Pantomime) Kommt ein schlanker Bursch gegangen, Blond von Locken oder braun, Hell von Aug’ und rot von Wangen, Ei, nach dem kann man wohl schaun. Zwar schlägt man das Aug’ aufs Mieder Nach verschämter Mädchenart; Doch verstohlen hebt man’s wieder, Wenn’s das Herrchen nicht gewahrt. Sollten ja sich Blicke finden, Nun, was hat auch das für Not? Man wird drum nicht gleich erblinden, Wird man auch ein wenig rot. Blickchen hin und Blick herüber, Bis der Mund sich auch was traut! Er seufzt: Schönste! Sie spricht: Lieber! Bald heißt’s Bräutigam und Braut.
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Immer näher, liebe Leutchen! Wollt ihr mich im Kranze sehn? Gelt, das ist ein nettes Bräutchen, Und der Bursch nicht minder schön?
Zweiter Auftritt (Agathe allein) Nr. 8 Szene und Arie Agathe Wie nahte mir der Schlummer, Bevor ich ihn gesehn? Ja, Liebe pflegt mit Kummer Stets Hand in Hand zu gehn! Ob Mond auf seinem Pfad wohl lacht? (Sie öffnet die Altantür, sodass man in eine sternenhelle Nacht sieht.) Welch schöne Nacht! (Sie tritt in den Altan und erhebt in frommer Rührung ihre Hände.) Leise, leise, Fromme Weise! Schwing dich auf zum Sternenkreise. Lied erschalle! Feiernd walle Mein Gebet zur Himmelshalle! (Hinausschauend) O wie hell die goldnen Sterne, Mit wie reinem Glanz sie glühn! Nur dort in der Berge Ferne, Scheint ein Wetter aufzuziehn. Dort am Wald auch schwebt ein Heer Dunkler Wolken dumpf und schwer. Zu dir wende Ich die Hände, Herr ohn’ Anfang und ohn’ Ende! Vor Gefahren Uns zu wahren Sende deine Engelscharen! (wieder hinausschauend) Alles pflegt schon längst der Ruh’; Trauter Freund, was weilest du? Ob mein Ohr auch eifrig lauscht, Nur der Tannen Wipfel rauscht; Nur das Birkenlaub im Hain Flüstert durch die hehre Stille; Nur die Nachtigall und Grille Scheint der Nachtluft sich zu freun. Doch wie? Täuscht mich nicht mein Ohr? Dort klingt’s wie Schritte! Dort aus der Tannen Mitte Kommt was hervor! Er ist’s! er ist’s!
Zweiter Aufzug
Die Flagge der Liebe mag wehn! (Sie winkt mit einem weißen Tuch.) Dein Mädchen wacht Noch in der Nacht! Er scheint mich noch nicht zu sehn! Gott, täuscht das Licht Des Monds mich nicht, So schmückt ein Blumenstrauß den Hut! Gewiss, er hat den besten Schuss getan! Das kündet Glück für morgen an! O süße Hoffnung! Neu belebter Mut! All meine Pulse schlagen, Und das Herz wallt ungestüm, Süß entzückt entgegen ihm! Konnt’ ich das zu hoffen wagen? Ja, es wandte sich das Glück Zu dem teuern Freund zurück: Will sich morgen treu bewähren! Ist’s nicht Täuschung? Ist’s nicht Wahn? Himmel, nimm des Dankes Zähren Für dies Pfand der Hoffnung an! All meine Pulse schlagen, Und das Herz wallt ungestüm, Süß entzückt entgegen ihm.
Dritter Auftritt (Agathe, Max, verstört und heftig eintretend. Ännchen gleich nach ihm, in Nachtkleidern.) Agathe Bist du endlich da! Max Agathe! Leider komm’ ich nur auf wenige Augenblicke. Agathe Du willst doch nicht wieder fort? Es sind Gewitter im Anzug. Max Ich muss! Agathe Du scheinst übel gelaunt. Max Nein! nein! Im Gegenteil! Agathe Aber was treibt dich? Max Die Wolfsschlucht!
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Nr. 9 Terzett Agathe Wie? Was? Entsetzen! Dort in der Schreckensschlucht? Ännchen Der wilde Jäger soll dort hetzen, Und wer ihn hört, ergreift die Flucht. Max Darf Furcht im Herz des Weidmanns hausen? Agathe Doch sündigt der, der Gott versucht! Max Ich bin vertraut mit jenem Grausen, Das Mitternacht im Walde webt; Wenn sturmbewegt die Eichen sausen, Der Häher krächzt, die Eule schwebt. (Er nimmt Hut, Jagdtasche und Büchse.) Agathe Mir ist so bang, o bleibe! O eile nicht so schnell! O eile, eile, eile nicht! Mir ist so bang! Ännchen Ihr ist so bang, o bleibe! O eile nicht so schnell! O eile, eile nicht so schnell! O eile, eile nicht!
Max (geht hastig fort, kehrt aber in der Tür noch einmal zurück) Doch hast du auch vergeben Den Vorwurf, den Verdacht? Agathe Nichts fühlt mein Herz als Beben, Nimm meiner Warnung Acht! Ännchen So ist das Jägerleben! Nie Ruh bei Tag und Nacht! Agathe Weh mir, ich muss dich lassen! Denk an Agathens Wort! Max (düster) Bald wird der Mond erblassen, Mein Schicksal reißt mich fort! Ännchen (zu Agathe) Such, Beste, dich zu fassen! (zu Max) Denk an Agathens Wort! (Max den Hut tief in die Augen drückend, stürzt heftig ab. Agathe und Ännchen ab.)
Max (nach dem Altan hinten schauend, düster für sich) Noch trübt sich nicht die Mondenscheibe; Noch strahlt ihr Schimmer klar und hell; Doch bald wird sie den Schein verlieren.
Verwandlung (Furchtbare Waldschlucht, größtenteils mit Schwarzholz bewachsen, von hohen Gebirgen rings umgeben. Von einem derselben stürzt ein Wasserfall. Der Vollmond scheint bleich. Zwei Gewitter von entgegengesetzter Richtung sind im Anzug. Weiter vorwärts ein vom Blitz zerschmetterter, ganz verdorrter Baum, inwendig faul, sodass er zu glimmen scheint. Auf der andern Seite, auf einem knorrigen Ast, eine große Eule mit feurig rädernden Augen. Auf anderen Bäumen Raben und anderes Waldgevögel.)
Ännchen Willst du den Himmel observieren? Das wär’ nun meine Sache nicht!
Vierter Auftritt (Kaspar. Unsichtbare Geister von verschiedenen Seiten.)
Agathe So kann dich meine Angst nicht rühren? Max Mich ruft von hinnen Wort und Pflicht, Mich rufen Wort und Pflicht!
Kaspar (ohne Hut und Oberkleid, doch mit Jagdtasche und Hirschfänger, ist beschäftigt, mit schwarzen Feldsteinen einen Kreis zu legen, in dessen Mitte ein Totenkopf liegt. Einige Schritte davon der abgehauene Adlerflügel, Gießkelle und Kugelform.) Nr. 10 Finale
Agathe, Max und Ännchen Leb wohl! Lebe wohl!
Zweiter Aufzug
Chor unsichtbarer Geister Milch des Mondes fiel aufs Kraut!
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Uhui! Uhui! Spinnweb’ ist mit Blut betaut! Uhui! Uhui! Eh’ noch wieder Abend graut, Uhui! Uhui! Ist sie tot, die zarte Braut! Uhui! Uhui! Eh’ noch wieder sinkt die Nacht, Ist das Opfer dargebracht! Uhui! Uhui! Uhui!
Kaspar Die siebente sei dein! Aus seinem Rohr lenk sie nach seiner Braut; Dies wird ihn der Verzweiflung weihn, Ihn und den Vater.
Fünfter Auftritt (Kaspar. Bald darauf Samiel. Die Uhr schlägt ganz in der Ferne zwölf. Der Kreis von Steinen ist vollendet.)
Samiel Das findet sich!
Kaspar Samiel! Samiel! Erschein! Samiel! Samiel! Erschein! Samiel Was rufst du? Kaspar (wirft sich vor Samiel nieder; kriechend) Du weißt, dass meine Frist Schier abgelaufen ist. Samiel Morgen! Kaspar Verlängre sie noch einmal mir! Samiel Nein! Kaspar Ich bringe neue Opfer dir. Samiel Welche? Kaspar Mein Jagdgesell, er naht, Er, der noch nie dein dunkles Reich betrat. Samiel Was sein Begehr? Kaspar Freikugeln sind’s, auf die er Hoffnung baut! Samiel Sechse treffen, sieben äffen.
Zweiter Aufzug
Samiel Noch hab’ ich keinen Teil an ihr! Kaspar (bange) Genügt er dir allein?
Kaspar Doch schenkst du Frist? Und wieder auf drei Jahr’, Bring’ ich ihn dir zur Beute dar! Samiel Es sei! Bei den Pforten der Hölle! Morgen er oder du! (Samiel verschwindet unter dumpfem Donner.)
Sechster Auftritt (Kaspar. Bald darauf Max. Späterhin Erscheinungen, die jedoch sämtlich den Zauberkreis nicht berühren. Zuletzt Samiel. Kaspar richtet sich langsam und erschöpft auf und trocknet sich den Schweiß von der Stirn. Der Hirschfänger mit dem Totenkopf ist verschwunden, an dessen Stelle kommt ein kleiner Herd mit glimmenden Kohlen, dabei einige Reißbunde aus der Erde. Kaspar erblickt sie.) Kaspar Trefflich bedient! (Er tut einen Zug aus der Jagdflasche.) Gesegn’ es, Samiel! (trinkt) Er hat mir warm gemacht! Aber wo bleibt denn Max? Er hat’s mir versprochen! Samiel, hilf! (Kaspar geht nicht ohne Beängstigung im Kreise hin und her. Die Kohlen drohen zu verlöschen; er kniet zu ihnen nieder, legt Reiß auf und bläst an. Die Eule und andere Vögel heben dabei die Flügel, als wollten sie anfachen. Das Feuer raucht und knistert.) Max (wird auf einer Felsenspitze, dem Wasserfall gegenüber, sichtbar und beugt sich in die Schlucht herab.) Ha! Furchtbar gähnt Der düstre Abgrund, welch ein Graun!
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Das Auge wähnt In einen Höllenpfuhl zu schaun! Wie dort sich Wetterwolken ballen, Der Mond verliert von seinem Schein! Gespenst’ge Nebelbilder wallen, Belebt ist das Gestein! Und hier, husch, husch! Fliegt Nachtgevögel auf im Busch! Rotgraue narb’ge Zweige strecken Nach mir die Riesenfaust! Nein, ob das Herz auch graust, Ich muss! Ich trotze allen Schrecken! (Er klettert einige Schritte herab.) Kaspar (richtet sich auf und erblickt ihn.) Dank, Samiel! (zu Max) Kommst du endlich? Ist das auch recht, mich so allein zu lassen? (Er hat das Feuer mit dem Adlerflügel angefacht und erhebt diesen im Gespräch gegen Max.) Max (nach dem Adlerflügel starrend) Ich schoss den Adler aus hoher Luft; Ich kann nicht rückwärts, mein Schicksal ruft! (Er klettert einige Schritte, bleibt dann wieder stehen und blickt starr nach dem gegenüberliegenden Felsen. Der Geist seiner Mutter erscheint im Felsen.) Weh mir! Kaspar So komm doch, die Zeit eilt! Max Ich kann nicht hinab! Kaspar Hasenherz! Max Sieh dorthin! Sieh! (Er deutet nach dem Felsen, man erblickt eine weißverschleierte Gestalt, die die Hand erhebt.) Was dort sich weist, Ist meiner Mutter Geist! So lag sie im Sarg, so ruht sie im Grab! Sie fleht mit warnendem Blick! Sie winkt mir zurück! Kaspar (für sich) Hilf, Samiel! (laut) Alberne Fratzen! (Die verschleierte Gestalt ist verschwunden, man erblickt Agathens Gestalt mit aufgelösten Locken und
Zweiter Aufzug
wunderlich mit Laub und Stroh aufgeputzt. Sie gleicht völlig einer Wahnsinnigen und scheint im Begriff, sich in den Wasserfall herabzustürzen.) Max Agathe! Sie springt in den Fluss! Hinab! Hinab! ich muss! (Die Gestalt verschwindet, Max klimmt vollends herab, der Mond fängt an sich zu verfinstern.) Hier bin ich! Was hab’ ich zu tun? Kaspar Fasse Mut! Hier erst das Blei. Etwas gestoßenes Glas von zerbrochenen Kirchenfenstern; das findet sich! Etwas Quecksilber! Drei Kugeln, die schon einmal getroffen! Das rechte Auge eines Wiedehopfs! Das linke eines Luchses! Probatum est! Und nun den Kugelsegen! (in drei Pausen sich gegen die Erde neigend) Schütze, der im Dunkeln wacht! Samiel! Samiel! Hab acht! Steh mir bei in dieser Nacht, Bis der Zauber ist vollbracht! Salbe mir so Kraut, als Blei, Segn’ es sieben, neun und drei, Dass die Kugel tüchtig sei! Samiel! Samiel! Herbei! (Die Masse in der Gießkelle fängt an zu gären und zu zischen und gibt einen grünlichweißen Schein. Eine Wolke läuft über den Mondstreif, dass die ganze Gegend nur noch von dem Herdfeuer, den Augen der Eule und dem faulen Holz des Baums beleuchtet ist.) Kaspar (gießt, lässt die Kugel aus der Form fallen und ruft) Eins! Das Echo (wiederholt) Eins! (Waldvögel kommen herunter, setzen sich um den Kreis, hüpfen und flattern.) Kaspar (gießt und zählt) Zwei! Echo Zwei! (Ein schwarzer Eber raschelt durchs Gebüsch und jagt wild vorüber.) Kaspar (scheint zu stutzen und zählt) Drei! Echo Drei! (Ein Sturm erhebt sich, beugt und bricht Wipfel der Bäume, jagt Funken vom Feuer usw.)
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Kaspar (zählt ängstlich) Vier! Echo Vier! (Man hört Rasseln, Peitschengeknall und Pferdegtrappel. Vier feurige funkenwerfende Räder rollen über die Bühne, ohne dass man wegen der Schnelligkeit ihre eigentliche Gestalt oder den Wagen gewahr werden kann.) Kaspar (immer ängstlicher, zählt) Fünf! Echo Fünf! (Hundegebell und Wiehern in der Luft. Nebelgestalten von Jägern zu Fuß und zu Ross, Hirschen und Hunden ziehen auf der Höhe vorüber)
DRITTER AUFZUG
Nr. 11 Entreakt Erster Auftritt Verwandlung (Agathens Stübchen, altertümlich, doch niedlich verziert. An einer Stelle ein kleiner Hausaltar, worauf in einem Blumentopf ein Strauß weißer Rosen, von dem durchs Fenster hereinfallenden Sonnenstrahl beleuchtet.)
Zweiter Auftritt Nr. 12 Kavatine
Chor (unsichtbar) Durch Berg und Tal, durch Schlund und Schacht, Durch Tau und Wolken, Sturm und Nacht! Durch Höhle, Sumpf und Erdenkluft, Durch Feuer, Erde, See und Luft, Joho! Wauwau! ho! ho! ho! ho! ho! ho! ho! ho! Kaspar Wehe! Das wilde Heer! Sechs! Wehe! (Der ganze Himmel wird schwarze Nacht. Die vorher miteinander kämpfenden Gewitter treffen zusammen und entladen sich mit furchtbaren Blitzen und Donnern. Platzregen fällt; dunkelblaue Flammen schlagen aus der Erde; Irrlichter zeigen sich auf den Bergen; Bäume werden prasselnd aus den Wurzeln gerissen; der Wasserfall schäumt und tobt. Felsenstücke stürzen herab. Man hört von allen Seiten Wettergeläut. Die Erde scheint zu wanken.) Kaspar (zuckend und schreiend) Samiel! Samiel! (Er wird zu Boden geworfen.) Hilf! Sieben! Max (gleichfalls vom Sturm hin und her geschleudert, fasst einen Ast des verdorrten Baumes und schreit) Samiel! (In demselben Augenblicke fängt das Ungewitter an, sich zu beruhigen, an der Stelle des verdorrten Baumes steht der schwarze Jäger, nach Maxens Hand fassend.)
Agathe (allein; bräutlich und blendend weiß, mit grünem Band gekleidet, kniet an dem Altar, steht auf und wendet sich dann vorwärts) Und ob die Wolke sie verhülle, Die Sonne bleibt am Himmelszelt; Es waltet dort ein heil’ger Wille, Nicht blindem Zufall dient die Welt! Das Auge, ewig rein und klar, Nimmt aller Wesen liebend war! Für mich auch wird der Vater sorgen, Dem kindlich Herz und Sinn vertraut, Und wär’ dies auch mein letzter Morgen, Rief’ mich sein Vaterwort als Braut: Sein Auge, ewig rein und klar, Nimmt meiner auch mit Liebe wahr!
Dritter Auftritt (Agathe. Ännchen geschmückt, doch nicht mit Blumen oder Zweigen) Ännchen Du hast geweint? Nr. 13 Romanze und Arie
Samiel (mit furchtbarer Stimme) Hier bin ich! (Max schlägt ein Kreuz und stürzt zu Boden. Es schlägt eins. Plötzliche Stille. Samiel ist verschwunden. Kaspar liegt noch mit dem Gesicht zu Boden, Max richtet sich konvulsivisch auf.)
Ännchen Einst träumte meiner sel’gen Base, Die Kammertür eröffne sich, Und kreideweiß ward ihre Nase, Denn näher, furchtbar näher schlich Ein Ungeheuer Mit Augen wie Feuer, Mit klirrender Kette; Es nahte dem Bette,
Dritter Aufzug
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In welchem sie schlief; Ich meine die Base Mit kreidiger Nase, Und stöhnte, ach! so hohl! und ächzte, ach! so tief! Sie kreuzte sich, rief, Nach manchem Angst- und Stoßgebet: Susanne! Margareth! Susanne! Margareth! Und sie kamen mit Licht, Und, denke nur, und, Erschrick mir nur nicht! Und, graust mir doch, und, Der Geist war: Nero, der Kettenhund! (Agathe wendet sich unwillig ab.) Ännchen (zärtlich) Du zürnest mir? Doch kannst du wähnen, Ich fühle nicht mit dir? Nur ziemen einer Braut nicht Tränen! Trübe Augen, Liebchen, taugen Einem holden Bräutchen nicht. Dass durch Blicke Sie erquicke Und beglücke, Und bestricke, Alles um sich her entzücke, Das ist ihre schönste Pflicht. Lass in öden Mauern Büßerinnen trauern, Dir winkt ros’ger Hoffnung Licht! Schon entzündet sind die Kerzen Zum Verein getreuer Herzen! Holde Freundin zage nicht! (gesprochen) Guten Tag, Mädels! Singt! Ich komme gleich wieder. (Sie geht ab.)
Vierter Auftritt (Agathe, Brautjungfern in ländlicher Feiertracht, doch gleichfalls ohne Kränze und Blumen)
Eine Brautjungfer Lavendel, Myrt’ und Thymian, Das wächst in meinem Garten; Wie lang bleibt doch der Freiersmann? Ich kann es kaum erwarten. Alle (wie oben) Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! Veilchenblaue Seide! Veilchenblaue Seide! Eine Brautjungfer Sie hat gesponnen sieben Jahr’ Den goldnen Flachs am Rocken, Das Hemdlein ist wie Spinnweb klar, Und grün der Kranz der Locken. Alle (wie oben) Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! Veilchenblaue Seide! Veilchenblaue Seide! Eine Brautjungfer Und als der schmucke Freier kam, War’n sieben Jahr’ verronnen; Und weil er die Herzliebste nahm, Hat sie den Kranz gewonnen. Alle (wie oben) Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! Veilchenblaue Seide! Veilchenblaue Seide!
Fünfter Auftritt (Die Vorigen. Ännchen.) Ännchen (mit einer zugebundenen runden Schachtel eintretend. Agathe öffnet sie und fährt zurück. Sie nimmt den Kranz heraus; es ist ein silberner Totenkranz.) Da hat die Verkäuferin wohl die Schachteln verwechselt! Brautjungfern und Ännchen Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! Veilchenblaue Seide! Veilchenblaue Seide!
Nr. 14 Volkslied. Chor Eine Brautjungfer Wir winden dir den Jungfernkranz Mit veilchenblauer Seide; Wir führen dich zu Spiel und Tanz, Zu Glück und Liebesfreude! Alle (einen Ringelreihn um Agathe tanzend) Schöner grüner, schöner grüner Jungfernkranz! Veilchenblaue Seide! Veilchenblaue Seide!
Dritter Aufzug
Verwandlung (Ganzes Theater. Eine romantisch schöne Gegend. An einer Seite und in der Hälfte des Hintergrundes die fürstlichen Jagdzelte, worin vornehme Gäste und Hofleute, alle Brüche auf den Hüten, bankettieren. Auf der andern Seite sind Jäger und Treibleute gelagert, welche gleichfalls schmausen; hinter ihnen Hirsche, Eber und anderes Wildbret in Haufen aufgetürmt.)
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Sechster Auftritt (Ottokar. Kuno. Max. Kaspar. Jäger. Treibleute. Zuletzt Agathe, der Eremit, die Brautjungfern und ein Zug von Landleuten. Ottokar im Hauptzelt an der Tafel; am untersten Platz Kuno. Max in Kunos Nähe, doch außerhalb, auf seine Büchse gestützt. Auf der entgegengesetzten Seite Kaspar hinter einem Baum lauschend.) Nr. 15 Jägerchor Chor der Jäger Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen, Wem sprudelt der Becher des Lebens so reich? Beim Klange der Hörner im Grünen zu liegen, Den Hirsch zu verfolgen durch Dickicht und Teich, Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen, Erstarket die Glieder und würzet das Mahl. Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen, Tönt freier und freud’ger der volle Pokal! Jo ho! Tralalalala! Diana ist kundig, die Nacht zu erhellen, Wie labend am Tage ihr Dunkel uns kühlt. Den blutigen Wolf und den Eber zu fällen, Der gierig die grünenden Saaten durchwühlt, Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen, Erstarket die Glieder und würzet das Mahl. Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen, Tönt freier und freud’ger der volle Pokal! Jo ho! Tralalalala! (Anstoßen der Gläser und lautes Gejubel) Ottokar Wo ist die Braut? Ich habe so viel zu ihrem Lobe gehört, dass ich auf ihre Bekanntschaft recht neugierig bin.
Nr. 16 Finale (Ännchen, Max, Ottokar, Kuno und einige Landleute sind um Agathe im Hintergrund beschäftigt. Der übrige Chor steht in angstvollen Gruppen verteilt, nach Agathe und Kaspar blickend.) Chor der Hofleute, Jäger und Landleute Schaut, o schaut! Er traf die eigne Braut! Einige Der Jäger stürzte vom Baum! Chor Wir wagen’s kaum, Nur hinzuschaun! O furchtbar Schicksal, o Graun! Unsre Herzen beben, zagen! Wär’ die Schreckenstat geschehn? Kaum will es das Auge wagen, Wer das Opfer sei, zu sehn. (Ottokar und seine nähere Umgebung sind zu Agathe geeilt; geringere Jäger zu Kaspar. Agathe wird in den Vordergrund auf eine Rasenerhöhung gebracht. Alle sind um sie beschäftigt. Max liegt vor ihr auf den Knien.) Agathe (erwacht aus schwerer Ohnmacht) Wo bin ich? War’s Traum nur, dass ich sank? Ännchen O fasse dich! Max und Kuno Sie lebt!
Kuno Der Zeit nach muss meine Tochter bald hier sein. So lasst den Probeschuss vor ihrer Ankunft ablegen. Die Gegenwart der Braut könnte ihn verwirren.
Max, Kuno und Chor Den heil’gen Preis und Dank! Sie hat die Augen offen!
Ottokar Wohlauf, junger Schütze! Einen Schuss, und du bist geborgen! Die Aufgabe ist leicht.
Einige (auf Kaspar zeigend) Hier dieser ist getroffen, Der rot vom Blute liegt!
Kuno Schieß!
Kaspar (sich krampfhaft krümmend) Ich sah den Klausner bei ihr stehn; Der Himmel siegt! Es ist um mich geschehn!
Agathe (schreit) Schieß nicht! (Der Schuss fällt. Sowohl Agathe als Kaspar schreien und sinken. Hinter der ersten tritt der Eremit hervor, fasst sie auf und verliert sich dann wieder unter dem Volk. Dies alles ist das Werk eines Augenblicks. Sowie der Schuss fällt, fängt das Finale an.)
Dritter Aufzug
Agathe (sich nach und nach erholend und aufstehend) Ich atme noch, der Schreck nur warf mich nieder, Ich atme noch die liebliche Luft, Ich atme noch!
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Kuno Sie atmet frei! Max Sie lächelt wieder! Agathe O Max! Max Die süße Stimme ruft! Agathe O Max, ich lebe noch!
Max Herr! Unwert bin ich Eurer Gnade; Des Toten Trug verlockte mich, Dass aus Verzweiflung ich vom Pfade Der Frömmigkeit und Tugend wich; Vier Kugeln, die ich heut verschoss, Freikugeln sind’s, die ich mit jenem goss. Ottokar (zornig) So eile, mein Gebiet zu meiden, Und kehre nimmer in dies Land! Vom Himmel muss die Hölle scheiden, Nie, nie empfängst du diese reine Hand!
Max Agathe, du lebest noch!
Max Ich darf nicht wagen, Mich zu beklagen; Denn schwach war ich, obwohl kein Bösewicht.
Alle Den heil’gen Preis und Dank! (Samiel kommt hinter Kaspar aus der Erde, von den übrigen ungesehen.)
Kuno Er war sonst stets getreu der Pflicht!
Kaspar (erblickt Samiel) Du, Samiel, schon hier? So hieltst du dein Versprechen mir? Nimm deinen Raub! Ich trotze dem Verderben! (Er hebt die geballte Faust drohend gen Himmel.) Dem Himmel Fluch! Fluch dir! (Er stürzt unter heftigen Zuckungen zusammen. Samiel verschwindet.) Chor (von Grausen ergriffen) Ha! Das war sein Gebet im Sterben? Kuno Er war von je ein Bösewicht! Ihn traf des Himmels Strafgericht! Chor und Kuno Er war von je ein Bösewicht! Ihn traf des Himmels Strafgericht! Er hat dem Himmel selbst geflucht! Vernahmt ihr’s nicht? Er rief den Bösen! Ottokar Fort! Stürzt das Scheusal in die Wolfsschlucht! (Einige Jäger tragen den Leichnam fort.) Ottokar (zu Max) Nur du kannst dieses Rätsel lösen, Wohl schwere Untat ist geschehn! Weh dir! Wirst du nicht alles treu gestehn!
Agathe O reißt ihn nicht aus meinen Armen! Jäger Er ist so brav, voll Kraft und Mut! Chor O er war immer treu und gut! Ännchen Gnädiger Herr, o habt Erbarmen! Kuno und Chor Gnäd’ger Herr, o habt Erbarmen! Ännchen O habt Erbarmen! Ottokar Nein, nein, nein! Agathe ist für ihn zu rein! (zu Max) Hinweg, hinweg aus meinem Blick! Dein harrt der Kerker, kehrst du je zurück! Eremit (tritt auf. Alles weicht ehrerbietig zurück und begrüßt ihn demutsvoll, selbst der Fürst entblößt sein Haupt.) Wer legt auf ihn so strengen Bann! Ein Fehltritt, ist er solcher Büßung wert? Ottokar Bist du es, heil’ger Mann!
Dritter Aufzug
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Den weit und breit die Gegend ehrt? Sei mir gegrüßt, Gesegneter des Herrn! Dir bin auch ich gehorsam gern. Sprich du sein Urteil, deinen Willen Will freudig ich erfüllen. Eremit Leicht kann des Frommen Herz auch wanken Und überschreiten Recht und Pflicht, Wenn Lieb’ und Furcht der Tugend Schranken, Verzweiflung alle Dämme bricht. Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf Zwei edler Herzen Glück zu setzen? Und unterliegen sie den Netzen, Womit sie Leidenschaft umflicht, Wer höb’ den ersten Stein wohl auf? Wer griff’ in seinen Busen nicht? Drum finde nie der Probeschuss mehr statt! Ihm, Herr, (mit finsterem Blick auf Max) der schwer gesündigt hat, Doch sonst stets rein und bieder war, Vergönnt dafür ein Probejahr! Und bleibt er dann, wie ich ihn stets erfand, So werde sein Agathens Hand!
Ännchen (zu Agathe) O dann, geliebte Freundin, schmücke Ich dich aufs neu zum Brautaltar! Eremit Doch jetzt erhebt noch eure Blicke Zu dem, der Schutz der Unschuld war! (Er kniet nieder und erhebt die Hände. Agathe, Kuno, Max, Ännchen und mehrere des Volkes folgen seinem Beispiel.) Alle Ja, lasst uns zum Himmel die Blicke erheben Und fest auf die Lenkung des Ewigen baun! Agathe, Ännchen, Max, Ottokar, Kuno und Eremit Wer rein ist von Herzen und schuldlos im Leben, Darf kindlich der Milde des Vaters vertraun! Alle Ja, lasst uns die Blicke erheben, Und fest auf die Lenkung des Ewigen baun, Fest der Milde des Vaters vertraun! Wer rein ist von Herz und schuldlos von Leben, Darf kindlich der Milde des Vaters vertraun!
Ottokar Dein Wort genüget mir, Ein Höh’rer spricht aus dir. Alle Heil unserm Fürst, er widerstrebet nicht Dem, was der fromme Klausner spricht! Ottokar (zu Max) Bewährst du dich, wie dich der Greis erfand, Dann knüpf’ ich selber euer Band! Max Die Zukunft soll mein Herz bewähren, Stets heilig sei mir Recht und Pflicht! Agathe (zu Ottokar) O lest den Dank in diesen Zähren; Das schwache Wort genügt ihm nicht! Ottokar und Eremit Der über Sternen ist voll Gnade; Drum ehrt es Fürsten, zu verzeihn! Kuno (zu Max und Agathe) Weicht nimmer von der Tugend Pfade, Um eures Glückes wert zu sein!
Dritter Aufzug
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WILFRIED HÖSL
FOTOS DER KLAVIERHAUPTPROBE AM 3. FEBRUAR 2021
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Pavel Černoch (Max), Golda Schultz (Agathe), Bálint Szabó (Kuno)
Pavel Černoch (Max)
Kyle Ketelsen (Kaspar)
Milan Siljanov (Kilian), Bálint Szabó (Kuno), Chor der Bayerischen Staatsoper
Golda Schultz (Agathe)
Kyle Ketelsen (Kaspar), Pavel Černoch (Max)
Kyle Ketelsen (Kaspar), Pavel Černoch (Max)
Golda Schultz (Agathe), Anna Prohaska (Ännchen)
Kyle Ketelsen (Kaspar), Pavel Černoch (Max)
Pavel Černoch (Max), Kyle Ketelsen (Kaspar)
Kyle Ketelsen (Kaspar)
Anna Prohaska (Ännchen), Golda Schultz (Agathe)
Golda Schultz (Agathe)
Golda Schultz (Agathe), Anna Prohaska (Ännchen), Pavel Černoch (Max)
Golda Schultz (Agathe), Anna Prohaska (Ännchen), Pavel Černoch (Max)
Boris Prýgl (Fürst Ottokar), Pavel Černoch (Max), Tareq Nazmi (Ein Eremit), Golda Schultz (Agathe), Chor der Bayerischen Staatsoper
Boris Prýgl (Fürst Ottokar), Pavel Černoch (Max), Golda Schultz (Agathe), Kyle Ketelsen (Kaspar), Bálint Szabó (Kuno), Chor der Bayerischen Staatsoper
Tareq Nazmi (Ein Eremit), Pavel Černoch (Max), Boris Prýgl (Fürst Ottokar), Chor der Bayerischen Staatsoper
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TEXTNACHWEIS
Die Texte von Clive McClelland (S. 28), Sebastian Werr (S. 42) und Andrej Sorin (S. 68) sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch.
Auch ein Gespräch über den Freischützen von Friedrich de la Motte Fouqué (S. 109) stammt aus Zeitung für die elegante Welt (19.9, 20.9., 21.9. 1822).
Waldeinsamkeit von Thea Dorn (S. 59) stammt aus Thea Dorn / Richard Wagner: Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, München, Verlagsgruppe Random House GmbH 2011.
Das Faksimile des Librettos (S. 102) Der Freischütz. Wolfs-Oper in drei Aufzügen. Ausgabe letzter Hand von Friedrich Kind stammt aus Friedrich Kind: Freischütz-Buch. Leipzig 1843.
Der schwarzbraune Jäger (S. 23) von Wolfgang Adolph Gerle stammt aus: Der Freimüthige für Deutschland. Zeitblatt der Belehrung und Aufheiterung Nr. 68. Berlin 1819.
Handlung: Dmitri Tcherniakov Übersetzung ins Französische: Laurence Orgeret
Monatliche Unterredungen von dem Reiche der Geister (S. 37) stammt aus: Otto von Graben zum Stein: Das V. Stück. In: Monathliche Unterredungen von dem Reiche der Geister. Leipzig 1730. Die beiden letzten Kapitel aus Der Freischütz von Johann August Apel (S. 99) stammen aus Johann August Apel / Friedrich Laun: Gespensterbuch. Leipzig 1811.
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BILDNACHWEIS
IMPRESSUM
S. 84 – 96: Herlinde Koelbl, Fotografien aus der Serie Targets © Herlinde Koelbl
Bayerische Staatsoper Spielzeit 2020 / 2021
S. 144 – 163: Wilfried Hösl, Fotografien der Klavierhauptprobe am 3. Februar 2021
Staatsintendant Nikolaus Bachler
S. 4 – 5, 14 – 21, 50 – 57, 118 – 125, 166 – 167: Illustrationen Bureau Borsche, Robert Gutmann
Programmbuch zur Produktion Der Freischütz von Carl Maria von Weber am 13. Februar 2021 im Nationaltheater, München
Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten
Konzept und Redaktion Lukas Leipfinger Bildredaktion Dr. Katrin Dillkofer Mitarbeit Sören Sarbeck Gestaltung Bureau Borsche, Mirko Borsche, Robert Gutmann, Stefan Mader, Julian Wallis Satz und Druck Gotteswinter und Aumaier GmbH, München