Musik wie ein Gesamtschneepflug Ein Gespräch mit der Regisseurin Barbara Frey Janáčeks Oper trägt ursprünglich den Titel des Dramas von Gabriele Preissová: "Ihre Stieftochter" bzw. "Ihre Ziehtochter". Darin steckt einerseits die sehr enge Beziehung zwischen den beiden weiblichen Hauptfiguren. Zugleich mutet das aber merkwürdig an: Einer Titelfigur wird der Name abgesprochen, sie ist definiert über ihre Stellung in der Familie, über ihre Rolle der Tochter. Eine Figur, über deren Schicksal alle anderen verfügen, die keine Entscheidungen treffen darf? Ich habe das Gefühl, dass diese Figur an der Schwelle zu einer neuen Gesellschaftsordnung steht. In dem Stück sind ja offensichtlich sowohl die Küsterin als auch Jenůfa gebildete Frauen. Sie können im Gegensatz zu den meisten Menschen in diesem Mährischen Dorf lesen und schreiben. Es sind Frauen, die rein gesellschaftlich gesehen schon einen Schritt weiter sind. Gleichzeitig ist aber die Ordnung der Gesellschaft, in der sie sich bewegen, eine alte. Es ist eine männliche Gesellschaftsordnung. Die Küsterin erzählt in ihrem ersten großen Monolog, dass sie von ihrem verstorbenen Mann geprügelt worden ist, dass der Mann getrunken hat. Dass sie mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen offensichtlich nicht vor kam. Dass es also eine Form der Selbstverleugnung gegeben hat. Und diese Form des Verschwindenmüssens beobachtet sie nun an ihrer Stieftochter, die sich auch wieder in einen Mann verliebt hat, der trinkt. Versteht man das Stück aus der Zeit heraus, in der es entstanden ist, dann ist klar, dass es noch keine Emanzipationsbegriffe gab, so wie sie für uns heute selbstverständlich sind. Ich habe den Eindruck, es ist eigentlich an einer Zeitenwende entstanden, wo Frauen die ersten Versuche starteten, aus dieser Gesellschaftsordnung herauszukommen. Dann lässt aber die Küsterin selbst ihre Stieftochter buchstäblich verschwinden, versteckt sie in der Kammer. Es scheint als haben die Frauen, vor allem die Küsterin, diese alte Ordnung ganz verinnerlicht. Es ist eine stolze, selbständige, geachtete Frau. Dennoch sieht sie in dem zu erwartenden Baby vor allem eine Bedrohung der Ehre, eine Schande. Sie übernimmt ganz festgefügte Moralvorstellungen. Diese Frauen haben natürlich noch überhaupt kein Instrument für den Aufbruch. Deswegen ist das Traurige und das Fatale in dieser Oper, dass der einzig mögliche Schritt vorwärts eigentlich ein Schritt zurück ist. Der Schritt der Küsterin nämlich,die Schöpfung zurückzunehmen, ein Schritt, den man von Medea kennt. Indem die Küsterin das Kind ihrer Stieftochter ermordet, nimmt sie quasi den Männern ihre Zeugungskraft oder der Gemeinschaft die Möglichkeit, sich auf diese Weise weiterzuentwickeln. Das ist eine Handlung des brutalst-möglichen Protestes. Das ist paradox: Die Idee ist ein Aufbruch in eine Zivilisation und gleichzeitig ist der Akt ein barbarischer. Es wird eine Gesellschaft beschrieben, die noch nicht in der Lage ist, den Aufbruch wirklich zu vollziehen. Wie man ja heute weiß, vollzieht sich der Aufbruch einer Gesellschaft im Wesentlichen über die Frauen. Da braucht man nicht nur in den Entwicklungsländern zu gucken, dass ist auch bei uns so. Wenn die Frauen nicht sämtliche Rechte bekommen, die ihnen zustehen, auch das Recht auf ihre freie erotische und sexuelle Wahl, auf die Verfügung über den eigenen Körper, dann wird sich in einer Gesellschaft nichts ändern. Die Küsterin erscheint ihren Mitmenschen als sehr strenge, heroische, starke Frau.