MAX JOSEPH Nr. 1 2013/14 "Haus ohne Schatten"

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Die Schatten der Schatten Von Alissa Walser – Premiere Die Frau ohne Schatten

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Der Zauberer Der neue Generalmusikdirektor Kirill Petrenko

Anja Harteros und Jonas Kaufmann im Interview – Premiere La forza del destino

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d: 6,00 euro a: 6,20 euro CH: 8,00 CHF

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Bayerische staatsoper

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Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

Bayerische

Max Joseph 1


Editorial

staatsoper „Wie man wird, was man ist“ – mit diesem Zitat von Friedrich Nietzsche beschäftigt sich die Bayerische Staatsoper in der Spielzeit 2013 / 14. Angeregt dazu hat uns ein historisches Datum: Zum 50. Mal jährt sich am 21. November die feierliche Wiedereröffnung des Nationaltheaters im Jahr 1963. Das Gebäude wurde historisch rekonstruiert – erstaunlich genug im Vergleich zum Rest der jungen Bundesrepublik, wo Opernhäuser neu entworfen wurden. Für uns war dies Auftrag und Fragestellung zugleich. Mit Spannung folgen wir daher der Arbeit von Wissenschaftlern der Ludwig-Maximilians-Universität München, die von der Bayerischen Staatsoper beauftragt wurden, personelle und ästhetische Verläufe zwischen 1933 und 1963 zu untersuchen. Den Beginn ihrer Arbeit präsentieren die Forscher in dieser Ausgabe von MAX JOSEPH. Die dramatischen Festtage im November 1963, durch die Ermordung John F. Kennedys beinahe zum Abbruch gebracht, hat die Zeichnerin Serafine Frey in Bildern nacherzählt. Das Jubiläum ist zugleich eine zeitliche Zäsur für uns: Kirill Petrenko wird als neuer Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper die Premiere von Richard Strauss’ Die Frau ohne Schatten dirigieren, jenem Werk, mit dem das Nationaltheater 1963 wiedereröffnet wurde. Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski erkundet das Werk nach seinen Spuren des Gestern und Heute. Beide Künstler stellen wir in dieser Ausgabe vor. Und die Sänger Anja Harteros und Jonas Kaufmann lassen einmal mehr erkennen, warum sie ein außergewöhnliches Duo sind, wenn sie über das Thema Schicksal im Vorfeld der Neuinszenierung von Giuseppe Verdis La forza del destino sprechen. Nietzsches „Wie man wird, was man ist“ fragt danach, wo wir heute stehen und auf welchem Weg wir dorthin gelangt sind. Es fordert zugleich auf, sich über Entwürfe für die Zukunft zu verständigen. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist nicht Selbstzweck, sondern Ausgangspunkt für die Frage, was und wer wir eigentlich sein wollen – auch in der Spielzeit 2013 / 14.

Nikolaus Bachler Staatsintendant

2013–2014


Wiederaufbau 2013 Wie könnte das nationaltheater aussehen, würde es heute neu aufgebaut? In der spielzeit 2013/14 lädt MAX JOsepH außergewöhnliche Architekten ein, hierfür Visionen zu entwerfen.

Opernfelsen An der stelle des nationaltheaters soll ein Opernfelsen entstehen, der wie der MaxJoseph-platz davor ein öffentlicher raum sein wird. Die statue von König Max I. begrüßt die Besucher in einem unterirdischen eingangsbereich, der von oben einsehbar ist. Auch der Zuschauerraum und die Bühne werden in den Untergrund verlegt. Das heutige nationaltheater wird zu einem raum, der als Kulturstätte mit offenem programm frei zugänglich ist und den davor zur Bühne macht. Maxplatz Josepeh Masterseite 10

Alexander Müller, AMA ArC. Architecture, ist ein international arbeitender Architekt aus München. er beschäftigt sich hauptsächlich mit dem entwurf konzeptueller Architektur, die versucht, neue Gesellschaftsformen des 21. Jahrhunderts baulich abzubilden.


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Wie wird man, was man ist?


„Wie man wird, was man ist“ – damit befasst sich die Bayerische Staatsoper in der Spielzeit 2013 / 14. Der Untertitel des Werks Ecce Homo von Friedrich Nietzsche entfaltet schon nach dem ersten Hören eine fragende Kraft. Der Philosoph und Nietzsche-Experte Andreas Urs Sommer erklärt, was es mit der Wendung auf sich hat.

Essay Andreas Urs Sommer

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Bilder Thorsten Brinkmann

„Das Wetter ist so herrlich, daß es gar kein Kunststück ist, etwas gut zu machen. An meinem Geburtstag habe ich wieder Etwas angefangen, das zu gerathen scheint und bereits bedeutend avancirt ist. Es heißt Ecce homo. Oder W i e m a n w i r d , w a s m a n i s t . Es handelt, mit einer großen Verwegenheit, von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit mich vorstellen wollen v o r dem ganz unheimlich solitären Akt der U m w e r t h u n g , — ich möchte gern einmal eine P r o b e machen, was ich bei den deutschen Begriffen von P r e ß f r e i h e i t eigentlich risquiren kann.“ Wie man wird, was man ist, so lautete schließlich auch der definitive Untertitel von Friedrich Nietzsches angeblicher Autobiografie Ecce homo, die er im Eingangszitat am 30. Oktober 1888, zwei Monate vor seinem geistigen Zusammenbruch, seinem Jünger Heinrich Köselitz ankündigt. „Wie man wird, was man ist“: Das klingt ja tatsächlich so, als werde hier eine Autobiografie beworben, also, um mit dem Autobiografie-Forscher Philippe Lejeune zu reden, ein „rückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“. Wie kann nun jemand eine Autobiografie schreiben, der sein ganzes Denkerleben lang die im Wort „Autobiografie“ enthaltenen Begriffe autos (Selbst), bios (Leben) und graphein (Schreiben) kritisch zur Disposition stellte? Tatsächlich wird, wer Ecce homo liest, aus den dort überlieferten lebensgeschichtlichen Bruchstücken kaum ein zusammenhängendes Bild von Nietzsches Lebensgang gewinnen können. Stattdessen wird der Leser über die äußeren und inneren Bedingungen unterrichtet, die die Denkerund Schriftstellerpersönlichkeit Nietzsche hervorgebracht haben – sowie über die äußeren und inneren Bedingungen dafür, dass dieser Nietzsche zum Umwerter aller Werte hat werden können. Denn Ecce homo wollte das Publikum vorbereiten auf den „zerschmetternden Blitzschlag der U m w e r t h u n g “ aller Werte, die Nietzsche mit seinem ebenfalls 1888 entstandenen Werk Der Antichrist vollzogen zu haben glaubte. Mit diesem Buch sollte der gesamte abendländische Moralhaushalt umgekrempelt werden. All das, was in der platonisch und christlich geprägten Welt als wertvoll galt, wollte Nietzsche kassieren: die Vergeistigung, die Verjenseitigung, die Orientierung an den Armen und Schwachen, die Lebensverneinung. Stattdessen propagierte er eine Moral der Diesseitigkeit, der Stärke und der Lebensbejahung. Da erstaunt es nicht, dass sein Rechenschaftsbericht einen bewusst blasphemischen Haupttitel bekommt: „Ecce homo!“, „Seht, welch ein Mensch!“, soll der römische Statthalter Pilatus ausgerufen haben, als er den gegeißelten, mit Dornenkrone und Purpurkleid angetanen Jesus von Nazareth dem aufgebrachten Volk vorführen ließ (Johannes 19, 5). Nietzsche wiederum präsentiert sich – mit ironischem Zungenschlag – als Ersatz-Erlöser und macht Christus entschieden Konkurrenz.

So schrieb er Meta von Salis am 14. November 1888: „Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht u n d S c h r e c k e n zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen.“ Uns interessiert hier vor allem der Untertitel des Werkes: „Wie man wird, was man ist.“ Man mag gleich einwerfen, da habe sich der einstige Altphilologie-Professor Nietzsche beim altgriechischen Dichter Pindar bedient, der ihm überhaupt als Modell archaischer Vornehmheit gegolten habe. Denn in seiner zweiten Pythischen Ode hatte Pindar die Losung ausgegeben: „Werde der, der du bist!“ Auch früher schon, in der Fröhlichen Wissenschaft (1882/87), hat Nietzsche auf diesen Vers in einem ganz kurzen Aphorismus Bezug genommen: „ W a s s a g t d e i n G e w i s s e n ?   — ‚Du sollst der werden, der du bist.‘ “ (Aphorismus 270) Allerdings war Nietzsche kein besonderer Freund des Gewissens, zumal nicht des schlechten, das als Mittel erschien, die Menschen einem allgemeinen Mittel, einem moralischen Mittelmaß gefügig zu machen. Was ist dann von einem solchen Aufruf des Gewissens zur Selbstwerdung zu erwarten? Vermutlich mehr als die Anpassung an das Maß, das die anderen mir vorgeben – vermutlich mehr als die Verwirklichung des Bildes, das andere von mir gemacht haben. Denn Nietzsche verficht durch alle Phasen seines Denkens hindurch eine Philosophie der Nicht-Anpassung. Deren erklärtes Ziel ist es, dem starken, dem ex-zentrischen Individuum dazu zu verhelfen, sein ex-zentrisches, ganz und gar eigenes Leben zu leben. Von einem solchen Philosophen sind kaum Ratschläge zu erwarten, wie man sich am besten stromlinienförmig durch ein Dasein mogelt, das andere für einen selbst stellvertretend und bevormundend verantworten. Wenn Nietzsche hier von Gewissen spricht, dann nicht, weil er empfehlen würde, sich der Herrschaft eines sozial-moralischen Über-Ichs namens „Gewissen“ zu unterwerfen. Vielmehr versucht er, den Gewissensbegriff umzuprägen, ihn der Kontrolle der christlichen Moraltradition zu entwinden und ihn zu individualisieren. Paradox bleibt dabei die imperativische Form, die Nietzsche dafür wählt: Wenn das Du, das dazu aufgefordert wird, seinem Gewissen zu gehorchen und es selber zu werden, nicht einfach nur Teil eines Selbstgesprächs von Herrn Nietzsche ist, sondern ein Dritter, ein Leser damit angesprochen wird, dann ist es da doch wieder ein Anderer, der dem Individuum Direktiven erteilt. Auch der radikalste Vertreter einer Selbstgesetzgebungs-Ethik kann womöglich nicht ganz darauf verzichten, wenigstens die Selbstgesetzgebung anderen Menschen als Gebot aufzuerlegen. Rhetorisch umgeht Nietzsche dieses Paradox in einem späteren Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, indem er, statt ein Du anzusprechen, das einschließende Wir wählt – ein Wir, das Autor und Leser zu einer Gemeinschaft verschmilzt: „Wir aber w o l l e n D i e w e r d e n , d i e w i r s i n d , — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-sel-

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Was ist dann von einem solchen Aufruf des Gewissens zur Selbstwerdung zu erwarten? Vermutlich mehr als die Anpassung an das MaĂ&#x;, das die anderen mir vorgeben.


„Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Werth ( … ).“ (Ecce homo. Abschnitt „Warum ich so klug bin“ 9)


ber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen P h y s i k e r sein, um, in jenem Sinne, S c h ö p f e r sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf U n k e n n t n i s s der Physik oder im W i d e r s p r u c h mit ihr aufgebaut waren.“ (Aphorismus 335) Der Aufruf, seine eigene Einmaligkeit zu verwirklichen, geht jetzt einher mit der Aufforderung, sich über die natürlichen Bedingungen des eigenen Daseins Rechenschaft abzulegen. Der im 20. und 21. Jahrhundert bis zum Überdruss wiederholten Rede von der Selbstverwirklichung wird hier eine klare, unüberwindliche Grenze aufgezeigt. Diese Grenze ist die natürliche Beschaffenheit der Welt und des Menschen. Niemand kann, so die Einsicht, er oder sie selbst werden, indem sie oder er sich über die eigene Natur hinwegsetzt oder sie leugnet. Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Denn die abendländisch-christliche Moraltradition hatte gerade dies Jahrtausende lang versucht: einen Menschen zu erschaffen, der „sündlos“, reiner Geist sein sollte, nicht länger angefochten von Trieben und Begierden. Dieses so lange gültige Ideal hat sich – so die Stoßrichtung von Nietzsches Kritik – hinweggesetzt über die schlichte Natürlichkeit des Menschen. Dieses Ideal hat versucht, den Menschen als reines Geistwesen gegen sein Naturwesen zu setzen und dieses Naturwesen zu vernichten. Wenn Nietzsche für die Selbstwerdung eintritt, dann für eine Selbstwerdung innerhalb der Gesetze der Physik und der Biologie. Jean Pierre Frédéric Ancillon war der Erzieher jenes Königs, mit dem Nietzsche den Geburtstag teilte und von dem er seine beiden Vornamen bekam, Friedrich Wilhelm IV. Ancillon meinte in seinen Élémens de philosophie ou Tableau analytique des développemens du moi humain noch feststellen zu müssen, dass wir die Zeit unserer prägenden frühkindlichen Entwicklung an uns selbst nicht zu beobachten imstande seien. Deshalb sei es uns unmöglich „de découvrir comment nous sommes devenus ce que nous sommes“ („zu entdecken, wie wir geworden sind, was wir sind“, Essais philosophiques, Bd. 2, Paris 1817, S. 103). Mit diesem Befund des wichtigsten Lehrers des von Nietzsches Vater enthusiastisch verehrten Romantikers auf dem preußischen Thron wollte sich der umwertende Philosoph ein dreiviertel Jahrhundert später sichtlich nicht abfinden. So entschieden Nietzsche die abendländisch-christlichen und überdies philosophisch-idealistischen Naivitäten zurückwies, der Mensch habe sich als Geistwesen vollständig in seiner Gewalt und vermöge sich über die Natur hinwegzusetzen, so wenig konnte er sich zu einem physikalistischen oder biologistischen Determinismus bequemen, der die Selbstwerdung vollständig aus der Verantwortung des Individuums herauslöste. Näher besehen ist die Selbstwerdung, die Nietzsche in Aussicht stellt, eine höchst prekäre Angelegenheit: traumwandelnd zwischen den Klippen der „Selbstüberwindung“ und des „amor fati“, zwischen einem Drang, das Hergebrachte und die natürliche Trägheit zu überwinden, und der ruhigen Hinnah-

Wie wird man, was man ist?

me, der Bejahung seiner selbst, seines Schicksals in seiner gänzlich zufälligen Gegebenheit. „Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Werth, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege, die Verzögerungen, die ‚Bescheidenheiten‘, der Ernst, auf Aufgaben verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen.“ (Ecce homo. Abschnitt „Warum ich so klug bin“ 9) „Wie man wird, was man ist“ ist also keineswegs auf dem Reißbrett planbar. Nichts wäre abwegiger, als sich den philosophischen Lebensstrategen vorzustellen, wie er generalstabsmäßig sein eigenes Sein entwirft und anschließend in die Tat umsetzt. Dieses eigene Sein hängt von Bedingungen ab, die zunächst (als Kind) kein Individuum unter Kontrolle hat, mit denen es aber im Laufe eines Lebens allmählich zu experimentieren beginnen kann, um sich immer wieder neu zu formen. Deshalb bringt Ecce homo anstatt großer intellektueller Erlebnisse – bedeutender Lehrer, wichtiger philosophischer Lektüren – die scheinbar geringfügigsten Alltäglichkeiten von Nietzsches Existenz zur Sprache: die Ernährung, den Aufenthaltsort, das Klima und die Erholungsart – um zu zeigen, was eigentlich die harten, natürlichen Bedingungen der individuellen Existenz sind, und in welcher Weise das Individuum nach und nach lernt, sie zu gestalten. Dies hilft auch, das vermeintlich abwegige Präsens des Untertitels zu verstehen, der ja nicht, wie zu erwarten wäre, lautet: „Wie ich wurde, was ich bin“. Wer stattdessen in beiden Teilsätzen das Präsens benutzt, zeigt an, dass der Prozess der Selbstwerdung nie abgeschlossen ist, solange das jeweilige Individuum lebt, da es kein festes Selbst gibt, das jemand wie die Ziellinie beim Hürdenlauf ein für alle Mal erreichen könnte. Die Experimente der Selbstwerdung, die Experimente der Selbstmodifikation sind, gehen fort, solange „man“ überhaupt am Leben ist. Dieses „man“ ist die zweite vermeintliche Abwegigkeit des Untertitels. Weshalb scheut Nietzsche hier, wo er sonst doch in seinen Werken so exzessiven Gebrauch von der 1. Person Singular macht wie kein Philosoph vor ihm, das Ich im Titel? Das Werk handelt doch von seinen ganz persönlichen Selbstwerdungen. Und doch sind diese Selbstwerdungen exemplarisch, denn beispielsweise die Ernährung, das Klima, der Aufenthaltsort, die Erholungsart sind Konstanten menschlicher Existenz, die jeden in seinem Sein, in seinen Selbstwerdungen bestimmt, so sehr sich diese Faktoren auch konkret unterscheiden mögen. Somit sind die Selbstwerdungen Nietzsches musterhaft für andere, für das ominöse „man“, das in Ecce homo sicher auch einen ironischen Zungenschlag hat – will dieses Werk doch gerade das Denkerindividuum Nietzsche in seiner Einzigkeit, als Umwerter aller Werte dem Lesepublikum näherbringen. Aus einigem Abstand betrachtet, hält Nietzsches Reflexion auf die Metamorphosen der Selbstwerdungen dazu an, sich als ein Wesen zu verstehen, dessen Sein sich einer Fülle von Beziehungen verdankt, ja eine Fülle von Beziehungen ist. Es gibt kein vorgegebenes Selbst, das „man“ einfach entfal-

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„Ich hab nichts gegen mein Gesicht, gar nichts!“, sagt Thorsten Brinkmann. Warum seine Selbstporträts stets kopflos sind, diese Frage überrascht ihn, „mich interessiert es eben nicht, mich als Person in den Vordergrund zu bringen.“ Brinkmann hat sich eine Art absurder Ahnengalerie geschaffen, die in Farbe, Pose und Anordnung an holländische Vorbilder des Barock erinnert. In seinen Arbeiten, in denen er ausschließlich gebrauchte Alltagsgegenstände verwendet, geht es ihm darum, irritierende Leerstellen zu schaffen, die der Betrachter mit eigener Kreativität neu füllen kann. Dort, wo das Porträt endet, das kein Gesicht hat und der Gegenstand, der es bedeckt, keine Funktion mehr hat, beginnt beim Besucher das Um- und Neudeuten: „Wie man wird, was man ist“.

tet, sondern „man“ muss etwas machen – aber kann dies doch nur aus dem Vorgefundenen. Das Individuum ist keine tabula rasa, keine weiße Projektionsfläche einer Ich-Idee im leeren Raum, sondern es ist vielfältig geprägt von Gegebenheiten, die es nicht selbst in der Hand hat. Die biologischen und biografischen Bedingungen des eigenen Daseins sind ganz zufällig, aber man kann den Zufall ergreifen und sich dadurch zum Ich machen – so instabil und wandelbar dieses Ich auch zeitlebens bleiben wird. Dieses Ich ist das, was es ist, relativ zu anderem und nicht einfach im leeren Raum. Alles, was ist, ist in Beziehung. Wenn alles, was ist, in Beziehung zu anderem steht, folgt daraus, dass jedes Seiende – ob Stein, Mensch oder Milchstraße – anderem Seienden ausgesetzt ist. Jedes Einzelne wird erst durch die Beziehung zu anderem zu dem, was es ist. Alles Wirkliche ist relativ zu anderem. Nach alledem kann „man“ sich leichten Herzens von der Vorstellung verabschieden, es gebe einen festen SelbstKern, der kühl kalkuliert, wie er sein Optimum verwirklichen könne. Es existiert kein stabiles Selbst, kein grenzbefriedetes Ich, das souverän agiert und sich kontinuierlich ‚besser‘ verwirklicht. Eher ereignet sich ein Prozess der Selbst- oder Ichkonstitution in Interaktion mit der Umwelt – ein Geschehen, das für die jeweilige Lebensdauer unabschließbar ist. Das macht freilich das Selbst oder Ich nicht einfach zu einem reinen Produkt seiner Umstände; Leben erscheint im Gegenteil als stete Abfolge von Geben und Nehmen. Selbst und Umwelt stehen in ständiger Interaktion zueinander. Das ex-zentrische Selbst bekommt Rollen zugewiesen, die ihm einen Rahmen geben – und es findet sich in Rollen, die es will, um seine Selbstmacht zu vergrößern und den Rahmen seines Daseins zu erweitern. Übrigens: Man wird auch, was man ist, indem man geschehen lässt. Wer ein institutionelles Jubiläum unter den Satz stellt: „Wie man wird, was man ist“, scheint auch die Selbsthistorisierung nicht zu scheuen und sich das Recht auf vorläufige Bilanzen herauszunehmen. Das Thema suggeriert, die Jubilarin sei auf dem richtigen Weg. Das Präsens wiederum indiziert, dass die Selbstwerdung der Jubilarin keineswegs abgeschlossen ist: Sie kann, zu ihrem eigenen Glück, in Zukunft noch alles Mögliche und alles mögliche Andere werden.

Seite 12 / 13: Venus del Whitespitz, 2008, C-Print, 130 × 170 cm, © Thorsten Brinkmann & VG Bildkunst 2012, Bonn Seite 15: Vasall van Bröckl, 2011, C-Print, 199 x 149 cm, © Thorsten Brinkmann & VG Bildkunst 2012, Bonn Seite 16: Reginald von Eckhelm, 2010, C-print, 130 x 170 cm, © Thorsten Brinkmann & VG Bildkunst 2012, Bonn

Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie an der Universität Freiburg und kommentiert Nietzsches Werke für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Gegenwärtig ist er auch Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

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Haus ohne Schatten?

Die Bayerische Staatsoper beschäftigt sich mit ihrer Geschichte zwischen 1933 und 1963. Dafür wurde ein Forschungsteam der Theaterwissenschaft München an der Ludwig-MaximiliansUniversität beauftragt, Kontinuitäten und Brüche in Personal und Ästhetik am Haus zu untersuchen. In MAX JOSEPH präsentieren die Forscher den Anfang und wichtigsten Schritt des auf zwei Jahre angelegten Projekts, nämlich: Welche Fragen müssen gestellt werden?

Text Rasmus Cromme und Dominik Frank


Das 50-jährige Jubiläum der Wiedereröffnung des quasi originalgetreu rekonstruierten Nationaltheaters gibt Anlass, die Geschichte des Hauses sowie der Institution Bayerische Staatsoper unter der historisch-kritischen Perspektive des Jahres 2013 zu reflektieren und zu untersuchen. Wie man wird, was man ist … Getreu dem Nietzsche-Zitat „Wie man wird, was man ist“, welches als Thema über der Jubiläumsspielzeit 2013/14 steht, will das Forschungsprojekt Brüche und Kontinuitäten in institutionengeschichtlicher, personeller und ästhetisch-interpretatorischer Hinsicht für die drei Dekaden 1933-1963 untersuchen („Machtergreifung“ bis Wiedereröffnung des Nationaltheaters). Nietzsche sprach sich in Werken wie Also sprach Zarathustra oder Der Antichrist für eine völlige „Umwertung aller Werte“ aus, eine Aufforderung, welcher Adolf Hitler und seine NSDAP unter Bezug auf den Philosophen und unter Patronage von dessen Schwester Elisabeth nur allzu gerne folgten. Es stellt sich nun die Frage, ob oder inwiefern diese „Umwertung“ oder Neuinterpretation bestehender Werte die ästhetisch-interpretatorische Linie des Musiktheaters im Dritten Reich bzw. der Nachkriegszeit betraf. Wie kann beispielweise Beethovens Fidelio als Propaganda-Stück des Hitler-Regimes (1941) ebenso gut funktionieren wie als Symbol für einen demokratischen Neubeginn (1945 im Prinzregententheater)? Schreiben sich Interpretationen in der Aufführungsgeschichte eines Werkes fort? Oder anders gefragt: Wie wird man – der Künstler, der Zuschauer, die Institution als Reflektor ihrer gesellschaftlichen Disposition – was man ist? Spiegelt der Spielplan die politischen Verhältnisse? Wie sah beispielweise die Spielplangestaltung während des Dritten Reiches und nach der sogenannten „Stunde Null“ aus? Welchen Einfluss hatten das Propagandaministerium unter Joseph Goebbels und der „Reichsdramaturg“ Rainer Schlösser? Warum wurden Hoffmanns Erzählungen des jüdischen Komponisten Jacques Offenbach in München offensiv verboten, in Hannover und anderen Städten des Deutschen Reiches dagegen – mit Ausnahmegenehmigung – erlaubt? Was sagt der Premierenspiegel der Jahre 1933 bis 1963 über die politischen Zeitläufe aus? Gab es nur eine Reihe von Alibi-Produktionen nationalsozialistischer Komponisten, oder flüchtete sich die Oper gar, wie mancherorts behauptet, in „unpolitische Kunst“? Wie wirken sich die politischen Ereignisse wie etwa der Hitler-Stalin-Pakt oder die Besetzung Frankreichs auf die Anzahl von russischen bzw. französischen Opern im Repertoire aus? Besonders interessieren dabei die Fragen nach dem Umgang mit den Opern von Richard Strauss – eines

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der am ambivalentesten agierenden Komponisten im NSStaat – sowie mit den Werken des Komponisten Werner Egk. Doch auch andere Fragen der Spielplanpolitik – etwa nach den Gründen eines überraschenden Verdi-Schwerpunktes – werden behandelt. Davor und Danach: Personelle Kontinuitäten Ebenfalls werden die personellen Kontinuitäten des untersuchten Zeitraums im Fokus stehen: Welche Intendanten, Dirigenten, Sänger prägten die Bayerische Staatsoper, oft über Jahrzehnte und wechselnde politische Regime hinweg? Wie ambivalent hat sich der oder die Einzelne positioniert? Wie wurde an der Bayerischen Staatsoper mit jüdischen Künstlerinnen und Künstlern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgegangen? Neben dem im Scheinwerferlicht stehenden Rudolf Hartmann, der sowohl während der Zeit des Dritten Reiches als auch nach dem Krieg als Oberspielleiter und Intendant prägend für die Bayerische Staatsoper war, werden auch die Mitarbeiter des Nationaltheaters porträtiert, die zum Teil (fast) über den gesamten Untersuchungszeitraum 1933-1963 am Haus angestellt waren. Diese Reihe reicht vom Bühnentechniker über die Putzfrau und die Friseurin bis zum im Krieg eingestellten „Presse- und Propagandachef“. Sicherlich gab es auch hier sowohl überzeugte Nationalsozialisten als auch Menschen, die mit dem Regime in Konflikt gerieten, wie etwa der Sekretär der Generalintendanz Erich Maschat, dessen Rücktritt von der NSDAP-Gauleitung vehement und wiederholt gefordert wurde. Auch diesen einzelnen Geschichten, die zusammen Teile der „Geschichte“ bilden, wird im Forschungsprojekt Raum gegeben. Neue Klarheit? – Ästhetische Entwicklung der Opernregie Einen weiteren Schwerpunkt bildet die ästhetische Entwicklung der Musiktheater-Regie: Wie inszenierte man vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg, ab welchem Punkt ist es überhaupt sinnvoll, bereits von „Regie“ im heutigen Sinne zu sprechen, wenn es sich nur um quasi-konzertante Einstudierungen oder erweiterte Wiederaufnahmen handelte? Es wird zu zeigen sein, dass von Musiktheaterregie im modernen Gebrauch erst relativ spät, etwa ab Kriegsende, gesprochen werden kann, auch wenn hier Vorläufer und Nachzügler die genaue Einordnung natürlich erschweren. Wie lange dominierte der sogenannte „Illusionismus“ die Opernbühne? Hatten Wieland Wagners abstrakte Bayreuther Wagner-Deutungen auch Einfluss auf München, etwa auf die Ring-Inszenierungen der Nachkriegsjahre? Wie lässt sich die berühmte Treppe in der Arabella deuten?

Haus ohne Schatten?

Überschriften der Münchner Tagezeitungen im November 1963: SZ SZ SZ SZ SZ SZ SZ SZ SZ SZ SZ Merkur Merkur Merkur Merkur Merkur Stadtanz. AZ AZ AZ

„Am Stachus wird für die Oper gespielt“ „Auch das Publikum hat Lampenfieber“ „Omnibus - Nur für Frack und Smokingträger“ „Auch kein Meistersinger fällt vom Himmel“ „Blick in die Kulissen der Bühnenbildner“ „Blumenschmuck, wohin man blickt“ „Es opert in der Stadt“ „Das Schauspiel vor dem Opernhaus“ „Knappertsbusch gibt den Auftakt“ „Schatten über dem Premierenglanz“ „Umstrittene Meistersinger-Premiere“ „Koloraturen in Gold und Seide“ „Zaungäste und Festgäste“ „Aus der Liste der Ehrengäste“ „Große Oper. Vorfahren und Nachkommen … “ „Nationaltheaterkarten nicht billiger“ „Dank den ‚Freunden des Nationaltheaters‘“ „Tumulte vor dem Nationaltheater“ „Unser neues Opernklima“ „Karajans federnder ‚Fidelio‘“


Rekonstruktion statt Neubeginn: Der Wiederaufbau des Nationaltheaters Um Ästhetik und Ideologie ging es auch in der Diskussion um den Wiederaufbau des zerstörten Nationaltheaters: Anders als in vielen anderen Städten Deutschlands wurde nicht auf eine moderne, zweckmäßige Architektur, sondern auf eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion des „Operntempels“ gesetzt. Eine bedeutende Rolle spielte hierbei auch der bürgerschaftliche Verein „Freunde des Nationaltheaters“, der mit Spenden-Tombolas und anderen Aktionen maßgeblich für die Rekonstruktion verantwortlich war: Welche Überlegungen und Motive spielten hierbei eine Rolle? Wer waren die „Fädenzieher“ hinter dieser Entscheidung? Und wie kam es zu der umstrittenen Entscheidung, die Oper nach einem geschlossenen Festakt (Richard Strauss’ Frau ohne Schatten) mit den Meistersingern von Nürnberg, der am meisten vereinnahmten Oper im Dritten Reich, etwa bei den Nürnberger Parteitagen, zu eröffnen? – Zufall, reaktionäre Protesthandlung oder bewusste Neubesetzung eines belasteten Stoffes mit „demokratischen“ Gedanken?

Das Forschungsteam

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Prof. Dr. Christoper Balme, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kulturanthropologie. Promotion 1984, Habilitation 1993. Seit 2006 Leiter der Theaterwissenschaft München der LMU, Präsident der International Federation of Theatre Research und Leiter des Forschungsprojekts Global Theatre Histories. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind globale Theatergeschichte sowie Theater und Öffentlichkeit.

Prof. Dr. Jürgen Schläder, Studium der Germanistik und Musikwissenschaft. Promotion 1978, Habilitation 1986. Seit 1987 Professor für Theaterwissenschaft, Schwerpunkt Musiktheater, an der LMU. Zahlreiche Einzelstudien zu Geschichte und Ästhetik des Musiktheaters von 1600 bis heute. Leiter des Forschungszentrums „Sound and Movement“ für Gegenwartstheater und Neue Medien.

Dr. Rasmus Cromme, geboren 1980, Studium der Dramaturgie, Promotion über die Geschichte und Profilierung des Gärtnerplatztheaters. Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studiengangskoordinator an der Theaterwissenschaft München.

Dominik Frank, M.A., geboren 1983, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft, Abschlussarbeit über „Die Nacktheit auf der Bühne“. Arbeitet als Theaterpädagoge, Regisseur und Lehrbeauftragter an der Theaterwissenschaft München.


Chronik eines Hauses Am Montag, den 25. November 2013 veranstaltet die Bayerische Staatsoper eine Unmögliche Enzyklopädie extra zum Thema „Chronik eines Hauses“. Im Vorderhaus des Nationaltheaters kreisen einen Abend lang Vorträge, Installationen und Performances um die eigene Geschichte zwischen 1943 und 2013. Wie wichtig war im Nachkriegsdeutschland die Besinnung auf die Tradition, wie viel Verdrängung des Geschehenen steckte in ihr, wie wandelt sich unser Blick auf Geschichte immer wieder und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Positionierung des Hauses in der heutigen Gesellschaft? Im Rahmen der Veranstaltung stellt das Team des Forschungsprojekts „Wie man wird, was man ist – Rekonstruktion einer Institutionen- und Inszenierungsgeschichte der Bayerischen Staatsoper 1933-1963“ Ergebnisse seiner bisherigen Arbeit vor. Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit der Nemetschek-Stiftung.

Die unmögliche Enzyklopädie extra: Chronik eines Hauses Montag, 25. November 2013, Vorderhaus des Nationaltheaters Weitere Informationen im Spielplan ab S. 88

ZEITZEUGEN GESUCHT! Wer über die Bayerische Staatsoper in den Jahren 1933-1963 berichten kann (als MitarbeiterIn oder ZuschauerIn), wird hiermit herzlich gebeten, sich mit uns in Verbindung zu setzen! Kontakt: Forschungsprojekt Nationaltheater LMU Theaterwissenschaft München Georgenstraße 11 80799 München T 089 / 21 80 35 03 geschichte-nationaltheater@lrz.uni-muenchen.de

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Kirill Petrenko gilt als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Generation. Seit Beginn der Spielzeit 2013/14 ist er der neue Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Peter uehling stellt den außergewöhnlichen Künstler vor. Premiere Die Frau ohne Schatten

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Fotografie Joachim Baldauf, gestaltet von Till Janz und Hendrik Schneider

Der ZauBerer



Petrenko lässt sich nicht in Gelassenheit etwas schenken, er empfängt und erntet im Konzert nicht nur, was in den Proben angelegt wurde.

Dieser Dirigent ist ein Kämpfer. In Kirill Petrenko scheinen mehr energien gespeichert, als sein Körper für sich behalten kann. Beim Dirigieren brechen sie aus ihm heraus, bei der Probe und beim Partiturstudium treiben sie ihn in die Tiefe des Werks und seines Klangs. Interviews gibt er nicht gern, sie halten ihn von der arbeit ab und stören seine Konzentration. Die arbeit selbst soll die Fragen beantworten. Petrenko lässt sich nicht in Gelassenheit etwas schenken, er empfängt und erntet im Konzert nicht nur, was in den Proben angelegt wurde. er kämpft bis zur erschöpfung, bis zum letzten Ton des Konzerts – und die Musik antwortet mit einer Lebendigkeit und Intensität, die Zuhörer auf der ganzen Welt begeistert. Die Sache, das Werk und das erlebnis des Publikums sind jede anstrengung wert. Petrenko spürt in den Meisterwerken ihre einschüchternde Größe und möchte sich zuweilen vor ihr verkriechen, zweifelt wie der alttestamentarische Prophet an seiner Kraft und ob er würdig sei, diese Musik aufzuführen. Dann wird der Zweifel zum Stachel, die arbeit doch zu übernehmen und so gut zu machen, wie es nur irgend geht. Petrenko bedauert manchmal, dass er so veranlagt ist, dass er keine Bücher lesen kann, wenn er in der arbeit steckt, dass er, statt sich zu entspannen, doch wieder in der Partitur liest, und wenn es nur für eine halbe Stunde ist. aber genau diese Intensität in arbeit und Zweifel hat ihn zum wohl bedeutendsten Dirigenten seiner Generation gemacht, zu einem, der weder lässig und narzisstisch mit seiner Begabung wuchern, noch sich auf kapellmeisterliche Zünftigkeit beschränken würde, sondern der es sich abverlangt, mit den Kunstwerken so weit wie möglich auf augenhöhe zu kommen. Petrenkos Bescheidenheit ist die desjenigen, der im Bewusstsein seiner Fähigkeiten weiß, was auf dem Spiel steht und bei allem erfolg immer wieder ein ungenügen verspürt – wie Herbert von Karajan sagte: „Wer alle seine Ziele erreicht, hat sie nicht hoch genug gesteckt.“ Dirigent wollte Kirill Petrenko schon als Dreijähriger werden, so märchenhaft es klingt. Geboren wird er 1972 in der sibirischen Stadt Omsk, nahe der Grenze zum heutigen Kasachstan, als einziges Kind des Geigers und Konzertmeisters Garri Petrenko und der Dramaturgin Olga Petrenko. Deren Konzerteinführungen füllen die Säle und sind in Omsk legendär. Dirigent werden wollen heißt für das Kind zunächst: Klavier spielen lernen, allein einen musikalischen Zusammenhang greifen und gestalten. Mit elf Jahren tritt Kirill erstmals öffentlich am Klavier auf, das philharmonische Orchester seiner Heimatstadt begleitet ihn, sein Vater sitzt am Pult des Konzertmeisters. Die sowjetische Musikförderung wird auf den Jungen aufmerksam und befördert ihn auf die dort sogenannte „Musikfachschule“.

Die Industriestadt Omsk mit ihren petrochemischen Betrieben und entsprechenden umweltproblemen ist auf die Dauer jedoch kein förderliches Pflaster. Das Orchester der Stadt ist angesehen, und architektonisch hat die Stadt für Freunde des 19. Jahrhunderts einiges zu bieten. aber mit einer guten Million einwohnern ist die Stadt zu klein für eine Musikhochschule. außerdem verdüstert sich für die jüdische Familie Petrenko die atmosphäre mit dem aufkommen von Glasnost und Perestroika in den 1980er Jahren – mehr Meinungsfreiheit heißt hier auch, dass die russen ihren antisemitismus immer unverhohlener zeigen. Die Familie plant, die Stadt zu verlassen, und weil Vater Petrenko ausgerechnet im Symphonieorchester Vorarlberg eine Stelle findet, nimmt die ausbildung des gerade volljährig gewordenen Kirill plötzlich eine neue Wendung, die er als Kulturschock empfindet. als Pianist hat er sich vor allem mit der Musik Sergej rachmaninows befasst, und für sie wird er sich später als Dirigent immer wieder einsetzen. Nun erfährt er, dass rachmaninow im europa der Wiener Klassik und der deutschen romantik ein exotischer Komponist ist, einer, über den man gern die Nase rümpft. also gibt es viel Neues kennenzulernen, zunächst am Vorarlberger Konservatorium in Feldkirch, später an der Wiener Musikuniversität, wo der slowenische Dirigent uroš Lajovic, seinerseits ein Schüler des berühmten Hans Swarowksy, sein Lehrer wird. 1997 schließt Petrenko sein Studium ab – eine Karriere beginnt, die ihn innerhalb von 16 Jahren ins Bayreuther Festspielhaus und an die Stelle des Generalmusikdirektors der Bayerischen Staatsoper bringt. Mit Petrenkos Ring des Nibelungen in Bayreuth hat sich in diesem Jahr ein Kreis im Leben des Dirigenten geschlossen. Sein Debüt im Festspielhaus wurde in höchsten Tönen gelobt, der Beifall war enthusiastisch. Der Höhepunkt von Petrenkos bisheriger Karriere hängt indes eng mit ihren anfängen zusammen. Denn erstmals überregional bekannt wurde Petrenkos Name durch seinen Ring im Meininger Theater, dessen Generalmusikdirektor er von 1999 bis 2002 war. Dort hatte die Intendantin Christine Mielitz den tollkühnen Plan, Wagners vierteiliges Monumentalwerk mit Göttern, Zwergen, riesen und überlebensgroßen Helden erstmals an vier aufeinanderfolgenden Tagen in einem kleinen Stadttheater aufzuführen – das wagt man nicht einmal in Bayreuth. Natürlich hatten das Meininger Theater und seine Hofkapelle einen bekannten Namen, durch den Theaterherzog Georg II. und seine reformen ebenso wie durch Dirigenten wie Hans von Bülow und richard Strauss, durch uraufführungen von Brahms und reger. aber im Grunde hätte Mielitz‘ Projekt schon am Orchestergraben scheitern müssen: Das Ring-Orchester mit seinen vierfach besetzten Bläsern, acht Hörnern und

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Kirill Petrenko

Mit seinem modernen, Struktur und ausdruck auf neue Weise verbindenden Ring hat Petrenko einen neuen Wagner-Stil auf dem Grünen Hügel etabliert.

64 Streichern passte hier einfach nicht hinein. Für solche Fälle liegen immerhin abgespeckte Fassungen der Partitur vor. Was Petrenko jedoch noch größere Sorgen machte, war seine Meininger Hofkapelle selbst. 15 Stunden Musik in vier Tagen? unmöglich! Man organisierte unterstützung von der Thüringen Philharmonie Gotha-Suhl, einer damals noch recht frischen Fusion aus der Thüringen-Philharmonie Suhl und dem Landessinfonieorchester Thüringen Gotha. So konnten die Musiker einigermaßen tarifgerechte arbeitszeiten einhalten – während Petrenko mit zwei Orchestern probte und eben doppelt so viel schuftete: 150 Proben setzte er an und erarbeitete einen Ring, der die angereiste großstädtische Kritik in entzücken versetzte wegen seiner orchestralen Plastizität und Straffheit, aber auch, weil der junge Dirigent in seinen ersten Wagner-Opern offenbar instinktiv verstand, wie man die Sänger zu führen hat und wie die langen Dialoge dieser Opern angelegt werden müssen: in wirklichem Miteinander der Figuren, in schlanker, pointierter Sprache, die den Witz von Wagners Libretto zum Funkeln bringt. Petrenkos Deutung von Wagners Ring-Partitur in Bayreuth hat sich in den Jahren seit Meiningen zu einer wahrhaft epochalen Interpretation entwickelt. Nicht nur kam Petrenko mit den komplizierten Bayreuther Verhältnissen, der sonderbaren Sitzordnung im Graben und den akustischen umwegen des Orchesterklangs anscheinend problemlos zurecht. Nicht nur steckte er das Orchester mit einer Lebendigkeit an, die an Carlos Kleiber erinnerte. Souverän band er die Sänger in das Stimmengeflecht des Orchesters ein, statt sie nur zu begleiten; trotz großer Namen schien es in diesem Ring keine Stars zu geben, so schlüssig waren die Beiträge jedes Mitwirkenden. Petrenko drang mit hellstem Struktursinn ins Dickicht der Leitmotive vor und machte Dinge hörbar, Kontrapunkte, Sinnschichten, die bislang stets im Klang verborgen geblieben waren. Zugleich vergaß er über der Kleinarbeit die tragenden Bögen nicht, phrasierte in Das Rheingold und Die Walküre mit ungeahnter Deutlichkeit, bezog die Linien aufeinander und lüftete damit wie nebenbei lang verborgene „Geheimnisse der Form bei richard Wagner“, über die ungezählte aufsätze und Bücher geschrieben wurden. In Siegfried und Götterdämmerung führte Petrenko seinem Publikum vor Ohren, wie Wagner in den späteren Stücken von den tragenden großen Phrasen auf klangliche Gliederungsmittel umstellte: Orchestergruppen bilden Kontraste, verschwimmende Klänge wechseln mit rhythmisch pulsierenden. Mit seinem modernen, Struktur und ausdruck auf neue Weise verbindenden Ring hat Petrenko einen neuen Wagner-Stil auf dem Grünen Hügel etabliert. Petrenko hatte viel gelernt in den Jahren dazwischen. als Generalmusikdirektor der Komischen Oper

Berlin waren seine anfänge im Jahr 2002 durchaus nicht unumstritten, seine gespannten rhythmischen energien standen mit den klanglichen Gewohnheiten der Berliner zunächst im Konflikt. Der mit rachmaninow aufgewachsene und mit Wagner zu erstem ruhm gekommene Dirigent musste sich einen leichteren Klang erst erarbeiten, der für die stilprägenden Mozart-arbeiten des Hauses wichtig war. aber davon hat am ende nicht nur Petrenko profitiert, sondern auch das Orchester der Komischen Oper: es ist heute das stilistisch agilste der drei Berliner Opernhäuser und spielt Neue Musik genauso kompetent wie romantische oder alte Musik. Seine kulturelle Prägung musste Petrenko in Berlin dabei nicht verleugnen: Intensiv engagierte er sich für das Werk Peter Tschaikowskys, an der Komischen Oper mit Eugen Onegin und im Konzert mit symphonischen Werken. Petrenkos analytisch exakte und zugleich lebendige Interpretationen luden zur Neuentdeckung eines Komponisten ein, der in Deutschland als Verfasser aufgedonnerter symphonischer Schnulzen mit schlechtem Gewissen gehört wird, tatsächlich aber ein Klassizist strengsten Zuschnitts war. Derartig differenzierte Interpretationen ließen aufhorchen und führten zur Zusammenarbeit mit dem regisseur Peter Stein: an der Oper in Lyon brachten er und Petrenko 2006 bis 2008 einen vielbeachteten Zyklus der drei Puschkin-Opern Eugen Onegin, Pique Dame und Mazeppa heraus. Wobei sich Petrenko nicht zu schade war, auch hier noch zu lernen: Von dem Bass anatoli Kotscherga etwa, wie man die russischen rezitative im Sprachfluss gestaltet. Was auch Petrenko in die Hand nimmt, er entdeckt etwas Neues: So begegneten die Besucher der Oper Frankfurt 2011 einer Tosca, die nicht im aufgewühlten Dauersentiment schwamm, sondern expressionistisch zugespitzt und dynamisch exakt gestaffelt an der Schwelle zur Neuen Musik stand. Neues, Vergessenes und unbekanntes steht immer wieder auf der agenda des Dirigenten: an der Komischen Oper entdeckte er den Komponisten Josef Suk und führte seine Asrael-Symphonie auf; drei der wenigen CDs, die Petrenko bislang aufgenommen hat, enthalten diese Symphonie und Orchesterstücke des Komponisten. Bei seinem zweiten Konzert mit den Berliner Philharmonikern stellte er in diesem Jahr Werke des im ersten Weltkrieg gefallenen expressionisten rudi Stephan vor. Palestrina, Pfitzners große Künstleroper, muss man vielleicht nicht neu entdecken, aber häufig sind aufführungen dieses Werks auch nicht. Petrenko hat sich anlässlich einer weiteren Frankfurter Produktion mit Haut und Haaren in diese Partitur verliebt und ihre stilistische Besonderheit, ihre herbe eigenständigkeit zum Sprechen gebracht, die vom rand des spätromantischen repertoires aus in die renaissance schaut und eine andere Moderne erträumt.

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Peter uehling ist Journalist, Buchautor und Kirchenmusiker. er schreibt hauptsächlich als Musikkritiker der Berliner Zeitung. als erster Hauptstadtkritiker fuhr er im Jahr 2000 mit dem Zug nach Meiningen, um eine Vorstellung von Hänsel und Gretel zu besuchen, die der damals 28-jährige Kirill Petrenko leitete – denn um nach Berlin zu fahren, wo die Komische Oper sein engagement als GMD verkündete, hatte Kirill Petrenko keine Zeit.

Der Zauberer

Der Ring 2001 in Meiningen: eigentlich unmöglich! aber Petrenko probte mit zwei Orchestern, setzte 150 Proben an und erarbeitete einen Ring, der die Kritik in entzücken versetzte.

Mit seinen 41 Jahren hat sich Petrenko nicht nur um Orchester, sondern auch um das repertoire erstaunliche Verdienste erworben, was mehrmalige auszeichnungen in der Fachpresse spiegeln. Im lässigen Dirigenten-Jetset der letzten 60 Jahre ist einer wie er, der auf seine öffentliche Selbstdarstellung nichts gibt, die große ausnahme. auch wenn man, wie Petrenko es nach seinem ausscheiden in Berlin 2007 getan hat, für eine Weile unsichtbar wird – gearbeitet wird immer. Lange wollte er kein amt, in dessen routinen die Kunst manchmal unterzugehen droht. er wollte in der Welt neue erfahrungen sammeln, dirigierte unter anderem an der Wiener Staatsoper, an der New Yorker Met sowie die Orchester von Cleveland und Chicago. erfahrungen sammelt ein Dirigent aber auch für sich allein in der Kammer, beim Lesen, Spielen und Verstehen von Partituren. Kunst will reifen und verträgt es nicht, wenn man sie ständig öffentlich kontrolliert. Zuweilen braucht und sucht sie die Verborgenheit – das weiß ein Kämpfer und arbeiter wie Kirill Petrenko.

Kirill Petrenko wurde als einziger Sohn einer Musikerfamilie im russischen Omsk geboren. Nach dem Schulabschluss folgte er 1990 seinen eltern nach Österreich, wo er in Feldkirch und Wien Dirigieren studierte. Nach seinem ersten engagement an der Wiener Volksoper war er von 1999 bis 2002 Generalmusikdirektor am Meininger Theater und von 2002 bis 2007 an der Komischen Oper Berlin. um sich ohne administrative Pflichten ganz auf die musikalischen Belange konzentrieren zu können, arbeitete Kirill Petrenko in den darauffolgenden Jahren als freischaffender Künstler; dabei gastierte er von London bis New York an den namhaftesten Opernhäusern und dirigierte Konzerte mit vielen bedeutenden Orchestern weltweit. Diese Phase, in die auch seine erste Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper fiel (Jenůfa, 2009), schloss er kürzlich mit der Leitung von richard Wagners Der Ring des Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen ab. Nun hat er wieder eine künstlerische Heimat gefunden und tritt, beginnend mit dieser Saison, seine Position als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper an.

Festakt 50 Jahre Wiedereröffnung Nationaltheater Wolfgang amadeus Mozart Ouvertüre aus Don Giovanni, KV 527 richard Strauss Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding aus Der Rosenkavalier, I. akt richard Wagner Winterstürme wichen dem Wonnemond aus Die Walküre, I. aufzug Bayerisches Staatsorchester Sonntag, 17. November 2013, Nationaltheater — Die Frau ohne Schatten Oper in drei akten Von richard Strauss Premiere am Donnerstag, 21. November 2013, Nationaltheater STaaTSOPer.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag, 1. Dezember 2013 Weitere Termine im Spielplan ab S. 88

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MODE BE AUT Y LIFE ST YLE MUSIK

AM MARIENPLATZ

IN MÜNCHEN

WWW.LUDWIGBECK.DE


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