MAX JOSEPH "Außer Kontrolle"

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Max Joseph

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anja Kampe und ivan Liška über die Wahrheit des Körpers — BallettFestwoche Lance ryan über moderne helden — Siegfried Kontrolle über das eigene Bild? Barbara schöneberger im interview

Bayerische staatsoper


Statt eines Editorials Diese MAX JOSEPH-Ausgabe ist in einer Serie von vier Covern erschienen. Hierfür übermalte die Londoner Künstlerin Hattie Stewart ein Porträt von Staatsintendant Nikolaus Bachler. Foto Markus Jans

MAX JOSEPH Herr Bachler, wann ist Ihnen das letzte Mal etwas außer Kontrolle geraten? NIKOLAUS BACHLER Das passiert im Grunde täglich. Es geraten einem doch ununterbrochen Gefühle außer Kon­ trolle. Daran, dass Abläufe außer Kontrolle geraten, erinnere ich mich selten genau, auch wenn das natürlich häufig passiert. Beeindruckender ist das aber bei Emotionen. MJ Kontrollverlust rührt also eher aus dem Inneren heraus? NB Bei einem Wasserrohrbruch geraten meine Lebensumstände außer Kontrolle, aber das ist bis zu einem bestimmten Grad nicht wirklich von Bedeutung. Relevant wird es, wenn man sich in sich selbst nicht mehr auskennt, sich von sich entfernt, sich nicht mehr im Griff hat im Sinne der eigenen Identität. Aber ich glaube auch, dass genau daraus etwas erwächst. Man sagt, dass beim Training im Muskel etwas reißt, wodurch er dann auch wächst. So ähnlich ist das vielleicht beim emotionalen Kontrollverlust: Es wächst eine Kraft, eine Persönlichkeit, und das geht nur über die wirkliche Gefährdung. Mich inte­ ressiert als Thema genau dieser Mechanismus der Kontrolle in mir selbst, denn diese heißt auch Beschränkung, Limitierung, Angst. Angst ist Kontrolle. Was, wenn man ganz und gar frei von Angst wäre? MJ Siegfried wurde daraufhin erschaffen, keine Angst zu haben, damit er ohne Kontrolle von außen tun kann, was ihm gerade in den Sinn kommt, und somit automatisch richtig handelt, zumindest im Sinne Wotans. Dass das ein utopischer oder zumindest nicht haltbarer Zustand ist, wird klar, wenn er schließlich über seine furchtlose Zuversicht stolpert. NB Die Dialektik von Kontrollverlust lässt sich sehr gut in einer fast komplementären Bühnenfigur, der des Hamlet, auf den Punkt bringen, der damit hadert, dass des „Gedankens Blässe“ die „frische Farbe der Entschlossenheit überkränkele“. Das meint zunächst: Wer denkt, handelt

nicht. Nachdenken heißt natürlich kontrollieren. Nur, Hamlets ständiges Nachdenken führt auch dazu, sich zu verlieren, keinen Halt und keine Richtlinien mehr zu haben. Wenn man ehrlich ist, steht man ein paar Mal am Tag etwas gegenüber und fragt sich: Was heißt das jetzt? Und allein, sich das zu fragen, sich in diese Verunsicherung zu bringen, ist ein Kontrollverlust. MJ Sollten wir diese Art, außer Kontrolle zu geraten, suchen und stimulieren? NB In einem Beruf wie meinem, in dem man Verantwortung für viele Menschen oder ein großes Institut trägt, muss man sehr oft Kontrolle zeigen, vielleicht auch ohne sie wirklich zu haben. Im Bereich des Persönlichen sollten wir den Kontrollverlust aber als Teil unserer Lebendigkeit akzeptieren. Dort ist er eine absolut zu suchende und positive Qualität, weil man über permanente Kontrolle nichts wirklich Neues erfahren wird. MJ Dieser Kontrollverlust auf psychischer Ebene scheint allgemein positiv besetzt, wir verbinden damit Loslösung und Entfesselung. In unserer physischen Realität versuchen wir verständlicherweise permanent Kontrolle auszuüben: auf das Gewicht, den Fitnesszustand, durch Krebsvorsorgeuntersuchungen, Sicherheitschecks im öffentlichen Verkehr … NB Die Kontrolle zu verlieren heißt, Grenzüberschreitungen zuzulassen oder zu riskieren. Solange das eine Erweiterung bedeutet, ist der Kontrollverlust positiv besetzt. Sobald das eine Zerstörung mit sich bringt, ist der Kontrollverlust negativ zu bewerten. Da gibt es eine ganz scharfe Trennlinie zwischen zwei Seiten einer Medaille. Wenn ich mich beispielsweise mit einem Bungee-Seil von einem Hochhaus stürze, dann ist das ein Kontrollverlust im Sinne meiner Physis, aber es ist eine Form der Grenzerweiterung oder -erfahrung. Wenn ich ohne Seil springe, werde ich unter Umständen die gleiche Erfahrung haben, bin dann aber tot. Alles, was gegen das Leben ist, darf nicht sein.


MJ Dies gilt insbesondere dann, wenn jemand zur Bedrohung nicht für sich selbst, sondern für andere wird. NB Es gibt humane und inhumane Grenzen. Humane Grenzüberschreitungen haben sehr viel mit Loslassen zu tun, mit dem Aufgeben von Sicherheiten. Eine inhumane Grenzüberschreitung wäre zum Beispiel der Fall des Attentäters von Toulouse. MJ Hat ein Mensch, der ein Attentat begeht, das er bei aller Psychopathie ja genau geplant hat, nicht für einen Moment das Gefühl, Kontrolle über andere auszuüben? NB Vielleicht ist das eine Art von Machtausübung, eine eingebildete totale Kontrolle. Dann wäre ab dem Moment, ab dem einer über Leben und Tod bestimmt, sein psychisches Ausrasten nicht mehr gleichzusetzen mit Kontrollverlust. MJ Aus der Perspektive des sozialen Umfelds gerät er aber außer Kontrolle. Wir leben unter bestimmten Regeln miteinander, geschriebenen und ungeschriebenen, und nun fällt einer genau da heraus. Ist das dann nicht der totale gesellschaftliche Kontrollverlust? NB Auch hier gelten ja wieder ganz klare Grenzziehungen: Freiheitsberaubung und Tötung sind etwas, wogegen sich die Gesellschaft wehren muss. Komplexer ist der Kontrollverlust von gesellschaftlichen Prozessen, wenn zum Beispiel wie im Arabischen Frühling ein Staat außer Kontrolle gerät, weil sich seine Bevölkerung vom Druck befreit. In so einer Revolution ist es vielleicht notwendig, einen Potentaten zu ermorden, aber es ist nicht rechtens. Kontrollverlust folgt hier auf die totale Kontrolle. Und das ist dann fast philosophisch: Da geht einer so weit in der Kontrolle, bis er sie ganz verliert. Wie Saddam Hussein. Und auch Herr Assad hat sein ganzes Land unter Kontrolle gehabt, aber nur für sich allein die Freiheit. Und jetzt verliert er gerade die Kontrolle, möglicherweise auch sein Leben, weil er den Aspekt der „Freiheit in Verantwortung“ übersehen hat.

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MJ Für die Grenzziehung, die Frage nach der Dosis von Kontrolle und der von Kontrollverlust, rufen wir oft nach Experten. Wir wollen wissen, was richtig oder falsch ist, was zerstörerisch und was nicht. NB Ja, wir brauchen Juristen, wir brauchen Psychologen, Ingenieure, Ärzte, Chefs. Wir brauchen quasi die Instanz. Aber wir brauchen es genauso, gegen diese Instanz oder Systematik, gegen Regeln zu verstoßen, sonst werden wir zu Zombies. Zu einer erfüllenden Masse. MJ Zumal die Instanzen nicht zwangsläufig für Repressalien geschaffen wurden, sondern damit wir uns innerhalb bestimmter Grenzen freier bewegen können. In einer freien Gesellschaft gleichen die Gesetze vielleicht eher Spielregeln des Zusammenlebens. Bestimmte Kontrollmechanismen ermöglichen es dann, gefahrloser außer Kontrolle zu geraten. Es herrscht nicht das ganz Rigide, sondern es gibt permanent umzudefinierende Spielregeln. NB Womit man nahe an der Kunst ist: der beherrschte Kontrollverlust. Das Theater ist so ein Ort, an dem ab und an die Kontrolle verloren gehen muss, Sicherheiten losgelassen und zerstört werden müssen, an dem Kontrollverlust eingeplant ist, manchmal beim Darsteller, zumindest beim Rezipienten. Gleichzeitig ist das Theater ohne das minutiöse Ineinandergreifen und Einhalten erprobter Abläufe nicht möglich. Am Theater braucht man als Instanz den Regisseur, der eben nach beiden Seiten hin wirkt: einerseits zur Kontrollausübung, andererseits zur Animierung des Kontrollverlusts.

Das Gespräch führten Martina Stütz und Miron Hakenbeck.



Sanftes Kommando

Das Gelingen einer Opernaufführ­ung ist undenkbar ohne die An­wei­­s­ungen der Inspizienten. Der Journalist Peter Praschl hat einer dieser Stimmen zu­ge­ hört. Eine akustische Be­ob­achtung.


Fotografie Simon Koy

Du fragst dich: Gehört ihre Stim­me zum Werk? Könnte der erste Text, die Oper, zum Leben erwa­­ chen, gäbe es den zweiten Text, die Anweisungen der Inspizienten­ stimme, nicht, die auf ihn acht­ gibt? Weiß die Oper, was sie an dieser Stim­me hat?

Text Peter Praschl

Im Keller der Bayerischen Staatsoper. Ein Raum, von dem dir gesagt wird, kaum jemand im Haus wisse von ihm. Ein Schreibtisch, ein Bürostuhl, aus dessen Bezug schon ein wenig Schaumstoff quillt, zwei abgeschabte Holzstühle, ein elektrischer Heizlüfter, auf einem Tischchen ein Fernseher, auf dem eine Uhr steht. Ein Besen, eine rote Leiter, eine Vitrine mit ein paar Leitzordnern. Und eine Überwa­ chungsanlage mit Kontrolllämpchen und Lautstärkereglern. Es ist einer dieser Räume, in denen man sich nach ein paar Sekunden beklommen fühlt. Wer sitzt hier sonst? Hier sitzt kaum jemand, hat man dir gesagt, aber ir­ gendjemand muss hier manchmal sit­ zen, auf dem Schreibtisch stehen schließlich eine halb leere Mineralwas­ serflasche und ein zugeklappter Lap­ top. Kann hier jemand sitzen? In die­ sem Neonröhrenlicht, in dem man sich fahl fühlt? Du sitzt hier, die nächsten drei­ einhalb Stunden. Die Aufgabe lautet: der Aufführung von Macbeth beiwoh­ nen, die irgendwo über dir stattfindet. Du kannst den Fernseher anmachen und dir aussuchen, ob du der Hand­ lung in normaler Bühnenbeleuchtung oder über eine Infrarotkamera folgst, oder ob du die ganze Zeit dem Dirigen­ ten beim Dirigieren zusiehst. Das Bild ist matschig, der Klang suppt, aber da­ rum geht es heute Abend nicht, du bist nicht gekommen, um eine Oper zu ge­ nießen. Du bist da, um die Überwa­ chung der Oper durch die Inspizienz zu überwachen. Was sie sagt, kannst du klar und deutlich hören, aus den Laut­ sprechern der Überwachungsanlage. Sie überträgt alles, was die Inspizien­ tin in den nächsten dreieinhalb Stun­ den in ihr Mikrofon sprechen wird. Du weißt nicht, wer sie ist, du hast kein Bild von ihr, auf keinem der Kanäle des Fernsehers, du hast nur ihre Stim­ me, mehr nicht. Dieser Stimme wegen bist du hier. Man hat der Inspizientin zwar gesagt, dass du ihr zuhören wirst, aber du fühlst dich dennoch mies. Du sitzt da wie in einem dieser Spitzelfil­ me, Flasche Wasser, Notizblock, be­ reit, alles mitzuschreiben, ständig auf der Lauer. Unangenehme Situation, man kann es nicht anders sagen.

Inspizienten gehören zu jenen Men­ schen an der Oper, von deren Existenz man als Besucher zwar weiß, die man aber nie mitbekommt. Falls man sie mitbekäme, wäre es ein Zeichen, dass etwas gewaltig schiefgegangen ist. Die Vereinbarung lautet: Sobald der Vor­ hang aufgeht, ist da nichts mehr außer gloriose Unmittelbarkeit. Die Sänger singen, als wäre ihnen gerade ein Drang in den Leib gefahren, das Or­ chester spielt, als stünde es unter ei­ nem Diktat, die Kulissen sind wie vom Himmel gefallen auf die Bühne gekom­ men. Natürlich weißt du, dass das al­ les etwas Gemachtes ist, dass ein paar Hundert Menschen Wochen und Mo­ nate an jedem Detail herumgeschraubt haben, alle zusammen und jeder für sich. Aber am Ende des Prozesses, bei dem diese Aufführungsmaschine mon­ tiert wird, wird auch dafür gesorgt, dass du vergisst, wie sehr es sich um eine Maschine handelt, deren Funkti­ onieren du zusiehst, um etwas bis in die kleinste Kleinigkeit Gemachtes. Der Vorhang geht auf, und du sollst denken, hier läuft alles von selbst, es ereignet sich, es ist eine präsentische Präsenz, kein Abspulen von etwas, was sich ein paar Hundert Menschen ge­ baut haben, also die Vergegenwärti­ gung einer Vergangenheit. Das ist der Handel, du würdest dich betrogen füh­ len, falls er nicht eingehalten würde. Und deswegen würde dich nichts mehr


Sanftes Kommando nerven, als wenn du, nur so zum Bei­ spiel, fünf Minuten, ehe Macbeth see­ lenzerrissen auf der Bühne steht und von seiner Seelenzerrissenheit singt, eine Stimme hören könntest, die sagt: Herr Macbeth, darf ich bitten, Herr Macbeth bitte. Das würde die Glaub­ würdigkeit von Herrn Macbeth sofort zerstören, und in der Kunst ist Glaub­ würdigkeit ein noch wichtigeres Gut als in der Politik. Die Wahrheit lautet aber mögli­ cherweise, dass Herr Macbeth fünf Mi­ nuten, ehe er von seiner Seelenzerris­ senheit singt, noch in seiner Gardero­ be sitzt und ein wenig in einer Illust­ rierten blättert. Oder leise vor sich hin summt, ein ganz anderes Lied. Oder etwas trinkt, was seiner Stimme gut­ tut, es hat ja jeder seine Spezialtricks, um sich in Form zu halten. Vielleicht denkt er auch darüber nach, was er am nächsten Tag machen wird, und es hat nichts mit Seelenzerrissenheit zu tun. Deswegen muss es diese Stimme geben, die ihn ereilt. In seiner Garde­ robe, in der Kantine, auf den Gängen, wo immer sich Herr Macbeth gerade aufhält. Einer muss ihm sagen, dass er gleich wieder dran ist mit glorioser Unmittelbarkeit und präsentischer Präsenz, mach dich schon mal langsam auf den Weg, Macbeth, gleich musst du

7 performen, vergiss nicht, weswegen du heute Abend hier bist. Das ist die Stimme des Inspizienten. Ohne sie gäbe es das alles gar nicht. Man kann sich ja leicht ausrechnen, dass hin und wieder jemand einfach vergisst, dass er gleich performen muss. Das soll auch trotz Inspizient schon vorgekom­ men sein. Dass zum Beispiel plötzlich eine Tosca nicht auf der Bühne war. Weil sie die Stimme überhörte, die sie freundlich daran erinnern wollte, dass sie in ein paar Minuten eine Tosca sein sollte. Und dem Dirigenten blieb nichts anderes übrig, als sich zum Pu­ blikum umzudrehen und zu sagen: Sehr verehrte Damen und Herren, wir haben leider keine Tosca mehr. Sie hat längst zu sprechen begon­ nen, die Stimme der Inspizientin in deinem Überwachungsraum. Die Kinder bitte dringend zur Vorderbühne, hat sie gesagt, oder Die Luftgeister, darf ich bitten, die Luftgeister oder Die Herren der Hydraulik, bitte zum Nebeln. Es ist eine angenehme Stimme. Wenn man schon in Situationen gerät, in denen es nötig ist, Anweisungen zu erhalten, dann am liebsten von so ei­ ner Stimme. Voll und ruhig und ohne zu drängeln. Immerzu sagt die Stimme bitte oder darf ich bitten, bei jeder ein­ zelnen Anweisung, die sie gibt, es wür­

de einem sofort auffallen, wenn das Bitten einmal unterbliebe. Die Stimme wird nie laut, nie aufgeregt, die Stim­ me macht keine Unterschiede, ob sie sich nun an einen Techniker, an die Statisterie oder an die Solo-Damen wendet, man merkt sofort, nichts könnte sie aus der Ruhe bringen. Es ist eine freundliche Stimme, keine bloß umstandslos sachliche, man fühlt sich wahrgenommen von ihr. Wenn du ständig in diesem Kellerraum sitzen müsstest und nur diese Stimme hören dürftest, würdest du dich wahrschein­ lich in diese Stimme verlieben, dir wünschen, von ihr Kommandos zu be­ kommen, man fühlt sich so viel weni­ ger alleine mit ihr. Man freut sich über diese Stimme, weil man merkt, dass sie ihre Sache gut macht, sie ruft je­ manden auf, und kurze Zeit später kann man auf dem Monitor sehen, wie er tatsächlich auf der Bühne steht und seine Performance abliefert, jeder ist rechtzeitig da, keiner verbaselt seinen Auftritt, die Maschine läuft. Die Zu­ schauer da oben in der Oper werden nichts mitbekommen davon, dass es diese Stimme gibt, sie werden nur ­sehen, was sie sehen wollten, einen Opernabend, der nicht daran zweifeln lässt, dass alle seine Bestandteile, die Musik und der Gesang, die Auftritte, die Kulissen, der Gehalt, gleichsam organisch miteinander verwachsen sind, so muss es sein, das ist die Ab­ machung, und dass es sich anders verhält, würde man nur bemerken, wenn diese Stimme, die das Publi­ kum nicht hört, zu sprechen aufhören würde, um die Oper ganz sich selbst zu überlassen. Ist aber praktisch nie vorgekommen. Da unten im Keller, die Überwa­ cherin überwachend, fragst du dich: Gehört ihre Stimme zum Werk? Ist ihr Text, die Bitten um Auftritte, Nebel, Leichen auf den Schlachtfeldern, ein Bestandteil des Textes des Kunstwer­ kes? Handelt es sich um einen zwei­ten Text, der sich über den ersten Text gelegt hat? Könnte der erste Text, die Oper, zum Leben erwachen, gäbe es den zweiten Text, die Anweisungen



Die Stimme des Inspizienten der Inspizientenstimme, nicht, die auf ihn achtgibt? Weiß die Oper, was sie an dieser Stimme hat? Dann ist der Abend zu Ende. Du machst den Monitor aus, packst deine Notizen ein, ziehst den Mantel an, machst das Licht aus, gehst die paar Stufen hoch zur Maximilianstraße, wo gerade die Menschen aus der Oper strömen. Keine besonderen Vorkomm­ nisse, würdest du notiert haben, wärst du ein Spitzel. Dabei war es doch be­ sonders wie selten. Am nächsten Abend bist du, zur Walküre, wieder da. Diesmal sitzt du nicht unten im Keller, sondern mit am Inspizientenpult, diesmal hörst du nicht nur eine Stimme, du siehst die Inspizientin auch, du erkennst sie schon bei der Begrüßung, so also sieht die Frau aus, die gestern die Leichen in die Maske geschickt hat. Sie heißt Ruth Wieman. Agil, hellwach, irgend­ wie ständig in Bewegung, ohne dass es einen nervös machen könnte. Sie trägt Jeans, einen dunklen Pullover, beque­ me Sportschuhe, ein Headset, das ihr den Funkverkehr der Techniker und Beleuchter ins Ohr überträgt, mit ei­

nem Mikrofon für ihre Anweisungen. Ihr Arbeitsplatz, das Inspizientenpult, steht auf der rechten Seitenbühne, eine Art Verschlag mit einer Instru­ mententafel, einer Unmenge von Knöpfen (Regen, Donner, Wind), einer Telefonanlage, drei Monitoren (Büh­ nen- und Infrarotlicht, der Dirigent) und, das Wichtigste, ihrem Buch: links die Partitur der Walküre, rechts ihre Anweisungen und immer wieder Büh­ nengrundrisse, das also ist der Text, der die Aufführung steuert. Sie sitzt nicht in einem ruhigen Abseits, in dem sie sich konzentrieren könnte, sondern mittendrin, ständig kommt jemand vorbei, wünscht einen guten Abend, langt sich Gummibären aus dem ver­ goldeten Pokal, der auf ihrem Pult steht, Techniker, Feuerwehrmänner, Statisten, Kent Nagano steht plötzlich da, ein wenig Smalltalk, ehe die Ma­ schine angeworfen wird. Alle sind ein wenig elektrisiert und dennoch nicht im Geringsten nervös, am allerwenigs­ ten sie, man merkt, hier handelt es sich um eine Frau, die nichts aus der Ruhe bringen kann. Vielleicht ist das Allerwichtigste an Inspizienten, dass sie unter gar keinen Umständen ner­ vös werden, sie haben den Text, der die Ordnung festlegt, und die Stimme, die dafür sorgt, dass die Ordnung auch ordentlich losgeht, bitte abdunkeln, Achtung fürs Wasser, und bitte Wasser los, dann betätigt sie den Hebel, der den Vorhang aufgehen lässt, bitte Wasser Stop, dann läuft die Walküre-Ma­ schine. Ja, das war’s für die nächsten 60 Minuten, sagt sie zu dir und gleich danach noch einmal in ihr Mikrofon, bis in einer Stunde. Die Maschine tut, was sie tun soll, Siegmund und Sieglin­ de erkennen einander, während Hun­ ding außer Gefecht ist, alles ist, wie es sein soll, die Stimme hat es auf den Weg gebracht, jetzt liegt es nicht mehr an ihr. In den oft lange sich hinziehenden Minuten, in denen sie niemandem sa­ gen musste, was er gleich zu tun hätte, blieb sie dennoch nicht stumm. Eigent­ lich sprach sie die ganze Zeit, mit jedem, der vorbeikam. Es waren er­

9 staunlich viele. Techniker fragten, wie der Nebel gewesen war, eine Sängerin bekam ein ermunterndes Toi, toi, toi, ehe sie auf die Bühne ging, dem Mann, der die Schlachtfeldstatisterie ein­ wies, sagte sie, er solle nicht verges­ sen, den Leichen zu sagen, dass zwi­ schen ihnen diesmal mehr Abstand sein müsse, bei der Premiere ein paar Tage zuvor waren die Toten zu eng bei­ einander gelegen, diesmal sollten die Sänger es bei der Schlachtfeldbesin­ gung bequemer haben. Manchmal hat­ te sie sogar Zeit für ein paar private Sätze, sie schnitt sich einen Apfel klein, sie trank Wasser, nie bekam man den Eindruck, dass sie die Auf­ führung belauerte.

Rechte Nebelmaschine zu­rückdrehen, sagte die Stimme von Ruth Wieman in ihr Mikrofon, auf Minimum zurückdrehen. Und jetzt die linke Nebelmaschine ganz klein drehen. Jetzt rechts ganz aus, bitte. Danke. Mit­ zubekommen, wie sehr die Vernebelung der Stimme gehorchte, war eine Erleich­ terung.


Und dennoch war sie ständig dabei, auf eine beiläufige Weise hoch konzen­ triert, wie auch Künstler oft auf diese beiläufige Weise konzentriert sind, das ist besser als Anspannung, die doch nur einen Tunnelblick macht. Manch­ mal ging ihr Körper zur Musik mit, sie wippte ein wenig oder summte ein paar Takte, als wäre Wagner auch in ihren Körper gefahren, es war schön, ihr dabei zuzusehen, wie sie hellwach den Abend überwachte. Was hast du gesehen, während du ihr bei ihrer Arbeit zusahst? Du weißt es nicht so genau. Es war Wagner mit einer Brechung, und was dich betrifft, tat die Brechung gut. Sie sorgte dafür, dass die Walküre nicht zu dir kam wie ein betäubender Trank, das größte Problem an Wagner, seine Werke sind ja Überwältigungs­ maschinen, die es darauf anlegen, dass man sich ihnen ergibt, unabhängig da­ von, wie transparent man sie insze­ niert, wie sehr man ihre Logik heraus­ arbeitet, es wird immer von einem ver­ langt, dass man sich einer Art Ohn­ macht ergibt, ein paar Stunden lang (und es gehört zum Überwältigungs­ willen dieser Opern, dass sie lange dauern, man soll irgendwann keinen Widerstand mehr empfinden können, eine Art Stockholm-Syndrom, das von der Kunst ausgelöst wird, es soll dir nichts anderes übrig bleiben, als sich

Sanftes Kommando

Die Fotografien von Simon Koy ­entstanden während einer Aufführung von Macbeth an der Bayerischen Staatsoper, hinter der ­Bühne. Der Münchner Fotograf hat einen Infrarotfilter verwendet, ­ um etwas von der Atmosphäre des Halbdunklen einzufangen. Was ­ sich daraus entwickelt hat, ist eine Serie von fast geisterhaften Porträts: Jede Unregelmäßigkeit, jede Falte und damit Lebendigkeit in den Gesichtern hat sich durch die Verwendung der Infrarotfolie, ­ die die Farbe Rot nicht erkennt, nahezu aufgelöst.

in sie zu verlieben). Das ist schon in Ordnung so, auch wenn man sich hin und wieder dagegen wehrt oder ver­ drossen ist, weil man die Asymmetrie in diesem Verhältnis für eine Zumu­ tung hält, aus prinzipiellen Erwägun­ gen, man will ja seine Freiheit behal­ ten, während man einer Oper zuhört – und nicht unbedingt überwältigt wer­ den von ihr. An der Seite von Ruth Wieman gelang einem das. Sie blieb nüchtern, und deswegen konnte man es selbst auch bleiben. Oper, das war eine Maschine, mit deren Hilfe man über Macht und Ohnmacht, Gesang, Tod, Liebe, Lust und dergleichen nach­ denken konnte, aber es war kein be­ täubender Trank, es blieb eine Maschi­ ne. Rechte Nebelmaschine zurückdrehen, sagte die Stimme in ihr Mikrofon, auf Minimum zurückdrehen. Und jetzt die linke Nebelmaschine ganz klein drehen. Jetzt rechts ganz aus, bitte. Die linke Nebelmaschine bitte aus. Danke. Mitzubekommen, wie sehr die Verne­ belung der Stimme gehorchte, war eine Erleichterung. Vielleicht, dachtest du, sollte man die Inspizientenstimme nicht nur in die Kantine und auf die Gänge übertra­ gen, sondern auch ins Publikum, die­ sen Text, der auf das Gelingen der Oper achtgab, die Maschine immer ge­ nauso dosierte, dass man nicht merk­ te, wie sehr es sich um eine Maschine

handelte. Alles lief wie von selbst, die Sänger sangen, als wäre ein Drang in sie gefahren, die Kulissenwände fuh­ ren, als würden sie vom Himmel aus gezogen, die Menschen starben, als wäre es in Ordnung, von Göttern ums Leben gebracht zu werden, die Götter beschlossen, die Menschen nicht da­ vonkommen zu lassen, als hätten sie Macht über sie. Aber sie hatten keine. Es war eine Stimme, die sie auf die Bühne gebeten hatte, und wenn diese Stimme gewollt hätte, hätte sie es auch unterlassen können, obwohl das prak­ tisch nie vorkam, denn die Stimme ge­ hörte einer, die nichts anderes wollte, als sorgsam und hellwach darauf acht­ zugeben, dass die Maschine lief, so lau­ tete die Vereinbarung, gloriose Unmit­ telbarkeit, präsentische Präsenz, und die Stimme achtete darauf, dass diese Vereinbarung eingehalten wurde. Sie machte es gut. Wusste die Oper, was sie an dieser Stimme hatte? Peter Praschl ist Journalist und Autor des Süddeutsche Zeitung Magazins.


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Premiere BallettFestwoche

Die Sondergarderobe im Foyer des Nationaltheaters, an einem der ersten Frühlingstage. Die allerorts geschäftige Arbeitsatmosphäre kann die stoische Ruhe des Foyers nicht durcheinanderbringen. Anja Kampe wird etwas später zur Gesprächsrunde stoßen, noch steckt sie in einer Sicherheitsprobe zur Walküre im Rahmen der Neuinszenierung des Ring, wo sie probt, sich im Notfall über eine zwölf Meter lange Rutsche in Sicherheit zu bringen. Was für ein Auftakt für ein Gespräch über Körper und Kontrollverlust.

Zeichnungen Chloe Piene

So ekstatisch der Aus­ druck, so kontrolliert der Künstler? Die Kunst von Tänzern, die Kunst von Sängern ist und wirkt körperlich. Ivan Liška, Tänzer und Direktor des Bayerischen Staatsbal­ letts, und Anja Kampe, Sopranistin und Sieglinde, Senta und Leonore der Spielzeit 2011/12 an der Bayerischen Staatsoper, sprechen über die Wahr­ heit des Körpers und das Live-Erlebnis Theater.

Moderation Jörg von Brincken

Irritation — das ist schön!

MAX JOSEPH Herr Liška, der bewegte Körper erscheint überall in den Medien, er wird nahezu inflationär zur Schau gestellt in der Werbung, in Castingshows, im Film – aber mir scheint, dass damit paradoxerweise auch eine schwin­ dende Sensibilität für Körperlichkeit einhergeht. Der Kör­ per wird quasi ins massentaugliche und kommerziell ver­ marktbare Bild gepresst, uniformisiert, ja maschinisiert. IVAN LIŠKA Ja, aber das betrifft nicht nur die Sphäre der Medien und des Konsums. Sehen Sie sich die Erziehung an, sie verläuft von den Anfängen bis hin in die Akademien viel zu zerebral. Der Körper dient ab dem Nacken nach unten nur noch der Fortbewegung, der Fortpflanzung und viel­ leicht der sportlichen Ertüchtigung. Die Menschen benutzen ihren Körper als Maschine, aber sie hören nicht mehr auf ihn. Wir reden so viel über den Körper, statt mit ihm zu re­ den. Und generell: Wir quatschen zu viel, anstatt körperlich miteinander umzugehen. Ich messe dem Tanz innerhalb ei­ ner Kultur wirklich einen besonderen Wert zu, aber wo ist der bei uns hin verschwunden? Nehmen Sie die Volkstänze von früher. Wann bewegt sich jemand, nur um einen Tanz­ schritt zu machen? Volkstänze waren ein Grund, zusammen­ zukommen, etwa um zu feiern. Und andere Menschen wur­ den dabei berührt, es wurde körperlich kommuniziert. MJ Ich gebe Ihnen recht, aber Tanz und gerade künstlerischer Tanz wie das Ballett sind nicht per se frei von der Versuchung, Bewegung und Körper zu normieren und zu instrumentalisieren, oder? IL Wissen Sie, ich habe einmal einen jungen Mann in einer Disco beobachtet. Vielleicht hatte er Drogen ge­ nommen, aber wie dem auch sei: Er hat sich eine ganze Dreiviertelstunde um sich selbst gedreht. Das ist ein sprechendes Bild. Es geht um Sublimierung. Der Tanz hat es ihm ermöglicht, durch Bewegung in eine andere Dimension zu gelangen, wie beim Gebet oder bei ei­ ner Meditation. Im Tanztheater wurde zwar in den letzten 20 Jahren sehr viel wieder neu entdeckt, zum Beispiel die Ideen von Émile Jaques-Dalcroze, der Bewegung als inneren Bezug zum Raum verstand. Trotzdem ist überall eine ungute Tendenz zur Virtuo­ sität zu verzeichnen, also zum Drang, dem Körper Leistungen und Bewegungen abzuverlangen, die äu­ ßerlich immer noch perfekter werden müssen. Und das, ohne sich Gedanken um den Ursprung der Tanz­ kunst zu machen, etwa im schamanistischen Ritual, wo es darum ging, sich zu verändern, die Realität zu verlassen. Freilich ist das, was wir machen, nicht Re­ ligion, sondern Kunst – und hier beginnt das Dilem­ ma auch für den Zuschauer: Es gibt beim Ballett oft diese Schwellenangst, sich einer schwer verständli­ chen Form zu stellen. Aber es geht eigentlich um eine innere Erfahrung, für die Tänzer und für diejenigen, die zusehen. MJ Der Körper des Tänzers ist ein Werkzeug, ein störanfäl­ liges und verletzungsanfälliges Instrument. Dann ist er ein künstlerisches Darstellungs- und Ausdrucksmittel. Und ein Medium, um eine sinnliche Erfahrung sowohl nach außen zu tragen als auch um selber Erfahrungen zu machen. Sie spra­


Kontrolle Ekstase

chen von Sublimierung. Ist der Körper bei all seiner Kon­ kretheit das Medium überhaupt, um innere, geistige, ja, auch spirituelle Erfahrungen zu machen? IL Zunächst geht es darum, den Körper selbst zu erfahren und zu befragen. Erst als ich 33 oder 35 Jahre alt war, habe ich herausgefunden, was ich dem Körper geben musste, welche Übungen ich machen musste, um sein Erlebnispo­ tenzial auszuschöpfen. Auf der Bühne machte ich dann Er­ fahrungen, die ich privat noch nicht kannte. Sie merken irgendwann, dass der Körper ein eigenes Gedächtnis hat, das man anzapfen kann. Dann sind Sie viel komplexer, aber auch reicher, wahrhaftiger, wirklicher. Im Tanz finde ich immer wieder neue Möglichkeiten zur Bewegung und zum Ausdruck. Man geht über die klaren Grenzen der All­ tagskommunikation hinaus. Aber es geht dabei nicht nur darum, das zu zerstören, was vor uns liegt, sondern um neue und schönere, ja bessere Möglichkeiten. MJ Das klingt nach einer utopischen Dimension. Wie sieht es da mit der Stimme aus? Für Adorno beispielsweise barg die menschliche Stimme, gerade in ihren höchsten Lagen, wo die Verständlichkeit des gesungenen Wortes abnimmt, eine utopische Ladung. Ihre sinnliche Unmittelbarkeit öffnete danach einen unmittelbaren Zugang zum Sein. Frau Kampe, wie sehen Sie das, auch in Bezug auf die bekannte Formel prima la musica, poi le parole? ANJA KAMPE Ich lege sehr viel Wert auf das Wort, auf die Mitteilung. Der Körper ist ambivalent, das Wort sollte eindeutig sein. Die Stimme ist nicht nur Produzent von Klang. Aber dennoch bringt nicht jede Stimme dasselbe rüber, es gibt ganz unterschiedliche Klänge und Schwingungen in den einzelnen Stim­ men. Ich kann das von Adorno Gesagte also in gewis­ ser Weise verstehen. Ja, die menschliche Stimme hat die Fähigkeit, über die Sprache hinauszugehen, aber das Gesungene sollte doch verständlich bleiben und der Sinngehalt transportiert werden. Ganz ehrlich: Mich macht es wahnsinnig, wenn ich etwas auf der Bühne machen muss, was dem zuwider geht, was ich sage oder was die Musik ausdrückt. Zum Beispiel bei Achim Freyer, wo man mehr oder weniger zur Puppe degradiert wird. Man fühlt sich in solchen Fällen aus­ einandergerissen. Das behindert mich beim Singen.

Körper

„Sie merken irgendwann, dass der Körper ein eigenes Gedächtnis hat, das man anzapfen kann. Dann sind Sie viel kom­ plexer, aber auch reicher, wahrhaftiger, wirklicher.“ — Ivan Liška

Ich singe schließlich vom Kopf bis zum kleinen Zeh, ich brauche die Muskelspannung, ich spüre, wenn ich in einer komischen Position singen muss, und muss mich dann adjustieren. Wenn wir Sänger jedoch durch die Inszenierung aus dem Gleichgewicht gera­ ten, funktioniert das Singen nicht mehr, wir werden aus der Bahn geworfen. IL Ich denke nicht, dass Regisseure oder Choreo­ graphen von uns Ungutes wollen. Aber im Tanz weiß man anders als in der Oper nicht, was auf einen zu­ kommt. Man ist nackt vor dem Choreographen und versucht, neue Formen aus dem Körper herauszufin­ den, sie zu entwickeln. Sie müssen freilich bereit sein, sich dabei sozusagen verletzen zu lassen, sich zu opfern, um das herauszuholen. MJ Verletzungen, Opfer. Der Körper ist Ihrer beider Instru­ ment, aber Sie bewohnen diesen Körper auch. Sie haben ei­ nen Körper, den Sie kontrollieren, aber Sie sind eben auch Leib. Und Sie setzen diesen Leib und Ihre Stimme den Au­ gen und Ohren anderer Menschen aus – und auch hohen Belastungen. Der Körper kann sich verrenken, oder die Stimme wird ruiniert. Anders als bei Sportlern, zum Bei­ spiel bei Boxern, oder bei anderen im weitesten Sinne ge­ fährlichen Berufen wird diese prekäre Dimension in der darstellenden Kunst kaum reflektiert. IL Wenn Sie es mit Inbrunst tun, können Sie keine halben Sachen machen. Die Leute, die nicht bereit sind, solche Op­ fer zu bringen, schaffen es nicht so weit. Es geht jedoch nicht um Masochismus. Wir können zwar nicht wie ein Ma­ ler die Leinwand zerschlitzen und ganz neu anfangen mit einer neuen Leinwand, aber wir triezen unseren Körper, disziplinieren ihn, damit er gehorcht. Viele Tänzer leben jahrelang mit so einem Frust, weil der Körper nicht das macht, was sie wollen. MJ Dass Tanz und Gesang extreme Körperkontrolle voraussetzen, liegt auf der Hand. Aber gibt es Mo­ mente auf der Bühne, wo man in Ekstase verfällt, sich gewissermaßen entgrenzt, die Kontrolle verliert? Sind das Krisenmomente? IL Nein, Glücksmomente! Man spürt, wenn es kommt, und wenn man sein Instrument beherrscht, kann man sich etwas gehen lassen. Man muss höllisch aufpassen und auf seine Disziplin, seine Technik und seine Verantwortung gegenüber dem Regisseur oder Choreographen zurückkommen, gegenüber der Mu­ sik und auch den Bühnenpartnern. AK Geht die Kontrolle verloren, gerät alles aus den Fugen! Ja, solche Glücksmomente sind etwas Tolles und sie passieren, aber man muss bewusst bleiben und sie steuern, sonst wird es heikel. Ich liebe es, in eine Rolle hineinzukrabbeln, sie auszuleben, meine eigene Erfahrung in die Rolle zu gießen, der Figur ganz ganz nah zu sein – aber da kommt man oft an seine psychischen und physischen Grenzen. Man stei­ gert sich hinein, und ab da wird es gefährlich. MJ An die eigenen Grenzen zu stoßen, seelisch und körper­ lich, das gehört zum Beruf des darstellenden Künstlers. Be­


Irritation — das ist schön! deutet das immer eine Erschöpfung und Selbstverausga­ bung? Als Autor kann ich meinen PC abschalten oder den Stift weglegen, aber Sie beide gehen mit Ihrem Körper und Ihrer Seele heim! Da sind doch Gefahren dabei. Man kennt das von Schauspielern, die ihre Rolle nicht mehr loswerden. AK Ja, bei uns ist das genauso, vor allem bei bestimmten Produktionen und Figuren. Denken Sie an Wozzeck oder an Jenůfa. Das ist sehr belastend. IL Aber genau deswegen macht man es auch, das erwarten die Leute. Es hat ja auch etwas Heilsames: Vielleicht tanzen Sie das schwere Leben von jemandem, und der Zuschauer, der das sieht, hat auch ein problembeladenes oder schweres Leben. Sie führen ihm die Mühsal vor, und sei es nur dieje­ nige körperlicher Art, das Laufen, Springen usw. Und dann merkt er, das gibt es, das ist nichts Verkehrtes. Bei all unse­ ren Codes im klassischen Ballett: Ein Sprung ist abspringen – fliegen – landen, eben in einer bestimmten Form. Aber ganz einfach ein Akt der körperlichen Anstrengung, den alle ir­ gendwie kennen. Und darin steckt das ganze Geheimnis: Die Leute wollen nicht nur, dass man sich auf der Bühne selbst vorführt, sondern dass es sie persönlich angeht. Sie wollen es miterleben, mitfühlen, körperlich, aber auch seelisch. MJ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es die Mu­ sik und der Tanz, die beide in Philosophie und Kul­ turkritik so hervorgehoben wurden, ganz zentral bei Nietzsche. Denken Sie an sein Dionysisches als musi­ kalischen Urgrund oder an seinen Zarathustra, den Tänzer. Von da fließen musikalische Aspekte in die avancierte Kunst ein – etwa der Rhythmus in Dich­ tung und Malerei –, oder man versuchte sich an der Erneuerung kultureller Formen im und durch den Tanz, zum Beispiel im Ausdruckstanz. All das ver­ band sich mit einer Kritik an der westlichen Kultur und ihren Erstarrungen, man wollte die Grenzen des Gegebenen sprengen. Ist diese Utopie heute noch va­ lent? Auch angesichts dessen, dass Bewegung, Kör­ per und Musik heute vor allem massenmedial über­ formt werden, kommerziell ausgeschlachtet werden und zu vermarktbaren Stereotypen erstarrt sind? AK Man wird ja auch mit schrecklicher Musik bombardiert in jedem Einkaufszentrum. Überall Mas­senware. Nichts gegen Unterhaltung, aber es gibt da noch mehr. Und wir als Theaterkünstler müssen da schon dagegen angehen, gegen diese un­ erträglichen Banalisierungen! IL Eine Maschinerie, die alles nach ihren eigenen rein funktionalen und kommerziellen Kriterien be­ misst. Und ja, wir müssen uns dem entgegenstellen. Aber über die mediale Vermittlung geht das nicht, Tanz auf dem Bildschirm ist wie ein alter Teebeutel. AK Musik auf CD auch, sogar Oper auf DVD. Es fehlt die Unmittelbarkeit. Wenn ich live dabei bin, passiert etwas, weil ich dabei bin. DVDs und CDs sind ganz was anderes als Live-Oper. Ich finde das

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Anja Kampe studierte Gesang in Dresden und Turin. Ihre erste Partie auf der Opernbühne war Gretel in Hänsel und Gretel. Zahlreiche Mozart-, Rossini- und Puccini-Partien führten sie ­ nach Italien, Frankreich und Israel. Von 1997 bis 1999 war sie Mitglied der Accademia del Teatro alla Scala. Ihr außergewöhnlich reiches Repertoire umfasst etwa Giorgetta, Odabella, Leonora, Donna Elvira, Jenůfa, Lisa, Ariadne und Leonore bis hin zu allen großen Wagner-Partien wie Elisabeth, Eva, Elsa, Kundry, Isolde, Senta und Sieglinde. Sie war Gast in den wichtigsten Opernhäusern der Welt, darunter Wien, Berlin, Bayreuth, London, Barcelona, Madrid, Mailand, Washington, San Francisco und Los Angeles. An der Bayerischen Staatsoper ist die Sopranistin wieder zu den Festspielen zu erleben, als Sieglinde in der Walküre in der Ring-Neuinszenierung von Andreas Kriegenburg.

Ivan Liška erhielt seine Ausbildung als Tänzer am Konservatorium in Prag. Es folgten erste Engagements am Bayerischen Staatsballett und dem Hamburg Ballett, wo er die Titelrollen zahlreicher Werke von John Neumeier tanzte und kreierte und in Werken von Robbins, Balanchine und Cranko zu erleben war. Gastspiele führten ihn nach Paris, London und New York. Seit Beginn der Spielzeit 1998/99 ist Ivan Liška Direktor des Bayerischen Staatsballetts, außerdem gründete er die dortige Junior Company. Er fügte dem Münchner Repertoire entscheidende Werke hinzu, u. a. von William Forsythe, José Limón, Nacho Duato. In seinen eigenen Produktionen von Dornröschen (2003) und Le Corsaire (2007) demonstrierte er den historisch ­reflektierenden Umgang mit der choreographischen Überlieferung, der für das Bayerische Staatsballett charak­teristisch ist.

„Die Leute wollen im The­ater schon auch eine Identifikation. Sie wol­len den Tenor küssen! Aber das bedeutet dennoch einen Kontrol­ lverlust, weil ich nicht wie beim Fernsehen ein­ fach um­schal­ten kann.“ — Anja Kampe


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„Tanz und Gesang setzen ex­­treme Körperkon­trolle voraus. Gibt es Momente auf der Bühne, wo man ­in Ekstase verfällt, sich entgrenzt, die Kontrolle verliert? Sind das Krisen­ momente?“ — Max Joseph „Nein, Glücksmomente! Man spürt, wenn es kom­ mt, und wenn man sein Instrument beherrscht, kann man sich etwas ge­ hen lassen. Man muss höl­ lisch aufpassen.“ ­— Ivan Liška „Geht die Kontrolle ver­ loren, gerät alles aus den Fugen! Ja, solche Glück­ smomente sind etwas Tolles und sie passieren, aber man muss bewusst bleiben und sie steuern, sonst wird es heikel.“ — Anja Kampe schrecklich. Tonkonservation ist schrecklich. Sie hat keinerlei Vorteil, zumal man dauernd mit den alten Stimmen verglichen wird, und jeder lamentiert: Wo sind die großen Stimmen hin? Blödsinn! Es geht dar­ um, die Qualität und Kraft einer Stimme unmittelbar in einer Aufführung zu erfahren. MJ Sind wir uns also einig, dass das Live-Ereignis des The­ aters weder zu konservieren noch mit medial Vermitteltem zu vergleichen ist? Als Zuschauer sieht man nicht nur ein­ fach zu oder hört zu, sondern wohnt dem Bühnenerscheinen eines lebendigen Körpers und seiner Ausstrahlungen im Hier und Jetzt bei?

17 AK Die Einzigartigkeit und Unmittelbarkeit eines Körpers und einer Stimme, das ist das, was die Menschen interes­ siert. In den Medien sind außerdem immer alle irgendwie gleich, der Reiz des Theaters liegt im Ausstellen der Ver­ schiedenheit. MJ Im Medienkonsum will der Zuschauer meist alles kontrollieren, er will Blick- und Hörkontrolle aus­ üben, daher will er Normiertes und bequem Goutier­ bares. Auf dem Theater dagegen geht es um eine ve­ ritable Konfrontation mit dem Abweichenden und Individuellen. Und das bedeutet auch für den Zu­ schauer einen Kontrollverlust, in positivem Sinne. Es geht um eine Entgrenzung der bisherigen Erfahrung, die man am eigenen Leibe spürt. AK Der Medienzuschauer sagt, das will ich sein, da entsteht eine ganz allgemeine Projektionsoberfläche. Was die Identifikation im Theater betrifft: Die Leute wollen da schon auch eine Identifikation. Sie wollen den Tenor küssen! Aber das bedeutet dennoch einen Kontrollverlust, weil ich da nicht, wie beim Fernse­ hen, einfach umschalten kann. IL Genau, das Theater, die Oper oder das Tanzthea­ ter kann man nicht wie bei einer TV-Sendung ab­ schalten. Man muss sich dem zumindest bis zur Pause stellen. Und dann erlebt man einen Künstler, der ei­ nen erfasst, sinnlich aufrüttelt. Diese Transformation versuchen wir jeden Abend hinzukriegen. Im Theater erlebe ich einen Zusammenbruch meiner Kontrolle. Heute will eigentlich jeder cool bleiben, gerade die junge Generation, um jeden Preis. Aber das funktio­ niert im Theater nicht, weil es einen so unmittelbar betrifft, in einem Raum mit all den anderen und den Körpern der anderen. Gehen Sie in den Wozzeck, schreckliches Thema, um positive Gefühle zu haben oder unterhalten zu werden? Nein! Sie gehen da nicht raus und sagen, Sie wollen Wozzeck oder Marie sein. Die haben Sie gerade live beim Leiden erlebt, Sie ha­ ben das in gewissem Sinne mitgespürt, weil es direkt vor Ihren Augen passiert ist! Gut, aber indem ich es die anderen erleiden lasse, mache ich diese Erfahrun­ gen stellvertretend mit, objektiviere sie vielleicht. AK Ja, das ist eine Art der Katharsis. Und ich halte das für sehr notwendig! IL Genau, und Sublimation. Mit die ersten Äußerun­ gen waren, wie ich bereits sagte, schamanische Tänze und entsprechende Sangesäußerungen, die uns in ein anderes Leben bringen sollten, die uns zeigen sollten, da gibt es mehr als die uns umgebende Realität. Wie­ so sind wir hier, diese Frage stellen sich Künstler so oft. Was habe ich erreicht? War es das wert? Warum bezahlt uns die Gesellschaft, und zwar ganz gut? Ge­ nau deshalb, weil wir sie aus der banalen Realität rausbringen, nicht einfach zur Unterhaltung, sondern zu etwas anderem, Größerem.


Irritation — das ist schön!

AK Das schon, aber das Bedürfnis schrumpft. In München sind wir zwar in einem Kulturparadies, aber dennoch. Die jungen Leute kommen vor allem deswegen, weil die Theater viel dafür tun. Ich bin da recht skeptisch. IL Das ist Schwellenangst, Frau Kampe. Es sind halt sehr komplizierte Formen, gerade Oper und Tanz. Man muss lernen, das Ganze als Entgrenzung anzuse­ hen und nicht nur als Bebilderung des Lebens. MJ Obwohl Oper und Ballett vom Alltagsstandpunkt also eher abstrakte Formen sind (wir singen und tanzen uns ja für gewöhnlich nicht an), sind ihre Ausstrahlungen von einer gleichsam befreiten Sinnlichkeit. Folgen wir Michel Fou­ cault, dann ist Theater eine Heterotopie. Im Gegensatz zum Nicht-Ort, das heißt zum (noch) nicht existierenden Ort der Utopie, stellen Heterotopien konkret verortbare Räume und die entsprechenden kulturellen Praktiken dar, die jedoch nach ganz anderen Regeln organisiert sind als die umgeben­ de Alltagswirklichkeit – andere Räume eben oder Räume für das andere. Dort kommt es zu Brechungen der norma­ len Realität, obwohl diese Räume vor Konkretheit und sinnlicher Ausstrahlung geschwängert sind. Und diese Bre­ chung erfahre ich, das ist zentral, am eigenen Leib. IL Das ist sehr gut! Mir gefällt dieses Irritationsmoment darin, im ganz positiven Sinne. Es geht darum, das schale Gefühl des Alltags und seiner Emotions- und Verstandes­ normierungen nicht aufkommen zu lassen bzw. es wegzu­ schieben zugunsten einer sinnlich erfassbaren und miterleb­

baren Entgrenzung. Ja, darum geht es im Tanz und in der Oper! Ich habe mir lange Gedanken gemacht über das The­ ma unseres Gesprächs – Kontrollverlust –, und das war gut so. Bisher hatte ich es so noch nicht betrachtet, aber es ist notwendig, unsere Kunst aus dieser Perspektive zu sehen. Irritation – das ist schön! Jörg von Brincken ist Theaterund Medienwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich seit Jahren damit, wie kulturelle ­Normen unser körperliches Verhalten prägen, und mit dem im Körper steckenden Potenzial, ­andere ­sinn­liche Erfahrungsweisen und Kul­turmuster zu eröffnen.

Der Ring des Nibelungen Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend von Richard Wagner — Das Rheingold Vorstellungen am 3. und 7. Juli 2012 — Die Walküre Vorstellungen am 4. und 11. Juli 2012 — Siegfried Premiere am Sonntag, 27. Mai 2012 — Götterdämmerung Premiere am Samstag, 30. Juni 2012 Vorstellungen jeweils im Nationaltheater

BallettFestwoche 2012 22. April bis 29. April 2012 Goldberg-Variationen /  Gods and Dogs Choreographien von Jerome Robbins und Jiří Kylián Musik von Johann Sebastian Bach,  Jiří Kylián (Konzept),  Dirk Haubrich und Ludwig van Beethoven Premiere am Sonntag, 22. April 2012, Nationaltheater

Weitere Termine im Spielplan ab S. 88

Zeichnungen Chloe Piene: Seite 28 Gol, 2010 Seite 32 Crest, 2005 Mehr über die Zeichnerin auf S. 8


19 Blindtext

Exklusive Haarpflege und Kosmetik. In ausgesuchten Friseur – Salons: www.labiosthetique.de


Wie die Mitarbeiter der Oper den Frühling begrüßen

Kulturtipps

Wenn der Frühling ruft

SKITOUR Auf die Alpspitze NEUE WEGE Entdeckungen vor der Haustüre

Von Mathias Kaschube, Leiter der Bühnenwerkstätten Poing

Ausführliche Informationen auf www.tourentipp.de, Alpspitze Skitour

Von Christiane Arnold, Bratschistin des Bayerischen Staatsorchesters

Agenda

Auch wenn die meisten Münchner mit dem Frühling vor allem die schneefreie Zeit begrüßen, beginnt für mich jetzt die hohe Zeit der Skitouren. Ich würde jetzt am liebsten die gesamten Alpen empfehlen, aber ich beschränke mich auf eine Tour. Sie beginnt in meiner Jugend Anfang der 1970er Jahre mit einem Kalenderblatt, das ich mir über den Schreibtisch gehängt hatte. Es war eine Fotografie der Alpspitze, und ich war von diesem Berg hellauf begeistert, auch wenn er mir damals mit seiner Nordseite unbesteigbar erschien. Es dauerte 20 Jahre, bis ich das erste Mal mit Skiern oben stand, und seitdem gehört die Alpspitze zum Pflichtprogramm. Man muss früh los, um die erste Bahn von Grainau bei Garmisch auf den Osterfelderkopf zu bekommen, wird dafür aber schon während der Anfahrt mit einem traumhaften Blick auf diese ideale Pyramide belohnt, wenn sie die erste Sonne fängt. Von der Bergstation geht es auf der Piste abwärts bis kurz vor die Talstation des Bernadeilifts. Hier heißt es: Felle anlegen und los geht’s, zunächst durch den Wald, dann durch welliges Gelände in das Oberkar. Ist die Schulter des Südostgrats erreicht, kommen die Skier an den Rucksack, und man stapft bis kurz unter den Gipfel den Grat hinauf. Das Schlussstück klappt wieder mit Skiern. Der Gipfelblick gleicht dem von der Zugspitze, nur muss man ihn hier nicht mit Hundertschaften von Touristen teilen. Aber die eigentliche Belohnung kommt jetzt: Die Abfahrt über die Ostflanke. Da sie nach unten immer steiler wird, kann man sie anfangs nicht einsehen, und das gibt schon jedes Mal ein gewisses Kribbeln. Ist das Oberkar wieder erreicht, geht’s entlang der Aufstiegsroute zurück ins Skigebiet und über die Kandahar-Abfahrt hinunter nach Grainau. In der CaféBar Kandahar noch einen Espresso, und ich bin wieder aufgefüllt für eine Woche Opernwerkstatt und Kultur.

In München genügen ein Paar robuste und bequeme Schuhe und, wenn man Glück hat, eine neugierige Hundenase, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Neben den bekannten Routen durch die großen Parks und die Isarauen gibt es überall stille Oasen und kleine Überraschungen, die zu entdecken sich lohnen. So kann es passieren, dass diese neugierige Nase an der Theresienwiese unvermittelt auf einem hohen Torpfosten einen steinernen Esel aufstöbert, der mit einer Harfe zwischen den Hufen fröhlich in den weiß-blauen Frühlingshimmel schmettert. Andächtig lauscht eine Zuhörerschaft aus Märchenfiguren und Sagengestalten an der Fassade des dahinterliegenden Hauses dem stummen Sänger. Nur wenige Schritte weiter, in der Kirche St. Paul, fordern die Kreuzwegstationen des Holzbildhauers Rudolf Wachter den Spaziergänger zum Innehalten und Verweilen auf. Mit dem Kontrast zwischen ihrer klaren Formensprache und dem warmen Ton des Holzes verführen Wachters Skulpturen vielleicht den Spaziergänger dazu, noch weitere seiner Werke im Raum München zu entdecken, wie zum Beispiel in Kißlegg. Doch sollte der Frühling eine Pause einlegen, kann man sich ganz wunderbar von Wolf von Niebelschütz’ Blauem Kammerherrn in die sonnige Welt des imaginären ba­ rocken Griechenlands entführen lassen und miträtseln, hinter welcher Maske Zeus diesmal im Intrigenspiel um die Prinzessin eines kleinen Inselreiches kräftig mitmischt. Museum Rudolf Wachter, Neues Schloss Kißlegg, 88353 Kißlegg im Allgäu. April bis Oktober Di, Do, Fr 14:00 – 17:00 Uhr, Sonn- und Feiertage 13:00 – 17:00 Uhr Wolf von Niebelschütz: Der blaue Kammerherr. Galanter Roman in vier Bänden, erstmals erschienen 1949; dtv 1998; 15,29 €


Von Elisabeth Deffaa, Assistentin im Kinder- und Jugendprogramm Als leidenschaftliche Radlerin fühle ich mich seit anderthalb Jahren auf meinen täglichen Routen in München sehr wohl, und so liegt es nahe, den Drahtesel auch einmal für einen längeren Ausritt zu satteln: Wir starten vor der eigenen Haustüre und radeln los Richtung Isar. Ziel der Tagestour ist die charmante alte Herzogstadt Landshut. Um nachmittags anzukommen, brechen wir früh auf, denn vor uns liegen etwa 80 Kilometer Tagesstrecke. Immer isarabwärts führt uns der Isarradweg aus München heraus. Je weiter wir die Stadt hinter uns lassen, desto ruhiger wird es – ein beinahe meditativer Streckenabschnitt. Wir erreichen nach etwa 40 Kilometern die Bischofsstadt Freising mit ihrem Wahrzeichen, dem Domberg. Nach einer Pause in der schmucken Altstadt streifen wir Moosburg a. d. Isar und passieren einige Kilometer später den Echinger Stausee, einen Teil des Wasservogelschutzgebietes. Und dann haben wir Landshut bald erreicht: Wir erholen uns im Literaturcafé im Röcklturm direkt an der Isar und machen uns gestärkt in die Altstadt auf. Oberhalb des höchsten Backsteinturms der Welt, dem Turm der Martinskirche, thront die Burg Trausnitz aus dem frühen 13. Jahrhundert, von der aus wir im Abendlicht einen wunderschönen Blick über die romantisch verwinkelten Gassen und die alten, schiefen Häuser der Altstadt haben. Die letzten drei Tageskilometer führen zum Landshuter Hauptbahnhof, von wo aus die Bahn das Heimkommen erleichtert. Besonders lohnenswert ist ein Besuch in Landshut zum alljährlich stattfindenden Stadtspektakel, einem Straßenfest mit Straßenkünstlern aus aller Welt.

Kulturtipps

RADELN An der Isar nach Landshut

Mehr Informationen unter www.badbrueckenau.com, T 09741 – 802-0 Infos über die Region unter www.rhoen.de

KARTENLESEN Mit offenen Karten auf Arte

Von Sandra Eberle, Beleuchtungsinspizientin und Mitarbeiterin im Künstlerischen Betriebsbüro

Informationen zum Isarradweg unter www.isarradweg.de Literaturcafé im Röcklturm, Isarpromenade 2, 84028 Landshut, T 0871 – 9 74 04 74, www.literaturcafe-landshut.de Infos zum Stadtspektakel unter www.stadtspektakel-landshut.de

BAD BRÜCKENAU München en miniature

Agenda

Von Susanne Ullmann, Presse- und Marketingreferentin des Bayerischen Staatsballetts Wenn der Frühling kommt, vor der BallettFestwoche, fahre ich nach Bad Brückenau und erlebe München en miniature. Das Bayerische Staatsbad in der Rhön war Sommerresidenz und zweiter Regierungssitz von Ludwig I. Rund 30 Mal war er dort und schrieb darüber: „Ruhe ist dem Menschen hier beschieden.“ Mit seinen Bauherren Gutensohn, Klenze und später Littmann schuf er eine Parklandschaft mit Regierungs-, Bade- und Logierhäusern, die in ihrer Anordnung und Architektur der Münchner Ludwigstraße, der Residenz

und dem Max-Joseph-Platz gleicht. Einzig – es gibt keinen Verkehr. In Bad Brückenau erfuhr Ludwig von seiner Thronfolge, traf sich mit Lola Montez zum Stelldichein. Später war Sisi zu Gast, wollte wiederkommen, brach dann aber zu ihrer verhängnisvollen Reise zum Genfer See auf. Vor dem König-Ludwig-Saal, einem der ersten neoklassizistischen Gebäude Deutschlands überhaupt und dem Nationaltheater höchst ähnlich, grüßt der einstige Herrscher die Flanierenden wie hier in München sein Vater Maximilian I. Im Saal spielt das Bayerische Kammerorchester auf, die Italienischen Nächte im Sommer sind europaweit bekannt. Drum herum haben die Schlossgärtner ihre kunstvollen Bepflanzungen angelegt, je nach Gunst der Frühlingssonne stehen diese bereits in voller Blüte. Man trinkt Wasser aus einer der fünf Heilquellen oder aber Wein, wegen der Nähe zu Hammelburg, dem ältesten Weinanbaugebiet Frankens. Wer weder auf Geschichte noch auf Natur übermäßig Wert legt, quartiert sich in Ludwigs Fürstenhof ein, lässt sich in einem der besten Spas Deutschlands verwöhnen und diniert später in dem Saal, in dem 1949 – Achtung! Geschichte! – Konrad Adenauer mit dem Ellwanger Kreis beschloss, dass unser Land Bundesrepublik Deutschland heißen möge.

Mit meinen häufig wechselnden Arbeitszeiten bin ich auf der Suche nach Konstanten, die nicht begrenzen, einen aber begleiten. Mein jüngstes Interesse gilt Landkarten. Das meint in diesem Fall eine TV-Sendung auf Arte mit Namen Le Dessous des cartes / Mit offenen Karten. Darin werden geopolitische und wirtschaftliche Zusammenhänge anhand von schematischem Kartenmaterial beschrieben. Landkarten werden zur Erläuterung internationaler Beziehungen verwendet. Jean-Christophe Victor, französischer Volkskundler, hat sich diesem Format seit den 1990er Jahren verschrieben und er schafft es auf erstaunliche Weise, die Karten zum Sprechen zu bringen. Die altertümlich wirkende Präsentationsform der Weltkarten ist irgendwie anrührend. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, das die Faszination der Sendung ausmacht: eine Einladung zum Spiel, zum Gedankenspiel. Le Dessous des cartes / Mit offenen Karten. Geopolitisches Magazin mit Jean-Christophe Victor. Arte, dienstags ca. 23:00 Uhr, Wiederholung samstags früher Nachmittag

Illustration Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche


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