MAX JOSEPH

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BAYERISCHE STAATSOPER

MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE 2011 №

4 2010 2011


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BAYERISCHE STAATSOPER UNFREI frei

Münchner Opernfestspiele 25.06.– 31.07.11 DANK AN

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GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE.


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Fotografie: Pierre Le Hors, firework studies, 2009

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Erst kürzlich haben Teenager unseres Jugendclubs für ihr Abschlussprojekt das Thema Freiheit gewählt – nicht wir, kein Pädagoge oder Dramaturg haben den Blick darauf gelenkt: Einzig aus ihnen heraus entstand das Bedürfnis, die Bedeutung des Begriffs für sie in kreative Prozesse zu leiten. Mich hat das ermutigt: Eine ganze Spielzeit haben wir unter die Leitbegriffe „unfrei frei“ gestellt. Politische, künstlerische und private Freiheitsfelder haben die vergangenen Ausgaben von MAX JOSEPH geprägt – und die Entwicklung etwa der Verfassungsdiskussion in Ungarn genauso wie die Debatte um die Ränder des Lebens bei Zeugung und Tod führen uns die Brisanz dieser Felder täglich vor Augen. Unsere Produktionen von Antonín Dvořáks Rusalka und Ludwig van Beethovens Fidelio haben diese Begriffe auf künstlerisch eindringliche Weise in packende Abende verwandelt und gezeigt, dass die Freiheit der Kunst ein hoher Wert unserer Gesellschaft ist. Die Kunst öffnet Perspektiven, lässt Bekanntes in neuem Licht erscheinen – zeigt die abgründig realistische Poesie eines Märchens wie Rusalka oder labyrinthische Reflexion über menschliche Hoffnung bei Fidelio. Und das Programm der diesjährigen Festspiele bietet alle Neuproduktionen der Saison und noch mehr: eine große Leistungsschau der Kunstform Oper in München. Anlässlich unserer Festspielpremiere von Olivier Messiaens Saint François d’Assise lenken wir in diesem Heft auch den Blick auf die Religion. Frido Mann geht der Frage nach, welche Wege neben den klassischen Kirchen heute Religion als Sinnstiftung überhaupt noch gehen kann – und in welche beengende Rahmen die institutionalisierte Religion über die Jahrhunderte ihr Wissen eingepfercht hat. Auch die Projekte unseres Pavillon 21 MINI Opera Space setzen in anderen Formen das Jahresthema fort. Die Festspielreden von Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, Bundestagspräsident Norbert Lammert sowie des Juristen und Politikers Leoluca Orlando umkreisen thematisch die Freiheitsfelder Maß, Macht und Mut. Und die Uraufführungen von Miroslav Srnkas Make No Noise und Undankbare Biester des ungarischen Ensembles Krétakör, die Jugendprojekte, die Fideliopiraten, Oper für alle – dank unseres langjährigen Partners BMW München bei freiem Eintritt – mit Fidelio weiten das Spektrum. Auf dem Marstallplatz hat sich der Festspielpavillon bereits als Ort der freien Kunstformate etabliert. In dieser Festspielausgabe von MAX JOSEPH, die dankenswerterweise von der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele großzügig unterstützt wird, finden all diese Themen Platz: Kent Nagano hat sich mit dem Franziskaner Pater Cornelius Bohl über den heiligen Franziskus ausgetauscht, die ritualisierte Kunst von Hermann Nitsch wird als künstlerischer Sonderweg vorgestellt, und Paulus Hochgatterer reflektiert die Unfreiheit von Kindern – aber auch Künstler wie Elmgreen & Dragset oder Pierre Le Hors haben ihren Platz gefunden. Wir hoffen auf einen intensiven Monat Juli mit Ihnen!

Nikolaus Bachler


№4 MAX JOSEPH

INHALT

48

DRAMATISCHES UNTER FREIEM HIMMEL Oper für alle am Max-Joseph-Platz

50

IM LICHTE DES LIEDS Pavol Breslik, Christian Gerhaher, Jonas Kaufmann und Michael Volle

FEUERWERK von Pierre le Hors

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EDITORIAL von Nikolaus Bachler

20

FREIE SINNFINDUNG DURCH RELIGION? Essay von Frido Mann

Bild: Eckart Hahn

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Festspielausgabe

Zum Cover: Der in London lebende Fotograf Luke Stephenson, steter Erforscher britischer Exzentrik, versammelt in der Serie Incomplete Dictionary of Show Birds Zuchtvögel, die ihren Haltern auf Leistungsschauen Preise gewinnen sollen. Für den tiefgläubigen Komponisten und Ornithologen Olivier Messiaen symbolisieren Vögel hingegen vor allem Freiheit. Ihr Gesang, den er in zahlreiche seiner Werke einfließen ließ, drückt für ihn Freude am Dasein aus und schafft eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, Mensch und Gott.

64

EINSICHT, ELEGANZ UND RAFFINESSE Anja Harteros über die Feldmarschallin

70 DAS MÄDCHEN, DAS SAND FRASS Paulus Hochgatterer über schreiende und stumme Kinder 78

PORTFOLIO Das Künstlerduo Elmgreen & Dragset zwischen Theater und Installation Filmstill: Elmgreen & Dragset

28

VON SCHÖNHEIT DURCHDRUNGEN Anlässlich der Premiere von Saint François d’Assise trifft GMD Kent Nagano den Franziskaner Pater Cornelius Bohl — PREMIERE

34

VOLKSFEST UND MYSTERIUM DER EXISTENZ Ein Besuch bei Hermann Nitsch — PREMIERE

42

ÜBERVÄTER UND REBELLIONEN Väter in Mozarts Opern Mitridate und Don Giovanni — PREMIERE

88

LIEBER GUTE ALS SCHÖNE MUSIK Ein Besuch in Prag bei Miroslav Srnka, Komponist der Uraufführung von Make No Noise — PREMIERE


INHALT

92

„WEINEN HILFT NIEMANDEM“ Jörg Böckem auf den Spuren einer Opernfigur — PREMIERE

118

IST FREIHEIT 1.000 FREUNDE PRO SEKUNDE? Schorsch Kamerun erkundet mit Jugend- lichen die Gegenwart

122

SCHWARZER SCHWAN – WEISSER SCHWAN Jörg von Brincken über tanzende Grenz­überschreitungen

100 ABENTEUER, SPIEL, RISIKO Árpád Schilling und sein ungarisches Ensemble Krétakör — PREMIERE 106

Festspielausgabe

Malerei: Karel Funk

129 Opern-Comic

„WENN ICH TANGO TANZE, LÄCHELT MEIN KÖRPER …“ Ein Tanz durch München anlässlich der Living Room Dancers

gezeichnet von Lucas Hasselmann

142 REISE NACH OUAGADOUGOU Baustellenbesuch in Christoph Schlingensiefs afrikanischem Operndorf 149 AGENDA 150 PLAKATSERIE DER SAISON 2010/11 162 KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE 2011 182 DIE PRODUKTIONEN DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE 2011 Fotografiert von Wilfried Hösl

Fotografie: Kuba Świetlik – Bich, Bauchtanz

209 SPIELPLAN 220 INTERVIEW MIT DIETER RAMPL Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele 225 ENGLISH EXCERPTS 232 SCHÖNE FERIEN! Urlaubstipps aus der Oper


PA RT N E R

DIE BÜRGERINNEN UND BÜRGER DES FREISTAATES BAYERN Spielzeitpartner

Hauptsponsoren BMW Niederlassung München – Opernfestspiele Dr. h.c. Irène Lejeune – Bayerisches Staatsballett MINI (BMW Group) – Pavillon 21 MINI Opera Space Sal. Oppenheim – Bayerisches Staatsorchester Projektsponsoren Audi AG Roland Berger Strategy Consultants BMW Niederlassung München Linde AG UniCredit Group Rudolf Wöhrl AG Premium Circle Atlantik Networxx AG, Audi AG, BayernLB, BayWa AG, Ludwig Beck AG, Roland Berger Strategy Consultants, LA BIOSTHETIQUE PARIS, BMW Group, BR-KLASSIK, Clifford Chance, EADS Deutschland GmbH, GE Central Europe, HERMES ARZNEIMITTEL GmbH, Knorr-Bremse AG, Linde AG, Linklaters LLP, Loyalty Partner GmbH, Merck Finck & Co, Privatbankiers, MINI (BMW Group), Munich Re, Von Roll Holding AG, Rudolf und Rosemarie Schels, Siemens AG, St.Galler Kantonalbank Deutschland AG, Stadtsparkasse München, Süddeutsche Zeitung, UBS Deutschland AG, UniCredit Group, Rudolf Wöhrl AG, Oliver Wyman Patron Circle Air Dolomiti, Baker & McKenzie, Bank Julius Bär Europe AG, Beck et al. Services GmbH, Blue Ribbon Partners, Willy Bogner, Bürklin OHG, Rolf und Caroli Dienst, EVISCO AG, Herbert und Claudia Graus, Marianne E. Haas, Dr. Peter und Iris Haller, Iris und Kurt Hegerich, Nikolaus und Ingrid Knauf, leasing.de AG, Gisela und Ulfried Maiborn, Zubin und Nancy Mehta, Riedel Holding GmbH & Co. KG, Dr. Schnell Chemie GmbH, TSBG GmbH, Dr. Susanne und Dr. Karl Heinz Weiss Inner Circle Marlene Ippen, Eugénie Rohde, Marion Schieferdecker, Susanne Wamsler, Swantje von Werz, Adelhaid Winterstein Ballet Circle Christa Haindl, Dr. Peter und Iris Haller, Dr. h.c. Irène und Erich J. Lejeune

Classic Circle Anjuta Aigner-Dünnwald, Axis Re Europe, Benoist & Company GmbH, Böhmler Einrichtungshaus GmbH, Chris und Veronika Brenninkmeyer, Hotel Cristal GmbH, Konsul Otto Eckart, Hans-Peter und Marian­ne Frericks, Katja und Matthias Geier, Goodrich, gr-consult gmbh, Dr. h. c. Rudolf und Angelika Gröger, Christa B. Güntermann, Hannover Leasing GmbH & Co. KG, Herrenbach Apotheke, Hofbräu München, Oliver Holy, Howrey LLP, Dorothea und Hans Huber, Dirk und Marlene Ippen, Sir Peter Jonas, Feinkost Käfer Verwaltungs- und Beteiligungs KG Michael Käfer, Wolf-Otto und Renate Kranzbühler, Klaus Josef und Martina Lutz, Dr. Joachim und Annedore Maiwald, Prof. Dipl.-Ing. Georg Nemetschek, nova reisen GmbH, Oberbank AG, Dr. Leonhard und Gertrud Obermeyer, Orpheus Opernreisen, Franz und Katharina von Perfall, Peters, Schönberger & Partner, Dr. Helmut Röschinger, Schaeffler Holding GmbH & Co. KG, Christian Schottenhamel, Dr. Stefan Schulz-Dornburg, Dr. Jürgen und Dr. Elisabeth Staude, Juana und Otto Steinmetz, Dr. Martin und Eva Steinmeyer, Süd-Chemie AG, Prof. Dr. Dr. h. c. Klaus Volk, Wacker Chemie AG, Marianne Waldenmaier, Juwelier Wempe, Familie Wickenhäuser, Wirsing Hass Meinhold, Xenium AG Campus Circle Erika Kaufmann u. Rolf und Caroli Dienst, Vera und Volker Doppelfeld Stiftung, Dr. Joachim Feldges, Wilhelm von Finck Stiftung, Iris und Kurt Hegerich, Dirk und Marlene Ippen, Marco Janezic, Klaus Luft Stiftung, Hildegard Manchot, Silke und Klaus Murmann, nova reisen GmbH, Eugénie Rohde, Dr. Helmut Röschinger, Dr. Kurt und Chiona Schwarz, Dr. Jürgen und Dr. Elisabeth Staude, Dr. Martin und Eva Steinmeyer, Susanne Wamsler, Georg und Swantje von Werz Förderer Campus Freunde Freunde des Nationaltheaters München e.V. Freunde und Förderer der Musika­lischen Akademie des Bayerischen Staatsorchesters e.V. Freundeskreis des Bayerischen Staatsballetts Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opern­festspiele e.V. Die Bayerische Staatsoper bedankt sich bei ihren Partnern für die großzügige finanzielle Unterstützung und das damit verbundene kulturelle Engagement. Wir freuen uns, dass sich unser Partnerprogramm in den letzten Spielzeiten so erfolgreich entwickelt hat, und möchten auch Sie ermutigen, die Vorteile einer solchen Partnerschaft zu nutzen. Informieren Sie sich unter: Development – Maurice Lausberg, Melanie Firley 014 T 089 – 21 85 10 16 014 development@st-oper.bayern.de


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FE STSPIEL-FÖRDERER

Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele

SCHIRMHERR Der Bayerische Ministerpräsident

Die Geschichte der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele reicht zurück bis ins Jahr 1958. Damals ­begann der Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Münchner Nationaltheaters. Im gleichen Jahr, am 11. April 1958, gründeten mehrere Einzelpersönlichkeiten und Unternehmen die Gesellschaft. Sie vereint derzeit 400 Opernfreunde in dem ­Gedanken, dass die Münchner Opernfestspiele nicht nur ein hochkultureller „Event“ für wenige sind, sondern auch vom Bewusstsein der Allgemeinheit getragen werden sollen. Dafür setzt sich die Gesellschaft sowohl ideell wie gesellschaftlich, publizistisch und, nicht zuletzt, finanziell ein. In ihren Gremien sind Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vertreten, die beispielgebend die mäzenatische Grundeinstellung der Gesellschaft verkörpern und aktiv nach außen tragen. Mit den gesammelten Spenden und Mitgliedsbeiträgen (steuerlich absetzbar) fördert die Gesellschaft gezielt Neupro­duk­t­ion­en der Bayerischen Staatsoper und andere künstlerische Projekte.

EHRENPRÄSIDIUM Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst Der Bayerische Staatsminister der Finanzen Der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie Der ehemalige Vorsitzende der Gesellschaft, Dr. Ing. Dieter Soltmann

EHRENVORSITZENDER Erhardt D. Stiebner Vorsitzender des Aufsichtsrats der F. Bruckmann GmbH & Co. KG

VORSTAND Dieter Rampl, 1. Vorsitzender Vorsitzender des Verwaltungsrats UniCredit SpA Gregor Vogelsang, 2. Vorsitzender COO/Geschäftsführer Burda Magazine Holding Dr. Wolfgang Sprißler, Schatzmeister Stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der UniCredit Bank AG Friedgard Halter, Schriftführerin und gesch.führendes Vorstandsmitglied Dr. Ingo Riedel Vorsitzender der Geschäftsführung der Riedel Holding GmbH & Co. KG Dr. Jörg D. Stiebner Geschäftsführender Gesellschafter der Stiebner Verlag GmbH Axel Bartelt Ministerialdirigent Leiter der Protokollabteilung Bayerische Staatskanzlei Toni Schmid Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Nikolaus Bachler Staatsintendant der Bayerischen Staatsoper

Gesellschaftlicher Höhepunkt des Vereinslebens ist der Staats­empfang zur Eröffnung der Opernfestspiele. Die Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele ist zusammen mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Gast­­ geber dieses außergewöhnlichen Ereignisses in den Räumen der Münchner Residenz. Eine weitere Möglichkeit zu Information und freundschaftlichem Miteinander bietet die jährliche Mitgliederversammlung, bei der die Mitglieder vom Inten­­danten der Staatsoper höchstpersönlich über Programm und Pläne seines Hauses informiert werden. 1965 wurde erstmals der Festspielpreis verliehen. Die ­Gesellschaft will damit Persönlichkeiten des Münchner Opern­­lebens auf und hinter der Bühne auszeichnen, die sich besonders um die Festspiele verdient gemacht haben. Der Preis ist derzeit mit 20.000 Euro dotiert und zu einer Tradition geworden. Eine lange Tradition hat auch die jährlich herausgegebene Festspielpublikation. Nähere Infos erhältlich über die Geschäftsstelle der Gesellschaft (T 089 – 37 82 46 47) oder unter www.opernfestspielgesellschaft-muenchen.de.

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FE STSPIEL-FÖRDERER

KURATORIUM Prof. Dr. Clemens Börsig, Vorsitzender Vorsitzender des Aufsichtsrats der Deutschen Bank AG Dr. Karl-Hermann Baumann Karin Berger Hanns-Jörg Dürrmeier Prof. Dr. Kurt Faltlhauser Staatsminister a. D. Hartmut Geldmacher Mitglied des Vorstands der E.ON Energie AG Olga Haindl Franz Haniel Dr. Walter Hohlefelder Marlene Ippen Dr. Klaus von Lindeiner-Wildau Dr. Stefan Lippe CEO SwissRe Dr. Helmut Röschinger Geschäftsführender Gesellschafter Argenta GmbH Maria -Elisabeth Schaeffler Gesellschafterin der INA Holding Schaeffler GmbH & Co. KG Dr. Georg Graf von Schall-Riaucour Michael Schneider Vorstandsvorsitzender der LfA Förderbank Bayern Jeanette Scholz Dr. Henning Schulte-Noelle Vorsitzender des Aufsichtsrats Allianz SE Prof. Dr. Wilhelm Simson Mitglied des Aufsichtsrats E.ON AG Manfred Wutzlhofer Senior Representative Messe München GmbH

Nachstehende Persönlichkeiten und Firmen unterstützen als fördernde Mitglieder die Arbeit der Gesellschaft in besonderem Maße: Christian Bahner Erben Joachim Bringfried Brunckhorst und Frau I. Julia Gerhard Crones-Richter Rosemarie Dieterich Jan Geldmacher Dr. Altrud Ute Gottauf Olga Haindl Marlene Ippen Dr. Werner Köllner und Frau Ursula Doris Kuffler Nina Kummerfeldt Dr. Klaus von Lindeiner-Wildau Dieter Lissmann Markus Pertl, Frau Susanne Pertl Dr. Margret Rembold Dr. Christine Reuschel-Czermak Dr. Helmut Röschinger Marianne Schaefer Dr. Friedrich K. Schieferdecker Dr. Matthias Schüppen Dr. Roland Schulz Prof. Dr. Wilhelm Simson Notare Walter Singer und Dr. Peter Anton Dr. Ing. Dieter Soltmann, Frau Ursula Soltmann Ursula Steiner-Riepl Ingeborg Tewaag Gregor Vogelsang Christine Volkmann Swantje von Werz Dr. Manfred-Martin Wilhelm Allianz SE APRIL Financial Services AG BayernLB BMW AG Commerzbank AG Deutsche Bank AG EADS Deutschland GmbH E.ON Energie AG Fürst Fugger Privatbank KG Kunert Holding GmbH & Co. KG LBS Bayerische Landesbausparkasse LFA Förderbank Bayern LHI Leasing GmbH Molkerei Meggle Wasserburg GmbH & Co. KG Messe München GmbH Riedel Holding GmbH & Co. KG SKF GmbH Swiss RE Europe S.A. UniCredit Bank AG Wacker-Chemie AG 017 ZU-Stiftung 017


CONTRIBUTO RS

IM PRE S S U M MAX JOSEPH Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 www.staatsoper.de

Gesamtkoordination Redaktion Christoph Koch Redaktion Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek, Olaf A. Schmitt, Andrea Schönhofer, Bettina Wagner-Bergelt Bildredaktion Yvonne Gebauer, Julia Schmitt Gestaltung Bureau Mirko Borsche Mirko Borsche, Johannes von Gross, Reinhard Schmidt, Fabian Beier Autoren Calixto Bieito, Jörg Böckem, Jörg von Brincken, Paul Gay, Norbert Graf, Miron Hakenbeck, Falko Harold, Manuela Hartel, Verena Hein, Paulus Hochgatterer, Tamás Jászay, Schorsch Kamerun, Rainer Karlitschek, Kilian Kirchgeßner, Martin Kušej, Herbert Lachmayer, Karsten Löckemann, Frido Mann, Hermann Nitsch, Barbara K. Off, Kristīne Opolais, Anja Salewsky, Olaf A. Schmitt, Almuth Spiegler, Margit Uber Fotografen & Illustratoren Heinz Cibulka, Elmgreen & Dragset, Karel Funk, Friederike Gross, Eckart Hahn, Hubertus Hamm, Lucas Hasselmann, Pierre Le Hors, Wilfried Hösl, Berto Martínez, Julie Morstad, Barbara K. Off, Barbara Ott, Jaume Plensa, Christodoulos Panayiotou, Máté Tóth Ridovics (Krétakör), Nico Serda, Chiharu Shiota, Luke Stephenson, Kuba Świetlik, Tobias Zielony Fotos Künstlerporträts Dario Acosta, Sussie Ahlburg, Yann Amstutz, Barbara Aumüller, Nomi Baumgartner, Michel Bo Michel, Marco Borggreve, Mathias Bothor, Felix Broede, Manu Burghart, Sim Canetti-Clarke, Emanuele Cremaschi, Thomas Dashuber, Benjamin Ealovega, Fabrizio Fenucci, Kristin Hoebermann, Anne Hoffmann, Michael Hörnschemeyer, Wilfried Hösl, Anna Hult, Johannes Ifkovits, Sascha Kletzsch, Larry Lapidus, Youri Lenquette, Barbara Luisi, Hans Jörg Michel, Kat Mistelbach, New Publicity, Juraj Novak, Elisabeth Novy, Stefan Okolowicz, Kurt Pinter, Monika Rittershaus, Karin Rocholl, Teatre Roma, David Ruano, Keith Saunders, Schenk, Marco Sittig, Stage Door, Christian Steiner, Bettina Stössl, Nikolaus Strauss, Jakub Swietlik, Manu Theobald, J. Thomas Fotografie, Toepffer, Virgin Classics, Tatiana Vlasova, Uli Webber, Tilbert Weigl, Alexandre Weinberger, Reinhard Werner, Henk Wittinghofer Übersetzung Florian Heurich, Laura Schieferle, Éva Zádor Marketing Laura Schieferle T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33 marketing@st-oper.bayern.de Schlussredaktion Dr. Christiane Fritsche Anzeigenleitung Bayerische Staatsoper: Imogen Lenhart T 089 – 21 85 10 06 / anzeigen@st-oper.bayern.de Doris Bielstein T 040 – 27 17 20 95 / doris.bielstein@jalag.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck Gotteswinter, München issn 1867-3260 Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Alle

lten.

Eckart Hahn Seite 20 „Ich habe irgendwann selber überrascht festgestellt, dass meine Arbeit in vielen Facetten um die Frage nach dem Geistigen, vielleicht auch Religiösen, kreist. Die Gretchenfrage habe ich für mich selber noch nicht hinreichend beantworten können“, sagt Eckart Hahn, der über den Umweg eines Grafikdesign-Studiums zur bildenden Kunst fand, über sein Werk. Zu Frido Manns Essay steuert der 1971 in Freiburg geborene Künstler Arbeiten bei, die Religion und das Verschwinden derselbigen aus der Gesellschaft behandeln. Ab S. 20.

Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.)

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Frido Mann Seite 20 Frido Mann studierte Musik, katholische Theologie sowie Psychologie. Danach arbeitete er als Psychologe und erhielt schließlich eine Professur für Psychologie in Münster. Dort leitete er das Institut für Medizinische Psychologie. Sein Romandebüt war Professor Parsifal, es folgten mehrere Veröffentlichungen, darunter Babylon und die Autobiografie Achterbahn. Für MAX JOSEPH schreibt Mann einen Essay unter dem Titel „Freie Sinnfindung durch Religion?“ Ab S. 20.

E-Mail maxjoseph@st-oper.bayern.de

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Lucas Hasselmann Seite 129 Die Leidenschaft für das Zeichnen entdeckte der Illustrator Lucas Hasselmann in der afrikanischen Sammlung des Ethnologischen Museums in Berlin, die bis heute seinen Stil nachhaltig beeinflusst. Seine skurrilen Charaktere und Figuren fin­den sich nicht nur auf Postern, sondern auch in Spielen für soziale Netzwerke wie Facebook. Für die Festspielausgabe von MAX JOSEPH zeichnete Hasselmann einen Comic zu Wagners Oper Tristan und Isolde, die Ende Juli auf die Bühne des Nationaltheaters zurückkehrt. Ab S. 129.

Tamás Jászay Seite 100 Tamás Jászay ist in Ungarn lebender Theaterkritiker, Redakteur und Dozent. Er ist Vorstandsmitglied der ungarischen Sektion der Internationalen Vereinigung der Theaterkritiker und Redakteur des TheaterkritikPortals Revizor. Er unterrichtet an der Universität Kaposvár Theatertheorie für Schauspieler. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation, deren Thema die Geschichte des Ensembles Krétakör Színház ist. Für MAX JOSEPH besuchte Jászay dieses Ensemble und den ungarischen Regisseur Árpád Schilling bei den Proben zur Uraufführung von Undank­ bare Biester. Ab S. 100.

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Almuth Spiegler Seite 34 Die 1976 geborene Wienerin studierte Kunstgeschichte und schrieb ihre Diplomarbeit über die Rolle der Frauen im Wiener Aktionismus. Seit 2001 ist sie Kunstkritikerin bei der Tages­ zeitung Die Presse, mit besonderem Schwerpunkt auf zeitgenössische Kunst, und Korrespondentin für Art – Das Kunstmagazin. Für MAX JOSEPH besuchte Spiegler den Künstler Hermann Nitsch auf seinem Schloss und erforschte die Faszination des orgien mysterien theaters des großen Vertreters des Wiener Aktionismus. Ab S. 34.

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Jaume Plensa Seite 42 Der Bildhauer Jaume Plensa lebt und arbeitet zwischen Barcelona, Berlin, Brüssel, England, Frankreich und den USA. Seine Werke sind in zahlreichen internationalen Museen und Galerien ausgestellt und wurden mit Preisen ausgezeichnet. Nach den ursprünglichen Arbeiten mit Bronze wurden die Elemente des Lichts, Videos und Textes immer wichtigere Bestandteile seiner Installationen. In den letzten Jahren arbeitete er mehrmals als Kostüm- und Bühnenbildner in Opern- und Theaterproduktionen. Eine Auswahl seiner Arbeiten findet sich in dieser Ausgabe von MAX JOSEPH. Ab S. 42.


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E S SAY

von Frido Mann

Bilder Eckart Hahn

FREIE SINNFINDUNG DURCH R E L I G I O N ?


ENGLIS H

EXCERPT

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225

Gibt es andere Quellen der Wert- und Sinnfindung außerhalb des offenbarten Kanons der großen Weltreligionen und Kirchen? Frido Mann hat sich auf Spurensuche begeben und findet aufregende Ansätze schon bei Galileo Galilei oder Franziskus von Assisi. Er plädiert für eine gleichberechtigte Betrachtung von Religion, Natur und Kunst als Quelle menschlicher Sinnerfahrung. zeitweise auch in der Unterdrückung, Verfolgung und Repression der Andersdenkenden, ja in regelrechten Massakern ausartete. Dabei vermischten sich in diesen Konflikten die religiösen Motive oft auch mit handfesten wirtschaftlichen Interessen. Diese fernöstlichen Beispiele für eine Pervertierung spiritueller Ursprünge sind jedoch nicht vergleichbar mit der sich durch viele Jahrhunderte ziehenden Blutspur der grausamen Religionskriege zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie mit den sich über einen ähnlichen Zeitraum erstreckenden Massenhinrichtungen von „Ketzern“ und „Hexen“ innerhalb der eigenen Reihen. Dass auch die Lehre und Praxis des Buddhismus von den gesellschaftlichen Strukturen seiner Entstehungszeit mit geprägt ist, zeigt uns beispielsweise die auch dort immer noch zumindest unterschwellig herrschende untergeordnete Stellung der Frau. Dennoch zeichnen sich die Lehr- und Gefühlsinhalte des Buddhismus nach wie vor überwiegend aus durch Toleranz, Gewaltlosigkeit und Pazifismus, durch vernunftbetonte Eigenverantwortung und durch Verzicht auf die Annahme eines persönlichen Gottes. Es gibt dort ebenso wenig kultisch verehrte VaterauWie steht es nun diesbezüglich um die große Bandtoritäten wie eine Kontrolle von Sittengesetzen oder breite der wichtigsten uns bekannten Weltreligionen? Straffantasien über Höllenvorstellungen. Dazu passt auch der Verzicht auf Ausschließlichkeit der buddhistischen Mehr oder weniger allen großen Religionen gemeinsam in Heilslehre, die ausdrücklich die gleichzeitige Zugehörigihrer bisherigen Geschichte ist, dass in dem Maße sie in eikeit zu anderen Religionen erlaubt. Deutlich anders gearner Massenbewegung institutionelle Formen annahmen, sie tet sind die innerhalb der ständischen Gesellschaftssich von ihrer ursprünglichen, charismatischen Erfahrungsordnung des nahöstlich-arabischen Raumes geborenen, grundlage weg zu einem Machtapparat entwickelten und ihr ursprüngliches Credo zu Lehrsätzen und sanktionierten Geso­genannten abrahamischen oder prophetischen Religiosetzesvorschriften verdinglichten. Trotzdem gibt es, je nach nen Judentum, Christentum und ­Islam, alle mit einem Geschichtsepoche und Ort ihrer Entstehung und dem dort Ein-Gott als Gesetzgeber und Vermittler von Lohn (Himgerade herrschenden Weltbild, große Unterschiede. Es wäre mel) und Strafe (ewige Verdammnis) sowie einem Ausersicher eine Illusion zu glauben, die weit in vorchristlicher wählungs- und Exklusivitätsanspruch, mit dem sich diese Zeit entstandenen fernöstlichen Religionen hätten sich aufReligionen grundsätzlich sowohl voneinander als auch grund ihres Bekenntnisses zu Eigenverantwortung und zu von allen anderen Weltanschauungen abgrenzen. Die in vernunftbetonter Sinnfindung durchgehend nur durch Toleder Autorität Gottes handelnden Vorsteher beziehungsranz, Flexibilität und Weitsicht ausgezeichnet. Es gibt deutweise Verkünder und Glaubens- und Sittenwächter sind liche Hinweise darauf, dass es bereits in der Frühphase etwa hierarchisch gegliedert, vom einfachen Priester, Rabbi des Buddhismus verschiedene miteinander rivalisierende oder Mullah, von Rang zu Rang immer höher, in der röSchulen gab, die in diversen Konzilen nicht auf eine einheitmisch-katholischen Kirche bis zum Papst oder Pontifex liche Linie zurückgebracht werden konnten, und dass die Maximus mit dem Anspruch, authentischer Nachfolger Konkurrenz zwischen verschiedenen kämpferisch gestimm- 021 und Stellvertreter Jesu Christi, ja sogar Stellvertreter ten Ordensgemeinschaften etwa in Japan oder Sri Lanka 021 Gottes zu sein. Dass der Mensch über sein Leben nicht vollständig selber bestimmen kann und dass dieses Leben auch durch vorgegebene Notwendigkeiten und Zwänge fremdbestimmt ist, ist eine Binsenweisheit. Diese Begrenzung von Freiheit beziehungsweise Selbstbestimmung gilt auch für jeden Versuch einer begrifflich-kategorialen Fixierung religiöser Erfahrungen. Diese Art begrifflicher Fixierungen ist für das eigene Verständnis sowie für eine Vermittlung an andere bis zu einem gewissen Grad notwendig. Je stärker sich jedoch ein solcher Kategorisierungsprozess im Lauf von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden zu institutionell sanktionierten dogmatischen Glaubenslehrsätzen sowie moralischen und ­liturgischen Vorschriften einer Kircheninstitution verfestigt und je größer das Angebot beziehungsweise die Vorgabe an Lehrinhalten und Vorschriften wird, desto größer ist die Versuchung, den vorformulierten Wahrheiten unreflektiert zu folgen und sie, was noch schlimmer ist, für ausschließlich und absolut gültig zu deklarieren. Umso geringer wird dann auch der innere Antrieb zu einer Sinnfindung aus eigener persönlicher Motivation sein.


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FRID O

MANN

beiden Briefen gegen die Auffassung, die Bibel sei, zusätzlich zu ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung, auch ein astronomisches Lehrbuch oder gar eine naturwissenschaftliche Beurteilungsinstanz. Galilei unterschied dabei zum ersten Mal zwischen der göttlichen Botschaft durch das Wort Gottes in der biblischen Offenbarung und der göttlichen Botschaft in der Schöpfung im „Buch der Natur“ und er bezeichnete beides als zwei Aspekte der einen großen, göttlichen Wahrheit. Dies ähnelt der schon Jahrhunderte vorher zum Ausdruck gebrachten Grundeinstellung von Franziskus von Assisi. Sein an Psalm 148 angelehnter, mystisch-poetischer Sonnengesang erinnert nicht nur an die Licht- und Liebesmetaphysik der muslimischen Mystik der Sufi, sondern auch an die buddhistische Lehre von der Bewusstseinserhellung und vom liebenden Mitgefühl für die ganze Kreatur. Dass Galilei nicht nur ein Wissenschaftler war, sondern in seinen Schriften immer auch als religiös überzeugter und fundierter Kenner der christlich-theologischen Tradition auftrat, gehört zu den bekannteren Aspekten seiner Biografie. Sehr viel weniger geläufig ist, dass Galilei in seiner Zeit als Jugendlicher im Kloster die Kunst des Malens, Dichtens und Orgelspiels erlernte und dass er auch später seine Himmelsbeobachtungen mit dem Fernrohr zeichnerisch präzise und künstlerisch ansprechend wiedergab. Umso verständlicher wäre es daher gewesen, wenn ­Galilei zusätzlich zur Heiligen Schrift und zur Natur auch das „Buch der Kunst“ („Buch der Kultur“) Der Hauptgrund für den heutigen Kirchenmitgliederschwund als Quelle göttlicher Offenbarung einer übergeordneten ist weniger, dass die betreffenden Kirchen in der Praxis imSinnwahrheit bezeichnet hätte, was er jedoch nie tat. Aber mer wieder ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden allein schon seine Erweiterung des Offenbarungsbegriffs aus (Beispiel heutiger Kindesmissbrauch durch zölibatäre Geisteiner jahrtausendealten, zeitgebundenen und in alle Ewigliche), sondern dass ihre Botschaft im Lauf von Jahrhunkeit kanonisierten „heiligen“ Schrift heraus in eine gegenderten immer lebensferner geworden ist, von Machtstreben wärtige, lebendige und immer weiter wandelbare Naturerüberformt wurde und daher immer mehr an Überzeugungsfahrung bereits im frühen 17. Jahrhundert war kultur- und kraft verliert. Ein entscheidender historischer Einschnitt religionsgeschichtlich ein neuer, wichtiger Schritt. Diese Erwaren die astronomisch-astrophysikalischen Entdeckunweiterung brachte zugleich auch eine Verlebendigung und gen durch Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und vor Demokratisierung des Offenbarungsbegriffs mit sich. Denn allem Galileo Galilei, die nicht mehr in das aus der Antike bei diesem Verständnis von Offenbarung bedeutet Glaube stammende, geozentrische und anthropozentrische Weltbild nicht mehr primär die vertrauensvolle Übernahme oder der Kirche mit ihrer Einordnung unserer Erde in ein fest Hinnahme einer einzig kompetent von der Institution Kirgefügtes Himmelszelt mit in festen Schalen eingefügten Fixche und von theologischen Gelehrten über Jahrtausende sternen passten und deshalb von der Kirche erbittert beinterpretierten Überlieferung fremder und zeitlich weit zurückliegender Erfahrungen. Er wandelt sich vielmehr zu eikämpft wurden. Maßgeblich für das neu gewonnene Weltver­ ner immer wieder neuen, lebendigen, durch Raum und Zeit ständnis war weniger die Umkehrung des Dreh­­­verhältnisses veränderbaren, individuell selbstbestimmten, wenngleich zwischen Sonne und Erde, als vor allem die milliardenfache durchaus auch kollektiv oder gar institutionell kommuniErweiterung des Universums, in welchem unsere Erde, nach zierbaren Erfahrung. Gewiss betonen alle Religionen den immer weiteren Entdeckungen bis ins 21. Jahrhundert hi­ Wert der persönlichen Erfahrung. In den monotheistischen nein, schließlich zu einem von Milliarden von SonnensysteReligionen wird diese jedoch immer a priori durch die Vormen innerhalb wieder von Milliarden ganzer Milchstraßen gabe von vor langer Zeit offenbarten und dann kanonisierumgebenen, willkürlich irgendwo kreisenden Staubpartikelten Lehrinhalten und Vorschriften eingeschränkt. Ein chen zusammenschrumpfte. Grenzfall sind die mystischen Bewegungen jener Religionen. Aber auch hier vollziehen sich, gleich ob es sich um jüAls sich der Konflikt zwischen Galileo Galilei und der römidische, christliche oder muslimische Mystik handelt, noch so schen Kirche anbahnte, äußerte Galilei in seinen zwei beintensive Erweckungs- und Erleuchtungserlebnisse immer rühmtesten Briefen – geschrieben 1613 an den Benediktiner auf der festen Grundlage offenbarter Glaubensartikel. Und Benedetto Castelli und 1615 an die Großherzogin von Toskana, Christine von Lothringen – einen theologisch bemer- 023 die Geschichte sowohl des Christentums als auch des Islams kenswerten und neuartigen Gedanken. Er wandte sich in 023 zeigt, dass dort, wo zumindest angeblich jene vorgegebene Die gegenwärtigen Massenaustritte aus allen christlichen Kirchen vor allem in Europa machen deutlich, wie stark heute das Bedürfnis ausgeprägt ist, sich aus religiöser Bevormundung zu befreien. Die Alternative ist entweder der Wechsel in eine der vielen kleinen Religionsgemeinschaften oder religiösen Sekten, wie dies der enorme Zulauf dorthin vor allem auf dem amerikanischen Kontinent zeigt, oder aber der Rückzug in religiöse Indifferenz oder Gegnerschaft oder in eine private Frömmigkeit. In unserer von Hunger, Kriegen und Umweltzerstörung bedrohten, überindustrialisierten und von geistiger Orientierung und Verantwortungsbereitschaft ausgehöhlten Welt verspüren immer mehr Men­schen ein dringendes Bedürfnis nach innerer Sinnfindung und nach einem Grundvertrauen. Deshalb bleibt für viele die in den verschiedenen heiligen Schriften niedergelegte und von den dazugehörigen religiösen Institutionen tradierte Grundbotschaft der Liebe, des Mitgefühls, des inneren Lichts und der Demut mit der Aufforderung zu karitativem Handeln immer noch überzeugend. Auch von der Kirche abgewandte Menschen greifen gelegentlich gern nach diesen Schriften und besuchen dann und wann eine religiöse Kultstätte oder suchen das religiöse Gespräch. Die Beschränkung allein auf rein religiöse Impulse als Quelle für eine innere Sinnfindung wird heute allerdings immer seltener. Welche Alternativen gibt es zu einer rein religiösen Sinnfindung?


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Umzäunung verlassen wurde, diese Bewegungen von der offiziellen Institution gewaltsam bis zu ihrer Ausschaltung verfolgt wurden. Wieder etwas anders verhält es sich mit der Mystik der fernöstlichen Religionen. Hier steht angesichts der sehr viel weniger fixierten Vorgaben die Eigenverantwortung des Einzelnen stärker im Mittelpunkt und lässt ihm im Prozess der Meditation und Kontemplation sehr viel mehr Raum. Die Frage lautet also grundsätzlich: Muss Offenbarung im herkömmlichen Sinn beschränkt bleiben auf die schriftlich fixierten und institutionell kanonisierten Zeugnisse jahrtausendealter, religiöser Fremderfahrungen? Oder darf sie – im Sinne des Vordenkers Galileo Galilei – erweitert werden auf neue, individuelle oder kollektive Erfahrungen im profanen Bereich der Naturwahrnehmung und des Kultur- und Kunsterlebens, wenn wie Wunder anmutende und das verstandesmäßige Begreifen überschreitende, existenzielle Tiefenerfahrungen in allen Bereichen seines Alltags, auch im persönlichsten, zwischenmenschlichen Bereich, dem Menschen dessen Vergänglichkeit und Begrenztheit vor Augen führen und ihm einen Lebenssinn und neues Grundvertrauen vermitteln können? Und wenn ja, können dann diese Offenbarungsvorgänge im Natur- und im Kulturbereich mit den überlieferten religiösen Offenbarungstexten in eine neue, lebendige Wechselwirkung treten? Das heißt: Kann derjenige, der – allein oder im menschlichen Miteinander – einen neuen lebendigen, sinnerfüllten Blick für die Gegebenheiten der Natur gewinnt oder wer Entsprechendes im Bereich der Musik, der Literatur oder der bildenden Kunst erfährt, auch umgekehrt einen neuen, lebendigen erfahrungs- und erlebnisorientierten Blick für die Inhalte der bib­ lischen Offenbarung gewinnen? Kann er unter Umständen die eine oder andere Geschichte aus dem Alten und dem Neuen Testament oder dem Koran aus der Sicht seines ­Natur- oder Kunsterlebens neu lesen und einen neuen ­Zu­­gang zu ihr finden, der ihm angesichts der oft abgestandenen Interpretationen kirchlich-theologischer Sonntagsprediger bisher verstellt gewesen war? Wenn wir die wenigen Zeugnisse einer Lobpreisung der göttlichen Schöpfung als Ganzer in den Glaubenszeugnissen der kanonisierten Offenbarungsschriften der drei monotheistischen Religionen betrachten (besonders Psalm 148 und Psalm 104 im Alten Testament oder auch die wortgewaltige Sure 55 im Koran), können diese bei uns durchaus neue ­Impulse für eine authentisch empfundene Ehrfurcht vor der Natur wecken, falls wir diese Texte unvoreingenommen und kirchlich-theologisch ungefiltert lesen. Wir können aber auch in der Natur selbst – ohne Bibelstudium oder religiöse Unterweisung – die Ehrfurcht einflößende, wunderhafte Größe der Natur erfahren, sei es als Werk der Schöpfung durch einen persönlichen Gott, sei es als von einer kosmischen, ordnenden Kraft durchdrungen oder sonst wie sinnhaft begründet. In jedem dieser Fälle dürfen wir annehmen, 025 dass der Wille, unsere von Menschenhand bedrohte Natur 025 zu beschützen und zu bewahren, nach einer solchen Erfah-


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tegorie der Beschreibung mit der andersartigen Kategorie des Verstehens zu ­ergänzen. Dieses Verstehenwollen wird stark dadurch gefördert, dass sich insbesondere Physiker, trotz einer ständig zunehmenden Menge an deskriptiven Fakten beziehungsweise Informationen, in heilsamer Weise der Grenzen ihres Wissens und der tödlichen Gefahren ihres Missbrauchs bewusst werden.

rung nicht nur „opportunistisch“ auf eine Angst vor Umweltkatastrophen zurückgeht. Der primäre Impuls dazu erfolgt vielmehr aus einer aus unserem Inneren heraus entspringenden authentischen Liebe zur Natur, gewonnen durch versenkendes, erlebnisorientiertes Lesen in Galileis „Buch der Natur“ – in der spontanen Begegnung mit ihr oder durch wissenschaftliche Beschäftigung damit. In diesem Fall ist der Aufruf zum Schutz unserer Natur die Folge und Wirkung einer lebendigen transzendenten Erfahrung. Man betrachte beispielsweise das durch ihr globales Verantwortungsbewusstsein und einen inneren Lebenssinn motivierte Engagement einer ganzen Gruppe heutiger Astronauten für den Umweltschutz nach ihren aufrüttelnden Entdeckungen des ökologisch katastrophalen Zustands bestimmter Regionen unserer Erde aus der Weltall-Perspektive. Oder man denke an die religiösen Bekenntnisse heutiger Astrophysiker als Folge ihres Ringens um ein Verstehen der Grundstruktur des Universums. In der Regel kennen Naturwissenschaftler die Grenzen ihrer Kompetenz sehr genau und beschränken ihre Aussagen streng auf ihren inhaltlich und begrifflich vorgegebenen Forschungsbereich, auch wenn die Wahl und die genaue Definition wissenschaftlicher Begriffe meistens durch vorwissenschaftliche Anschauungen und Fragestellungen vorgeprägt sind. Trotzdem gehört jedes Grübeln, jede Skepsis oder jedes ahnungsvolle Staunen, welches bestimmte ­Erkenntnisse einem Wissenschaftler abgewinnen können, grundsätzlich nicht mehr in die Domäne ihrer empirischen Forschung. Sie sind der Versuch, die Ka-

Das über eine Sinnfindung durch Naturwahrnehmung Gesagte lässt sich entsprechend auch für „Entrückungserfahrungen“ im Bereich des Kunsterlebens und Kunstschaffens sagen. Nach den bisherigen Erörterungen sollten Religion, Kultur (Kunst) und Natur drei gleichberechtigte Quellen einer Werte- und Sinnfindung sein. In einer ideologischen Vielfalt von heute nicht nur zwischen, sondern auch außerhalb der Religionen kann ohne Brücken und ohne gemeinsame Nenner zwischen den verschiedenen Wegen zu einer Sinnfindung keine friedliche Verständigung stattfinden. Ein wie auch immer gearteter Lebenssinn und eine daraus folgende Einstellung von Ehrfurcht, Mitgefühl und Verantwortung dem menschlichen und nichtmenschlichen Leben gegenüber mit ihren daraus ableitbaren ethischen Prinzipien gehört zum Grundbestand unseres Zusammenlebens und Überlebens auf unserem Planeten. Mehr über den Autor auf S. 18 (Contributors) S. 22, Light, 2008, Acryl auf Leinwand, 50 x 30 cm S. 24, Feuer, 2009, Acryl auf Leinwand, 170 x 230 cm S. 26, Hachez, 2010

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ME SSIAEN

Das Gespräch führten Miron Hakenbeck und Rainer Karlitschek. Mehr zu Olivier Messiaen und Franziskus von Assisi:

Premiere Saint François d’Assise

OLIVIER

Messiaen-Zyklus in der Universitätskirche St. Ludwig, Ludwigstr. 23 Stephan Heuberger, Orgel Samstag, 2. Juli 2011, 20:00 Uhr Olivier Messiaen Les Corps Glorieux; Livre du Saint Sacrement (Sätze 7 – 10) Montag, 4. Juli 2011, 20:00 Uhr Olivier Messiaen Messe de la Pentecôte; Livre d’Orgue (Sätze 3 und 4) Jean-Louis Florentz Laudes (Sätze 4, 5 und 7) Donnerstag, 7. Juli 2011, 20:00 Uhr Olivier Messiaen Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité Eintritt frei, Spenden erbeten

HEILIG! HEILIG! HEILIG! Gruppenausstellung von Medienkunststudenten der Münchner Kunstakademie, die sich auf ihre Weise mit Messiaens avantgardistischer Meditation über Mysterien des Glaubens auseinandersetzen. Samstag, 9. Juli 2011 Pavillon 21 MINI Opera Space 12 :00 – 20:00 Uhr Eintritt frei

Saint François d’Assise Oper in drei Akten von Olivier Messiaen Premiere am Freitag, 1. Juli 2011, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 209

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Premiere Saint François d’Assise

Volksfest und Mysterium der Existenz Hermann Nitsch ist einer der führenden Künstler der Gegenwart. Sein orgien mysterien theater fasziniert und verstört mit trieb­ hafter Ekstase, Destruktivismus, T EXT

ALMUTH

Opulenz und den Riten der ka­tho­­ lischen Kirche. Mit der Neuinszenierung von Olivier Messiaens Saint François d’Assise wagt sich Nitsch an ein Drama in ­bewegten

Bildern. MAX JOSEPH besuchte den letzten Vertreter des Wiener Aktionismus auf seinem Schloss im österreichischen Prinzendorf.

SPIEGLER

Wenn man Glück hat, regnet es in Prinzendorf, rollt ein Gewitter über die grellgelben Raps- und die giftgrün sprießenden Getreidefelder heran. Dann wird es im Frühling zu kühl, um in der großen mittleren Hofarkade des Schlosses zu sitzen. Dann schleichen sich die zehn Katzen und drei Hunde in die Küche, flüchten die Gänse in den Stall, fliegen die weißen Pfaue auf die Bäume, muss der Esel noch warten, bis Rita Nitsch ihn von der Weide heimholt. Denn dann ergeht ihr Befehl: Saft- und Weingläser einpacken und ab hinauf ins Warme, in die gute Stube, den feudalen Speisesaal des gutshofartigen Anwesens. Und dort, wenn man eben Glück hat, setzt sich der Nitsch, wie ihn alle, selbst seine Frau, nennen, an die Orgel, eine elektrische. Es dauert, bis der behäbige kleine Mann mit dem weißen Rauschebart sich der Technik bemächtigt hat, einen Schalter nach dem anderen umlegt, die kleinen Hölzlein zurechtlegt, mit denen mehrere Tasten zugleich gedrückt werden können. Die Spannung steigt, und man weiß: Das alles ist Absicht, folgt einer Inszenierung, einer Dramaturgie. Und dann wird es laut: draußen der Donner der Natur, drinnen der Donner der Kultur, der sich zum Getöse steigert, zum Gebrüll, zum Gewummer, zur Stille. Am Ende gibt es kein Wasser und keinen Strom mehr im ganzen Haus – ein ganz profanes Unwetterwunder allerdings in dieser schönen, aber armen niederösterreichischen Einöde, dem Weinviertel, der Toskana der Wiener. Hier, in einem unscheinbaren kleinen Ort,

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hat Hermann Nitsch, skandalumwobener Wiener Aktionist und Gesamtkünstler, tiefe Wurzeln geschlagen. Hier hat er vor mittlerweile über 40 Jahren schon sein Bayreuth gegründet, wie es der Wagnerianer gerne nennt. Auch einen Hund namens Russ, wie Wagner einen hatte, gibt es hier, den zweiten schon. Eine Gedenktafel an der Schlossmauer erinnert liebevoll an die Frau, die dem damals noch erfolglosen Künstler einst, Anfang der 1970er Jahre, den Ankauf ermöglichte, seine bei einem Autounfall verstorbene zweite Frau Beate. Es war ein anderes Prinzendorf, in das sich Nitsch damals verliebte; Fotos zeigen ein verfallenes ­Gemäuer, in dem zu Beginn wohl eher gehaust als gewohnt wurde. Man glaubt es kaum, kommt man heute auf dem grünen Hügel, am Ende der schmalen, staubigen Straße, an: Rita Nitsch hat aus dem Schloss ein Schmuckkästchen gemacht, ein bürgerliches Paradies mit einer Art Mini-Zoo und Schwimmbad. Nur der urige Meister in schwarzer Montur mit Hut sitzt mitten darin an der Heurigenbank wie der Leibhaftige, ein österreichischer, gemütlicher allerdings – ein immer etwas unheimlicher Verführer zu seinem Lebenswerk, dem orgien mysterien theater (o.m. theater). Und das ist gewaltig, muss man neidlos anerkennen. Man schreitet es langsam ab, steigt man die Treppen im Schloss hoch, immer höher, bis zum beeindruckenden Dachboden, einem wortwörtlichen Schüttboden, auf dem Nitsch und seine Assistenten die Farben auf die Leinwände gießen, schleudern,


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dende Rituale anzubieten. Das vermag niemand würdevoller auszudrücken als der Meister selbst, als Referenz an den von ihm verehrten Stefan George immer in kultiger Kleinschreibung natürlich: „das o.m. theater soll das grösste und wichtigste fest der menschen werden (es ist ästhetisches ritual der existenzverherrlichung). es ist gleichzeitig volksfest und zu bewusstsein gebrachtes mysterium der existenz.“

Premiere Saint François d’Assise

schwungvoll wischen. Ein halbes Jahrhundert Kampf um Nitschs Vision von Kunst und Leben ist an den Treppenwänden dokumentiert, Fotos, Plakate, Ankündigungen. Kurz vor Weihnachten 1962 fand die erste Aktion statt, die Kreuzigung und Beschüttung eines nackten Mannes in der Wohnung von Nitschs damaligem Wiener-Aktionisten-Kollegen Otto Muehl. Gemeinsam noch mit Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler befleckten und zertrümmerten die Aktionisten in der Nachkriegszeit die mühsam aufgerichtete Fassade der österreichischen Gesellschaft, die sich als Opfer des Nationalsozialismus sah, nicht als Täter. Sie kotzten ihren Ekel vor dem Establishment aus, entäußerten sich, ließen Blut und Urin fließen, kehrten eben das Innerste nach außen. Das ging natürlich nicht ohne Selbstzerstörung, Gewalt, Blasphemie und bewusste Provokationen ab – eine extreme Performance-Kunst, bis heute Österreichs wichtigster Beitrag zur Nachkriegskunst, die ihre Spuren auch bei jedem Künstler persönlich hinterließ. Schwarzkogler brachte sich um, Brus rettete sich kurz vor der eigenen körperlichen Zerreißprobe in die Zeichnung, Muehl brachte seine gesellschaftliche Utopie einer analytischen Kommune den Größenwahn und ins Gefängnis. Nur Nitsch führt bis heute völlig unbeirrt weiter, was er bereits als junger Grafiker Ende der 1950er Jahre in einem Büro im Technischen Museum ersann: wahre Orgien der Lebensbejahung. So einfach könnte man Nitschs o.m. theater zusammenfassen. Um alle Sinne bis zum Äußersten zu reizen, benutzt er alles, was gut und heilig ist: das Intensivste aus Riten, Mythen, Requisiten, Philosophien und psychoanalytischen Kniffen. Was die jeweils betroffenen Gruppen und Organisationen natürlich nicht ohne Widerspruch, ohne medial ausgeschlachtete Skandale, mit sich geschehen ließen; ein ganzes Buch mit den wüstesten Artikeln hat Nitsch sogar schon herausgebracht. Tierschützer stiegen wegen der (fachgerecht) ausgeweideten Schweine, Lämmer und Stiere auf die Barrikaden und manchmal auch über die Mauern des Prinzendorfer Schlosses. Kirchenmänner verbannten Nitsch, den leidenschaftlichen Organisten und überraschenderweise nicht ausgetretenen Katholiken, aus den Gotteshäusern.

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Doch worum geht es eigentlich in dieser farbenprächtigen, pathetischen Materialschlacht, bei der mittlerweile schon Tonnen von Gedärmen, von Blut, von Tierkadavern, Hunderte Bahren, Kreuze, Monstranzen, Priestergewänder, aber auch ebenso viele Tonnen duftender Blumen und reifer Früchte verbraucht sowie eine Hundertschaft an Jüngern angesprochen wurde, meist junge Menschen, die ihre nackten Körper und ihre Energie gänzlich dem seltsamen Theaterfuror dieses von seinem Werk Besessenen verschreiben? Als Schutzherrn hat sich Nitsch wenig überraschend Dionysos gewählt, den griechischen Gott des Weines, der Fruchtbarkeit, der Ekstase. Und eigentlich sind es auch moderne, mit dem Archetypenwissen von C. G. Jung und den anarchistischen Abgründen von Antonin Artaud ins Extreme getriebene Dionysien, die Nitsch in Schloss Prinzendorf veranstaltet – durchaus auch mit dem Anspruch, einen gülti- 036 gen, außerkirchlichen Ersatz für verloren gehende, verbin- 036

Den bisherigen Höhepunkt dieses lebenslüsternen Treibens, der Nitschs Malerei, Aktionen und Kompositionen zu einem einzigen Erlebnis verschmelzen ließ, bildete 1998 das 6 tage spiel. Ein organisatorischer und künstlerischer Gewaltakt für Nitsch und seine Frau: 1.595 Seiten umfasste die Partitur, 100 Akteure, 180 Musiker, 1.000 Gäste wurden von Sarah Wieners Großküche, einer Laienküche und mit 13.000 Litern Wein versorgt. 1.000 Kilo Tomaten, 1.000 Kilo Weintrauben, 10.000 Rosen, 1.000 Liter Blut wurden in den Aktionen verwendet, das Fleisch der drei geschlachteten Stiere wurde für den Verzehr weiterverarbeitet. Für Nitsch erfüllte sich damit ein Traum. Für die Medien ebenfalls, halb Österreich lief Sturm gegen den sadistischen „Schlächter von Prinzendorf“. Dabei kann der Nitsch, wie seine Frau gerne betont, keiner Fliege etwas zuleide tun – sie werden im Glas gefangen und hinausgetragen. Und nicht von einem hüpfenden Nitsch blutspritzend zerschlagen, wie es einmal ein Spiel im Internet zeigte. „Jö, das hätte ich gerne, das Spiel, für meine Sammlung“, merkt Nitsch gleich an. Eines muss man ihm wirklich lassen: Er hat Humor. Und kann Kritikern verzeihen, wenn auch nie vergessen. Einmal wollte er etwa die Autorin dieser Zeilen bei einer Vernissage mit einem Judogriff zu Boden befördern, so sauer war er über ein kritisches Wort. Heute lacht er darüber, hoffentlich. Viel zu lachen haben seine aktiven und passiven Akteure, wie die Mitspieler in der o.m.-Diktion heißen, allerdings nicht. 2005 etwa, bei Nitschs großer, acht Stunden dauernden 122. Aktion im Burgtheater: Den Zuschauern war der Anblick der am ganzen Leibe zitternden Akteure schwer erträglich, aber diese mussten weiter nackt auf ihren Bahren im Zugwind der Treppenhäuser ausharren, bewegungslos, Zudecken verboten. Gewöhnungsbedürftig ist auch der schrille Trillerton, mit dem Nitsch seine Aktionen dirigiert, mit dem Pfeiferl, wie am Fußballplatz. Aber schließlich hat das Spektakel punktgenau nach seiner präzisen Partitur abzulaufen, auch für persönliche Ekstasen zum falschen Zeitpunkt ist da kein Platz. „Ich bin ja kein Therapeut“, betont Nitsch dann immer gerne. An allererster Stelle geht es bei den Aktionen schließlich um eins: um seine Kunst. Ein Widerspruch zu der Lebensfreude, die das o.m. doch fördern soll? Ja. Aber wann war Kunst schon logisch oder gar demokratisch? Nitsch ist eine große Künstlerpersönlichkeit mit all ihren Nachteilen. Und Vorteilen. Extrem gebildet, extrem autoritär. Extrem stur, extrem gut. Und extrem konsequent. „Immer mehr von demselben“, ist eine öfters geäußerte Kritik an Nitschs Werk, dessen Theorie er schon 1959 praktisch fertig formuliert hatte. Und tatsächlich hat sich seither außer den besseren Bedingungen, den reicheren


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Das Orgelspiel ist verstummt. Der Blick wandert aus den Fenstern hinaus über die sanften Weinviertler Hügel, zu den mächtigen Windrädern, die aus naher Ferne über die Mauern des Schlosses ragen, Riesen der Moderne, die diesen Ort außerhalb der Zeit mehr zu belagern scheinen als mit Strom, mit Energie zu versorgen. Bald wird sich hier eine bunte Prozession auf den Weg zu einer weinseligen Reise in die Umgebung machen, begleitet von einer Blaskapelle – die alljährliche Pfingstaktion in Prinzendorf. Bald wird der Nitsch auch wieder, man glaubt es kaum, mit seinen gut 70 Jahren das Moped besteigen – und als eine Art Hells Angel der Kellergassen durch die Gegend rattern. Für weitere Reisen bevorzugt er bequemere Chauffeurdienste: in sein geliebtes Italien etwa, wo er seinen Zweitwohnsitz hat und viele Sammler und Unterstützer finden konnte. In Neapel wurde ihm von Peppe Morra sogar ein eigenes Museo Nitsch eingerichtet. Oder nach New York, wo Nitsch seit den 1960er Jahren immer wieder in der Performance-Szene präsent war. Gerade entdeckt ihn dort der schicke junge Kunsthandel: Nitsch stellte im Frühjahr des Jahres bei Leo König aus, inklusive viel beachteter Aktion. Vor allem aber geht es dieser Tage zurück in die Zukunft, nach München, wo Nitsch in den 1960er Jahren lebte und glücklich war, ohne den ganzen Wiener Intrigenstadel, wie er betont. Jetzt hat er dort, an der Staatsoper, die Inszenierung von Olivier Messiaens Oper über den heiligen Franziskus übernommen. Nitsch liebt die moderne Musik, baut Lärmorchester, Schreichöre und elektronische Klänge in seine Aktionen ein, komponierte neun Symphonien. Und er liebt Messiaen, „einen der großen Meister des 20. Jahrhunderts“. Den katholischen Glauben aber teilt er nicht mit ihm. „Messiaen glaubte an den katho-

lischen Symbolismus. Ich verwende ihn phänomenologisch.“ Was auch auf der Bühne zu merken sein wird – Nitsch will Aktionen projizieren und während der Vorstellung live aufführen, allerdings mit Theaterblut und ohne Tiere. Denn das würden wohl viele gerade bei einer Oper über den Heiligen des Tierschutzes als Provokation auffassen – ein Argument, das Nitsch so wenig interessiert wie der heilige Franziskus selbst: „Er ist mir wurscht, wie alle Heiligen“, lautet die schnelle und ehrliche Antwort des gestrengen Oberwächters seines Gesamtkunstwerks. Und zugeklappt wird er, der Orgeldeckel. Mehr über die Autorin auf S. 18 (Contributors) Alle Fotos: Szenen aus dem orgien mysterien theater, 6 tage spiel auf Schloss Prinzendorf, 1998 Fotografie: Heinz Cibulka

Premiere Saint François d’Assise

Mitteln nicht viel geändert, stellte er selbst erst vor Kurzem, 2009, fast überrascht fest, als er den dritten Versuch der Theorie des o.m. theaters veröffentlichte: 1.084 Seiten in drei Bänden. Vieles wiederholt sich hier, viele Anekdoten, viel assoziativ Philosophisches, vieles ermüdet. Aber das Konzept geht auf, die Schlüsselwörter bleiben hängen: das Sein, der Mythos, die Ekstase. Und Nitsch hat uns dazu die Bilder ins kollektive Unterbewusste eingepflanzt: die Foto- und Filmdokumentationen der Aktionen, die großen Collagen aus Relikten und Malerei, die Schüttbilder. Letztere entstehen in eigenen Malaktionen. Dominierten in den früheren Bildern Rot und Schwarz und das Braun des getrockneten Blutes, schwelgt Nitsch seit einigen Jahren vermehrt in allen Regenbogenfarben. Das freut zumindest die Sammler: Nitschs Bilder, die vor ein, zwei Jahrzehnten in der breiteren Masse noch für Ekel und Entsetzen sorgten, hängen heute schon einmal dekorativ in der Zahnarztpraxis nebenan. Sie sind zum Statussymbol geworden, und Nitsch zu einer Art Landesheiligem: Niederösterreich richtete ihm ein eigenes Museum in Mistelbach ein, der Inhalt, die Leihgaben dafür, kommen allerdings vom Künstler persönlich. Wie auch das Engagement, das eher schleppend besuchte Museum in der Provinz attraktiv und am Laufen zu halten. Auch Nitschs Orgie der Lebensfreude kennt eben die Niederungen des Alltags. Doch darüber redet kein Künstler gerne.

NITSCH

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Hermann Nitsch in München Eine Kooperation der Galerie Thomas Modern und der ­B ayerischen Staatsoper in der Galerie Thomas Modern Freitag, 1. bis Mittwoch, 6. Juli 2011 Ausstellung, Führungen, Veranstaltungen Detailliertes Programm unter www.galerie-thomas.de und www.staatsoper.de/nitsch Saint François d’Assise Oper in drei Akten von Olivier Messiaen Premiere am Freitag, 1. Juli 2011, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 209


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Überväter und Rebellionen

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späte Vaterfigur des Mozartschen Figurenkosmos’ finden sich während der Festspiele auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper: König Mitridate und der

Die Frage will dem Regisseur David Bösch nicht aus dem Kopf gehen: Wie konnte sich ein nur 14-jähriger Junge mit einem Stoff wie dem des Usurpators Mithridates beschäftigen, geschweige denn eine eigene Haltung dazu entwickeln? Immerhin ist der kleinasiatische König weniger heroischer Widerstandskämpfer gegen Rom, vielmehr in seinem Kampf gegen die verhasste antike Übermacht bereit, als Vater seine Söhne zum Tode zu verurteilen, nur um seine Position ungefährdet zu sehen. Das führt unmittelbar zu einem zentralen Thema des Komponisten Mozart, in seinen Werken genauso wie in seiner Biografie: Welche Rolle spielen Väter für ihre Kinder, und wie weit geht der Einfluss der Väter auf die Entwicklung bis hin in das Erwachsenenleben – beziehungsweise auch umgekehrt. David Bösch, der Regisseur der Festspielpremiere von Mitridate, rè di Ponto, nähert sich ganz unverstellt dem selten gespielten Werk, das erstmals einen Themenkomplex anreißt, den Mozart in zahlreichen weiteren Werken verarbeitet hat. Die Vaterautoritäten sind Legion in seinen Bühnenwerken, von Idomeneo bis hin zu Sarastro in der Zauberflöte. Mit Mitridate und dem Komtur in Don Giovanni sind zwei weitere während der diesjährigen Festspiele auf der Bühne zu erleben. Gibt es eine hinreichende Antwort darauf, inwieweit Wolfgang Amadeus Mozart die Beziehung zu seinem Vater autobiografisch in seinen Werken verarbeitet hat? Sicherlich nicht, aber es gibt Spuren.

Premiere Mitridate, rè di Ponto

Kaum ein anderer Komponist der Musikgeschichte beschäftigte sich so regelmäßig mit dem Thema Väter wie Wolfgang Amadeus Mozart. Eine frühe und eine

EXCERPT

Auch wenn es nur eine standardisierte Floskel am Ende der Briefe an seinen Vater Leopold war, Wolfgang Amadeus Mozart wusste, was er diesem schuldig war: „… und bin dero gehorsamster Sohn …“ Als Sohn wurde von ihm vor allem eines gefordert: Gehorsam. Denn Leopold Mozart war nicht nur Vater, sondern Förderer, Lehrer, Entscheider und Richter in einem. Ihm hatte das Wunderkind sein Können zu verdanken, er entwickelte, beobachtete und lenkte das Aufblühen seines Talents. Der Vater öffnete ihm die Türen in ganz Europa, sicherte seine Reputation. In Wolferls Kindheit muss der Vater einer Lichtgestalt geglichen haben, verkörperte Leopold Mozart die positiven Seiten eines Familienpatriarchen. Leopold Mozart als aufgeklärte Autorität 043 und positiver Schöpfer des Genius Wolfgang? Tatsächlich 043

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Komtur aus Don Giovanni. Doch wie begegnet man heute den Vaterautoritäten mit all ihren Ab­gründen?

sah sich Leopold der Aufklärung verpflichtet, den neuen Werten der Vernunft und der Idee, der Mensch könne sich aus seinen eigenen Fesseln befreien und sich selbst zu neuen individuellen Höhenflügen anleiten. Sein Sohn war dafür der lebendige Beweis. Und dennoch: Seine eigene Rolle als Familienvater verstand er unreflektiert als Patriarch, als Verkörperung einer abgemilderten Version einer antiken Rechtspraxis, der patria potestas. In der römischen Antike wurde die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Vaters als patria potestas staatlich akzeptiert, was bedeutete, dass der Vater, der den Kindern das Leben gegeben hatte, Herr über Leben und Tod im wörtlichen Sinne war: Er gab und nahm das Leben, stand damit über deren Möglichkeit der Selbstbestimmung und allen freiheitlichen Gesetzen. Zwar gab es keinen Gesetzestext, der das verbrieft hätte, allein in der Praxis war es alltäglich und wurde durchaus als Naturrecht sowie als human betrachtet. Was in der Antike manifest war, hat seine weiten Spuren in der Geschichte hinterlassen. Erstaunlich genug, dass Leopold Mozart 1770 beim ersten großen Opernauftrag seines Sohnes für Mailand – Wolferl ist gerade 14 Jahre alt – einen Stoff akzeptiert, der genau das thematisiert: Nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jean Racine springt die Oper Mitridate, rè di Ponto direkt in den Konflikt zweier Söhne, die in Widerspruch ihrer Pflichten als Sohn und ihres Anspruchs als Liebender zu einer Frau geraten. Der Vater fordert Unmögliches, fordert Unterwerfung bis hin zur Selbstleugnung. Gerade aus der Perspektive der Aufklärung: Was ist das für ein Vater? Nur um die Treue seiner Söhne zu überprüfen beziehungsweise weil er diesen von Grund auf misstraut, lässt er das Gerücht streuen, er sei im Kampf gegen die Römer gefallen. Ratlos treffen die Söhne aufeinander, alte Konflikte brechen auf: Beide lieben dieselbe Frau, die aber eigentlich aus politischen Gründen dem Vater zur Heirat versprochen war. Zudem sehen sich beide als rechtmäßige Nachfolger auf dem Thron von Pontos. Als der Vater zurückkehrt und seinen Tod als von ihm selbst verbreitetes Gerücht aufdeckt, kommt es zur Katastrophe: Der eine Sohn kann sich nicht vom Vater lösen und unterwirft sich,


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torität und die daran gekoppelte Macht. Allein: Don Giovanni tritt ihnen furchtlos entgegen: „No!“ Er werde nichts von seinen Taten bereuen. Die Männer halten sich an den Händen, um ihre Macht zu bündeln ... Don Giovanni stirbt, und zumindest formal ist die alte Ordnung mit dem Vater an der Spitze wiederhergestellt. Kimmig entlarvt die noch heute zu findenden Manifestationen väterlicher Allmachtvorstellungen – die Höllenfahrt fällt aus. Don Giovanni stirbt allein, bleibt bei seinem von ihm selbst zubereiteten Festmahl — bei Kimmig ein Dinner for one — einsam und tot zurück. Ein bitterer Sieg gegen den Komtur und seine väterlichen Mitstreiter, vor allem auch weil sich die übrigen Protagonisten ebenso wenig gegen die geballte Macht der Kirchen- und Staatsväter durchsetzen können. Sie prallen bei ihrem anschließenden Fluchtversuch an der undurchdringlichen Wand aus Polizisten, Mönchen, Politikern, Militärs und Richtern ab.

Seine Rollenbezeichnung spricht Bände: Als Komtur, also Amtsträger eines Ritterordens, wird er vor allem in seiner gesellschaftlichen Funktion dargestellt – neben dieser Ehrenbezeichnung ist er auch Vater: der Vater von Donna Anna. Familiäre und gesellschaftliche Autorität fallen zusammen. Der Vater ist mehr als der Lebensspender allein, er ist zugleich höchste gesellschaftliche Autorität für alle Familienmitglieder. Und in Don Giovanni wird diese exponierte Person von der Titelfigur getötet. Er verliert nicht nur sein Leben, sondern mit seiner unverfrorenen Art stürzt ihn der Wüstling und Schänder von Donna Anna von seinem Sockel der unangefochtenen Herrschaft – eine unverzeihliche Schmach in der Ehrvorstellung auch noch zu Mozarts Zeit. Das ist so gravierend, dass Vater und Komtur selbst aus dem Jenseits zurückkommen muss, um seine Tochter zu rächen. Kimmig hat keine biografische Deutung der Komtur-Figur gewählt, wie etwa Miloš Forman, der Regisseur des oscargekrönten Amadeus-Films. Dieser verband mittels Überblendung die Fratze des Komturs mit der von Leopold Mozart, als träte der tote Vater aus dem Jenseits zu seinem Sohn heran, um ihn zur Raison zu bringen. In Stephan Kimmigs viel diskutierter Inszenierung tut er das nicht als lebendige Friedhofsstatue, sondern verwandelt als Bischof mit rächender Axt oder dem Beil Gottes. Zudem folgt ihm der gesamte Chor aus der Unterwelt wie ein Bataillon von gesellschaftlichen Autoritäten: Offizier in Uniform, Verfassungsrichter in Robe, Ordens- und Staatsmänner mit zum Teil zwielichtiger Herkunft. Es bedarf all ihrer Kraft, um dem Ego- und Körperbesessenen Don Giovanni das entgegenzuhalten, was er in seinem anarchischen Wesen niemals akzeptieren würde: ihre nicht zu hinterfragende Au-

Premiere Mitridate, rè di Ponto

obwohl das seine Liebe zerstört, der andere rebelliert. Beide würde der Vater, ohne mit der Wimper zu zucken, aus gekränktem Stolz und unreflektiertem Herrschaftsgebaren dem Tod überlassen. Keiner hinterfragt, ob das rechtens ist – es ist die patria potestas, die durchschlägt. Das Ende ist absehbar: Die Rebellion gegen den Vater versandet, mehr noch, sie wird ins Gegenteil verkehrt im Gedanken auf Rache gegen den gemeinsamen Feind. Denn die Söhne meinen, das Verhalten ihres Vaters rechtfertigen zu können, weil er es im patriotischen Ansinnen gegen die feindliche Übermacht getan hat. Als der Vater stirbt, verschreiben sich beide Söhne seiner Autorität und dem Krieg gegen die Römer – so wie Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater als ständigem Co-Autor und Supervisor der Komposition vertraut. Noch bleibt die Autorität unangetastet. Ob David Bösch diese biografischen Züge Mozarts auf die Bühne setzen will, ist noch nicht entschieden. Ideen gibt es schon. Und so eindeutig negativ ist auch Mitridate nicht gezeichnet: Er wird selbst auch als leidender Vater und König in Musik gefasst. Ein spannender Probenprozess steht bevor, bei dem sich erweisen wird, wie die Vaterfigur letztlich auf der Bühne gezeichnet wird. Ein anderer hat sich diesem Problem bereits stellen müssen: der Regisseur Stephan Kimmig in Don Giovanni.

REBELLIONEN

Lediglich ein alter nackter Mann, der wie ein Alter Ego anmutet, bleibt windrädchenblasend allein zurück. Er hat nichts mehr mit dieser Welt gemein. Eine humane Vision, die Mozart vielleicht gerne der patria potestas entgegengestellt hätte?

S. 42, Aura III, 2003 Mixed media on paper 24 x 16 cm Foto: Gasull Fotografia Courtesy: Galerie Lelong Paris S. 44, Time-Hope, 2004 Mixed media on paper 24 x 16 cm Foto: Gasull Fotografia S. 45, Semen, 2000 Tinted Arakaji paper glued on tinted vellum, collage of letters, photograph and plastic cover 50 x 33 cm Edition of 40 signed and numerated prints. Edited by Michael Woolworth Publications, Paris Foto: Lluís Bover All images © Jaume Plensa – Vegap Spain Don Giovanni Dramma giocoso in zwei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart Vorstellungen am Donnerstag, 14. und Sonntag, 17. Juli 2011, Nationaltheater Mitridate, rè di Ponto Opera seria in drei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere am Donnerstag, 21. Juli 2011, Prinzregententheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 209

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OPER

FÜR

ALLE

„Ein Wochenende lang schenken wir den Münchner Bürgern den Genuss von Oper und Konzert. Das ist in dieser Stadt schon zum Grundrecht geworden.“ Michael Rahe, Leiter der BMW Niederlassung München Illustration: Friederike Gross

„Freiheitskampf bei Beethoven, lustvoller Rausch bei Wagner, Todesverklärung bei Strauss – in der Musik des 19. Jahrhunderts durchleben wir die extremen Gefühls- und Seelenzustände.“ Nikolaus Bachler, Staatsintendant


OPER

FÜR

DRAMATISCHES UNTER FREIEM HIMMEL Ein Wochenende lang ver­­wandeln die Bayerische Staatsoper und BMW München den Max-JosephPlatz in ein Freiluft - Opernhaus. Oper für alle durchschreitet in diesem Sommer das musikalische 19. Jahrhundert von Beethoven über Wagner und Strauss zu Brahms.

Das 19. Jahrhundert war dramatisch. Zumindest in der Musik. Von Italien über Frankreich bis nach Deutschland beherrschte die Oper als zentrale Gattung das Musikleben. Selbst vor dem Konzertsaal machte das Drama nicht halt: Ludwig van Beethoven etablierte seine Ouvertüren als eigenständige Konzertstücke, und Richard Strauss erzählte dramatische Handlungen in der neuen Form der symphonischen Dichtung. So viel Drama musste Widerstand provozieren: Es entspann sich ein Kampf zwischen dramatischer – gemeint waren vor allem die Musikdramen Richard Wagners – und sogenannter absoluter Musik, deren Ideal der Musikpapst Eduard Hanslick in den Kompositionen von Johannes Brahms verwirklicht sah. Solche Kämpfe zwischen Wagnerianern und Brahmsianern gibt es heute wohl nur noch in dunklen Forscherzimmern. Vielmehr werden die beiden Antipoden Wagner und Brahms unter freiem Himmel miteinander versöhnt: Kent Nagano dirigiert bei seinem Konzert im Rahmen von „Oper für alle“ sowohl die Ouvertüre und das Venusberg-Bacchanal aus Wagners Tannhäuser als auch Brahms’ vierte Symphonie. Dazwischen erklingt Richard Strauss’ Tondichtung Tod und Verklärung, womit der damals noch junge Komponist die „Todesstunde eines Menschen, der nach den höchsten idealen Zielen gestrebt hat, wohl eines Künstlers“ musikalisch darstellen wollte. Für alle drei Komponisten war Beethoven zugleich Vorbild und übermächtiger Schatten. Dessen einzige Oper Fidelio eröffnet am Abend zuvor das „Oper für alle“-Wochenende; Calixto ­Bieitos viel diskutierte Inszenierung wird live aus dem Nationaltheater auf den Max-Joseph-Platz übertragen. Schon die ersten Klänge der Münchner Fidelio-Aufführung blicken von der Oper in den Konzertsaal. Als einzige Oper der Musikgeschichte besitzt Fidelio vier eigens dafür komponierte Ouvertüren. Die erste Fassung der Oper hieß noch Leonore, die dritte Leonoren-Ouvertüre erzählt die Handlung in einer knappen Viertelstunde rein symphonisch und wird gerne auch im Konzert gespielt. Damit gab Beethoven der Ouvertüre einen neuen Gehalt: Aus dem Signal zum Einnehmen der Plätze und Stillwerden bei Claudio Monteverdi wurde ein kondensiertes Drama. Nicht zuletzt ebnete die 049 Leonoren-Ouvertüre den Weg zur symphonischen Dichtung. 049

ALLE

Richard Wagner verehrte Beethoven zutiefst, weil er in seinen Augen das Drama in die Musik geholt hatte. 1840 schrieb er seine Pilgerfahrt zu Beethoven, bei der er den Meister traf, 1870 entstand seine große Beethoven-Schrift, in der er den „großen Bahnbrecher in der Wildnis des entarteten Paradieses“ feierte. Dem unbescheidenen Wagner ging es um nichts Geringeres als die Erneuerung der Oper aus dem symphonischen Schaffen Beethovens im Geist der griechischen Antike und Shakespeares Theater. Beethoven war für Johannes Brahms zunächst der übermächtige Schatten, der ihn mit fatalen Paukenschlägen zu Beginn der ersten Symphonie verfolgt und im Zitat der Freude schöner Götterfunken in deren letztem Satz erscheint. Doch der Variationssatz der vierten Symphonie öffnet einen Weg ins 20. Jahrhundert, in dem Arnold Schönberg Brahms als den Fortschrittlichen bezeichnete. Unter dem Blick des bayerischen Königs Max I. Joseph auf dem nach ihm benannten Platz vor dem mächtigen Bau des Nationaltheaters stellt das musikalische 19. Jahrhundert unter freiem Himmel ein weiteres Mal seine Lebendigkeit unter Beweis. In der Interpretation des katalanischen Regisseurs Calixto Bieito ist Beethovens Drama um Freiheit und Unfreiheit so brisant wie zum Zeitpunkt seiner Uraufführung. Die zahlreichen Bearbeitungen und Paraphrasen von Opern sowie die Entwicklungen der symphonischen Kunst brachten im 19. Jahrhundert die dramatische Musik einem großen Publikum jenseits sozialer Schranken nahe. BMW München greift diesen Gedanken bereits zum 14. Mal auf und verwandelt den Max-Joseph-Platz ein Wochenende lang in einen Festplatz für Oper und Konzert. Für jeden. Ohne Eintritt. Wahrlich Oper für alle.

OPER FÜR ALLE Fidelio Oper in zwei Akten von Ludwig van Beethoven Audiovisuelle Übertragung aus dem Nationaltheater Freitag, 8. Juli 2011, Max-Joseph-Platz Eintritt frei Konzert Oper für alle Samstag, 9. Juli 2011, Max-Joseph-Platz Werke von Richard Wagner, Richard Strauss, Johannes Brahms u. a. Eintritt frei Weitere Informationen im Spielplan ab S. 209


Michael Volle

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Jonas Kaufmann

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Vier Sänger widmen sich einen Abend lang der musikalischen Poesie und stellen ihre Persönlichkeit in den Dienst des Lieds. MAX JOSEPH hat mit Pavol Breslik, Christian Gerhaher, ­ Jonas Kaufmann und Michael Volle über ihre Programme und die ­Intimität eines Liederabends gesprochen.

Im Lichte des Lieds

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Pavol Breslik

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Michael Volle

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Michael Volle aufgrund seiner Reinheit und Purheit extrem anspruchsvoll zu singen, obwohl es scheinbar leichter geschrieben ist. Es ist unmöglich, ein Lied nur einmal zu studieren und es dabei zu belassen. Man braucht Zeit, bis man ein Lied ­sowohl vokal als auch intellektuell und stimmungsmäßig erfasst hat. Kein Abend gleicht dem anderen, und vor allem der Entwicklungsprozess macht den Gesang so spannend und schön, auch wenn ich nicht ganz so viel Zeit für Liederabende habe wie andere Kollegen.

Michael Volle singt an seinem Liederabend Werke von Carl Loewe und Franz Schubert. Er weiß zwar, dass Liedgesang keine Massen anzieht, aber seiner Mei­ nung nach ist der Zugang zu dieser intimen Kunst­ form gar nicht so schwer. Der Liedgesang ist eine einzigartige Form: Es gibt nur das Klavier als Partner. Man spricht zwar vom Liedbegleiter, aber ich würde die Betonung ernsthaft auf Partner legen. Der Anteil des Partners ist absolut gleichwertig: fifty-fifty. Es gibt keine Priorität für die Stimme. Musik und Stimme sind – egal ob bei Schubert, Brahms oder Loewe – extrem eng miteinander verwoben. Und: Der Liedgesang ist völlig pur und offen. Man kann sich beim Lied hinter nichts verstecken. Ich bin als Sänger quasi nackt und muss alles allein durch die Stimme machen. Beim Liedgesang gibt es kein richtig oder falsch. Viele Lieder sind kleine Opern – und so kommt mir meine Opernerfahrung zugute. Den richtigen, aber eigenen Ton für ­jedes Lied zu finden, ist die große Herausforderung. Ein Lied wie der Erlkönig kann man wunderbar auf die Bühne setzen: Es ist ein Miniaturdrama. Es ist völlig klar, dass es drei Personen sowie einen Erzähler gibt, die man vermitteln muss. Speziell bei Schubert, mit all den schnellen Stimmungswechseln von Dur zu Moll und wieder zurück, tut sich oft ein riesi- 056 ger Kosmos auf kleinstem Raum auf. Schubert ist für mich 056

Komischerweise denken viele Leute, es sei schwer, einen Liederabend aufmerksam zu verfolgen. Warum? Ich denke oft darüber nach, warum es häufig heißt, nach dem Zweiten Weltkrieg habe es eine Hochphase des Liedgesangs gegeben. Das war die Blütezeit vieler großer Kollegen wie Dietrich Fischer-Dieskau oder Hermann Prey, die richtige Galionsfiguren des Liedgesangs waren. Ich habe damals noch nicht gelebt, aber ich stelle mir vor, dass der Liederabend die einfachste Kunstform nach dem Krieg war, ohne Schnörkel und ideologische Überfrachtung. Vielleicht war es für die Zuhörer leichter, das Paradigma der Schlichtheit anzunehmen, weil es damals nichts gab. Warum hat sich das Verhältnis zum Liedgesang so sehr geändert? Ich frage mich auch, warum der Liedgesang den Nimbus des extrem Anspruchsvollen mit sich trägt. Für mich ist der Liedgesang eigentlich nichts Schweres, und die Musik ist nicht „wie von einem anderen Planeten“. Bei Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen oder etwas Vergleichbarem sagt auch niemand, das ist ferne Musik, genauso wenig bei einem Brahms-Sextett oder einer Violinsonate von Mozart. Warum sollte diese Musik schwieriger sein? Trotzdem ist der Liedgesang keine massentaugliche Disziplin. Dem Publikum würde ich raten, ganz unbefangen zu Liederabenden zu gehen und sich wohlzufühlen – es gibt so viel zu hören, zu erleben. Und es ist einfach fantastische Musik. Es sind Preziosen manchmal in großer, manchmal in kleiner Form. Ich glaube auch nicht, dass hier größere Bedingungen an die Zuhörer gestellt werden. Es ist sicher keine abgehobene Kunst, weil die Zuhörerschaft klein ist oder weil es nicht so gut vermarktbar ist. Ich glaube dennoch, dass den Leuten, die nie mit dieser Kunst in Berührung kommen, vieles entgeht. Leider hat der Liedgesang derzeit keine Breitenwirkung, und man wird diese wohl auch nicht herstellen – das ist sehr schade, denn das Erlebnis ist galaktisch.

S. 50 Anzug von Windsor und Hemd von Eterna. S. 54 Anzug von Windsor, Hemd von Eterna. Einstecktuch Herr von Eden. S. 55 Mantel von Marni, Hut von Dior. S. 56 Anzug von Windsor und Hemd von Eterna. Braune Schnürschuhe von Hermès. Liederabend Michael Volle Mittwoch, 20. Juli 2011, Prinzregententheater


Christian Gerhaher In seinem Liederabend widmet sich Christian Gerhaher ausschließlich der Musik Gustav Mahlers, in der die Welt sich oft grotesk und unheimlich zeigt. Ge­ rade das, was nicht völlig offenbart und verstan­ den werden kann, fasziniert den Bariton an Mah­ lers außergewöhnlichem Liedschaffen. Ich mache sehr gern Liederabende mit Werken eines einzigen Komponisten. Kombinationen finde ich immer schwierig. Gustav Mahler würde ich am ehesten noch mit Franz Schubert kombinieren, was aber meistens nachteilig für Schubert ausgeht. Mahler halte ich für einen der drei wichtigsten Liedkomponisten, nur leider hat er nicht viele Lieder geschrieben.

fern hat Mahler die Gattung extrem entwickelt, indem er – wie Guido Adler das genannt hat – die Musik durch Texte illustriert hat, also genau das Gegenteil dessen getan hat, wo Schubert angefangen hat, nämlich Illustration der Texte durch Musik. Das ist die totale Umkehrung des ursprünglichen deutschen Liedgedankens. Damit ist Mahler an der Schwelle zur Moderne, wo der Text nur noch Assoziationsgeber für ein Kunstwerk ist. Bei Mahler ist idealerweise erreicht, was ich mit dem Volkslied verbinde: Das Volkslied tendiert zum Kunstlied, nicht umgekehrt.

Es gibt bei Mahler immer die gemeine äußere Welt und die Versuche, die Weltproblematik zu lösen: durch Naturklang, durch Humor … Schon die Darstellung der Welt ist ein Lösungsversuch, und in den verschiedenen Aspekten der Lieder aus Des Knaben Wunderhorn zeigen sich ganz unterschiedliche Themen wie Abschiedsschmerz, Kriegsszenen wie in Der Schildwache Nachtlied oder Der Tamboursg’sell, Hinrichtung in Zu Straßburg auf der Schanz, Hunger in Das irdische Leben oder die Auferstehungsahnung in Urlicht. Diese Themen sind zwar vielfältig, aber bewegen sich dennoch in einem abgesteckten Feld.

Mir behagt diese nicht allzu sehr auf Verstehbarkeit ausgerichtete Liedwelt, die assoziativ und abstrakt funktioniert. Das geht bei der Oper nicht. Dort geht es eher darum, Dinge verständlich zu machen. Die Lyrik fasziniert mich persönlich schon viel länger. Im Grunde wäre es beim Lied am sinnvollsten, sich zuerst dem Klang zu ergeben. Aber ich erwische mich auch immer wieder dabei, dass ich die Texte mitlese, wenn ich die Lieder nicht kenne, obwohl ich es nicht richtig finde. Die große Schwierigkeit beim Liedgesang ist, nicht der Versuchung zu erliegen, den Text durch Deklamation zu einem kleinen Drama werden zu lassen, sondern sich im Gegenteil darauf zu besinnen, dass er ein lyrisches Gebilde ist, dass ein Liederabend kein Balladenabend wird – abgesehen natürlich von der Sonderform der Ballade.

Greift Mahler zum Humor als Lösungsversuch, stehen wir vor besonderen Herausforderungen. Sein Humor ist sehr eigen. Eine Gesellschaft saß einmal bei ihm zu Hause, und alle waren durch ihn so eingeschüchtert, dass sie das Gefühl hatten, eine Leiche läge unterm Tisch. Dieser Humor ist nicht wirklich zum Lachen gedacht. Einige Wunder­ horn-Lieder nennt er Humoresken, aber sie wirken eher wie Grotesken, wie ein fratzenhaft lachender Totenkopf. Für mich als Sänger geht es dabei darum, diesen Humor zu begreifen, weil ich als Medium das Lied dann wieder ausspucke. Um mich persönlich geht es dabei überhaupt nicht.

Das Prinzip des Liederabends ist eine Präsentation von kleinen lyrischen Einheiten, die letztlich nicht ganz erklärbar sein müssen. Insofern finde ich das Prinzip des Lieds bei Mahler ideal verwirklicht, weil er nicht darauf drängt, die Textgrundlage vollkommen zu entblättern, darzulegen und zu illustrieren. Einen Text adäquat zu vertonen, ist nicht das wirklich Wichtige beim Lied, sondern eine Textgrundlage assoziativ anzufassen, um ein neues Kunstwerk daraus machen zu können. Die Unschärfen, die Trübheiten in diesem neu entstandenen Kristall sind unverzichtbar und sogar schön. Da ging Mahler sehr weit.

Neben der einfachen Poesie aus Des Knaben Wunderhorn hat Mahler auch Kunstpoesie vertont, vor allem in den zehn Liedern mit Texten von Friedrich Rückert. Hier hat er eine Art der Vertonung im Sinne Schuberts und Schumanns fortgeführt: einen Text ernst nehmen, nicht groß entstellen und die Inhalte des Textes musikalisch nachvollziehen und illustrieren. Das ist für ihn bis zum Schluss eine zweite Möglichkeit geblieben. Beim Vergleich der Volks­ poesievertonungen von Mahler mit Johannes Brahms ergibt sich ein riesiger Unterschied: Die Inhalte bei Mahler sind ganz anders, sie sind schmutzig, grausam, bösartig. Bei Brahms gibt es diese Rosa-Blümchen-Volkslied-Ästhetik, die ich für zweifelhafter halte als die Mahlers. Mahler schafft keine Volksliedkompositionen, weil er nicht wie Brahms gesammelte Melodien benutzt, sondern selbst Musik dazu erfunden hat. Eine der wenigen Ausnahmen ist 057 die Bruder Jakob-Melodie in der Ersten Symphonie. Inso- 057

Liederabend Christian Gerhaher Samstag, 23. Juli 2011, Prinzregententheater


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Pavol Breslik Pavol Breslik gibt erstmals in München einen Lieder­ abend und hat dazu unter anderem Antonín Dvořáks Zigeunermelodien ausgewählt. Er verhehlt nicht, ein Intuitionsmensch zu sein, was aber seiner Interpreta­ tion von Liedern zugutekommt. Als junger Sänger an der Akademie war es bei uns üblich, zunächst nur Lied zu singen. Liedgesang ist für mich wichtig, weil er intimer ist und der Sänger mehr Tiefe zeigen kann. Manchmal täuscht der oberflächliche Eindruck der Musik: Lieder sind technisch oft sehr exponiert geschrieben, höchst anspruchsvoll und dennoch sehr durchsichtig. Sie kommen so leicht daher, sind aber deswegen oft schwieriger zu singen. Dies gilt übrigens auch für das Publikum bei Liederabenden: Hier herrscht oft eine viel größere Konzentration als in der Oper. Ich möchte nicht sagen, dass es ­größere Kenner sind, aber die Stimmung im Raum ist ­irgendwie feiner. Dazu zwingt einen auch die Dynamik der Musik: Das Piano des Klaviers ist ganz anders als das des Orchesters. Und häufig finden Liederabende in kleineren Räumen statt. Alles konzentriert sich. Die Programme entstehen bei mir stets aus dem Bauch he– raus. Ich höre irgendwo ein Lied und komme auf die Idee, das einmal selbst auszuprobieren. Dann recherchiere ich die Noten und lasse das auf mich wirken. Ich probiere aus, ob ich etwas zu sagen habe – und dann fällt die Entscheidung. Wie bei einem Puzzle fügt sich das langsam zu einem ­Gesamtbild. Ich bin nun einmal ein absoluter Intuitionsmensch, selbst während der Aufführung. Jeden Abend inspirieren mich Worte zu neuen Farben und anderem Ausdruck. Insofern ist auch der Partner wichtig. Früher wurden die Liedbegleiter als sekundär neben dem Sänger eingestuft, was natürlich nicht stimmt. Denn es sind gleichwertige Partner. Mein Partner am Klavier, Amir Katz, ist ein großartiger Solist, hat aber viel Liederfahrung. Zu zweit versuchen wir, eine eigene Welt im Lied zu schaffen. Dabei spielt die Sprache eine interessante Rolle: Die DvořákLieder, die Zigeunermelodien, hatte der Komponist eigentlich für den deutschen Tenor Gustav Walter geschrieben auf Texte von Adolf Heyduk. Erst später entstand die Version auf Tschechisch. Mit diesen Liedern bin ich bereits in der Schule aufgewachsen und ich habe eine besondere Verbindung zu ihnen. Das ist für das 19. Jahrhundert in Böhmen typisch: Man weiß, dass Dvořák der Nationalstaatsbewegung durchaus nahestand und dass er das in seiner Musik einfließen lassen wollte. Auch wenn Dvořák die Melodien dem Titel nach Zigeunern zuschrieb, wollte er alle Tschechen und Slowaken ansprechen und sagen, dass das Melodien sind, die sie von ihren Müttern vorgesungen bekommen haben könnten, also zum allgemeinen Liedgut gehören. Ich singe diese Lieder zwar nicht als ­Patriot, aber ich möchte mich – nachdem ich in München erstmals einen Liederabend singe – mit einem ganz 059 persönlichen Programm vorstellen. 059

Robert Schumanns Dichterliebe gehört in das Repertoire eines jeden Liedsängers, und auch als Nichtmuttersprachler habe ich einen sehr unmittelbaren Zugang zu den Liedern. Franz Liszt wiederum hat seine Lieder häufig als Experiment verstanden. Er war ein großer Opernliebhaber und hat zahlreiche Opernparaphrasen komponiert. Das merkt man seinen Liedern an: Die Petrarca-Sonette sind unheimlich kantabel geschrieben, fast wie eine kleine italienische Oper. Insgesamt sind Liederabende persönlicher: Die große Operngeste hat hier nichts verloren. Ich meide das. Ich ­suche einen eigenen Zugang, eine persönliche Lesart, ohne mit großen theatralen Mitteln die tiefe Emotion zu verdecken. Es ist natürlich schwieriger, seine Emotionen in Schranken zu halten, aber ohne geht es natürlich auch nicht. Ohne Gefühl sagt es dem Publikum rein gar nichts. Das ist die Krux des Liedgesangs.

S. 53 Rostfarbener Anzug und Hemd von Herr von Eden, ­weiße Tanzschuhe von American Apparel. S. 58 Zweireiher von Herr von Eden, Rollkragenpullover von Jil Sander. Lederschuhe von Burberry. S. 59 Rostfarbener Anzug und Hemd von Herr von Eden, weiße Tanzschuhe von American Apparel. S. 60 Anzughose und Strickjacke von Herr von Eden, blauer Rollkragenpullover von Jil Sander. Lederschuhe von Burberry. Liederabend Pavol Breslik Donnerstag, 28. Juli 2011, Prinzregententheater


Pavol Breslik

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Jonas Kaufmann

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Jonas Kaufmann Jonas Kaufmann arbeitet kontinuierlich mit dem Pian­isten Helmut Deutsch, seinem ehemaligen Lehrer und inzwischen Freund. Ein Liederabend beschwört für ihn vor allem eines: die Poesie des Augenblicks. Ich empfinde den Liedgesang als die Königsklasse des Musizierens, weil es die kleinstmögliche Form eines Ensembles ist: nur zwei Künstler, die sich im Idealfall blind verstehen, die aufeinander vertrauen und aufeinander hören. Das hat zur Folge, dass eine Interpretation jeden Abend anders sein wird – nicht weil man jedes Mal alles anders macht, sondern weil es darum geht, stets von vorne anzufangen und die Werke jedes Mal wieder in einem neuen Licht zu sehen. Liedgesang ist daher eine Form von Bekenntnis. Ich weiß, dass sich an der Interpretation des Liedgesangs immer wieder die Geister scheiden: Die einen versuchen ein Rollenspiel als objektiver Betrachter, der alles in eine Form bringt – rational und überlegt. Andere wiederum adaptieren das Werk für sich persönlich. Ich bin ein großer Verfechter der zweiten Variante: Für mich ist Liedgesang die vielleicht zarteste, subtilste Form von Gesang im Sinne der Emotionen. Es ist der tiefste Blick in die Seele. Ich muss mich öffnen und in jedem einzelnen Lied meinen Seeleninhalt preisgeben. In diesem Sommer singe ich u.a. Lieder von Gustav Mahler, Henri Duparc und Richard Strauss. Mein Pianist Helmut Deutsch hat eine unendliche Bibliothek, und die Suche nach dem Programm ist spannend. Duparc hat gerade mal ein gutes Dutzend Lieder geschrieben, leider, muss man sagen, denn wenn man diese Lieder hört, wünschte man sich, er hätte sich noch intensiver diesem Metier zugewandt. Bei Mahlers Rückert-Liedern stellt sich die Frage, ob man alle sechs macht. Strauss war immer wahnsinnig aufschäumend. Alle Werke betrachten das Thema intensiver Gefühlsausbrüche oder Gefühlsausdruck von unterschiedlichen Perspektiven, was für uns Musiker sehr spannend ist und eine Herausforderung für den Sänger, denn er begibt sich auf die schwierige Gratwanderung zwischen Sentiment und Kitsch. Man will natürlich alles geben und ganz in der Musik aufgehen – zumindest ich möchte das –, aber ich kann es eben nicht zu hundert Prozent bewerkstelligen, denn in dem Moment, wo mein Gefühl derart echt wäre – wenn mir echte Tränen kämen –, dann fiele vor dem Publikum plötzlich die Maske der Rolle herunter, und es sähe den Privatmenschen mit seinen Problemen. Der ganze Theateraufbau fiele zusammen, und das will man nicht sehen. Was man sehen will, ist das Gefühl. Und dennoch muss ich mit innerer Kontrolle singen, die wiederum nicht sichtbar sein darf. In dem Moment, wo ich diese Kontrolle zu deutlich spüren würde, wäre ich doch nur der technische Sänger. E Für mich erleichtert sich die Sache, weil ich in Helmut N Deutsch einen Musiker an der Seite habe, der zwar früher 062 D mal mein Lehrer war, der aber heute ein richtiger Partner 062 E

und Freund ist. Nach dem Studium war es ein wenig kurios: Anfangs habe ich mich überhaupt nicht getraut, irgendwas zu sagen – so erzählt es zumindest Helmut Deutsch –, und immer vorsichtig formuliert: „Dürfte ich vielleicht etwas sagen an der Stelle?“ Er meinte nur: „Bist Du verrückt, ich bin doch nicht mehr Dein Lehrer! Vergiss das, wir sind Partner und müssen das gemeinsam machen.“ Ich kenne andere musikalische Partner, denen es hilft, mit Reibungen und Konflikten zu ihren Begleitern ganz neue Dimensionen zu erreichen. Ich bin allerdings sehr froh, dass unser Musizieren konfliktfrei ist. Es ist schön, wenn man einen Partner hat, der genauso denkt und meine Ideen schon erspürt, der um die Stärken und Schwächen eines Sängers weiß. Wir sind beide jedes Mal wieder perplex nach einem Liederabend, wie viel Neues sich ergeben hat, selbst wenn es nur Nuancen sind, die kaum jemand im Publikum wahrnimmt. Für uns ist das ungeheuer erfrischend, wenn man spürt, wie es immer weitergeht, und dass man immer neue Details der Musik entdecken kann. Es wäre wirklich schade, wenn ich einmal an dem Punkt ankomme, an dem ich einen Abend rein aus Routine mache, wie ein Komiker, der seine Pointen am Fließband auswendig gelernt hat – das wäre wirklich nur Arbeit, Geld verdienen. Aber ich mache diese Liederabende hauptsächlich, weil es Spaß macht, weil es eine Freude ist zu musizieren und weil in dieser Form alles möglich ist: Tempo, Dynamik, ob leise, laut, wie auch immer – alles lässt sich sofort verändern, zumal ein Pianist, anders als ein Orchester, in Sekundenbruchteilen einen Klang zurücknehmen kann. Diese Freiheit genieße ich jedes Mal umso mehr, sodass ich wirklich die Poesie des Augenblicks auskoste.

S. 51 Anzug, Rollkragenpullover und Wollmantel von Strenesse. Loafers von Gravati. S. 61 Smoking von Strenesse, Hemd von Herr von Eden. ­ Seidenschal von Windsor. S. 63 Anzug und Rollkragenpullover von Strenesse. Liederabend Jonas Kaufmann Dienstag, 26. Juli 2011, Nationaltheater Alle Gespräche aufgezeichnet von Rainer Karlitschek und Olaf A. Schmitt.


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EXCERPT

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Kurz nach ihrem Sieg beim „Cardiff Singer of the World“ -Wettbewerb vor gut zwölf Jahren sang sie im Münchner Rheingold die Freia. Und begann eine Karriere als Primadonna anscheinend so ganz ohne Fachgrenzen. Auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper fühlt sie sich zu Hause. Ihre Münchner Auftritte, in jüngster Zeit als Elsa, Donna Anna, Violetta Valéry und Mimì, kann man Heimspiele nennen. In diesem Frühjahr stellte Anja Harteros sich einer neuen großen Herausforderung – der Partie der Feldmarschallin in Richard Strauss’ Der Rosenkavalier. Ein Gespräch über die Gedanken und Erwartungen einer Frau in den besten Jahren.

Einsicht, Eleganz und Raffinesse

INTERVIEW MIRON HAKENBECK ILLUSTRATION BERTO MARTÍNEZ


ANJA

HARTEROS

M A X J O S E P H Wann ist es an der Zeit, eine Feldmarschallin zu singen? A N J A H A R T E R O S Ich wurde immer wieder nach dieser Rolle gefragt. ­Natürlich habe ich schon lange überlegt, ab wann ich die Marschallin in mein Repertoire ­aufnehmen sollte. Aber ich hatte Zweifel, weil es eine Rolle ist, die durchaus von älteren Sängerinnen gesungen wird. Das macht sie natürlich auch zu einer schönen Rolle, einer, mit der man alt werden kann. Wobei die Marschallin überhaupt nicht als alte Frau vorgesehen ist. Sie ist eine Frau in den besten Jahren – Mitte 30. Strauss spricht von 32 Jahren. Dennoch sind ihre Gedanken sehr reif für eine 32-Jährige. Ich bin zwar auch ein tiefsinniger Mensch, aber ich glaube nicht, dass ich in diesem Alter schon so komplex gedacht habe. Von daher bin ich ganz froh, dass ich die 32 schon überschritten habe und dennoch als jung gelten kann für die Rolle. M J Schaut man auf die Rollen, die Sie sich in den letzten zehn Jahren zu eigen gemacht haben, so fällt deren unglaubliches Spektrum auf. Da gibt es Partien von Händel und Mozart, Verdi und Puccini, Wagner und Strauss. Das erfordert einen großen Farben- und Nuancenreichtum der Stimme. Ist diese Flexibilität eine Gabe oder Resultat 065 harter Arbeit? 065

AH Beides, aber ich habe das nicht geplant. Meine Stimme war irgendwie da, schwerer angelegt als die meiner Altersgenossinnen. Meine erste Lehrerin meinte sogar, ich sei Mezzosopran. Auf der Hochschule sagte mir meine neue Lehrerin: „Du bist kein Mezzo.“ Und damit sind wir zusammen glücklicherweise ins Sopranfach gegangen. Es ist sehr gut für die Stimme, wenn man erst einmal leichter singt. So habe ich zunächst lyrischere Rollen gesungen, als von Natur aus für mich vorgesehen. Meine Lehrerin war streng und konsequent. Sie hat mich überzeugt, auch auf der Bühne erst einmal bei diesen Rollen zu bleiben und vorrangig Mozart zu singen. Ohne dabei meinen Typ zu vergessen, denn im Mozart-Repertoire wählte ich Rollen wie die Gräfin oder Fiordiligi, Donna Anna und später dann Elettra – die dramatischeren Figuren also. Ich habe mit 26 aber auch Mimì schon gesungen, da sie im leichten PucciniFach anzusiedeln ist. Eva, eine lyrische Wagner-Rolle, mit 30, Violetta mit 31. Bezüglich Strauss darf ich auf wunderbare Erfahrungen mit Arabella zurückblicken. Flexibilität war also Bestandteil einer Ausbildung, die auf die Besonderheiten meiner Stimme einging, und offen­sichtlich gab es von Beginn an eine Tendenz zu verschiedenen Richtungen.


INTERVIEW

M J Als Marschallin traten Sängerinnen aus extrem unterschiedlichen Stimmfächern hervor: Denken wir allein an Christa Ludwig, Gwyneth Jones oder Elisabeth Schwarzkopf, so finden sich unter ihnen Mezzosoprane und hochdramatische Soprane, Brünnhilden, aber auch MozartStimmen. Die technischen Voraussetzungen der Rolle scheinen das zu erlauben. Liegen die Herausforderungen dieser Rolle in der Gestaltung? A H Die Rolle ist auch technisch gar nicht so einfach. Die Marschallin braucht eine strahlende Höhe, sonst kommt es im dritten Akt beim Terzett zu riesigen Problemen. Trotzdem benutzt Strauss für die Partie die meiste Zeit über ein Parlando in der Mittellage. Dieses Parlando ist von Sopranen viel schwerer überzeugend zu erreichen als von Mezzosopranen und stellt für mich wirklich eine Herausforderung dar. Denn ich möchte ein elegantes Parlando gestalten, mit einer Leichtigkeit, als würde ich sprechen, ohne Nachdruck oder Kraft. Die Marschallin hat viele schnelle, geistig ­gewitzte Stellen. Wenn man denen stimmlich zu starke Bedeutung gibt, um gegenüber dem Orchester lauter zu sein, würde das die Interpretation stören. M J Mit Salome und Elektra hat Strauss zwei regelrechte Tragödien komponiert. Das meiste, was ­darauf folgt, zeichnet eine gewisse Ambivalenz aus. Hofmannsthal und Strauss untertiteln den Rosen­ kavalier als „Komödie mit Musik“. Es geht auch um Alter, Zeit und Verzicht. Die Marschallin umgibt eine Aura von Melancholie. Ist Platz für wirkliche Tragik? AH Ich finde es aufregend, ja beunruhigend, wie der Marschallin immer wieder förmlich der Boden unter den Füßen weggleitet. Betrachtet man ihren großen Monolog über die Zeit, fallen die harmonischen Reibungen auf. Die melodischen Gegenbewegungen von Orchester und Gesangslinie in steter, fließender Weise gemahnen an die Zeit mit ihrem beständigen Auf und Ab – und drücken die innere Verfassung der Marschallin aus, während sie sich geistig stets über diese Erfahrung stellt. Das macht die Rolle unheimlich komplex. Auf der einen Seite steht der Verzicht auf Liebe. Der Feldmarschall, ihr Ehemann, kommt in dieser Oper überhaupt nicht vor. Die beiden ­verbindet sicher keine Liebesheirat. Andererseits gewinnt die Marschallin allen Situationen das Beste ab. Aber gerade das ist tragisch: immer diese Stärke in sich finden zu müssen. M J Die Verluste mit Gelassenheit tragen. Eigentlich eine Lebensweisheit, die man heute mit Anfang 30 noch nicht voraussetzen würde. A H Alles leicht zu nehmen, das ist ihre ganz bewusste Entscheidung. Daran zu denken, bereitet mir eine Gänsehaut. ­Negativ ausgedrückt heißt das: Sie ist immer gefangen. Ihre geäußerten Emotionen sind nie ganz hoch oder ganz tief. Sie bewahrt immer Contenance. In ihrem großen Monolog im ersten Akt, in dem sie über die Zeit sinniert, arbeitet sie sich ­immer wieder aus einem wirklichen Abgrund hoch, der sich 066 musikalisch auftut. Und bewahrt die Form noch vor sich selbst. 066

M J Sie fällt nicht ins Selbstmitleid. A H Auf keinen Fall! Aber man muss bei der Interpretation die Balance finden. Die Gefahr ist, zu sehr diesen lächelnden Tonfall zu zeigen. Ich möchte auch Momente finden, in denen man spürt, dass sie leidet, ohne sich selbst zu bemitleiden. M J Das hört sich an, als müsste man sehr viel zwischen den Zeilen ausdrücken können. A H Ich glaube, dass ich diese Rolle einige Vorstellungen singen muss, vielleicht auch Jahre, bis ich genau dies erreichen kann.

Die Figuren bei Strauss sind immer sehr modern, weil psychologisch stark durchleuchtet. M J Die Marschallin zeigt Ochs das Medaillon mit Octavians Bildnis und schlägt ihn als Überbringer der Rose an Ochs’ Auserwählte vor. Provoziert sie damit die Begegnung zwischen diesen beiden viel jüngeren Menschen? Provoziert sie die Trennung von Octavian? AH Ich denke, es wäre zu weit gedacht, das zu spielen. Die Marschallin kann an dieser Stelle noch nicht davon ausgehen, dass Sophie und Octavian sich später ineinander verlieben. Dazu müsste sie mehr wissen: wer dieses Mädchen ist, wie sie aussieht. Man muss das von der leichten Seite sehen. Da spielt sich eine Komödie ab: Octavian ist als Dienstmädchen verkleidet mit im Raum. Vielleicht zeigt sie dem Baron das Medaillon, um eine pikante und komische Situation zu provozieren. Es ist ein Spaßen mit der Blödheit und Lüsternheit des Barons. Und ein Spiel mit dem Feuer: Was würde passieren, wenn der Baron Octavian in diesem Moment erkennen würde? M J Später, wieder allein mit Octavian, prophezeit sie ihm ernsthaft und ganz ohne Hysterie, „dass er mich über kurz oder lang wird sitzen lassen“. Über seine Beteuerungen lebenslanger Liebe muss sie schmunzeln. Mit einer gewissen Wehmut will sie diesen jungen Mann über das Leben belehren, dann aber, am Ende des ersten Aktes, wird sie fast verrückt darüber, dass sie Octavian zum Abschied nicht geküsst hat. A H Sie hat sich gelobt, „ihn lieb zu haben in der richtigen Weis’“. Ihr Problem ist nur, dass sie ihn etwas lieber hat. Der Verlust fällt ihr sehr schwer. Warum hatte sie Interesse an einem so sehr jungen Mann, der 15 oder 17 Jahre alt ist? Weil er ein unheimlich poetischer und sensibler Geist ist. Das schafft eine Ebene, auf der sich beide treffen können. So einen Mann gibt es in der Gesellschaft, in der sie sich befindet – siehe Ochs und Feldmarschall –, nicht so oft.


ANJA

HARTEROS

M J Was wäre denn beider Perspektive? Eine Liebschaft auf Zeit oder zusammen durchzubrennen? A H Das würde sie nie machen. Sie hat eben doch auch Freude an den Aufgaben ihrer gesellschaftlichen Position. Das sieht man an der Morgenaudienz des ersten Aktes, wenn Diener, Beamte und Bittsteller kommen, um vorzusprechen – wahrscheinlich das tägliche Prozedere. Gerade heute aber hat sie dafür keinen Kopf … M J Nach der Nacht mit Octavian entdeckt sie plötzlich Spuren von Alter an sich. Hat sie diese Gedanken ans ­Alter zum ersten Mal? A H Die trägt sie schon lange mit sich herum. Wenn sie nachts aufsteht und die Uhren anhält, dann will sie die Zeit anhalten. Wenn man älter wird, fragt man sich, ob man einmal allein sein wird. Wer ist für mich da, wenn ich alt bin? Man lebt beispielsweise in der heutigen Zeit nicht mehr in großen Familien, die Familienmitglieder sind auf der Welt verstreut. Die Menschen sind auf der Suche nach Lösungen, wie es im Alter sein kann: Versorgen mich Kinder, oder muss ich ins Pflegeheim? Was ist ein Mehrgenerationenhaus? Die Marschallin hat keine Kinder. Sie ist natürlich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung sozial versorgt. Was bei ihr mitschwingt, ist die Angst vor der Einsamkeit und die Frage 067 nach dem Sinn von allem. Ich denke, wenn sie Kinder hätte, 067

kämen ihr diese Gedanken seltener. Mir ist etwas aufgefallen: Kinderlose Frauen haben im Alter oft noch etwas Mädchenhaftes. Da spürt man eine gewisse Diskrepanz. Ich habe darüber nachgedacht, vielleicht, weil ich selbst keine Kinder habe. Mütter wirken im gleichen Alter anders, nicht unbedingt älter, aber im gewissen Sinne gesetzter. Da ist vielleicht ein Sinn gefunden worden. Ich will nicht behaupten, dass den anderen etwas fehlt, aber ich spüre einen Unterschied. Und der spielt eine Rolle bei diesem Gedanken der Marschallin. M J Sie wundert sich über den Widerspruch zwischen objektiv ablaufender Zeit und innerer Wahrnehmung: „Wie kann das wirklich sein, dass ich die kleine Resi war und dass ich auch einmal die alte Frau sein werd? Wo ich doch immer die gleiche bin.“ Wenn sie rückwirkend die Vergangenheit betrachtet, wirkt es, als sei ein Lebensabschnitt in den anderen geflossen, ohne dass sie einen Zeitpunkt ausmachen kann, an dem das ­Alter begann, an dem alles anders geworden ist. AH Und Mütter können diese Grenzen eben viel eher ziehen. Wenn Sie mit einer Mutter sprechen, dann sagt sie: „Ich habe mit 22 das erste Kind gekriegt, mit 25 das zweite und mit 28 das dritte.“ Das setzt eine Gliederung der Zeit.


INTERVIEW

Auch Cherubino und Octavian haben erstaunliche Schnittmengen. Nur beginnt Der Rosenkavalier an ganz anderer Stelle. M J Die Oper bewegt sich vom Moment größter Intimität zwischen zwei Menschen zum gefassten Abschied und dem zaghaften Beginn einer anderen Liebe. Aber zu dem Moment selbstvergessener Zweisamkeit, zum Liebestaumel am Beginn der Oper, gibt es kein Zurück. A H Das ist sehr schmerzlich, aber der Lauf der Dinge. Ich glaube, dass Octavian nicht der letzte Liebhaber der ­Marschallin gewesen sein wird. Die Frage ist, ob es noch jemanden wie ihn geben kann. Außerdem – ab einem bestimmten Alter fallen die Liebhaber auch nicht so einfach vom Himmel.

M J Jetzt reden wir über moderne Fragen der Identität. Das Stück spielt im Rokoko-Dekor von Wien um 1750. A H Die Figuren bei Strauss sind aber immer sehr modern, weil psychologisch stark durchleuchtet. Die Charaktere sind alle kompliziert. Das liegt immer auch am Libretto. Beim Rosenkavalier bietet Hugo von Hofmannsthal Strauss eine großartige, tiefe und zeitlose Vorlage. Trotz Rokoko und Ständeordnung.

Ihre geäußerten Emotionen sind nie ganz hoch oder ganz tief. Sie bewahrt immer Contenance. Und bewahrt die Form noch vor sich selbst. M J Verhält sich die Marschallin aufgrund des Altersunterschieds Octavian gegenüber mütterlich? A H Ganz und gar nicht. (überlegt) Oder sagen wir mal so: Sie hat manchmal etwas Belehrendes ihm ­gegenüber. Aber man sollte vermeiden, diese Seite der Rolle zu gewichtig zu gestalten. Die beiden haben unabhängig vom Alter eine ganz enorme Schnittmenge aufgrund ihrer ähnlichen Mentalität. Aber es gibt eben auch Unterschiede: den Grad an Möglichkeiten zum Beispiel, die ihnen im Leben noch offenstehen. Die Marschallin ist verheiratet. Für sie ist es eine Affäre, die unbemerkt bleiben sollte. Ohne Zukunft. Und auch wenn sie sich für Momente in Octavian auflösen kann, wird sie immer wieder um dieses Nicht-Zusammenpassen wissen, während er sich idealistisch und stürmisch noch alles wünschen und vorstellen kann. M J Das Drama des alternden Ochs’ wird auf der Bühne ausgelebt, mit ihm als Mittelpunkt und Opfer des Komödienspiels. Die Marschallin verschwindet im zweiten Akt und erscheint erst wieder im dritten – als weise Löserin der Komplikationen. Finden ihr Drama und ihre Entwicklung quasi in der Garderobe statt? A H Das steckt für mich voller weiterer Fragen, die sich hoffentlich mit der Erfahrung der szenischen Arbeit lösen: Was weiß sie von den Vorgängen im Haus Faninal? Von der Rosenübergabe? Von Octavians Gefühlen? Was ist ihre Absicht? MJ Spannend auch, da der erste Akt mit dem verfehlten Abschied endet, mit dem vergessenen Kuss und dem Sehnen danach, diesen Moment nachzuholen. Nur gibt es diesen Kuss im dritten Akt auch nicht mehr. Die Marschallin fliegt nicht mit offenen Armen auf Octavian zu, sondern entlässt ihn in die Liebe zu Sophie. A H Ihre Wandlungsfähigkeit und Einsicht, Eleganz und Raffinesse, Spontaneität und Gefühlstiefe, all das erinnert mich stark an die Figaro-Gräfin und deren „tollen Tag“. So gesehen könnte man die Marschallin als Weiterführung der Gräfin betrachten.

Der Rosenkavalier Komödie für Musik von Hugo von Hofmannsthal, Musik von Richard Strauss Vorstellungen am Dienstag, 19. und Samstag, 23. Juli 2011, Nationaltheater

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Das Mädchen, das Sand fraß

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Text Paulus Hochgatterer Bilder Chiharu Shiota

Ein Kind schreit. Ein Kind verstummt. Zwei poetologische Grundfiguren.

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Zwei Aufführungen während der Opernfestspiele thema­­ti­ sieren Gewalt gegen Kinder. In Undankbare Biester, einer der beiden Urauffüh­­ rungen im Pavillon 21, wachsen die Erlebnisse fünf misshandelter Kinder zu albtraumhaften Visionen eines Psychiaters an, der selten Zeit für die seelischen Probleme seiner Ex-Frau und seines eigenen Sohnes findet. Martin Kušejs Inszenierung von Antonín Dvořáks Rusalka deutet die unglückliche Nixe als eingesperrtes Opfer ihres Vaters. Der österreichische Psychia­ ter und Schriftsteller Paulus Hochgatterer über schreiende und stumme Kinder. Manche Kinder haben es gut, überhaupt und hinsichtlich der Entwicklung ihrer narrativen Kompetenz im Besonderen. Kaum sind sie da, wird mit ihnen kommuniziert; kaum spitzen sie merkbar die Ohren, hören sie schon das Neueste aus der Familie. Wenig später erzählen sie selbst, heute noch gestengestützte Dreiwortgeschichten, morgen schon ganze Romane. Manche Kinder haben es nicht so gut. Ihnen geraten Sprache und Erzählung zu etwas anderem. Ich selbst lernte dieses andere anhand des Mädchens kennen, das Sand fraß. Ich war damals vier Jahre alt. Meine Eltern, meine Schwestern und ich waren in eine Siedlung gezogen, in der vor allem junge Familien mit ihren Kindern wohnten. Ich gewann rasch Freunde, Buben hauptsächlich, die, ein wenig älter als ich, dadurch gekennzeichnet waren, dass sie alle ein Gewehr mit Schussfunktion besaßen. Schussfunktion bedeutete einen an der Oberkante des Gewehrs montierten Einmachgummi mit Lederfleck, mit dem 073 man wie mit einer Schleuder kleine Steine abfeuern konnte. 073

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Ich bedrängte meinen Vater, mir auch ein derartiges Gewehr zu machen. Er gab nach und tat, was in bestimmten Entwicklungsphasen die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ausmacht: Er betrog mich, das heißt, er sägte aus einem Holzbrett ein wunderbares Gewehr, so lang wie die der anderen, glättete es mit Schleifpapier und montierte einen alten Hanfriemen als Tragegurt. Schussgummi gab es keinen. Das sei zu ­gefährlich, man sei nicht im Krieg, Jäger seien zu dumm, um sie sich zum Vorbild zu nehmen – man kann sich die Argumente eines Pädagogen-Vaters vorstellen. Ich war also genötigt, imaginär zu schießen, und fühlte mich in der Gruppe noch ein wenig mehr als der, der ich sowieso war: als der Kleinste. Man schoss auf Baumstämme, Tauben und den kleinen nervösen Hund des Schulwartes, so lange, bis es fad wurde. An diesem Punkt ging man meistens nach Hause. Nur einmal sagte einer von uns, es wohne da um die Ecke, in einem Haus mit Hof, ein Mädchen, das sei schon sieben, müsse also eigentlich zur Schule gehen, könne aber kein Wort sprechen. „Und außerdem frisst sie Sand.“ Keiner von uns hatte jemals jemanden gesehen, der mit sieben nicht sprach, und dass ein Mensch Sand fraß, konnte es einfach nicht geben. Wir zogen daher auf der Stelle los, um das Mädchen zu finden, gingen einmal ans Tor dieses Hauses, zweimal, zehnmal, dann war das Mädchen plötzlich da. Es hatte schwarze glatte Haare, daran kann ich mich erinnern; es saß mit dem Rücken an die Hausmauer gelehnt und hielt in einer Hand eine nackte Puppe. Wir stellten uns in einiger Entfernung im Halbkreis auf; keiner wusste, was er sagen sollte. Irgendwann hob einer von uns das Gewehr. Nach einer Weile standen wir alle da und hatten unsere ­Gewehre auf das Mädchen gerichtet. Keiner schoss, keiner sprach, und trotzdem wussten wir, was wir in Wahrheit wollten. Ich habe keine Ahnung, was die Sache letztlich zum Kippen brachte, ein Zucken, eine kurze Vorwärtsbewegung, vielleicht auch etwas, das ausschließlich in dem Mädchen vorging. Es fing jedenfalls plötzlich an zu schreien, ein ­­­­anund abschwellendes offenes A, so gellend, so laut, dass wir auf der Stelle davonliefen. Wir sind einfach gelaufen, das weiß ich noch gut, ich habe unglaubliche Angst gehabt, und wir haben uns nicht einmal angesehen. Nachher habe ich allen möglichen Leuten eine Geschichte erzählt, die erfunden war. Ich habe erzählt, wie wir das Mädchen entdeckt haben, samt der nackten Puppe, wie es tatsächlich die ganze Zeit nichts gesprochen hat und wie wir auch garantiert nicht geschossen haben. Am Schluss habe ich gesagt: „Und dann hat sie Sand gefressen.“ Das war gelogen. Vom Schreien habe ich nichts gesagt. Dass es dieses Mädchen, von dem ich heute nicht einmal mehr den Namen weiß, nicht gut hatte, war mir schon ­damals klar. Ob es eine Behinderung war oder irgendeine Art der psychischen Verletzung, die ihre Sprache zu etwas anderem machte, konnte ich später nicht mehr erhellen.


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Fest steht, dass das, was uns dermaßen mit Angst erfüllte, was uns alle zum Davonlaufen und mich zum konsequenten Erzählen einer Lügengeschichte brachte, etwas im innersten Wesen Körperliches war. Ich nenne es hier, da es ums Erzählen gehen soll, eine erste poetologische Grundfigur:

Ein Kind schreit. Was tun die anderen? Sie erschrecken und laufen davon. Sie halten sich die Ohren zu. Sie wollen nichts gehört haben. Sie haben Dinge gesehen, die nicht da waren. Sie erzählen Lügengeschichten. Manchmal bleiben sie stehen und drehen sich um. Wir Anständigen atmen auf.

Ein Kind schreit.

Kinder, die schreien, haben noch etwas zu verlieren. Es gibt auch andere. Eines von ihnen war Hans. Hans ging mit mir in die dritte Volksschulklasse, das heißt, ich kam dorthin, von der zweiten in die dritte, wie üblich, und er war schon dort. Er war sitzen geblieben, was ihn für uns Mitschüler ­interessant machte, hatte er uns doch damit ein Jahr ­Le­bens­erfahrung voraus. Außerdem wohnte Hans in einer abseits gelegenen alten Mühle, in der es keinen Strom gab, Telefon schon gar nicht. Wir stellten uns das romantisch und ein wenig gruselig vor, ein Holzfeuer im Herd, Kerzen und Petroleumlampen. Hans’ Vater sah man ab und zu auf einem blauen Moped mit Anhänger, Hans’ Mutter sah man nie. Es hieß, sie sei so dick, dass sie sich nicht aus dem Bett rühren könne, und eigentlich sollte sie an irgendwas ­operiert werden, was aber wegen des Dickseins nicht ging. Hans konnte sensationell kopfrechnen, auch multiplizieren und dividieren, und er wusste, wie viel eine Million war. Unserer Lehrerin war das egal. Sie, die in erster Linie für den Tierschutz lebte, wie sie regelmäßig kundtat, und tatsächlich eine zahme Dohle zu Hause hatte, nahm in der Klasse vor allem die körperliche Sauberkeit von uns Schülern in den Blick. Unter anderem ließ sie einmal, weil ihr ihre schmutzigen Fingernägel missfielen, unsere Mitschülerin Monika so lange mit ausgestreckten Armen, den Bambusstab auf den Fingerspitzen, vor dem Lehrertisch stehen, bis das Mädchen umfiel wie ein Stock. Da jeder sehen konnte, dass die Sache mit der Sauberkeit bei Hans aussichtslos war, konzentrierte sich unsere Frau Lehrerin von Anfang an auf die Verbesserung seiner Leistungen in Deutsch. Als nichts etwas half und er weiterhin sensationell oft Buchstaben wegließ und vertauschte, begann sie schließlich, seine mit roten Korrekturen übersäten Aufsätze und Diktate in den Schaukasten am Gang zu stellen, damit alle sie in ihrer ganzen Fehlerpracht bewundern konnten. Unter anderem hatte Hans in einem Aufsatz siebenmal statt des Wortes „Turnhose“ „Trumhose“ ­geschrieben, und dieses „Trum“ allein war gut geeignet, um sich einige Wochen lang über ihn lustig zu machen. Keiner tat ­etwas dagegen, schon gar nicht die Kollegen der Frau Lehrerin. Als ich die Sache meinem Vater erzählte, murmelte er etwas von „Legasthenie“, ein Wort, das ich damals nicht ­verstand. Mein Vater tat auch nichts dagegen. Woche für Woche kam weiterhin zumindest eins der Hefte von Hans in den Schaukasten. Parallel dazu wurde er selbst immer ruhiger.

Manche Kinder haben es nicht so gut. Die schreien dann, oder, um die ursprüngliche Formel noch einmal zu gebrauchen, es gerät ihnen die Sprache zu etwas anderem, zu einer lauten und wenig strukturierten phonetischen Entladung. Sie nehmen alle Worte, die sie in sich finden können, formen sie zu einem cluster- oder projektilartigen Gebilde und stoßen es mit der ganzen Energie, die aufzubringen sie in der Lage sind, mit aller Luft, die sich in ihren Lungen befindet, durch den Kehlkopf nach außen. Im Sinne der lexikalischen Semantik bedeutet ein Schrei in der Regel nichts. Glücklicherweise ist das heute auch nicht unser Blick­ winkel, ­diskurssemiotisch oder poetologisch betrachtet, verhält es sich völlig anders. Ein Kind schreit. Wann schreien Kinder? (Und ich meine jetzt nicht die aus Lust und Langeweile resultierenden Lautäußerungen auf Schulhöfen oder das Gequengel von Zwölfjährigen, die sich mit der Aufrechterhaltung des RedBull-Verbotes konfrontiert sehen; ich meine das Schreien des Mädchens, das Sand fraß.) Kinder schreien, wenn ihnen Gewehre vor die Nase gehalten werden, oder wenn man sich anschickt, ihnen die Eltern wegzunehmen. Kinder schreien, wenn sie sich von Vernichtung bedroht sehen; in einem ­gewissen Entwicklungsalter reicht es, wenn die Mutter den Raum verlässt, und in einer gewissen psychischen Verfassung kann das Gewehr auch aus Holz sein. In Österreich schreien derzeit Migrantenkinder, die man trotz jahrelanger erfolgreicher Integration von der Mutter trennt und abschiebt; aber das ist eine andere Geschichte, außerdem eine politische Bemerkung, die in einer poetologischen Abhandlung nichts zu suchen hat. Kinder schreien, wenn sie noch etwas zu verlieren haben, wenn auf einer unbewussten Ebene die Idee, alle Worte und alle Geschichten zu bündeln, sinnvoll erscheint. Ich benenne alles, was ich kenne, jedes Ding, jede Person, jeden Geistesoder Gemütszustand; ich schlage in jedes einen Haken, der mich hält. Ich rufe ein jedes, dem ich jemals einen Namen gegeben habe, als Nothelfer an, wie in einer hoch verdichteten Litanei. Ich nütze alle Worte, die ich gesprochen habe, zur Klage und ich komprimiere alle Geschichten, die in mich hineinerzählt wurden, von jemand außerhalb oder von mir selbst, zu einem gewaltigen hellen Geschoss, um die Gefahr, die mich bedroht, am Ende vielleicht doch abzuwehren. Schreiende Kinder wehren sich. Das macht sie manchmal 074 unbequem. 074

Es gibt Kinder, die haben nichts mehr zu verlieren. Dass dieser Satz ein wenig pathetisch klingt, macht ihn leider nicht falsch. Es sind Kinder, deren Leben zentral von der Erfahrung bestimmt wird, dass sich ihre Worte und Sätze nicht bewähren; dass man zwar allerhand benennen kann – Dinge, Personen, Geistes- und Gemütszustände –, sich aber


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jedenfalls endgültig weg, keiner wusste wohin. Die Lehrerin schwieg, und wir spekulierten, ob er eventuell in die Sonderschule gewechselt hatte. Eine Weile schmiedeten wir Pläne, wie wir uns an die alte Mühle anschleichen würden, um ­herauszufinden, ob er noch dort wohnte. Am Ende trauten wir uns dann doch nicht hin.

nirgendwo ein Haken hineinschlagen lässt, der auch hält; dass da kein Nothelfer ist, der auftaucht, wenn man ihn beim Namen ruft; dass jede Klage ins Leere läuft und dass keines der narrativen Geschosse, die abzufeuern man vielleicht noch imstande ist, auch tatsächlich trifft. Diese Kinder geraten in eine Verfassung, die ich in der minimalen Systematik dieses Textes als eine zweite poetologische Grundfigur bezeichnen möchte:

Heute denke ich, dass es wohl nicht die Lehrerin allein war, die Hans zum Verstummen brachte, sondern vermutlich auch sein Vater, der auf seinem Mopedanhänger immer wieder größere Mengen Doppelliterflaschen transportierte, manchmal mit Wein, manchmal ohne, und vielleicht auch die Mutter, die sich über die vielen roten Korrekturen in seinen Heften und über die Unfreundlichkeiten, die am Ende seiner Arbeiten zu lesen waren, garantiert mächtig aufregte.

Ein Kind verstummt. Ein Kind verstummt, noch einmal, weil seine Worte und seine Geschichten sich nicht bewähren; weil auf nichts, was da im Begriffs- und Erzählhirn aufliegt, wirklich Verlass ist; weil jedes winzige Etwas, das man da eventuell herauslassen könnte, dazu taugt, Unruhe und Verwirrung zu stiften. Mit anderen Worten: Ein Kind verstummt, weil da eine wesentliche Inkongruenz zwischen seiner eigenen Welterzählung und jener der wichtigsten Bezugspersonen besteht.

Was mir heute zur Geschichte von Hans noch einfällt, ist, dass in einer ziemlich rezenten Studie Jugendliche mit ­einer Legasthenie eine signifikant höhere Suizidhäufigkeit aufweisen als andere – obwohl ich dieses dunkelgraue ­Assoziat gleich wieder wegschiebe und der Überzeugung bin, dass Hans es irgendwie geschafft hat. Er ist Mathematiker geworden oder Ingenieur, er spricht ab und zu, denke ich, und er hat ein Rechtschreibprogramm, das ihm jede „Trumhose“ rechtzeitig rot unterwellt, wenn er das so möchte.

Nicht nur das konsequente Prügeln des konsequent betrunkenen Vaters samt der entwertenden Begleitmusik macht das Kind stumm, sondern vor allem dass der Vater dem Kind vermittelt, die Sache gehöre so. Nicht nur die Tatsache, dass die Mutter psychisch krank ist, regelmäßig ins Spital muss und ebenso regelmäßig von Selbstmord spricht, bringt das Kind zum Schweigen, sondern, mehr noch, dass die Mutter dem Kind ständig erklärt, auf welche Weise seine, des Kindes, verwerfliche Rede ihre Verzweiflung an der Welt verursache. Nicht nur der Penis des Vaters, der da jeden Freitagabend in das Kind gesteckt wird, stopft ihm das Maul, sondern, mehr noch, die herbeigeredete Gewissheit, dass das schon in Ordnung sei und lediglich die im Kind vorhandenen Sätze von Richtig und Falsch, von Gut und Böse, von Dein und Mein, dringend der Korrektur bedürften.

Paulus Hochgatterer, geboren in Amstetten in Niederösterreich, hat Medizin und Psychologie studiert. Er lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Das Matratzenhaus. Undankbare Biester Kammeroper für sieben Musiker, vier Sänger und fünf Jugendliche von Krétakör Uraufführung am Dienstag, 19. Juli 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Termine im Spielplan ab S. 209

Ein Kind verstummt, und es ist, genau genommen, nicht so, dass die Sprache und die Erzählung aus ihm entfernt werden, paranoid abgesaugt, herausgeprügelt oder herausgefickt; sie werden vielmehr in Schachteln gepackt, verschnürt, versiegelt und in einem der hinteren cerebralen Archivräume abgelegt. Dort sind sie dann nur mittels spezieller Expertenmethoden zugänglich, therapeutisch oder literarisch. Apropos literarisch: Was wurde eigentlich aus Hans mit der Trumhose? Geschichten wollen zu Ende erzählt werden. Hans sprach ab Februar gar nichts mehr. Er trieb es nicht weiter, wie manche mutistische Kinder es tun, das heißt, er verkroch sich weder unter dem Tisch noch begann er, dem Unterricht fernzubleiben. Er saß einfach da, schaute neutral in die Gegend, schrieb manchmal mit, manchmal nicht, und sagte kein einziges Wort. Seltsamerweise akzeptierten wir das augenblicklich, so, als sei er von Anfang an stumm gewesen oder als trage er etwas Abstand Gebietendes mit sich herum, eine Art Weihe. Nach den Osterferien war er dann

Rusalka Lyrisches Märchen in drei Akten von Antonín Dvořák Vorstellungen am Freitag, 15. und Montag, 18. Juli 2011, Nationaltheater

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HIGH EXPECTATIONS, 2010 Installationsansicht, Celebrity – the One and the Many, MNK im ZKM Karlsruhe, 2010


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LAST PERFORMANCE, 2009


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BALL AND CHAIN, 2004

UNTITLED (SORRY MAMA), 2007

TALA, 2007


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DRAMA QUEENS, 2007 Filmstill

GO GO GO!, 2005

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MODERN MOSES, 2006


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DRAGSET


PORTFOLIO

Installationsansicht (Apartmentblock), Celebrity – the One and the Many, MNK im ZKM Karlsruhe, 2010


ELMGREEN SILENT WISHES AND BROKEN DREAMS …

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Das übergreifende Thema der aktuellen Spielzeit „Unfrei frei“ reflektiert gesellschaftliche Realität und zugleich die beiden Seiten der Maske des Theaters. Die Werke von Elmgreen & Dragset folgen diesem Leitmotiv auf treffende und dennoch subtile Weise. Sinnbildlich dafür steht Ball and Chain (2004): Obwohl geöffnet, lässt die Skulptur an gesellschaftliche Fesseln denken, deren Rollenbilder und Normen. Die Auseinandersetzung mit den divergierenden Polen von Intimität und Öffentlichkeit, die Analyse von soziologischen Strukturen und Konflikten und die Hinterfragung von Kunst und ihrer Rezeption ­geben dem Werk von Elmgreen & Dragset einen gesellschaftlich relevanten Schwerpunkt. Ganz im Sinne Sha­ kespeares sehen sie die Welt als Bühne und das Publikum als Akteur innerhalb ihrer Inszenierung. Das skandinavische Künstlerduo überlässt die Ausformulierung ihrer künstlerischen Ansätze der Reflexion des Betrachters. Die theatral-performativen und zudem meist installativ ausgerichteten Werke von Michael Elmgreen (geb. 1961, lebt in Berlin und London) und Ingar Dragset (geb. 1969, lebt in Berlin) zeichnen sich durch eine

Mixtur von Architektur, Design und Performance aus; sie bilden in diesem Sinn eine Bühnensituation realer Begebenheiten nach. Es sind theatrale „Sets“, die die Schauplätze für menschliche Aktionen in ihrer Komplexität überspitzt nachbilden. So haben die Werke aus dem Bestand der Sammlung Goetz in der Bayerischen Staatsoper einen in vielfacher Hinsicht bereichernden Ausstellungsort gefunden. Die Oper ist der Schauplatz und Spiegel von Wünschen und von immer gültigen ­Fragen – nach Liebe, Eifersucht und nicht zuletzt nach gesellschaftlichen Konventionen und deren Veränderungen. Tala (2007) empfängt die Opernbesucher zu Beginn. Ist sie, die ­Bedienstete, vergoldet, da sie eine unersetzliche Hilfe im Alltag ist, oder ist sie in ihrem aufopfernden Beruf in einer goldenen Umgebung bereits erstarrt? Die Flucht aus dem familiären Umfeld, von den Erwartungen und vom ausgeübten Druck, ist in Untitled (Sorry Mama) (2007) Sujet – auf dem ­Kaminsims sind die Kindheitsfotos der Künstler aufgestellt, quer über den darüberhängenden Spiegel steht „Sorry Mama“ geschrieben. Wieder werden Fragen nach ­Beweggründen und Hinter-

Silent wishes and broken dreams … Ausstellung ausgewählter Installationen von Elmgreen & Dragset aus dem Bestand der Sammlung Goetz Bis Sonntag, 31. Juli 2011, Nationaltheater Eintritt nur mit einer gültigen Eintrittskarte für die Abendvor­stellung

Ingar Dragset und Michael Elmgreen, 2011

Öffentliche Führungen: Sonntag, 26. Juni 2011, 10:00 Uhr Sonntag, 17. Juli 2011, 16:00 Uhr Treffpunkt Eingangshalle Nord Puppets & Sculptures Kunstfilme von Elmgreen & Dragset und Laurie Simmons Montag, 25. u. Dienstag, 26. Juli 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Informationen im Spielplan ab S. 209 S. 81– 85: Courtesy Sammlung Goetz

In Zusammenarbeit mit der Sammlung Goetz und dem Museum Villa Stuck. Alle Werke von Elmgreen & Dragset © VG Bild-Kunst, Bonn 2011

DRAGSET

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gründen beim Betrachter wach, zugleich drängen sich individuelle und ­subjektive Erfahrungen bei der Reflexion über das Kunstwerk auf, sie komplettieren dessen narrativen Ansatz. Auch die beiden weiteren Kunstwerke, die zu sehen sind, spielen mit der Erwartungshaltung des Betrachters. Die verlassene Tanzfläche in Go Go Go! (2005), das zugleich als Hommage an den Konzept­künstler Félix González-Torres ­gesehen werden kann, ist Stellvertreter für die Bretter, die die Welt ­bedeuten. Last Performance (2009) zeigt eine für immer verlassene Künstlergarderobe. Sie wird zur Chiffre für Ruhm und Scheitern, für Applaus und Einsamkeit. Die Arbeiten erzählen von heimlichen Kindheitsträumen und zugleich von den Konflikten und dem Scheitern in der realen Welt. Elmgreen & Dragset ­legen mit einem Augenzwinkern und mit Mut die Möglichkeit der freien Entscheidung eines Individuums offen.

VERENA HEIN, KARSTEN LÖCKEMANN


KILIAN

KIRCHGE SSNER

LIEBER GUTE ALS SCHÖNE MUSIK Make No Noise, Miroslav Srnkas erste abend­füllende Oper, wird im Pavillon 21 uraufgeführt. Für den tschechischen Kom­ponisten ist der unmittelbare Zugang zu seiner Musik wichtiger als die intellektuelle Aus­einandersetzung. Ein Porträt aus seiner Heimatstadt Prag.

Miroslav Srnka Foto: Nico Serda

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Bei jedem Schritt knatscht der Morast, so früh am Morgen sind die Wege im Park noch aufgeweicht von der nächtlichen Feuchte. Miroslav Srnka blinzelt in die Sonne, die durch die Baumwipfel fällt, und stapft voran. Der zugewachsene Schlosspark am Rande Prags gehört ihm fast allein zu dieser Stunde. Srnka schweigt und lauscht, sein Spaziergang fügt sich in seinem Kopf zu einer Symphonie – die Schritte geben den Rhythmus vor, die Takte sind ausgefüllt vom Hämmern der Spechte, vom Zwitschern der Amseln und von dem Rauschen, das gedämpft aus der aufwachenden Stadt herüberweht. Es sind diese zwei Stunden auf dem Morgenspaziergang, in denen die Musik von Miroslav Srnka entsteht. Hier merkt er nicht, wie sich Jeans und Schuhe bräunlich färben vom spritzenden Matsch, er hat keinen Blick für die Mauer des verwilderten Schlossparks, von der sich der Putz schält, er nimmt nicht wahr, wie sich die kunstvoll arrangierte Wildnis des englischen Parks vor dem Schloss Hvezda zu einer Lichtung mit Wasserspielen öffnet. Sein Tempo ist hoch, und wenn er sich dann in sein Stammcafé gleich neben dem Park setzt, rinnen die Schweißtropfen von seinem Gesicht. Es ist Halbzeit auf seinem Marsch, Srnka packt aus der Umhängetasche sein ledernes Notizbuch aus und nippt am grünen Tee. „Wenn ich mich hinsetze und schreibe, habe ich die Musik schon im Kopf“, sagt Miroslav Srnka: „Ich bringe die Ideen nur noch zu Papier.“ Er fällt auf hier in dem Café, in dem sich an den Nachbartischen Geschäftsleute über ihre Verträge beugen und Mütter auf dem Weg zum Einkaufen mit dem Kinderwagen Station machen: Ein zierlicher Mann von 36 Jahren mit jungenhaftem Gesicht, Schweiß auf der Stirn und Dreck an den Schuhen. Wenn er gleich nach Hause kommt, die letzten paar Kilometer des Spaziergangs hinter sich, wird er sich einschließen in sein Arbeitszimmer, allein mit seinem Computer, in den er die Noten schreibt, und mit seinen Ideen aus dem Schlosspark. Das ist die kleine Welt des Miroslav Srnka, die Welt, die er hermetisch abschottet. Näher als zu seinem morgendlichen Spaziergang lässt er niemanden

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an sich heran. „Beim Komponieren hat mir noch nicht einmal meine Frau zugeschaut“, sagt er, „kein einziges Mal in den 17 Jahren, die wir uns kennen.“ Und dann gibt es noch seine große Welt: die Bühnen von Paris bis Monte Carlo, zu denen er eingeladen wird, um der Aufführung seiner Werke beizuwohnen. Die Proben mit Solisten und Orchestern. Die Reisen zum Librettisten nach Australien oder zum Konzert nach Wien. Das ist der öffentliche Miroslav Srnka, der Superstar der zeitgenössischen Musik, der als Jetset-Komponist von einer Bühne zur nächsten unterwegs ist. Der abends im Hotelzimmer sitzt und, zurückgezogen vom Wirbel um seine Person, die nächsten Noten schreibt. Der gerade dabei ist, seine Projekte für die Jahre 2013 und 2014 zu planen. Der musikalische Weg von Miroslav Srnka begann im Prager Nationaltheater, dem erhabenen Bau am Ufer der Moldau. Es war noch zu kommunistischer Zeit, Miroslav Srnka besuchte als Grundschüler eine der großen Vorstellungen. Man gab Antonín Dvořáks ­Rusalka, und um Srnka war es geschehen: „Diese Wucht der Musik, die einen in den Sitz presst, hat mich einfach überwältigt“, sagt er. Ganze Passagen der Rusalka haben sich ihm eingebrannt; der Abend mit Dvořák war sein Erweckungserlebnis. Dass er Musik machen wollte, wusste er seit diesem Moment – für ihn, den Jungen aus einer Arbeiterfamilie, ein ungewöhnlicher Wunsch. Als er anfing zu studieren ­– er schrieb sich für Musikwissenschaft ein –, dachte

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Miroslav Srnka nicht ans Komponieren. Ab und zu setzte er ein paar Noten, alleine in seiner Studierstube, aber er tat es planlos und ohne Konzept, eher als Fingerübung. Bis einige seiner Kommilitonen ein paar seiner Blätter Milan Slavický zusteckten, Komponist und Doyen am Prager Konservatorium. Er war es, der Miroslav Srnka daraufhin überredete, im Studium von der trockenen Theorie auf Komposition umzuschwenken. Srnka studierte an der Prager Akademie der Darstellenden Künste, er verbrachte mehrere Monate am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique. Die Szene nahm allmählich von ihm Kenntnis, vom interessanten Novizen aus Prag. „Nur ich selbst habe noch immer nicht geglaubt, dass ich Komponist werde, als ich mein Studium beendet habe“, sagt Srnka. Und irgendwie hatte er ja auch recht, die Wahrscheinlichkeit sprach gegen ihn; gegen den Spätberufenen. In einem Alter, in dem andere schon renommierte Komponieraufträge haben, machte er sich mit dem Instrumentarium der zeitgenössischen Musik erst vertraut; wo andere ihre Uraufführung auf großen Festivals erleben, schlug er sich bei der Probe seiner ersten eigenen Stücke mit dem studentischen Orchester herum. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der Miroslav Srnka innerhalb weniger Jahre aufstieg, sagt alles über sein Talent, über sein musikalisches Gespür, über seine virtuose Beherrschung des Handwerkszeugs. Aber sie zeugt auch von seiner Konzentration, von seiner ungeheuren Energie, die niemand ahnt, wenn Srnka sich nach Konzerten auf der Bühne verbeugt, schüchtern und jungenhaft inmitten des prasselnden Beifalls. Sein Aufstieg vollzog sich innerhalb weniger Jahre: 2003 schloss er sein Studium ab, 2004 nahm ihn der renommierte Bärenreiter-Verlag unter Vertrag, 2005 führte die Berliner Staatsoper Unter den Linden seine 13-minütige Kammeroper Wall auf, 2006 wurde er für eine Spielzeit „Komponist für Heidelberg“ am dortigen Theater. Und 2009 bekam er den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung, der als Oscar der zeitgenössischen Musik gilt. Aber was ist es, das seine Musik ausmacht? Die Kritiker sehen den jungen


KILIAN

Prager in der Tradition von Smetana und Dvořák, von Janáček und Martinů, manche hörten gar „Elemente des böhmischen Musikantentums“ in seiner Musik, emporgehoben auf eine ungeahnte intellektuelle Ebene. Srnka schmunzelt über solche Vergleiche, natürlich schmeicheln sie ihm. Und ganz abwegig sind sie nicht: Als Musikwissenschaftler hat er sich intensiv mit seinen böhmischen und mährischen Vorbildern beschäftigt, vor allem Leoš Janáčeks Musik mit ihrem schwer entschlüsselbaren Charme hat es ihm angetan. „Für mich“, sagt Miroslav Srnka, „ist der Unterschied zwischen guter und schöner Musik das Entscheidende.“ Schöne Musik ist für ihn das Gefällige, das Effektheischerische. Er selbst will gute Musik machen – handwerklich sauber, kunstvoll ausgearbeitet, von einer geradezu mathematischen Exaktheit in ihrem Aufbau und trotzdem zugänglich. Mit dem Intellektualismus, der oft der zeitgenössischen Musik angeheftet werde, will Srnka nichts zu tun haben: „Wer Dinge verstehen will, soll sich mit Philosophie beschäftigen, aber nicht mit Musik. Natürlich stehen hinter der Musik klar definierte Ideen – aber das beim Zuhören in den Vordergrund zu stellen, finde ich absolut falsch.“ Es sei die „Katastrophe der zeitgenössischen Musik“, dass sie als schwer verständlich gilt: Damit nehme man Zuhörern die Chance, sich unbefangen, aber neugierig in den Konzertsaal zu setzen und sich einfach der Musik hinzugeben – so wie er selbst damals im Prager Nationaltheater die Rusalka zunächst gefühlt hat, bevor er sie Jahre später analysieren konnte. Wer den Anspruch von Miroslav Srnka verstehen will, der muss ihn mit seinen Manuskripten erleben. „Schauen Sie hier“, sagt er, „das ist der zweite Akt meiner Oper!“ Aus seiner Umhängetasche, die er immer dabei hat, holt er einen Stapel Papier, den er zu einem anderthalb Meter langen Bogen entfaltet. Unten stehen Zahlen, das sind die Sekunden der späteren Aufführung von Make No Noise, seiner ersten abendfüllenden Oper. Über den Zeitstrahl legt sich ein wildes Gekritzel mit dem Bleistift, kryptische Zeichen und Kürzel hat Miroslav Srnka da eingetragen, nichts davon gleicht einer Note. „So male ich mir am Anfang die Struktur der Oper

KIRCHGE SSNER

auf“, erklärt er: In seiner eigenen Zeichensprache konstruiert er das Gerüst seines Werkes, nach und nach ergänzt er den Klang, den er in seinem Kopf schon hört. „Das Schwierigste ist es, die Konzentration zu behalten. Eine Oper besteht aus Hunderttausenden von Zeichen, von einzelnen Tönen und Längen und Geräuschen, und man muss die ganze Zeit über den Bezug zum Ganzen im Blick haben.“ Für ihn sind es die morgendlichen Spaziergänge durch den Schlosspark am Rande Prags, auf denen er seine Konzentration sammelt. Danach schließt er sich ein: „Ich gehe morgens ins Arbeitszimmer und weiß genau: Wenn ich den ganzen Tag konzentriert arbeite, stehen am Abend vielleicht 20 Sekunden Musik auf dem Papier.“ Es ist ein mühsamer, quälend langsamer Prozess, in dem er seine Takte schreibt – er selbst vergleicht es mit einem Bildhauer, der lange an dem Marmorblock arbeitet, bis sich die Konturen herauszuschälen beginnen. Früher waren es bei Miroslav Srnka regelrechte Orgien des Schaffens, in denen er sich tagelang in die Musik stürzte, ganze Nächte durcharbeitend, neben sich auf dem Schreibtisch abwechselnd starken Kaffee, grünen Tee und ein Glas Martini. Erst seit seine beiden Kinder auf der Welt sind, schont er sich ein wenig. Dieses bisweilen manische Arbeiten nimmt er für die wenigen Momente in Kauf, in denen alles stimmt. Es sind die Momente, in denen er im Konzertsaal sitzt, irgendwo auf der Welt, die Musiker vorne auf der Bühne spielen eins seiner Werke, und auf einmal springt der Funke über. Die Musik packt das Publikum, drückt es in die Sitze so wie Dvořák mit seiner Rusalka einst ihn als Schüler gefesselt hat. „Das ist unglaublich viel Arbeit auf diesem Weg“, sagt Miroslav Srnka, „und wenn ich Glück habe, gibt es am Ende vielleicht diesen einen Moment, an dem es ein bisschen leuchtet.“ Dieses Leuchten ist es, für das er Komponist geworden ist – schließlich und endlich, obwohl er es am Anfang selbst nicht geglaubt hat. E N D E

Kilian Kirchgeßner, Absolvent der Deutschen Journalistenschule München, lebt als Korrespondent für Tschechien und die Slowakei und Journalist für hoch­ schulpolitische Themen in Prag.

Make No Noise Hanna und Joseph besitzen keine Worte für die Ereignisse, die ihr Leben schlagartig verändert haben. Beide haben einen erträglichen Weg gefunden, um mit ihrer jeweiligen Vergangenheit umzugehen: das Schweigen. Als sie auf einer stillgelegten Bohrinsel aufein­ andertreffen – ­die verschlossene Frau und der schwer verletzte, aber draufgängerische Mann –, spüren sie in ihrer eigenartigen Verbindung eine Möglichkeit, mit ihren Traumata leben zu können. Make No Noise Kammeroper in englischer Sprache von Miroslav Srnka Uraufführung am Dienstag, 28. Juni 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Termine im Spielplan ab S. 209


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»WEINEN HILFT NIEMANDEM« Eine Rolle in Miroslav Srnkas Kammeroper Make No Noise beruht auf einer realen Person. Inge ist für die traumatisierte Hanna die ein­ zige Person, der sie annähernd vertraut. Im echten Leben hat Inge Genefke vor Jahrzehnten ein Zentrum zur Behandlung von traumatisierten Folteropfern gegründet, das heute als weltweites Netzwerk arbeitet, auch in Deutschland. Jörg Böckem hat sie in Dänemark besucht und in Berlin Worte für das Unvorstellbare gesucht. Premiere Make No Noise

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WEINEN

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Seine Geschichte beginnt in Nordkurdistan. Nedim B. ist Anfang 20, er arbeitet in einem Verlag, der sich auf kurdische Literatur spezialisiert hat. Er ist politisch engagiert, kämpft mit friedlichen Mitteln für den Erhalt der kurdischen Kultur und Identität, die seit dem Militärputsch von 1980, in dessen Folge die kurdische Sprache verboten wurde, mehr denn je bedroht ist.

Berlin-Schöneberg im April 2011. Ein Kulturzentrum für Kinder und Jugendliche, draußen gleißt die Frühsommersonne. Nedim B. spricht gut deutsch, seit 2001 lebt er in Berlin. Für das Gespräch hat er einen Dolmetscher dazu gebeten. Über seine Foltererfahrungen – das Unaussprechliche – in der Muttersprache zu reden ist schwierig, in einer fremden beinahe undenkbar. Der 50-jährige Kurde ist groß und breit­ schultrig. Doch seine Schultern hängen ein wenig, den Kopf hält er häufig gesenkt. So, als würde das Leid der Vergangenheit gleichermaßen auf seinem Körper wie auf seiner Seele lasten.

„Tausende Kurden sind damals geflohen, Tausende wurden inhaftiert und gefoltert“, sagt B. heute. „Einer davon war ich. Diesen Tag werde ich nie vergessen.“

Premiere Make No Noise

Die Schmerzen, sagt er, seien unbeschreiblich gewesen. 15 Jahre lang ist Nedim B. in türkischer Haft schwer misshandelt worden. Die Qualen, sagt er, werde er wohl nie vergessen. „Aber die Schmerzen sind nicht das Schlimmste. Sie vergehen, man kommt darüber hinweg. Das psychische Leid bleibt, solange man lebt.“

HILFT

Er ist 22 Jahre alt, als er 1983 zusammen mit drei Weggefährten verhaftet wird. Ein Spezialkommando stürmt die Wohnung, die Männer werden geschlagen und gefesselt in einem PKW abtransportiert. In Ankara unterhält der türkische Staat zu dieser Zeit ein Verhörzentrum, das auf Folter spezialisiert ist. 72 Tage wird er dort gefoltert. Wird an Armen oder Beinen aufgehängt, bekommt Schläge auf die Fußsohlen, er wird mit Elektroschocks malträtiert, die Elektroden sind an seinem Penis, seiner Zunge und seinen Lippen befestigt. Seine Hoden werden zerquetscht, er wird sexuell misshandelt. Näher ins Detail gehen möchte er nicht. Noch beinahe 30 Jahre später quält ihn das Erinnern. Wenn der zurückhaltende Mann von der Folter spricht, verkrampfen seine Finger, er scheint in sich zusammenzusinken, sein Blick verschleiert sich. Manchmal ist er wie erstarrt, scheint in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort zu sein. Für einen kurzen Moment, bis er zurückfindet in die Gegenwart. Ein Weggefährte, sagt er, sei unter der Folter gestorben. Seine Peiniger hätten damit gedroht, auch ihn zu töten. B. überlebt. Und wird nach 72 Tagen in ein Gefängnis verlegt. Dort gehen die Misshandlungen und Demütigungen weiter. „In den türkischen Gefängnissen war Folter damals an der Tagesordnung“, sagt er. „Nur die Methoden waren andere.“ Er wird getreten und geschlagen, wer im Gefängnis kurdisch spricht, wird misshandelt. „Das Ziel der Folter ist es, deine Identität, deine Persönlichkeit zu zerstören.“ Töten wollten sie ihn nicht. Nur zerbrechen, ihn als ­abschreckendes Beispiel für die anderen zurückschicken, unfähig, seine Arbeit weiterzuführen. Er tritt in Hungerstreiks, das einzige Mittel des Widerstandes, sagt er, das einzige Mittel, seine Identität und Menschenwürde zu schützen. Als er 1998 nach 15 Jahren aus der Haft entlassen wird, ist er zerschunden, an Körper, Geist und Seele.

„Die körperlichen Wunder heilen“, sagt Nedim B. heute. „Aber die psychischen bleiben. Foltererfahrung ist kein Kleidungsstück, das man ablegen kann. Sie hinterlässt unauslöschliche Spuren in der Seele, verändert die Persönlichkeit.“ Früher, vor der Inhaftierung, sei er ein aufgeschlossener, geselliger und aktiver Mensch gewesen. Nach der Folter habe er sich wie gelähmt gefühlt, sich in sich 093 9 selbst eingeschlossen. Unter Menschen sein, auf andere zu093 3 gehen, all das war ihm nicht mehr möglich.


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Er litt an massiven Schlafstörungen und Albträumen, aus denen er schreiend erwachte. Dazu kamen die Schmerzen. Ganz verschwunden sind die Symptome auch fast 30 Jahre ­später nicht. „Wenn ich heute in der Zeitung Berichte über Misshandlungen im Gefängnis lese, kommt all das, was ich erlitten habe, wieder hoch und läuft wie ein Film vor meinen Augen ab“, sagt Nedim B.

Seit sich die EU aus der Finanzierung zurückzieht, ist die Lage der Behandlungszentren, die auf Spenden und Zuschüsse angewiesen sind, noch schwieriger geworden. Laut Schätzungen sind ungefähr 30 Pro­zent der in Deutschland lebenden Flücht­linge traumatisierte Gewalt- und Folteropfer. In mehr als 100 Ländern werden immer noch Menschen gefoltert, in Teilen Osteuropas, Asiens, Afrikas, im Nahen Osten und in der Türkei, in Bürgerkriegen, von ab­solut­istischen Regimen. Auch wenn of­fi zielle Stellungnahmen mitunter anderes behaupten.

Kurz nach der Flucht hat er eine Therapie im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin (bzfo) begonnen. „Ich habe eine Frau und eine kleine Tochter, ich wollte wieder in der Lage sein, eine Beziehung mit ihnen einzugehen, mit meiner Tochter auf den Spielplatz oder ins Kino zu gehen. Ohne die Behandlung wäre das nicht möglich gewesen.“

Trotz seiner Leiden ist es ihm wichtig zu sagen, dass er keinen Hass auf das türkische Volk habe. Und dass Folter ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei, egal wo und mit welcher Absicht sie praktiziert werde. „Niemand darf gefoltert werden“, sagt er. „Auch nicht meine Peiniger von damals.“ Nach dem Gespräch holt er seine kleine Tochter ab, die im Erdgeschoss eine Theatervorstellung für Kinder besucht hat. Nimmt das kleine, quirlige Mädchen mit der bunten Strumpfhose an die Hand. Gemeinsam gehen sie nach Hause. Nedim B. lächelt. —

Premiere Make No Noise

Beinahe fünf Jahre hat er mithilfe von Therapeuten, Ärzten und Sozialarbeitern an seiner Genesung gearbeitet. ­Gelernt, sich mit der Foltererfahrung auseinanderzusetzen, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen – und zu sich selbst. Seine Schlafstörungen haben sich gebessert, nur selten quälen ihn noch Flashbacks und Albträume.

Berlin-Moabit. Ein helles, freundliches Zimmer im Gebäude K des ehemaligen Krankenhausgeländes. Nur die Untersuchungsliege, belegt mit Aktenstapeln, erinnert an ein Arztzimmer. Dr. Mechthild Wenk-Ansohn ist Ärztin und Psychotherapeutin, sie leitet die ambulante Abteilung. Nedim B. war ihr Patient. Sie gehört der Dachorganisa­ tion International Rehabilitation Council For Torture Vic­ tims (IRCT) an und arbeitet seit 15 Jahren im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin, dem größten seiner Art in Deutschland. Pro Jahr werden hier rund 500 Folteropfer aus 50 Ländern behandelt, in der Regel kommt ein Patient über drei Jahre hierher. Jährlich können daher nur rund 100 neue Patienten aufgenommen werden. Der Bedarf ist ungleich größer. „Wir können den Ansturm nicht bewältigen“, sagt WenkAnsohn. „Nicht einmal jeden Zehnten können wir aufnehmen, es gibt viel zu wenige spezialisierte Zentren in Deutschland.“ Gerade mal 17 sind es im gesamten Bundes- 094 9 gebiet, manche können nur wenige Patienten versorgen. 094 4

„Folteropfer sind in ihrem seelischen Befinden und ihrer Gesundheit oft tiefgreifend beeinträchtigt“, sagt WenkAnsohn. Die häufigsten Symptome sind starke Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Albträume, innere Unruhe, Depressionen, Suizidgedanken, Angstzustände, Kopf-, Rücken- und Unterleibsschmerzen. Vor allem leiden Folterüberlebende unter Flashbacks – mit einem Mal sind die traumatischen


WEINEN

Erlebnisse wieder präsent, die Bilder, Gefühle, die Panik, der Schmerz. Foltererfahrung beeinflusst den Teil des Gehirns, der uns befähigt, Geschehnisse zeitlich einzuordnen, die Erinnerung als Vergangenheit im Gedächtnis abzulegen. Folteropfer erleben im Flashback die Erinnerung als reale, gegenwärtige Qual – das Bewusstsein hängt in einer Wiederholungsschleife, wie der Tonabnehmer bei einem Kratzer in der Schallplatte.

Manchen Folterüberlebenden gelingt es kaum, ihren Alltag zu meistern – die Schlaf- und Konzentrationsprobleme ­machen es ihnen

NIEMAN D E M

beinahe unmöglich, Ämter aufzusuchen, Anträge zu stellen oder auch nur in den richtigen Bus zu steigen und ihre Kinder pünktlich zur Schule zu bringen. Folter zerstört die Fähigkeit, Vertrauen und emotionale Bindungen aufzubauen. Erste und wichtigste Aufgabe der Therapie ist es, ein Vertrauensverhältnis zum Patienten aufzubauen, das es ihm ermöglicht, über seine Erlebnisse überhaupt erst zu reden, die oft fragmentierten Albtraumbilder und dazugehörigen Gefühle zu benennen und einzuordnen. Zumal diese Erfahrungen, vor allem bei sexueller Folter, meist tabuisiert und schambesetzt sind. Viele fühlen zudem Schuld, weil sie überlebt haben, während andere starben, weil sie zusammengebrochen sind unter der Folter. Diese Scham- und Schuldgefühle zu bearbeiten, sagt Wenk-Ansohn, sei von zentraler Bedeutung für die Patienten.

Premiere Make No Noise

Ein Flashback, sagt Wenk-Ansohn, kann durch alltägliche Reize ausgelöst werden, ein Geruch, ein Bild, ein Geräusch: das Kratzen eines Schlüssels im Schloss, der Geruch von Blut, das Bellen eines Hundes, das Anlegen der Elektroden beim EKG. „Eine unserer Patientinnen ist in Tschetschenien immer wieder von betrunkenen Sicherheitskräften geschlagen und vergewaltigt worden. Wenn sie heute in der U-Bahn neben einem Alkoholiker sitzt, kann schon der Geruch ­einen Flashback auslösen.“

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In der Behandlung wird zunächst versucht, den Patienten zu stabilisieren, medizinisch und sozial. Dann beginnt die psychotherapeutische Arbeit: Dem Patienten sollen Mittel an die Hand gegeben werden, um seine Symptome zu verstehen, einzuordnen und sich dadurch weniger ausgeliefert zu fühlen, schließlich das Erlebte als Vergangenheit in die Erinnerung zu integrieren. Die Patienten lernen, mithilfe von Entspannungstechniken ihre Anspannungs- und Unruhezustände selbsttätig zu kontrollieren. „Folter zerstört die ­Autonomie und Selbstständigkeit eines Menschen, er fühlt sich hilflos und ausgeliefert“, sagt Wenk-Ansohn. „Selbstwirksamkeit muss neu gelernt werden.“ Eng vernetzte, multidisziplinäre Arbeit von speziell ausgebildeten Sozialarbeitern, Juristen, Physiotherapeuten, Ärzten, Psychotherapeuten, Erziehern und Dolmetschern ist unverzichtbar. In Zentren wie dem bzfo arbeiten diese Fachleute eng verzahnt. Aber nicht nur die Opfer selbst leiden. Folter belastet die gesamte Familie. Kinder, die miterleben mussten, wie ihre Väter misshandelt und ihre Mütter vergewaltigt wurden; Kinder, deren Eltern nachts schreiend aufwachen oder von einem Moment auf den anderen den Bezug zur Realität und die Kontrolle verlieren, sind ebenfalls häufig sekundär traumatisiert. „Folterfolgen können nicht vollständig geheilt werden, die Folter können wir nicht ungeschehen machen“, sagt Wenk-Ansohn. Aber es kann gelingen, die Erfahrungen in die ­Biografie zu integrieren, die Symptome zu lindern, ­beherrschbar zu machen – und den Patienten zu einem normalen Leben ohne größere Beeinträchtigungen zu verhelfen: „Bei ungefähr 60 Prozent gelingt sogar eine berufliche Integration, weitere rund 20 Prozent können wir so weit stabilisieren, dass sie kaum noch Unterstützung brauchen.“

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Skodsborg, eine beschauliche Kleinstadt vor den Toren Kopenhagens. Ein kleines, schlichtes Reihenhaus, voll gestellt mit Bücherregalen. Große Fenster geben den Blick frei auf den Öresund und den Strand hinter dem Haus, Möwen ­segeln durch einen diesigen Frühlingshimmel. „Wegen dieses Ausblicks sind wir hierher gezogen“, sagt Inge Genefke. Die kleine, zierliche Frau mit dem schlohweißen Haar hat selbst etwas von einem Vogel, wirkt fragil und gleichzeitig quirlig und hellwach. An ihrem rechten Arm hat eine Prellung blaue Flecken hinterlassen. „Zur Zeit falle ich häufig hin“, sagt die 73-Jährige. „Aber ich falle sehr elegant, ich habe früher viel Gymnastik gemacht.“ Ihr Mann, Bent Sørensen, 87, sitzt im Rollstuhl, seit ihm im vergangenen Jahr das rechte Bein amputiert werden musste. Noch sind die beiden damit beschäftigt, sich mit den Veränderungen, die das für ihr gemeinsames Leben bedeutet, zu arrangieren.

Behandlungszentren, schult Ärzte und Psychologen, in Chile, Argentinien, Uruguay, später in Afrika und Asien. Häufig begibt sie sich dabei in Lebensgefahr, ihre erste Ehe zerbricht nicht zuletzt an ihrem Engagement. Genefke und ihre Kollegen betreten in den späten 1970ern Neuland. „Damals gab es so gut wie keine Forschung oder Literatur zum Thema Folter, über die dramatischen psychischen Langzeitfolgen, für den Einzelnen und die gesamte Familie, war nichts bekannt“, erinnert sich Genefke. Mit der Wundheilung, so die Überzeugung, würden auch alle ande-

Inge Genefke ist weltweit die wohl wichtigste Pionierin in Sachen Rehabilitation von Folteropfern. Mitte der 1970er Jahre hat die Neurologin, die in Paris und London studiert hat, auf Anregung von Amnesty International eine Ärztegruppe ins Leben gerufen, die zum ersten Mal systematisch Folter und deren Auswirkungen auf Körper und Psyche der Opfer erforscht und ihre Ergebnisse veröffentlicht hat. Anfang der 1980er Jahre hat sie zusammen mit einer Gruppe von Ärzten das Behandlungszentrum für Folteropfer (RCT) in Kopenhagen gegründet – eines der ersten dieser Art in Europa, aus dem die Dachorganisation IRCT entstand, die den Aufbau solcher Zentren in der ganzen Welt fördert, Netzwerke schafft, Forschungsprojekte betreibt und auf öffentlicher und politischer Ebene gegen Folter kämpft.

Premiere Make No Noise

„Inge sieht das Unsichtbare und tut das Unmögliche“, sagt Sørensen, ehemaliger Chirurg und emeritierter Professor, über seine Frau, mit der er seit beinahe drei Jahrzehnten gemeinsam gegen Folter und für deren Opfer kämpft.

Es beginnt in Dänemark Mitte der 1940er Jahre. Inge Genefkes Vater kämpft im Widerstand gegen die Nazis, das erste Folteropfer sieht die Tochter in der heimischen Küche. Der Mann ist betrunken. Das Mädchen wundert sich, normalerweise trinkt niemand im Haus der Eltern. Die Mutter ­erklärt ihr, dass der Mann von den Nazis gefoltert worden sei. Diese Szene hat sich tief in ihrem Gedächtnis festgebrannt. Nach ihrem Medizinstudium engagiert sie sich einige Jahre im nationalen Führungsgremium von Amnesty International. Die Arbeit mit Folteropfern ist schließlich ein naheliegender Schritt. „Zu dieser Zeit habe ich viele schreckliche Dinge gesehen, zerstörte Menschen und Familien“, sagt sie heute. Damals habe sie viel geweint. „Aber Weinen hilft niemandem, und Protestieren war mir zu wenig. Ich wollte etwas tun, etwas bewirken.“ Jahrzehntelang reist sie durch die Welt, oft in Krisengebiete, 096 9 ohne Schutz offizieller Stellen. Knüpft Kontakte, gründet 096 6


WEINEN

NIEMAN D E M

Was Ende der 1970er mit vier Ärzten in Dänemark begann, ist heute ein weltweites Netzwerk. Unter dem Dach des IRCT in Kopenhagen sind fast 150 Behandlungszentren in 71 Ländern versammelt, mehr als 100.000 Folteropfer konnten im vergangenen Jahr behandelt werden. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Dass George W. Bush im sogenannten Kampf gegen den Terror die Folter wieder salonfähig gemacht hat, hat die Arbeit des IRCT nicht einfacher gemacht.

ren Spuren der Folter verblassen, die Opfer könnten ihr altes Leben wieder aufnehmen. „Heute verstehen wir, welche Schäden Folter anrichtet – auch für die Gesellschaft – und wie die Opfer behandelt werden können.“ Das Ziel der Folter, sagt sie, sei es, die Opfer zu brechen, sodass sie ihre politischen Ziele nicht weiterverfolgen können. Oft seien die Opfer besonders engagierte und couragierte Menschen: „Folter ist für Systeme in der ganzen Welt ein Mittel, ihre Macht zu erhalten. Folter erzeugt Hass und Gewalt. Sie ist keine Waffe gegen den Terror, sie erzeugt Terroristen.“

Achtmal ist Inge Genefke für den Friedensnobelpreis nominiert worden, bekommen hat sie ihn nie. Das ärgert sie. Vor allem wegen des Preisgeldes. „Was wir für unsere Arbeit dringend brauchen, ist Geld. Wir könnten so viel mehr Menschen helfen“, sagt sie. Spender zu finden, sei sehr schwierig. „Firmen und Stiftungen spenden lieber für das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen, das macht sich besser in der Imagebroschüre.“

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Oft hat Folter eine so lange Tradition, dass sie nicht einmal hinterfragt wird. „In Sambia“, erinnert sich Sørensen, „hat mich ein Polizeichef in größter Naivität gefragt: ‚Aber Professor, wie soll ich denn ein Geständnis bekommen, wenn ich niemanden schlagen darf?’“

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Diplomatie ist nicht ihre Stärke. Die koboldhafte Frau mit dem verschmitzten Lächeln kann sehr aufbrausend und ­rigoros sein. Wenn sie wie ein Rohrspatz auf die dänische Regierung schimpft, das Nobelpreiskomitee, mangelnde Spendenbereitschaft, den Papst und die katholische Kirche, die ein Folteropfer vor sich her trage und dennoch die Arbeit des IRCT nicht unterstütze; wenn sie George W. Bush als Idioten und Folterer tituliert, der zusammen mit Rumsfeld, Cheney und Putin vor Gericht gestellt gehört, erhält man einen Eindruck von der Zähigkeit und Kompromisslosigkeit, die kaum jemand von dieser zarten alten Dame erwarten würde. Viele der Folteropfer, die Inge Genefke in all den Jahren behandelt hat, sind ihr im Gedächtnis geblieben. Menschen, die gezwungen wurden, ihre Mitgefangenen, Freunde und Verwandten zu vergewaltigen und foltern. Der Mann, der mit ansehen musste, wie seinem Bruder bei lebendigem Leib die Augen aus den Höhlen gerissen wurden. Sicher, sagt sie, es habe in all den Jahrzehnten immer wieder Momente gegeben, in denen alles zu viel für sie war, Momente voller Frustration, Tränen und Verzweiflung. „Aber das ist nichts im Vergleich mit dem Leid der Opfer. Zu sehen, dass Rehabilitation wirkt, dass diese Menschen anschließend wieder ein mehr oder weniger normales ­Leben führen können und Teil der Gesellschaft werden, ist eine unglaubliche, bereichernde Erfahrung.“ Nedim B. und seine kleine Tochter werden ihr zustimmen.

Jörg Böckem lebt in Hamburg und arbeitet als freier Journalist und Autor. Er veröffentlichte u. a. die Romane Freitags Gift und Lass mich die Nacht überleben. Make No Noise Kammeroper in englischer Sprache von Miroslav Srnka

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Uraufführung am Dienstag, 28. Juni 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Termine im Spielplan ab S. 209


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ABENTEUER, SPIEL, RISIKO 1 0 0


Das von Regisseur Árpád Schilling ins Leben gerufene ungarische Ensemble Krétakör (Kreidekreis) versteht sich seit einigen Jahren als Theaterlabor, das einem wachen und aktiven Zuschauer Mittel in die Hand geben will, die brennenden Fragen der eigenen Zeit und Gesellschaft zu verstehen. In diesem Jahr entsteht in Budapest, München und Prag die Trilogie Crisis über das Scheitern der Mitglieder einer Familie. Mit Teil zwei, der Geschichte des Vaters, betritt Krétakör das Terrain des Musiktheaters und entwickelt die Oper Undankbare Biester, die im Pavillon 21 MINI Opera Space zur Uraufführung kommen wird. Ein Porträt von Krétakörs konsequenten Realitätserkundungen.

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TA M Á S JÁ S Z AY TÓTH RID OVICS EXCERPT

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Ist vom Theater Árpád Schillings die Rede, so fällt mir als Erstes die unermüdliche Suche ein, das Forschen, der Wunsch, immer etwas Neues sagen und tun zu wollen. Schilling interessiert nämlich nichts, was Sicherheit garantiert, was berechenbar ist, da ihm dies zur Gewohnheit, zur Langeweile wird: „Ein Künstler, der nicht forscht und keine Zeichen sendet, ist kein Künstler mehr. Wer die Kunst allein dafür benutzt, sein eigenes Leben vollkommener zu machen, verzichtet auf das Wesentliche seiner Berufung und streicht sich damit aus dem ‚Kreis’.“ Er hat es versucht, und es funktioniert, er freut sich ein wenig darüber, aber dann regt sich in ihm der Schelm oder, wenn man so will, das ewige Kind. Das Kind, das aus dem vor ihm ausgeschütteten Haufen von Spielsachen mit unfehlbarem Gespür die Konstruktion aussucht, die am kompliziertesten scheint, und sie dann mit ein, zwei gekonnten Handgriffen auseinander montiert, die Schwächen der Konstruktion aufzeigt und schließlich der ganzen Welt triumphierend präsentiert: Seht her, ich bin hinter das große Geheimnis gekommen. Dann aber bittet das Kind sofort um die nächste Aufgabe, da seine ruhelose Natur nicht zulässt, sich mit dem leicht erreichten Ergebnis zufrieden zu geben. Wie ist all das nun auf das Lebenswerk eines bedeutenden Theaterkünstlers zu übertragen, der, obwohl er mit der herkömmlichen Theaterarbeit vor fast drei Jahren aufgehört hat, auch heute noch ein, wenn nicht sogar der bekannteste Markenname des ungarischen Theaters im Ausland ist? Árpád Schilling und sein Ensemble Krétakör Színház (Kreidekreis Theater), das die ganze Welt bereiste, haben in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten in Ungarn und außerhalb der Landesgrenzen praktisch alles erreicht, was ein Theater, das über keine feste Spielstätte verfügt und mit einer Schauspielergarde von relativ geringer Zahl arbeitet, erreichen kann.

Premiere Undankbare Biester

KRÉTAKÖR

auch in den Händen der wenigen namhaften Gastregisseure (darunter der auch als Filmregisseur bekannte Kornél Mundruczó, der immer wieder auch in Deutschland tätig ist) alles zu Gold wurde, was sie nur anfassten. Durch die regelmäßigen Gastspiele im Ausland – von Paris bis New York, von Edinburgh bis Seoul – sowie den Preisregen, mit dem die Arbeit Schillings und seiner Truppe anerkannt wurde, avancierte das Krétakör-Theater allmählich zu einem besonderen europäischen Theaterphänomen. Die Erfolgsstory nahm allerdings um das Jahr 2008 eine recht unerwartete Wendung: Schilling stellte das damals bereits bedeutende, größtenteils aus den Werken klassischer Autoren bestehende Repertoire ein, seine Schauspieler schickte er fort, und den Namen Krétakör behielt er mit der Einwilligung des Ensembles bei – wobei er den zweiten Teil Színház (Theater) abtrennte –, um im Folgenden als ein Produktionsbüro, ein aus einigen Mitarbeitern bestehendes kreatives Team zur Entwicklung unabhängiger Projekte weiterzuarbeiten. Heute zeigt sich bereits deutlich, dass das, was Fach­presse und Fanlager damals im ersten Schrecken als das Ende bezeichneten, nur eine radikale Umgestaltung war: Das sprechende Symbol der Truppe, den Kreidekreis, wischte Schilling fort und zeichnete ihn dann mit einer einzigen schwungvollen Bewegung neu, um die gut bekannte Form mit neuen Inhalten füllen zu können. Das Wesentliche der Veränderung in aller Kürze: statt eines umfangreichen Repertoires publikumsspezifische Projekte, statt staubiger Klas­siker hier und jetzt brennende gesellschaftliche Probleme. Wo ist der Schilling vom Anfang der 1990er Jah­re, der in der Bewegung des ungarischen Amateurtheaters und Schülertheaters bedeutende Erfolge erzielte und sich für den mühevollen Weg entschied, ein eigenes Ensemble aufzubauen, wenn man den Schilling betrachtet, der 2009 in Wrocław (Breslau) den anerkannten Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater erhielt? Und doch ent­decken wir in letzterem sehr viele frühere Züge: das Spielerische, Schelmische, die Neugierde, die Offenheit für die Welt.

Ein seltener Zusammenfall: Sowohl das Publikum als auch die Kritik trugen Schilling und sein Ensemble gleichermaßen auf Händen, im Laufe der Jahre bildete sich um die Gruppe ein solides Fanlager heraus, ihre Aufführungen galDoch wie ist das Wesen der neuen Ars Poetica von Krétaten als gesellschaftliche Ereignisse. Die überwiegende Mehrkör im Spiegel der Projekte, die nach dem großen Wandel heit der nahezu 30 Premieren zwischen der Gründung des 102 zustande kamen, zu bestimmen und wie fügt sich die MünchEnsembles 1995 und dessen Umgestaltung im Jahr 2008 gin- 102 ner Opernpremiere Undankbare Biester in dieses neue gegen auf Schilling zurück, doch es hatte den Anschein, dass 102 dankliche System ein?


Obschon damals nur wenige diesem Phänomen Bedeutung zumaßen, ist heute deutlich zu sehen, dass die 2007 uraufgeführte, für drei Schauspieler, einen leeren Raum und mit zahlreichen Fremdtexten komponierte, schwungvolle Shakespeare-Paraphrase hamlet.ws die neue Krétakör-Epoche einleitete. Die seit der Premiere mehr als 200 Mal vor allem für Jugendliche in Gymnasien gespielte Aufführung bestimmt genau, welche Art von Theater Schilling nicht machen will, andererseits aber auch, welche Richtungen ihn überhaupt noch interessieren. Die wichtigste und im Grunde genommen jede weitere Konsequenz erklärende Veränderung ist, dass der sich bislang auf den Schauspieler konzentrierende Regisseur jetzt all seine Aufmerksamkeit dem Zuschauer zuwendet. Das herkömmliche Theatermodell sieht vereinfacht folgendermaßen aus: Von der im Lichtermeer schwimmenden Bühne gelangt eine fertig verpackte Botschaft zu dem bequem im Dunkel des Zuschauerraums sitzenden Publikum. Die einzige übliche Form des Feedbacks ist der Applaus: Interaktion und Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum erschöpfen sich häufig allein darin. Wenn Schilling, der große Kommunikator, einen seiner Schauspieler das Textbuch von hamlet.ws einem zufällig ausgewählten Zuschauer in die Hand geben lässt, damit dieser daraus einige Passagen über die Gewohnheiten der Theaterbesucher vorliest, zwingt er im Grunde genommen die sich zu einem gegebenen Moment in einem Raum aufhaltenden Menschen zu dem, weswegen sie gekommen sind: zum gemeinsamen Spiel und dem daraus entspringenden gemeinsamen Erlebnis.

SPIEL,

Premiere Undankbare Biester

ABENTEUER,

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gemeinsame Sache tut, was im besten Fall ohnehin seine eigene Sache ist, dann geht es im Theater plötzlich um etwas, dann bekommt das Theater ein Ziel. Der Schlüsselbegriff der neuen Schilling-Projekte ist also die Unwiederholbarkeit, was darüber hinaus eine ernst zu nehmende gesellschaftliche Botschaft beinhaltet: Der Regisseur hat sich eine Aufgabe von nahezu Brechtscher Bedeutung gesetzt, als er sich für das nützliche Theater entschied. „Es gehört zu unseren perspektivischen Vorstellungen, dass wir auch in Ungarn die Idee des andernorts bereits wohlbekannten sozial engagierten Theaters heimisch machen, dessen formale Rahmen unbeständig sind, dessen Inhalt aber beständig bleibt. Wir haben mit der Organisation von Aktionen begonnen, die beabsichtigen, die Staatsbürger eines Landes mit den Mitteln des Theaters zu aktivieren …“, schreibt er 2009. Die Schauspieler von Krétakör unternahmen erstmals 2006 den Versuch, ein größeres Publikum zu mobilisieren: In einem kleinen Dorf in Transdanubien gründeten sie eine Weltraumstation und ließen auf die Einwohner kommunikative Wesen aus dem Weltraum los, womit sie die Zuschauer in einer unterhaltsamen und erlebnisartigen Form zum Nachdenken über das Verhältnis vom Fremden und Lokalen, vom Exotischen und Bekannten brachten. Im Mai 2008 führten sie 15 Mal im Pariser MC93 Bobigny das Happening Eloge de l’escapologiste auf: Die fragmentarischen Alltagsgeschichten waren für Menschen gedacht und handelten von Menschen, die zum Großteil zuvor noch nie im Theater gewesen waren. Schilling und seine Kollegen zeigten ihnen, dass aus dem unerträglichen Alltag mit ein wenig professioneller Hilfe Theater werden kann und dass das Theater nicht der Ort ist, an dem jemand lange Texte aufsagt, während sich andere im Dunkeln langweilen.

Der gemeinsame Nenner dieses und aller darauffolgenden Projekte kann in dem unbeabsichtigt, ja sogar gegen seinen Willen immer im Mittelpunkt stehenden, nie berechenbaren, nie gleichen, daher weder sich noch dem Künstler Sicherheit und Bequemlichkeit bietenden Zuschauer bestimmt Auf die Außenbezirke der Seine-Metropole folgten die innewerden. Der bedeutendste Feind des Theaters ist die Langeren Bezirke der ungarischen Hauptstadt: Im Frühjahr 2009 weile. Das bedeutendste Gegenmittel zu eben dieser Langeführte Krétakör in Budapest eine beinahe zweimonatige Akweile wird beim neuen Krétakör-Ensemble jedoch die Unbetionsreihe zur „Stadttherapie“ mit dem Titel Die Apologie rechenbarkeit des Zuschauers selbst. Was Schilling wirklich des Entfesselungskünstlers durch. Die zentralen Begriffe dieinteressiert, ist die größte Herausforderung des Theaters an ser betont unter Mitwirkung von Laien zustande gekommesich: die Vermittlung der auf das Individuum zugeschnittenen, privaten Botschaft von der Bühne zum Zuschauer. 103 nen Veranstaltungsreihe waren Geburt, Familie, GemeinDazu aber ist die Verwandlung des Zuschauers zum Beteilig- 103 schaft. Schilling organisierte um diese einfachen Begriffe ten unerlässlich: Wenn der Zuschauer wirklich etwas für die 103 herum ein gigantisches Gesellschaftsspiel, das die Straßen


KRÉTAKÖR

Im Sommer 2010 zogen Krétakör und das Team der Kulturwerkstatt Káva in zwei verarmte, zu einem bedeutenden Teil von Roma bewohnte nordungarische Dörfer, um unter Anwendung der Methoden des Theaters und der Dramenpädagogik von aktuellen Problemen der Gemeinschaft zu sprechen. Die Kunst, das Theater, avancierte hier zu einer Kraft, die notwendige, doch nicht unbedingt mögliche Veränderungen generiert und fördert. In beiden Ortschaften arbeiteten Schauspieler, Dramenpädagogen und die Bewohner mit aller Kraft daran, zwei Wochen lang Abend für Abend eine jeweils neue Aufführung ins Leben zu rufen, die selbstverständlich Lichtjahre von unserem traditionellen Begriff einer Aufführung entfernt liegt. Das Ergebnis war eine Art interaktives Familiendrama in Fortsetzungen: Gezeigt wurden die kleinen Probleme des kleinen Mannes (Liebe, Ehe, Wohnung, Auto, Geld usw.), die im Rahmen der einen oder anderen Zusammenkunft von den Darstellern und Zuschauern, das heißt häufig Freunden, Verwandten und Nachbarn, auch besprochen wurden. Hauptziel dieses wie auch der früheren Projekte war es also, die Begegnung zu fördern: Menschen, in deren Leben das Theater nicht Teil des Alltags ist, zum Teil eines großen, gemeinsamen Abenteuers zu machen. In diese Reihe – keineswegs frei von politischen Botschaften – fügt sich auch die Opernpremiere Undankbare Bies­ ter im Münchner Pavillon 21. Der Komponist Marcell Dargay arbeitet nicht das erste Mal mit Krétakör zusammen und unternimmt hier den Versuch, mit der als aristokratisch angesehenen Sprache der Oper von einem brennenden gesamtsozialen Problem zu sprechen. In Schillings neuem Projekt steht der selten auf der Bühne thematisier-

te Kindesmissbrauch im Mittelpunkt. Die Hauptdarsteller der Geschichte sind die scheinbar gefeierte Schauspielerin und Mutter sowie der ganz in seinem Beruf aufgehende Vater, doch mittels ihrer Figuren entfaltet sich vor uns eine Missbrauchsgeschichte von mehreren Generationen. Schilling arbeitet hier ähnlich wie in den vergangenen Jahren ebenfalls mit Laien: Die Hauptdarsteller wurden unter Kindern und Jugendlichen einer Budapester Musikschule im Alter von neun bis sechzehn Jahren ausgewählt. Das Ensemble Krétakör und Schilling wollen auch mit der Oper nichts anderes behaupten als mit ihren Projekten der letzten Jahre: Es muss wirksam und authentisch von den Problemen in der Welt um uns gesprochen werden, dabei ändern sich höchstens unsere Mittel von Zeit zu Zeit.

Premiere Undankbare Biester

und öffentlichen Plätze vernetzte und zu dessen einzelnen Stationen man nicht auf herkömmliche Weise, sondern nur auf streng demokratischer Basis Eintritt erlangen konnte: Die Anwesenheit bei den einzelnen Schauplätzen des Spiels – und nur diese! – berechtigte zum Eintritt zum nächsten Schauplatz und so weiter. Die Reihe, deren Schauplätze an Randbezirken der sozialen Erinnerung lagen (wie etwa ein zur Schließung verurteiltes Krankenhaus, ein Altersheim am Stadtrand oder ein ruinöses Heilbad), machte ebenso an die Peripherie gedrängte soziale Gruppen zu den Hauptdarstellern: junge Mütter, Rentner oder auf der Grenze zwischen Kindes- und Erwachsenenalter balancierende Jugendliche. Eine ähnlich groß angelegte Performance war 2010 das dreitägige Maifest und Utopie-Kollegium Jaroslav Jicinsky in der damaligen Kulturhauptstadt Europas Pécs. Das unter der begeisterten Mitwirkung der Bevölkerung, darunter zahlreiche Kinder, vorbereitete Programm zwang die Stadt, die über Jahrhunderte vom Bergbau gelebt hatte, nach der Wende jedoch zusammen mit dem Industriezweig auch die Erinnerung an ihn in Windeseile auslöschte, zu einer auf unterhaltsame Weise belehrenden Konfrontation. Interaktive Vergangenheitsbewältigung, Stadtbesichtigung mit Satellitenempfänger, die Zähmung der transhumanen Maschine – all das stand auf dem Programm.

Das Theaterlabor Schillings hat mit seinem Abschied von Repertoireklassikern vor einigen Jahren seine Türen nicht geschlossen, sondern arbeitet geradewegs auf höchster Stufe. Der Regisseur bestreitet nicht, dass wir uns mittels Shakespeare oder Euripides auch selbst erkennen können, doch will er mit seiner sanft aggressiven Art erreichen, dass wir endlich eines bemerken: Wenn wir neugierig, offen und mutig genug sind, dann reicht es, statt zu Ersatzmitteln zu greifen, tief in uns selbst hineinzuschauen. Und wir erhalten Antwort auf unsere Fragen.

Mehr über den Autor auf S. 18 (Contributors) Übersetzung: Éva Zádor Die Fotos dokumentieren das New Spectator project, das Krétakör im Sommer 2010 mit Einwohnern der nordungarischen Dörfer Ároktö und Szomolya durchführte.

Undankbare Biester Kammeroper für sieben Musiker, vier Sänger und fünf Jugendliche von Krétakör Uraufführung am Dienstag, 19. Juli 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Termine im Spielplan ab S. 209

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Regisseur und Krétakör-Gründer Árpád Schilling wirkte bei der Apologie des Entfesselungskünstlers selbst als Darsteller mit.


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»Wenn ich Tango tanze, lächelt mein Körper ...« TEXT ANJA SALEWSKY FOTO GRAFIE KUBA ŚWIETLIK

Tanz ist Faszination und Leidenschaft. In Living Room Dancers begegnet die Schweizer Choreographin Nicole Seiler Menschen, die ihre Freizeit dem Tanz widmen – sei es Tango, Salsa, Hip-Hop oder der gute alte Standardtanz. Ende Juli wandelt man


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durch die Sommernacht und sieht ihnen dabei zu. MAX JOSEPH suchte in München nach Orten, zu denen man pilgert, wenn einen der Tanz umtreibt oder man erste zaghafte Schritte versuchen will. Alle Fotos: Porträts der Mitwirkenden von Living Room Dancers in München

ertragen. Gelegentlich wehen Windstöße die Musik fort; Was für eine traumhafte Kulisse: Kein Tanzsaal kann so die Akustik ist bescheiden. Doch die Atmosphäre mit dieschön sein wie der Hofgarten bei Nacht, wenn die Münchsem Hauch von Anarchie ist unbezahlbar. Das Publikum ist ner zum Dianatempel pilgern, um dort Tango Argentino zu gemischt: Anfänger kichern ihre Unsicherheit weg und tanzen. Der Garten wurde nach dem Vorbild italienischer schauen ratlos auf ihre Füße, daneben konzentrieren sich Renaissancegärten angelegt; seit 1615 steht der DianatemTänzer, die im Gewühl mit ihren Bewegungen kleine Gepel, der gewiss schon viele Tanzpaare in inniger Umarmung schichten erzählen. Da wird der Dianatempel zur Bühne, erlebt hat. Eine Mondsichel schimmert durchs Laub, die die Spaziergänger sind das Publikum. Eine grauhaarige Theatinerkirche hebt sich goldgelb von der blauen DämmeDame erzählt, dass sie sich ein Leben ohne den Tango kaum rung ab, und die Laterne im runden Tempel der Jagdgöttin mehr vorstellen könnte. Sie hat erst vor ein paar Jahren verbreitet nur schummriges Licht. Seit vielen Jahren komdieses Neuland erobert, nach dem Tod ihres Mannes. „Zumen passionierte Tangotänzer mit Sinn für Romantik hiererst musste ich mich überwinden, abends wieder rauszugeher: Jeden Freitag, nach Einbruch der Dämmerung, erhen. Aber in den Armen eines guten Tänzers fühle ich mich obern sie sich mit Ghettoblaster und Besen das historische jetzt so lebendig! Im Tango ist viel Platz für Improvisation, Terrain. Dass sie nach jedem Tanzabend hier alles reinlich kehren, bewahrt ihnen das wohlwollende Wegschauen der 107 das erfordert eine hohe Achtsamkeit und Präsenz von gestrengen Behörden. Statt edlem Eichenholz-Schwingpar- 107 Mann und Frau – eigentlich ziemlich aufregend! Wenn ich kett müssen die Tänzerfüße unnachgiebig steinernes Mosaik 107 Tango tanze, lächelt mein Körper!“


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Tango Argentino ist eine Kunst: Die UNESCO hat diesen aufregenden Dialog zweier Körper zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. Und diese Kunst lernt nur, wer ständig den Partner wechselt. Denn jeder Körper kommuniziert anders, atmet anders, hat andere Vorlieben. Jeder Körper verweigert sich anders und will anders geführt und gelockt werden. So ist es denn auch in der Münchner Tangoszene: Es gibt keine festen Paare wie im Standardtanz, sondern hier wird getauscht, und jeder darf auffordern (und ablehnen). Carlos von Geldern, ehemals Wirtschaftsingenieur aus Chile, staunt, dass er als leidenschaftlicher Tangotänzer in München seine Sehnsucht an sieben Tagen in der Woche ausleben kann, so viele Locations haben sich dem melancholischen Tanz verschrieben: Am Mariahilfplatz in der Au gibt es etwa Lo de Laura – Lauras Ort. Die Argentinierin Laura Caido hat sich mit ihrem Tangoloft einen Lebenstraum erfüllt. In dem ehemaligen Fotostudio hängen nun Kronleuchter, und die Location bietet jeden Mittwoch Milongas mit klassisch argentinischer Atmosphäre. Wer nur zuschauen möchte, kann dabei Empanadas und chilenische Weine genießen. Jeden Samstag findet ein Tangofest statt, in zwei Räumen gibt es unterschiedliche Musikstile, klassisch und modern – viel Inspiration, um neue Bewegungen an sich selbst zu entdecken! Für Tangoneulinge bietet die Pasinger Fabrik eine Montags-Milonga, in der jeweils ab 19:00 Uhr eine kostenlose Probestunde stattfindet. Martha Giorgi aus Buenos Aires unterrichtet dort und hilft jedem Eleven. Jeder kann auch ohne Tanzpartner kommen – es wird sowieso ständig durchgetauscht. Ein beruhigendes „Basst scho!“ wird hören, wer sich das erste Mal mit dem Swingtanzen versucht. Die Münchner Swingszene gilt bundesweit als beachtlich lebendig, und jeden März findet hier das Rock That Swing Festival statt, zu dem Tänzer nicht nur aus ganz Europa pilgern. Tanzanfänger werden in dieser sehr bunten und entspannten Szene freundlich aufgenommen, und im Cat’s Corner (Nähe Hauptbahnhof) gibt es regelmäßig kostenlose Probestunden vor den Tanzpartys. Auch hier können Neugierige allein kommen und erleben dann (meistens) humorvolle und hilfsbereite Tänzer. Wer sich an Fred Astaire und Ginger Rogers nie sattsehen konnte, wer bei Count Basie und Glenn Miller unwillkürlich mitswingt – der sollte auf Zeitreise gehen und sich am Lindy Hop, Balboa, Jitterbug und Boogie-Woogie versuchen. Die Tänze haben ihre Wurzeln in den amerikanischen roaring twenties: Damals setzten die Menschen der furchterregenden Weltwirtschaftskrise in ihren Tänzen trotzige Lebenslust entgegen. Tanzfiguren mit klangvollen Namen wie Lolly Kicks, Twists und Texas Tommy werden jetzt auch in München wieder unterrichtet. Dabei gibt es auf der Tanzfläche immer wieder Menschen, die sich mit liebevoller Detailversessenheit stylen: Die Herren teils im eleganten Anzug mit Einstecktüchlein oder in 108 lässigem Matrosenanzug, die Damen in wippenden Petti108 coats. Auf dem Rock That Swing Festival wurden heuer 108 sogar Workshops für Frisuren angeboten, die den Glamour

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der 1930er Jahre ausstrahlen sollen – und zudem noch einen Tanzabend überstehen. Doch es gibt keinen Dresscode – viele tanzen in Jeans und T-Shirt. „Die Swingszene ist im karrierebewussten München eine Oase der Herzlichkeit und des Laisser-faire. Ich bin allein gekommen und habe sofort viele Männer und Frauen kennengelernt; beim Tanzen wird sowieso ständig durchgetauscht. Eigentlich ideal in einer Single-Stadt wie München“, erklärt eine Mittvierzigerin, die seit einiger Zeit zweimal pro Woche tanzen geht. „Alte Swinghasen erklären den Neuen gerne etwas, die Atmosphäre ist angenehm entspannt.“ Sie empfiehlt besonders die Swingpartys im Rationaltheater (Nähe Münchner Freiheit). Dort legen DJs noch Original-Schellackplatten auf, um auch akustisch das richtige Swingfeeling zu erzeugen. Wem die Perfektion digitaler Medien zu kalt ist, dem werden hier Herz und Ohren aufgehen. Und auch im Cafe Cord in der Sonnenstraße gibt es Swingabende, bei denen es sich auch schon lohnt, nur einmal schüchtern zuzuschauen. Die Münchner Tanzszene bietet Erstaunliches: Frauen können ihr verruchtes Ich wecken, indem sie die Kunst des Burlesque lernen – ein betörender Tanz, der den Broadway-Revuetanz der 1920er Jahre mit Erotik versieht, ohne dass dabei gleich alle Hüllen fallen. Christine von Scheidt leitet die Münchner Glamourettes und unterrichtet die Kunst der eleganten Verführung. Männer haben keinen Zutritt. Dafür lernen hier die Frauen, wie sie das Ausziehen von Handschuhen zu einem erotischen Ereignis machen, wie sie sich mit Federboa und Fächer lasziv bewegen und wie sie einen Stuhl als raffiniertes Tanzaccessoire nutzen. Dabei sieht man in den Kursen nicht nur Frauen mit genormten Modelfiguren. „Es ist ungeheuer reizvoll für mich, nach einem nicht immer aufregenden Arbeitstag abends in eine ganz andere Identität zu schlüpfen – das befreit“, erklärt eine Frau, die tagsüber bei der Stadt angestellt ist. „Weil der Tanzkurs hinter verschlossenen Türen stattfindet, können wir uns hier ausleben! Ich genieße das richtig, meinen Körper so aufreizend zu bewegen. Den ganzen Tag regungslos vor dem Monitor sitzen und Tausende Mausklicks machen – das ist mir zu wenig!“ Tak-taka-da-tak-tak-tak – klingt es durch die Holztüre einer Volkshochschule am Stachus. 15 Flamencotänzerinnen stampfen mit Fußballen und Hacken den Rhythmus eines Paso Doble und klatschen zur Musik, die aus den Lautsprechern tönt. Dann schreit ein Mann aufgebracht: „Lolas!! Lasst die Arme nicht hängen wie zwei alte Paprikawürste! Ihr seid Tänzerinnen, vergesst das nicht! Brust raus, Bauch rein – nicht anders herum!“ Dann folgt ein zweisilbiger spanischer Fluch, und die Sprachkundigen unter den Tanzschülerinnen zucken zusammen. Use Gonzalez-Reyes ist der Mann, der den Flamenco nach München gebracht hat – mit südspanischem Temperament und ohne allzu zimperlich zu sein. Wer bei ihm lernt, muss die Balance halten zwischen leidenschaftlich offenem Herzen – und distanziertem Selbstschutz. Manchmal fließen Tränen im Tanzsaal, wenn Use Gonzalez-Reyes seine Schülerinnen


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mit scharfem Humor anstachelt, um sie danach an seine Brust zu drücken, weil er merkt, dass er zu streng war. Der Flamenco stellt hohe Ansprüche an die Koordination, an das Rhythmusgefühl, an das Gedächtnis. Die stolze Schönheit dieses Tanzes wird keinem geschenkt; viele kommen durch den Spott an ihre Grenzen. „Haltet die Spannung – aber seid auch weich in den Armen! Schultern runter, den Rock auf die Vier nach hinten – und haltet die Füße zusammen. Bei dir kann noch ein Wildschwein zwischen den Beinen durchlaufen!“, ruft der Spanier einer Frau in der ersten Reihe zu. Dann umarmt er sie spontan, küsst sie auf die Stirn und ruft kokett in die Runde: „Liebt ihr mich noch?“ Die Frage ist entwaffnend. Das ist es ja: Natürlich lieben diese Frauen ihren Use – auch wenn mancher Spott sie direkt ins Herz trifft. Use Gonzalez-Reyes stammt aus der spanischen Extremadura, kam als 13-Jähriger nach Madrid und lernte dort die komplizierten Formen der Sevillana, der Rumba, des Fandango und Paso Doble. Er verzweifelte an den Kastagnetten und lernte die Tänze lieben. Kurz vor dem Tod des Diktators Franco verließ er zu Beginn der 1970er Jahre seine Heimat und kam nach München. Der Tanzfilm Carmen von Carlos Saura machte den Flamenco so populär in Deutschland, dass Use GonzalezReyes seitdem viele Hundert Tanzschülerinnen hat; er unterrichtet an Volkshochschulen und in Münchner Studios wie dem Moving Point. Vor einer Spiegelwand steht Use und zeigt die Schritte, die Kopfhaltung, die grazilen oder kraftvollen Bewegungen der Hände – und hinter ihm stehen in Dreierreihen seine Schülerinnen, die meisten in weit schwingenden Flamencoröcken mit farbigen Volants. Eine ältere Dame rückt ihren grauen Haarknoten in der Pause zurecht, trinkt einen Schluck aus der mitgebrachten Wasserflasche und erzählt dann, dass sie seit 30 Jahren Flamenco tanzt: „Es gibt so viele strenge Regeln in diesem Tanz: Wie halte ich den Fächer? Wie bewahre ich die Körperspannung, bewege die Arme aber weich und grazil? Wann kommt welche Drehung – und drehe ich links- oder rechtsherum? Wie oft wird ein Schritt wiederholt? Wann ist unser Einsatz in der Musik? In guten Momenten halte ich die Konzentration. Dann ist der Rest der Welt verschwunden, und es fühlt sich fantastisch an. Das hält aber nicht lange ...“ Eine andere Frau nickt heftig: „Manchmal denke ich: Das lerne ich nie! Und ärgere mich. Aber dann reißt mich die Musik wieder mit, und ich mache weiter. Manchmal brennen meine Füße nach dem Unterricht noch unter der Bettdecke. Aber das war es dann wert! Ich werde tanzen, solange ich nur kann. Das ist genau die Würze, die mein Leben braucht!“ Wem auch in Bayern das Wetter oft zu kühl ist – der kann mit Salsa nachhelfen und zumindest sich selbst öfter einmal in tropische Hitze versetzen. In München hat die Tanzschule Circulo am Ostbahnhof als erste Salsa cubana unterrichtet; dort vermitteln kubanische Gastlehrer authen­tisch ihre Tanzkultur. Auch dort ist es nicht unüblich, ohne festen 109 Tanzpartner zu erscheinen. Eine junge Frau findet das sehr 109 praktisch: „Es ist eine sehr unkomplizierte Art, Männer 109

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kennenzulernen. Im Tanzsaal sind die meisten Menschen viel offener und kommunikativer! Die Musik und die Bewegung öffnen die Menschen einfach. Und ich selbst steuere durch mein Auftreten, wie oft ich aufgefordert werden möchte. Komme ich in Jeans und Sweatshirt, kann ich mich besser mit anderen Frauen unterhalten – was ja auch Spaß macht. Ziehe ich ein hübsches Kleid an, sitze ich gerade, schaue offen in den Saal und lächle den Männern zu – dann werde ich ständig aufgefordert. Wenn ein Mann nett ist, tanze ich öfters mit ihm. Wenn er nicht höflich ist, lasse ich ihn nach einem Tanz stehen. Das vereinfacht das Leben sehr!“, lacht sie und zieht ihren Lippenstift kurz nach, bevor sie sich wieder vom Stuhl erhebt und zu einem Tänzer geht. In der Max Emanuel Brauerei in Nähe der Universität geht es oft wahrhaft tropisch zu – auch im Winter tragen hier Frauen leichteste Kleidchen, weil die vielen Menschen auf engem Raum die Luft zum Dampfen bringen. Wer dicht gedrängte Menschenmassen mit viel Körperkontakt von allen Seiten nicht mag, wird hier schnell Reißaus nehmen. Im Salsa Cuba Club (Nähe Hackerbrücke) geht es etwas luftiger zu. Hier werden Salsa, Merengue und Bachata unterrichtet und getanzt – keiner braucht einen festen Tanzpartner, um die ersten Schritte zu lernen. Da sind sich die Frauen an der Tanzfläche einig: Anders würde es gar nicht gehen. „Es ist ein Stück Zeitgeist“, vermutet eine junge Frau. „Irgendwie tanzen wir alle von einem Partner zum nächsten, und unser Tanz wird immer schneller – ob wir es wollen oder nicht. Letzten Endes sind wir alle von Sehnsucht nach Nähe getrieben. Aber vielleicht ist diese Nähe heutzutage immer flüchtiger?“

Anja Salewsky ist Journalistin beim Bayerischen Rundfunk München. Während ihres Studiums der Germanistik, Slawistik und Europäischen Ethnologie hat sie nach eigener Aussage fast jeden Abend im Tanzsaal verbracht. „Tanzen hat mich oft glücklich gemacht – was ich von vielen Pro-, Haupt- und sonstigen Seminaren nicht behaupten kann.“ Living Room Dancers Nicole Seiler stellt Münchner Freizeittänzer vor: Für zwei Abende werden Privatwohnungen in der Münchner Innenstadt zum Dancefloor und zu ihrer Bühne. Der Zuschauer nimmt, ausgestattet mit MP3-Player, Stadtplan und Opernglas, für Augenblicke Teil an der sonst so intimen Situation ihres Tanzes. Samstag, 23. und Sonntag, 24. Juli 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space Ballroom im Pavillon 21 Der Pavillon 21 wird für einen Abend zum Standardtanzcafé für alle. Sonntag, 24. Juli 2011 Pavillon 21 MINI Opera Space Weitere Informationen im Spielplan ab S. 209


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M체nchen und der Tanz Tangokurse & -abende bei Lo de Laura: www.lodelaura.de Montags-Milonga in der Pasinger Fabrik: www.tango-connection.de Rock That Swing Festival im M채rz 2012: www.rockthatswing.com Swingnacht im Rationaltheater, Termine unter: www.rationaltheater.de Burlesque-Tanzkurse mit den Glamourettes: www.honeybburlesque.com/kurse.htm Flamencokurse im Moving Point: www.movingpoint.de Salsa in der Tanzschule Circulo: www.circulo.de Salsa in der Max Emanuel Brauerei: www.max-emanuel-brauerei.de Salsa Cuba Club: www.salsacubaclub.de

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Regisseur und Musiker Schorsch Kamerun ist nicht nur mit seiner Band „Die Goldenen Zitronen“ viel auf Tour, sondern auch gedanklich und künstlerisch immer unterwegs – und das oft und gerne zusammen mit jungen Menschen. Im Pavillon 21 MINI Opera Space ergründet er in einem Workshop mit Jugendlichen, wie frei oder unfrei wir leben in unserer überkomplexen Welt. So frei wie heute waren wir noch nie! Gleichzeitig fühlen wir uns oft stark verstrickt. In superkomplexen Zugehörigkeiten, Multianschlüssen, „Freundschaften“ und Permanentkontakten sind wir mit nicht gekannten Dauerver­ lust­­ängsten konfrontiert und in subtilste ­Zwangsver-­ bind­­­ungen geraten. Das gelöste Private hat sich für alle sichtbar scheinbar freiwillig eingezäunt: Bin ich etwa mein selbst kreiertes Gefängnisplakat? Die Kunst in ihrer Abstraktionsmöglichkeit ist natürlich weiterhin auf der Suche nach einer anderen, einer „wahren“ Freiheit.

Mich interessieren Fragen wie: Was sind die eigenen Ziele, Wünsche und Bedürfnisse hinter unserem Mitmachwildwuchs? Wie findet man sich in der globalisierten Entfesselung zurecht? Was wird tatsächlich gebraucht und was ist nur scheinbare Behauptung? Oder bedeutet die vermeintliche Überreizung eine neue Teilnahmeverweigerung plus „möglichst wenig Informationen – no info, bitte“? Eine der zentralen Schwierigkeiten scheint zudem die Suche nach einer geeigneten und gut sichtbaren Ausdrucksform zu sein. Früher konnte man leicht Gegenkultureller sein, Gammler, Punker, Hippie, wo allein das Erscheinungsbild „die Autoritären“ aufbrachte – das hat prima funktioniert, um die wirksam zu nerven, die starre und oft unsinnige Regelwerkler waren. Heute ist das nicht mehr so einfach. ­Direkte Feindbilder sind in den Hintergrund gerückt, sind weicher geworden. Was nehmen wir heute als abschaffungswürdige Autorität wahr? Weniges. Krieg vielleicht (noch!).

Eines der stärksten, verlorenen Freiheitsversprechen, die sogenannte Selbstverwirklichung als Möglichkeit, eigene Ziele, Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte zu realisieren, hat sich heute eher zum Boomerang entwickelt. Das, was Ende der 1960er Jahre erkämpft und als absolut positive, befreiende Errungenschaft des Individuums angesehen wurde, wirkt heute eher wie ein Schimpfwort, wie ein Vielleicht treffe ich im Campus-Workshop auf Jugendliche, Stressbeschleunigungsmittel. Darum ist Selbstverwirklidie sagen: Ich fühle mich in unserer ­geschützten „ersten chung aktuell zwar viel leichter zu haben, auf der anderen Welt“ ganz richtig. Vielleicht finden sich Jugendliche intuiSeite ist sie aber viel schwieriger, wenn nicht sogar antiv und ohne Druck gut zurecht in diesem schwer überschaustrengender geworden. Derartige Verluste von eigentlich 119 baren Geflecht und können die für sie wichtigen Zutaten sinnigem Terrain machen unter anderem eine weitverbrei- 119 leicht herausfiltern, switchen von einer Plattform zur tete Erstarrung unserer Gesellschaft aus. 119 nächsten – und fühlen sich free dabei. Oder entsteht für die


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meisten durch ständiges Abgleichen von multipräsenten Netzkanälen ein steigender Druck: Bin ich bereits cool, wenn ich über 600 Facebook-Freunde habe, bin ich nur noch uncool, wenn ich weniger als 60 habe? Welche Maßstäbe gelten, um mit seinem Profil, seinem Auftritt voranzukommen? Befinden wir uns in einem Wettstreit innerhalb unserer eigenen realen oder transparenten digitalen Community? Befriedigt es einen, regional zu funktionieren, oder beunruhigt eine ­diffuse Verantwortung gegenüber der kompletten Welt, die sich aktuell in höchster Unruhe und Bedrohung befindet? Fühlt man sich aufgerufen, ihr gegenüber eine Art von Solidarität zu zeigen? Ich jedenfalls suche nach dem Grund meiner Unruhe und gleichzeitig nach neuen Wegen und Positionen, weil ich festgestellt habe, dass es mir nicht reicht, nur Künstler zu sein und ungestört Kunst machen zu können. Mich macht das Außen ­nervös, und ich will das in meine Darstellungen hineinpacken.

all meinen Versuchen immer wieder aufs Neue: Gibt es ­einen aufkeimenden Weg, der irgendwie vielleicht zu einer neuen Position gelangt? Und den findet eher die Jugend.

Am Schauspielhaus Zürich habe ich einen Abend über Angst- und Panikstörungen probiert, an dem auch Schauspielschüler teilnahmen. Als Folge der aktuellen Angstbilder ließ sich eine Art Möglichkeitsstarre ableiten, eine Überforderungslähmung, die auch bei Borderlinern vorkommt. Wenn man sein Selbst in ständige Befreiung führt, dann ist man irgendwann nicht mehr man selbst. Am Ende des ­Projektes entstand als kollektive „Befindlichkeits“-Collage der Song Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter. Eine der Antworten in meinem Angst-Fragebogen an die werdenden Künstler und Künstlerinnen lautete folgerichtig: „Die Bullen kann man auch nicht mehr so hassen wie früher.“

Themen wie Wahrheitsfindung, Präsentation, Ideale benennen, sich an Autoritäten abarbeiten, Widerstand leisten und Neues schaffen sind Themen der jungen, nach Identität ­suchenden Generation. Wir Älteren können uns entscheiden mitzumachen, aber ich glaube, dass es immer die ­Jugend ist, die die unverbrauchten Fortsetzungen letztlich vorgibt. Es gibt viele Protestformen. Zum Beispiel waren auf Facebook plötzlich viele männliche Iraner mit Kopftuch zu f­inden, das sie sich aus Solidarität für einen kritischen ­Studenten übergezogen haben, der vom Regime bloßgestellt wurde. Oder die ukrainische Aktivistinnengruppe FEMEN, die immer wieder nackt auf die Straßen Kiews geht und gegen die Regierung demonstriert. Das sind zwar alles ­Aktionen, die einem irgendwie bekannt vorkommen – man kennt diese Formen, und niemand will ein Nachahmer sein –, aber die Jugend macht solche Aktionen immer wieder frisch abgewandelt und so kommen sie eben doch neu daher!

Für Stéphane Hessel, 93, französischer Résistance-Kämpfer und Sekretär der UN-Menschenrechtskommission, ist Empörung der erste Schritt, Widerstand zu leisten. ­„Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“ Mit seiner Streitschrift ­Empört Euch! will er die letzte Gelegenheit nutzen, um die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der „mein politisches Engagement erwachsen ist“. Das ­Autorenkollektiv von Der kommende Aufstand, das Unsichtbare Komitee, besteht aus vorwiegend jungen Leuten, die mit ­ihrer Flugschrift vor allem ihre eigene, junge Generation ansprechen. Beides zielt auf die Jugend. Speziell mit ­Jugendlichen ist es interessant, dieses riesige Themenfeld von ­Findung und Präsentation zu verhandeln. Denn Jugendliche sind per se dabei, neue Wege zu begehen. Sie sind oft die ­einzigen Experimentierfreudigen. Deshalb finde ich Antworten oder zumindest für mich sinnvolle Versuche von Ansätzen auf Fragen, die mich beschäftigen, oft bei und mit Jugendlichen. Was mich mit Jugendlichen gleichstellt, ist vielleicht das Interesse, immer wieder neu zu starten. Ich neige in meiner Kunst dazu, ständig naiv auszuprobieren. Weil ich mich so langweile mit den alten Wegen. Die Diskussion mit meiner Generation ermüdet mich oft sehr. Ich habe Lust, die Künste und auch die Formen und Wege, die ich kenne und bearbeite, immer wieder infrage zu stellen. Mich interessiert tatsächlich bei

Der Workshop im Pavillon 21 ist so angelegt, dass der Weg im Mittelpunkt steht, weniger die am Ende fertige Präsentation – vielleicht gibt es gar keine Aufführung. Aber wir werden versuchen, für die Aussagen und Haltungen der ­Jugendlichen einen Ausdruck zu finden, der ihnen entspricht. Hauptsache, wir sind gut unterwegs.

Schorsch Kamerun ist Sänger der Band ­­„Die Goldenen Zitronen“, Autor, Theaterregisseur und ­Club­betreiber. Für die Bayer­ische Staats­oper inszenierte er Leonard Bernsteins Trouble in Tahiti. Alle Bilder von Tobias Zielony: S. 118, Big Sexyland, Deer, 2006 S. 119, Tankstelle, Aral-1, 2004 S. 119, Curfew, Burn Out, Bristol Newport, 2001 S. 120, Car Park, Sam, Newport, 2000 Courtesy of Tobias Zielony and KOW BERLIN

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Festspiel-Campus für Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren mit Schorsch Kamerun und Richard McNicol Sonntag, 10. und Sonntag, 17. Juli 2011, Pavillon 21 MINI Opera Space


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VON

BRINCKEN

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MOR S TAD

Leidenschaftliche Grenz­ überschreitung wird von jeher als integraler Bestandteil und zentrales Movens großer Kunst zu­geschrieben. Für Außensteh­ende birgt dieser oft autoaggressive Aspekt von Kunst­ produktion stets etwas Spektakuläres, Abseitiges, Maßloses und Morbides 122 122


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– er signalisiert Lebens­ gefahr. Jörg von Brincken untersucht in seinem Beitrag, auf welche Weise die Affinität zu Grenzüberschreitung und Kon­t­rollverlust in der zeitge­nössischen Kunst und im Alltag wirkt. 123 123 123


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Grenzüberschreitungen gehören zum Grundrepertoire unseres gegenwärtigen Handelns. Der „flexible Mensch“, von dem Richard Sennett vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Postkapitalismus gesprochen hat, arbeitet beständig an seiner geistigen und emotionalen Beweglichkeit. Mobilität, Offenheit für Neues, flexible Formen des Zusammenarbeitens und -lebens – all diese Aspekte verflüssigen menschliche Existenz in gewissem Maße und treiben sie wie die Wellen eines Meeres immer neuen Ufern zu. Allerdings werden dabei Grenzen oft unmerklich überspült, die Sensibilität für Übertretungen verblasst, die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten und der herausfordernden Lebensentwürfe lässt das krisenhafte Moment, das eigentlich im Begriff der Grenzüberschreitung impliziert ist, schwächeln. Zumal dort, wo Lebens- und Karrierepläne nach wie vor ergebnisorientiert sind, wo – wenn auch oftmals kurzfristig – gesteckte Ziele und deren Erreichbarkeit eine Start-Ziel-Logik vorgeben – eine abstrakte Dimension von Kontrolle, von Plan- und Überschaubarkeit, die durch die globale Vernetzung und mediale Virtualisierung weiter befördert wird. Doch besteht offenbar weiter ein Bedürfnis nach absoluten Herausforderungen, nach Nicht-Projizierbarem, nach den weißen Flecken auf der Karte unseres Erlebens, nach dem gefährlichen und nicht gänzlich kontrollierbaren Augenblick: eine Leidenschaft für das radikal Neue, das sich, wie Adorno in Bezug auf Modernität meinte, mit dem Tod und der Dunkelheit verschwistert. Hardcore-Bodybuilder quälen sich in Fitnessstudios unter tonnenschwerem Eisen, Basejumper springen mit Fallschirmen in Abgründe, andere rasen in Boliden über harten Asphalt, wieder andere erklimmen steile Gipfel oder dreschen sich in ultimate fighting challenges halb tot – und wo Menschen all dies nicht selbst zu tun wagen, da identifizieren sie sich via TV und PC-Screen mit den sichtlich gequälten und gefährdeten Leibern derjenigen, die sich der Herausforderung stellen. Ebenso boomen einschlägige Mediashows, in denen Menschen etwa vor Dschungelkulisse Aufgaben jenseits der Grenzen des guten Geschmacks zu bewältigen haben, sei es das Einverleiben von Krokodilshoden oder das Intimwerden mit Kriechgetier in sargähnlichen Käfigen. Jenseits der puren Lust an Sensation und Unterhaltung ist der Trend zur Herausforderung auch damit zu erklären, dass bestimmte Menschen, grotesken Märtyrern gleich, stellvertretend für die Zuschauer Grenzen überschreiten und im wahrsten Sinne des Wortes in Körperkontakt mit einer als fremd, bedrohlich oder ungesund empfundenen Wirklichkeit treten. Aus dieser kämpferischen Begegnung ziehen sie jedoch Energien und genießen höchst affektgeladene Erfahrungen, die auf dem allzu engen Spielplatz des Alltags tabuisiert und verbannt sind.

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tive Eingriffe, das Piercing, die Tätowierkunst – diese in Zeiten der Imagepflege florierenden Praktiken sind, wo sie als kulturelle Gesten ernst genommen werden, nie nur aus dem vordergründigen Willen zum Dekor zu erklären. In ihnen schlummert ein Rest archaischer, den Menschen und seine Welthaltung innerlich und äußerlich verändernder Schmerz- und Verletzungsrituale, eine die Grenzen des Erträglichen erkundende und erweiternde Autoaggression statt bloßer Selbstbildpflege also. Angesichts des umfassenden, in Mainstream und kulturellen Nischen anzutreffenden Trends zu gesteigertem Erleben (und zumindest immer wieder kurzzeitig infrage stehendem Überleben) scheint es in der Tat so zu sein, dass bei aller Virtualisierung der westlichen Kultur, bei allen abstrakten Herausforderungen, bei allen Machbarkeitsversprechen der uns umgebenden Wirklichkeit der Körper mit seiner Leidens- und Bedrohungslust zum eigentlichen Refugium von Grenzerfahrung wird. Doch welche Rolle spielt die Kunst und vor allem die Körper-Kunst in diesem Kontext? Der jüngst so gefeierte Film Black Swan von Darren Aronofsky gibt eine bedenkenswerte Perspektive. Die Geschichte einer jungen ehrgeizigen Tänzerin, die die einmalige Chance erhält, in der Inszenierung eines gefeierten Choreographen sowohl den guten weißen als auch den bösen schwarzen Schwan in Tschaikowskys Schwanensee zu tanzen, ist weit mehr als eine spannende Psycho-Etüde über die Untiefen des Tänzerberufes. Vielmehr taugt der hier dargestellte Prozess einer seelisch wie körperlich schmerzvollen Selbstverwandlung als Parabel auf die Position künstlerischen Agierens und künstlerischer Erfahrung schlechthin. Auf der einen Seite wird klar, dass hehre Kunst und der Sarkasmus der westlichen Leistungsgesellschaft durchaus Parallelen haben. Das harte Training, das zu Verletzungen führt, das Sich-Antreiben, das Fiebern nach der großen Karriere, der gnadenlose Egoismus im Kampf um die Rolle, der Wille zur Perfektion und vor allem: zur Anpassung, zur Flexibilität, zur kontrollierten Grenzüberschreitung, an deren Ende das erfolgreiche Ergebnis steht – dies alles sind ungute Anspielungen auf die Verwandtschaft von Kunst und postkapitalistischer Realität. Nicht umsonst wird in aktuellen gesellschaftskritisch-philosophischen Diskursen darauf verwiesen, dass im traditionellen Typus des Künstlers, des Virtuosen und gerade des Livekünstlers Qualitäten wie Emotionalität, Flexibilität, Offenheit, Spontaneität und Kreativität angelegt sind, die heutzutage zu allgemeinen und grundlegenden Kriterien für erfolgreiches Handeln avanciert sind.

Einer der wesentlichen Vertreter dieser kritischen Sozialdiagnose, der Philosoph Paolo Virno, hat im Hinblick auf unsere gesellschaftliche Realität, in der angesichts von allseitigen Veränderungen, Mobilitäten und Ungewissheiten Auch Subkulturen, die ursprünglich angetreten sind, allge- 125 konkrete Furcht und diffuses Angstgefühl ununterscheidmeinen Trends zu widerstehen, setzen auf Transgression: 125 bar würden, vor den „schrecklichen Zuflüchten“ gewarnt. body modding, also das Verändern des Körpers über opera- 125 Er sieht die Gefahr eines Bekenntnisses zum „Bösen“ – als


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Reaktion auf die Gefährlichkeit, rasante Wandelbarkeit und Unvorhersehbarkeit der modernen Welt. Virno identifiziert dieses Böse in der freiwilligen Unterwerfung unter souveräne Kontrollmechanismen oder auch als Bereitschaft, sich dem „gnadenlosen Konkurrenzkampf um die Karriere“ hinzugeben. Doch die junge Tänzerin in Black Swan scheitert zunächst am Postulat des „Gib alles!“ und zwar, weil sie rein nach formalen Leistungs- und Qualitätskriterien agiert. Ihr Tanz ist äußerlich perfekt, kontrolliert, bestens einstudiert und taugt für die Rolle des weißen Schwans – doch fehlt der Zündfunke für jene verzehrende Leidenschaft, die es zu wecken gilt, um den schwarzen Schwan, Metapher des Affekts, der Sünde und des zerstörerischen Begehrens, darzustellen. Verlangt ist eine weitaus intimere Liaison von Körper und Gefühl, ein Grad der Identifikation, der bis in die Abgründe des menschlichen Unbewussten reicht, dorthin, wo der Mensch noch eine innige Verbindung zur Aggression und Wollust des Tiers hat. Der einzige Weg in dieses dunkle Ich führt über das Wecken und Zulassen gefährlicher erotischer Impulse. Black Swan zeigt uns ab diesem Punkt Tanzkarriere als schleichend vonstattengehenden schizophrenen Prozess, an dessen Ende die äußere und in­nere Transformation in den schwarzen Schwan steht, auf der Bühne und im Leben. Die Flucht in die Kontrolle angesichts der alltäglichen, in diesem Falle tänzerisch-beruflichen Herausforderungen, besitzt einen Counterpart, eine Gegenkraft, nämlich die lauernde Verführung zum Sprung in das Ungewisse. Statt raus aus der Angst und hinein in die Sicherheit: der taumelnde Schritt in die Gefahr. Der Tanz am Abgrund als Programm der Grenzüberschreitung: Nah an Nietzsche scheint diese filmische Perspektive zu sein, Nietzsche, für den doch gerade der Tanz und das Chaos eng liiert waren, wenn er in großartig poetischen Worten postulierte, man müsse noch genügend Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Freilich ist es im Film ein dunkel strahlender Stern voll Aggression und Bosheit, voll verzehrender Lust und radikalem Wollen. Die intime Liaison mit dem Bösen also, deren Anbahnung jedoch für die Heldin des Films eine radikale Erfahrung der Angst und des schmerzhaften Selbstverlustes birgt.

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Nicht zuletzt darf man an den kürzlich verstorbenen Christoph Schlingensief denken, dessen Church of Fear-Projekt sich nach der Lungenkrebsdiagnose zu einer „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ wandelte. Und Schlingensief machte seine eigene Ausgeliefertheit an die schreckliche Krankheit, der er schließlich unterlag, zu einem zentralen thematischen Moment seiner letzten Arbeiten. Freilich, Kunst kann Angst besiegen. Aber zu jedem Sieg bedarf es einer Annäherung an das Raubtier. Heiner Müller sprach – nicht unweit Nietzscheanischer Gedanken – angesichts der Angst sogar von einer kulturschaffenden Kraft, er übernahm dabei den Begriff des „Furchtzentrums“ von Bert Brecht: Indem man sich diesem Furchtzentrum nähere und sich schließlich mit dem Schrecken konfrontiere, käme man an eine emotionale Energie heran, die schließlich den Impuls zur Überwindung der Furcht liefere. Der gemeinsame Tenor: Nie am Schrecken vorbei, sondern mitten durch ihn hindurch führt der Weg der Kunst. In Black Swan hat die Heldin eine klare Tendenz zur Autoaggression, die vermeintlich dem psychischen Druck bei ihrer Suche nach der perfekten Darstellung des schwarzen Schwans geschuldet ist: Sie kratzt sich den Rücken wund, reißt sich den Fingernagel aus, verzweifelt darauf wartend, dass ihr die psychische Anverwandlung an die Rolle endlich gelingt. Diese schaurigen Details bringt der Zuschauer unmittelbar mit den Blessuren in Verbindung, die Folgen der zermürbenden Arbeit an der Rolle sind, wie geschwollene Knöchel und wunde Füße. Der Stress des Trainings und der Proben sowie der auf der Tänzerin lastende Erfolgsdruck drücken sich in inneren und äußeren Verwundungen aus – scheinbar ein psychosomatisches Klischee aus kritischem Geiste heraus. Doch was anfänglich zunächst als – psychologisch nachvollziehbar – Reaktion auf Belastung erscheint, kippt ins Fantastische: Aus der nicht abheilenden Rückenwunde zieht die Heldin schließlich eine kleine schwarze Feder, Vogelhaut bildet sich an Hals und Rücken, die Zehen der wunden Füße wachsen zu flossenähnlichen Gebilden zusammen, die nervösen Augen färben sich zu blutroten Edelsteinen – und schließlich verwandelt sich die junge Ballerina beim grandiosen Premierenauftritt leibhaftig in einen Schwan mit pechschwarzem Gefieder, gleißend im grellen Scheinwerferlicht. Die unheimliche Schönheit des bösen Schwans ist kein symbolisches Sinnbild mehr: Die Verwandlung wird leib­ haftig vollzogen.

Gerade Körperkünstler, seien es Tänzer, Performance-Künstler oder Theatermacher, haben immer wieder Angst als den wesentlichen Antrieb ihres Schaffens herausgestellt: Der In diesem frappierenden Surrealismus setzt der Film die weFilm Pina von Wim Wenders gibt mit dem flehenden Motto sentliche inhaltliche Pointe: Die verzweifelte, angstvolle Rei„tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“ in diese prekäre Dise in die dunklen Triebtiefen des eigenen Ich führt äußerlich mension ebenso Einblick wie die Selbstaussagen der Großkeineswegs zu bloß negativen Begleitsymptomen, die eine mutter der Performance-Kunst, Marina Abramović, die stets unerträgliche psychische Belastung anzeigen. Verwundung betont hat, ihre autoaggressiven und körperlich höchst geund Schmerzaffinität sind in diesem Falle gerade nicht Signafährlichen Körper-Performances seien einer Auseinandersetzung mit der Furcht vor Verletzung, Krankheit und Tod ge- 127 le für ein pathologisches Verhältnis zum Körper oder für ein schuldet. 127 krankhaft aus den Fugen geratenes Selbstbild. Vielmehr sind 127 sie – und das ist die prekäre Dimension des Films – unmit-


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Wesentlich scheint im Hinblick auf den diskutierten Film auch, dass diese Neigung zu Leiden ja keineswegs nur in den Sternstunden der Kunst, das heißt während der geglückten Aufführung oder Präsentation vor Publikum, zum Tragen gelangt. Dabei geht es nicht einfach um den geglückten Übergang von einem Stadium in ein anderes, einen abgeschlossenen Vorgang, sozusagen um die Erfolgsgeschichte der Verwandlung und ihr sichtbares Ergebnis. Vielmehr wird dieses an Meilensteinen und Zielvorgaben orientierte Karrieredenken beständig durch Momente konterkariert, in denen die Unsicherheit und Bedrohlichkeit des Übergangs, der Prozess des Kampfes mit dem Fremden, vor alle Endgültigkeiten tritt. Die Heldin von Black Swan leidet gerade während des Probenverlaufes, in den einsamen Momenten, in denen sie sich in ihrem Zimmer einschließt oder durch die Nacht streift. Halluzinierte erotische Stelldicheins, Zusammenbrüche, verzweifelte Selbstverletzung – dies alles sind Aspekte, die im Film unmittelbar als Teil der Rollengestaltung thematisiert werden. Gerade hierin fordert der Film auf, hinter die Kulissen zu blicken, sozusagen den schlechten Rest künstlerischer Arbeit, nämlich die Arbeit als solche, in den Blick zu nehmen. Auf der Bühne erleben wir die gleißenden Zeugnisse all der schweiß- und bluttreibenden Anstrengungen, die im Vorhinein nötig waren. Wie ein gefrorener Augenblick steht die Perfektion vor uns und macht all das Leid und die Angst vergessen, die zu ihrer Schaffung nötig waren. Was ist mit der sprichwörtlichen Angst des Tänzers beim Knöchelbruch, was ist mit dem Zaudern des Schauspielers vor der letzten Anverwandlung? Sind es nicht gerade diese, oft in aller Einsamkeit immer wieder erlebten Momente der Krise, die zu den kulturellen und kreativen Großtaten führen?

telbarer Ausdruck einer letztlich schrecklich geglückten künstlerischen Suche nach dem inneren Bösen. Die Triebe suchen sich ihren Weg auf die Außenseite des Körpers, die dunklen Impulse verwandeln, sie schaffen monströs Schönes – im literalen Sinne. Doch der Weg ist dornig, jeder Schritt, innen und außen, ist eine Verletzung, erst Leiden schafft Leidenschaft. Natürlich, wir sind es gewohnt, auf Verwundungen und Verletzungen, innerer und äußerer Natur, negativ mit Sorge, Abscheu oder Furcht zu reagieren. Doch gerade im Bereich der Kunst und ihrer Theorie gab es immer wieder Stimmen, die das Erschreckende, das Schmerzende, das Leidvolle und die Leibeskatastrophe zum Synonym für Entgrenzung und Transformation aus künstlerischem Geiste bestimmt haben. So sprach etwa Antonin Artaud, einer der Urväter des modernen Theaters, von Krankheit als „Fest des Leibes“. Und auch Heiner Müller vertrat eine Perspektive, aus der Siechtum, Sterben und körperliche Krisen immer auch als – wenn auch von Angst begleitete – Formen der Verwandlung zu lesen waren. Nicht zuletzt darf man an Georges Batailles Kulturtheorie denken, die eine innige Verschmelzung mit der Welt und ihrer Kontinuität gerade in erotisierter Todesnähe für möglich hielt. Freilich übersteigt ein solcher Diskurs die Grenzen vor allem des aufgeklärten Welt- und Menschenbildes mit seiner Emphase auf geistiger und körperlicher Integrität nach beiden Seiten hin: Die dunklen Affekte und faszinierend sinistren Leidenschaften ziehen auch eine körperliche Grenzüberschreitung nach sich, die im Motiv des schwarzen Menschenschwans in einem gefährlich erotischen hybriden Bild kulminiert – eine Momentaufnahme dämonischer Perfektion, die jedoch weder körperlich noch seelisch durchzuhalten ist. In Black Swan fällt dementsprechend die in der Aufführung geglückte Verwandlung mit der Katastrophe überein, dem Selbstmordversuch der jungen Tänzerin, wobei offenbleibt, ob sie überleben wird oder nicht. Grenzerfahrungen und die damit verbundenen Herausforderungen stellen, wo sie physische und psychische Grenzen tangieren, immer die Integrität des Menschen infrage. Die Verbindung zu etwas Fremdem, sei es von außen kommender Schmerz oder das innere Chaos der Triebe und Halluzinationen oder beides, bedeutet eine Gefährdung nahe am Tödlichen, die als Verzückung nur jenseits des Logischen und des „gesunden Menschenverstandes“ erfahren werden kann, eine lustgeladene Intensität, die sich der diskursiven Erfassung verweigert. Aber genau dies verschwistert sie zutiefst der Kunst und der kreativen Schöpfung, die ebenso sprachlos machen kann, wie sie Letzterklärungen gegenüber sprachlos bleibt – nicht zuletzt dort, wo Kunst, wie im Tanz oder der körperzentrierten Performance Art, den Leib eben nicht zur Beredtheit oder Geschwätzigkeit drängt, sondern sein Schweigen zelebriert, seine stummen Schreie, seine Ekstasen und seine Leiden gegenüber dem reinen Sinnprinzip verlauten lässt.

Die Frage, die wir uns vor allem stellen müssen, lautet aber: Sind es nicht gerade Momente einer dauernden Herausforderung, die uns radikal alleine lässt mit der Gefahr und der Angst in und um uns, dieses Furchtzentrum, dem wir uns einsam und ohne die Stütze des Beifalls anderer nähern, das die Faszination und Intensität der Grenzerfahrung ausmacht? Mir scheint, dass das Erleben des eigenen Ich in Momenten des Selbstverlustes, nämlich dann, wenn wir uns dem Leid, dem Schmerz, sogar dem möglichen Tod ausliefern, eine Erweiterung unserer Sensibilität bedeutet: dafür, was in uns an Grenzen, teilweise furchtbaren Grenzen schlummert, für das, was uns jenseits des Logischen im Innersten antreibt, für eine gefährliche Wollust, deren Lustobjekt wir selbst sind und die in der Lage ist, uns zu verzehren. Und diese Lust scheint eine ebenso dringende wie unstillbare zu sein. Sie verschwistert Kunst und gerade die Tanzkunst mit anderen körperkulturellen Praktiken, denn in Gefahr zu sein und Angst zu haben ist vor aller Bewusstheit immer und ewig eine Sache des Affekts, des gesteigerten Herzklopfens: Dies ist der leidenschaftliche Takt, der jeden Tanz leitet und ihn reizvoll macht. E N D E

Jörg von Brincken ist Theaterwissenschaftler und Soziologe sowie Aka­­demischer Rat an der LMU München. Seine Forschungsge­ biete sind Game Culture als Performance, das Monströse in der Kunst. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis von Virtualität zu Körper und Emotion.



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Cornwalls Held Tristan hat im Kampf gegen Irland dessen König Morold getötet, den Bräutigam Isoldes. Tödlich verwundet wurde er ­– unter dem Namen Tantris – an die Küste Irlands getrieben, von Isolde gefunden und gesundgepflegt. Anhand seiner Wunde erkennt Isolde den Mörder ihres Verlobten. Rache scheint ihr unmöglich, ein Blick Tristans hält sie davon ab.

Tristan, König Markes treuer Diener, ist nach Irland gesegelt, um die irische Königstochter Isolde nach Cornwall zu bringen, wo sie Marke heiraten soll. Isolde ist tief gedemütigt, dass sie dem „müden König” von Cornwall als Friedenspfand zugeführt wird, vor allem aber, dass Tristan, dem sie das Leben geschenkt hat, die Rolle des Brautwerbers übernommen hat. Isolde will sich rächen und befiehlt Brangäne, ihr und Tristan den Sühne- und Todestrank zu bringen. Doch Brangäne reicht beiden den für Marke und Isolde bestimmten Liebestrank. Statt gemeinsam zu sterben, entbrennen Tristan und Isolde in heisser Liebe. Das Schiff landet in Cornwall. Als Brangäne Isolde die Verwechslung gesteht, sinkt diese ohnmächtig in Tristans Arme.


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König Marke ist nachts mit seinem Gefolge auf die Jagd gegangen. Isolde wartet im Garten auf Tristan. Brangäne warnt Isolde vor dem drohenden Verrat durch Tristans Freund Melot. Isolde hört nicht auf sie. Sie löscht die Fackel an der Tür und gibt Tristan damit das verabredete Zeichen. Tristan und Isolde stürzen einander in die Arme. Vereint in Liebe möchten sie nie mehr getrennt werden. Der Welt entrissen hören sie nicht Brangänes Ruf. Im Morgengrauen erscheint, von Melot alarmiert, König Marke mit seinem Gefolge. Marke sieht den Verrat seines ergebensten Dieners der sich nicht verteidigen will. Er lässt sich auf einen Zweikampf mit Melot ein und stürzt sich in dessen Schwert.

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Kurwenal hat Tristan in dessen Heimat gebracht. Die Wunde heilt nicht, nur Isolde kann Tristan retten. Er erwartet sie sehns체chtig. Doch Isoldes Schiff kommt zu sp채t: im Augenblick ihrer Ankunft stirbt Tristan. Ein zweites Schiff trifft ein: Marke ist gekommen, um dem Liebespaar zu vergeben. Kurwenal vermutet Feinde. Im Kampf sterben er und Melot. Marke steht ersch체ttert vor den Toten. Isolde stirbt vor Schmerz.

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REISE NACH OUAGADOUGOU — EINE ANNÄHERUNG AN DAS UNVORHERSEHBARE TEXT UND FOTO GRAFIE BARBARA K. OFF

Während der Münch­ner Opernfestspiele 2010 zeigte die Bayerische Staats­oper im Pavi­llon 21 Via Intolle­ranza II von Christoph Schlingensief. In ihrem Beitrag

für das damalige Festspielbuch setzte sich Barbara K. Off mit der Idee seines Operndorfes in Afrika auseinander. Auch nach Besuch der Vorstellung blieben bei ihr viele 142 142 142

Fragen offen. An­ fang diesen Jahres fragte sie uns: „Wie steht es um Christoph Schlingensiefs Operndorf heute?“ Und machte sich schließlich selbst auf die Reise.


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Es sollte einer von Schlingensiefs letzten öffentlichen Auftritten sein. In bekannt provozierender Manier führte der Regisseur in Via Intolleranza II die Absurditäten westlicher Entwicklungshilfe in Afrika vor und plädierte für ein Ende des weißen Gutmenschentums. Schlingensief beendete den Abend dennoch mit einem Spendenaufruf für sein Operndorf in Burkina Faso. Volles Risiko forderte er. Geld geben, ohne Bedingungen zu stellen, ohne Sicherheiten zu haben, ohne zu wissen, was passieren wird. Zwei Monate später, am 21. August 2010, starb Christoph Schlingensief an den Folgen seiner Krebserkrankung. Wie geht es ohne ihn weiter mit dem Operndorf? Ein Jahr nach der Grundsteinlegung im Februar 2010 ist es Zeit, vor Ort nachzusehen, was sich tut. Und wann wäre ein besserer Zeitpunkt als während des größten afrikanischen Filmfestivals, dem FESPACO (Festival Panafricaine du Cinéma et de la Télévision)? Alle zwei Jahre strahlt Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou eine Woche lang unter dem Stern des afrikanischen Films. Hunderte von Filmen werden gezeigt. Filmemacher, Produzenten, Schauspieler, ­Cineasten und Kulturschaffende aus Afrika und aller Welt pilgern in die Hauptstadt eines der ärmsten Länder dieses Kontinents. Mein erster Gesprächspartner ist Lionel Somé, Student an der Filmhochschule von Ouagadougou. Er begleitete die burkinischen Künstler von Via Intolleranza II nach Europa und machte eine Videodokumentation dieser Reise. Lionel ist begeistert von der Idee des Operndorfes. Er hofft sehr, dass das Projekt auch ohne Christoph Schlingensief Gestalt annehmen wird. „Es ist die Philosophie dahinter. Für Christoph war Leben Kunst.“ Genau so sei es in Afrika. „Christoph hatte mit der ganzen Entwicklungshilfe nichts am Hut. Er hat nach neuen Wegen einer Zusammenarbeit gesucht, die nicht vorgibt, was zu tun ist. Von Afrika lernen war sein Ansatz.“ „Solche großen Worte kennt man in der Entwicklungshilfe seit Jahren“, werfe ich ein: „Hilfe zur Selbsthilfe“, „Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe“. Müssen Entwicklungsprojekte nicht ein genaues Ziel haben und konkrete Ergebnisse liefern, sei es im Kampf gegen Aids oder zur Stärkung von Frauenrechten? Was wird also beim Operndorf anders sein? Was genau bedeutet „von Afrika lernen“?

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Monsieur le Chercheur zu einer Schweigeminute für Christoph Schlingensief gebeten hat, und sich alle erheben. Für Isabelle Tassembedo sei es eher ein Spaß gewesen, zum Casting für Via Intolleranza II zu gehen, das in der Tanzschule ihrer Schwester Irène stattgefunden hat. Dass Schlingensief sie ausgewählt habe, konnte sie erst gar nicht verstehen. Genauso ging es Amado. Er sei zwar Schauspieler und Komödiant, aber er habe keine professionelle Ausbildung. Durch Christoph habe er Vertrauen in seine Fähigkeiten bekommen. Ähnlich geht es Isabelle: „Christoph hat mich gelehrt, was ich in mir habe. Er hat nicht vorgegeben, wie die Dinge vonstattengehen sollen.“ „Am Anfang war das ein Desaster“, meint Amado. „Nichts war vorbereitet, als wir nach Europa kamen. Es gab keine Texte, und wir wussten nicht wirklich, wo das alles hinführen sollte. Christoph wollte, dass wir unsere Texte selber schreiben. Er wollte unsere Geschichten.“ Während ich den Künstlern zuhöre, muss ich an die Soziale Plastik und den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys denken, den Schlingensief im Zusammenhang mit dem Operndorf immer wieder zitierte. Jeder Mensch ist ein Künstler und hat kreative Fähigkeiten, die erkannt und ausgebildet werden müssen. So hat Schlingensief gearbeitet, und das ist auch die Konzeption des Operndorfes. Das Lernen im Mittelpunkt – wird deswegen als Erstes eine Schule gebaut? Dazu meint Aino Laberenz, dass man nicht die Augen vor den aktuellen Bedürfnissen in Burkina Faso verschließen darf. Und bei einer Alphabetisierungsrate von circa 25 Prozent ist Bildung eines der wichtigsten. Aber auch sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung sind drängende Notwendigkeiten. Deswegen werden ein Brunnen und eine Krankenstation gebaut. „Christoph hat immer gesagt, der Ort bestimmt dich und nicht du den Ort. Er hat nie vorgehabt, mit einer Oper im europäischen Sinne nach Burkina Faso zu kommen und den Leuten hier zu zeigen, wie man ein Orchester gründet. Ihm ging es um Musik als Sprache und ums Lernen. Dass wir zum Beispiel Instrumente lernen, die wir noch gar nicht kennen.“

Bei einer vom Goethe-Institut veranstalteten Exkursion kann ich mir selbst ein Bild vom Voranschreiten des Projektes machen. Mit einem gecharterten Linienbus geht es in das circa 30 Kilometer entfernte Laongo. Der Bus ist Vielleicht können die burkinischen Künstler von Via Intol­ rammelvoll. Einige burkinische Jugendliche singen und leranza II Antworten darauf geben. Während des Filmfessorgen ordentlich für Stimmung. Christoph Schlingensief tivals veranstaltet das Goethe-Institut in Zusammenarbeit hätte seine wahre Freude gehabt. In Laongo erwarten uns mit der Festspielhaus gGmbH, die das Operndorfprojekt der Architekt Francis Kéré und Aino Laberenz. Gemeinunter der Leitung von Schlingensiefs Lebensgefährtin sam laufen wir bei 40 Grad im Schatten über das Gelände Aino Laberenz weiterführt, eine Reihe von Events, in denen entlang der imaginären Schnecke, die sich Schlingensief das Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Der als Grundriss für das Operndorf vorgestellt hat. Aino erste Abend gehört ganz den Schauspielern. Isabelle Tassembedo, Jean-Marie Gomzoudou Boucoungou – genannt 143 Laberenz und Francis Kéré erklären, wo welche Gebäude Monsieur le Chercheur –, Amado Komi und Nicolas To- 143 stehen werden, und erläutern die drei Bauphasen des unga erzählen von ihren Erfahrungen. Aber erst nachdem 143 Projektes.


REPORTAGE

Laongo, 30 Kilometer von Ouagadougou, Burkina Faso, am Rande der Sahelzone, Westafrika. Christoph Schlingensiefs Traum von einem Operndorf in Afrika wird Realit채t. Die erste Bauphase hat begonnen.

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Die erste Phase, in der die Schule gebaut wird, hat begonnen, und man kann bereits die Grundmauern von ein paar Gebäuden sehen. Eine Kantine für die Schüler, Wohnungen für Lehrer, Ateliers, Geschäfte und Büros sollen folgen. Im hinteren Teil des Geländes werden die Ziegel in Handarbeit hergestellt und zum Trocknen ausgelegt. Kéré erklärt, dass sie aus einem Gemisch aus Lehm und Zement bestehen. „Auch beim Bauen war es Christoph wichtig, dass der Ort die Gegebenheiten bestimmt“, unterstreicht Aino Laberenz. Deswegen die Nutzung heimischer Materialien und das Ziel, das Dorf einmal mit eigenem Solar- und Windstrom zu versorgen. Die erste Bauphase soll vor dem Beginn der Regenzeit im Juni abgeschlossen sein. Im Oktober sollen die ersten Kinder eingeschult werden. Das Thema Schule wirft bei den Besuchern Fragen auf. Wer wird sie besuchen? Wer werden die Lehrer sein? Wer be-

Aino Laberenz, Christoph Schlingensiefs Lebensgefährtin, und der Architekt Francis Kéré vor Ort in Laongo.

stimmt das Curriculum? Wer bezahlt das alles? Geduldig antwortet Aino Laberenz immer wieder auf die vielen kritischen Fragen. Es soll eine freie öffentliche Grundschule für die Kinder aus der Umgebung werden. Den allgemeinen Lehrplan bestimmt das Ministerium für Bildung, Kultur und französische Sprache, mit dem die Festspielhaus gGmbH eng zusammenarbeitet. Parallel dazu sollen die Kinder von Anfang an einen Zugang zur Kunst bekommen. Und das bezieht sich nicht nur auf Oper. Es meint Kunst im weitesten Sinn: Fotografie, Film, Tanz, Musik, Theater. Die Auswahl der Lehrer wird der nächste Schritt sein.

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Gebäude in der lauten und pulsierenden Stadt kann etwas wirklich Neues entstehen. Und doch drängt sich die Frage nach dem Bezug des Projektes zur burkinischen Gesellschaft auf. Dies und mögliche Synergien und Partnerschaften diskutieren das Team der Festspielhaus gGmbH mit burkinischen und internationalen Experten und Kulturschaffenden bei einer weiteren Veranstaltung des Goethe-Instituts. Teilnehmer des internen Meetings sind unter anderem Irène Tassembedo, Gaston Kaboré, ein bekannter burkinischer Filmemacher, der selbst eine Filmschule in Ouagadougou gegründet hat, und Chris Dercon, zu diesem Zeitpunkt noch Direktor des Hauses der Kunst in München, nun Leiter der Tate Modern in London. Am Abend sollen die Workshop-Teilnehmer dann für einen Austausch mit der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Leider sind Irène Tassembedo und Gaston Kaboré dann nicht

Nicht nur Cannes hat einen Catwalk. Der rote Teppich vor dem Cine Burkina während des 22. Panafrikanischen Filmfestivals FESPACO in Ouagadougou.

mehr anwesend. Es wird nur berichtet, dass beide sich weiterhin für das Operndorf engagieren wollen, vor allem im Bereich der künstlerischen Erziehung. Für Gaston Kaboré haben Kinder durch das Operndorf die Möglichkeit, die Welt mit ihren eigenen Augen zu sehen. So muss diese Generation ihre Träume nicht mehr in der Fremde suchen, sondern kann sie in Burkina Faso träumen und hoffentlich auch realisieren. Chris Dercon ist darauf gespannt, inwieweit das Operndorf auch ein Platz für den internationalen Austausch von Künstlern werden kann. Nach 60 Jahren des Kulturimports und -exports sei es Zeit für eine neue Vision des Kulturaustausches, die den Gegebenheiten einer globalisierten Welt Rechnung trägt. Irène Tassembedo hält es für wichtig, dass nicht nur die Deutschen, sondern auch die Burkinabé einen finanziellen Beitrag leisten.

Nach dem Platz für eine Krankenstation, die in der zweiten Bauphase entstehen soll, kommen wir an den zentralen Ort des Dorfes. In der dritten Bauphase soll hier das Festspielhaus gebaut werden. Bis dahin wird an dieser Stelle eine „Ein interessanter Aspekt, aber keine Lösung dafür, wie die Art Marktplatz sein, ein Treffpunkt für Schüler, Eltern, Idee eines Deutschen zu einem lebendigen, burkinischen Lehrer, Dorfbewohner und Besucher, wo die Schüler ihre Projekt werden kann“, meint in der anschließenden DiskusFilme, Tanz- oder Musikstücke vorführen können. Am Ende sion eine deutsche Professorin, die an der Universität in unseres Rundgangs stehen wir auf einer kleinen Anhöhe. Ouagadougou lehrt. Sie habe wirklich Angst, dass das Hier soll einmal ein Restaurant stehen. Auf der einen Seite Operndorf in fünf Jahren eine Ruine sein wird, wenn man kann man auf das Operndorf schauen, auf der anderen Seite öffnet sich der Blick auf die Savanne. Hier verstehe ich, wa- 145 nicht jetzt anfange, die Leute auf allen Ebenen der burkinirum Schlingensief diesen Ort gewählt hat. Hier auf dem 145 schen Gesellschaft mit einzubeziehen. Ähnlich äußert sich Land, in der Stille der Weite, und nicht eingeengt in einem 145 mir gegenüber auch Gerhild Steinhauer, in der deutschen


REPORTAGE

Botschaft in Burkina Faso für Kultur zuständig: „Durch das enorme Öffentlichkeitsinteresse, das Schlingensief in Deutschland hat wecken können, ist das, was in Laongo am Entstehen ist, in den Köpfen der Deutschen präsent, aber in Burkina Faso noch nicht, auch weil auf burkinischer Seite die Wahrnehmung fehlt, was da eigentlich passieren soll und was die Burkiner davon haben.“

Die Besucher bleiben sitzen, warten und singen selber, bis die Show weitergeht. Und was dann geboten wird, ist beeindruckend und ergreifend schön: eine Mischung aus traditionellem und modernem Tanz, Ballett, Schauspielkunst, Akrobatik, traditioneller Musik, Jazz und Rock. So langsam verstehe ich, warum Burkina Faso oft als die Kulturhauptstadt Afrikas beschrieben wird.

Hier liegt die größte Herausforderung für Aino Laberenz und ihr Team. Es wird nicht genügen, dass der Architekt Francis Kéré Burkinabé ist und man die Unterstützung der burkinischen Regierung hat. Bekannte Fürsprecher wie Irène Tassembedo oder Gaston Kaboré sind ein Anfang. Die Bewohner von Laongo allerdings, die letztlich von dem Operndorf profitieren sollen, sind bislang nicht in Erscheinung getreten, geschweige denn zu Wort gekommen.

Am Ende sind immer noch Fragen offen. Wird es gelingen, das Operndorf auf lange Sicht mit Leben zu erfüllen? Antworten kann es erst in vielen Jahren geben. Vielleicht hilft es dem Zweifelnden in der Zwischenzeit, sich mit dem karibischen Philosophen Édouard Glissant auseinanderzusetzen. Zum Beispiel mit seiner Essaysammlung Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielfalt. Glissant behauptet, die Welt kreolisiert sich. In einer globalen Welt treffen Kulturen aufeinander und mischen sich. Daraus ent-

Eine Woche lang ist das Kino Cine Burkina zentraler Treffpunkt für Filmemacher, Schauspieler, Cineasten und Journalisten aus Afrika und aller Welt.

Noch stehen erst die Mauern der Schule. Doch schon im Herbst 2011 sollen die ersten Kinder hier unterrichtet werden.

Wie wäre es wohl gewesen, wenn an diesem Abend Christoph Schlingensief auf dem Podium gesessen hätte? Was hätte er auf die Fragen geantwortet? Hätte er alle Zweifel aus dem Weg räumen können? Mit seiner unermüdlichen Schaffenskraft, seinem Charisma und seiner Begeisterungsfähigkeit hat er seine Projekte zum Fliegen gebracht. Wird Aino Laberenz das gelingen? Am Ende eines langen Tages erklärt sie mir, dass sie natürlich immer wieder Zweifel habe. Aber wenn sie in Burkina Faso sei, habe sie vielmehr das Gefühl, dass das alles funktionieren kann und dass die Menschen dieses Projekt wollen. „Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Aber die Alternative wäre aufzugeben. Und das will ich nicht.“

steht etwas unvorhersehbares Neues unter Achtung und Bewahrung von Vielfalt und Heterogenität. In diesem Sinne plädiert Glissant für eine neue Art des Denkens, das sich intuitiv dem Unvorhersehbaren annähert. Denn: „Wir haben lange unter dem Druck des Okzidents mit seinen wertvollen Lektionen gelebt, in einem Systemdenken, dessen höchster Anspruch die Vorhersage des Kommenden war.“

Das Filmfest in Ouagadougou ist zu Ende. Die Preise sind verliehen, der rote Teppich vor dem Cine Burkina wird aufgerollt. Langsam leert sich die Stadt. Afrikanische Filmemacher, die sonst in Paris, Brüssel, New York oder Barbados leben, treffen sich ein letztes Mal zum Abendessen. Ich besuche eine Tanztheateraufführung von Irène Tassembedo. Das Stück Zalissa La Go handelt von den Hoffnungen und Schwierigkeiten der heutigen afrikanischen Jugend. Die Aufführung findet unter freiem Himmel statt. Plastikstühle und Holzbänke sind um die Bühne angeordnet. Mehrere Male haben die Veranstalter mit Stromausfall zu kämpfen.

Barbara K. Off lebt in München und arbeitet u. a. als freie Journalistin zu den Themen Entwicklungspolitik und Afrika. Die begeisterte Surferin studierte Kommunikations-, Sozial- und Politik­wissenschaften an der Universität Erfurt sowie Interna­ tionale Politik an der University of Aberystwyth in Wales. Die Länder Afrikas sind immer wieder Ziel ihrer mehrmonatigen Recherchereisen.

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AGENDA Max Joseph №4

Plakatserie der Saison 2010/11 Künstler der Münchner Opernfestspiele 2011 Die Produktionen der Münchner Opernfestspiele 2011 Spielplan Interview mit Dieter Rampl, Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele English excerpts Schöne Ferien! Urlaubstipps aus der Oper

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Plakatserie zu Opernpremieren und Konzerten Die Gestaltung der Plakate dieser Saison lag in den Händen ausgewählter, international renommierter bildender Künstler, die im Genre der Malerei und Zeichnung arbeiten. Sie wurden im Voraus mit dem Konzept der einzelnen Inszenierungen betraut und hatten freie Hand, ihre Sicht auf die verschiedenen Opern im Kontext des dramaturgischen Spielzeitthemas „unfrei frei“ zu zeigen.

Rusalka – Françoise Pétrovitch Fidelio­– Marcel Dzama L’Enfant et les sortilèges / Der Zwerg – Axel Krause Rothschilds Geige / Die Entscheidung / Herzland – Francis Alÿs La fedeltà premiata – Anthony Goicolea I Capuleti e i Montecchi – Meike Zopf Saint François d’Assise – Hermann Nitsch Akademiekonzerte – Jeremy Geddes Mitridate, rè di Ponto – Jaume Plensa


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K端nstler der M端nchner Opernfestspiele 2011

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Yves Abel I Capuleti e i Montecchi Musikalische Leitung

Henrik Ahr Lucrezia Borgia Bühne

Kate Aldrich Der Rosenkavalier Octavian

Ivy Amista Solistin Bayerisches Staatsballett

Paolo Arrivabeni Lucrezia Borgia Musikalische Leitung

Janina Baechle Rusalka Ježibaba

Barry Banks Mitridate, rè di Ponto Mitridate

Patrick Bannwart L’elisir d’amore, Mitridate, rè di Ponto Bühne

Falk Bauer Ariadne auf Naxos Kostüme

Michael Bauer L’elisir d’amore, Saint François d’Assise, Mitridate, rè di Ponto, Tristan und Isolde Licht

Piotr Beczala Rusalka Der Prinz, Der Rosenkavalier Ein Sänger

Allan Bergius Attacca-Konzert Musikalische Leitung

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Calixto Bieito Fidelio Inszenierung

Thomas Blondelle Ariadne auf Naxos Ein Tanzmeister

David Bofarull Daphnis und Chloé Licht

Ivor Bolton Mitridate, rè di Ponto Musikalische Leitung

Anna Bonitatibus Mitridate, rè di Ponto Sifare

Nikolay Borchev Ariadne auf Naxos Harlekin, L’Enfant et les sortilèges/Der Zwerg Die Standuhr, Der Kater, Saint François d’Assise Frère Léon

David Bösch L’elisir d’amore, Mitridate, rè di Ponto Inszenierung

Vincent Boussard I Capuleti e i Montecchi Inszenierung

Pavol Breslik Die Entführung aus dem Serail Belmonte, Lucrezia Borgia Gennaro, Liederabend

Angela Brower L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Die Katze, Das Eichhörnchen, Die zweite Zofe, Rusalka 2. Waldnymphe

Justin Brown L’elisir d’amore Musikalische Leitung

Robert Carsen Ariadne auf Naxos Inszenierung

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Constantinos Carydis Don Giovanni Musikalische Leitung

Maxim Cashegarov Solist Bayerisches Staatsballett

John Chest Lucrezia Borgia Ascanio Petrucci, Rusalka Ein Jäger

Carlo Cigni I Capuleti e i Montecchi Lorenzo

Ablaye Cissoko Volker Goetze Konzert Kora, Stimme

Kevin Conners Ariadne auf Naxos Brighella, L’Enfant et les sortilèges/Der Zwerg Die Wedgwood-Teekanne, Das alte Männchen, Der Laubfrosch, Die Entführung aus dem Serail Pedrillo, Tristan und Isolde Ein Hirte, Make No Noise Simon, Worker

John Cranko Der Widerspenstigen Zähmung Choreographie

Lucy Crowe Der Rosenkavalier Sophie

Emanuele D'Aguanno Lucrezia Borgia Rustighello

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Okka von der Damerau Rusalka 3. Waldnymphe, Ariadne auf Naxos Dryade, L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Die Mutter, Die chinesische Tasse, Die Libelle, Die dritte Zofe, Make No Noise Inge

Marcell Dargay Undankbare Biester Musikalische Leitung, Komposition

John Daszak L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Der Zwerg, Saint François d’Assise Le Lépreux

Johannes Debus Die Entführung aus dem Serail Musikalische Leitung

Bruno De Simone L’elisir d’amore Dulcamara

Helmut Deutsch Liederabend Michael Volle, Liederabend Jonas Kaufmann Klavier

Georg Diez The 80*81 Findings Videoperformance

Marlon Dino Erster Solist Bayerisches Staatsballett

Ingar Dragset, Michael Elmgreen Puppets & Sculptures Kunstfilme

Barbara Drosihn Lucrezia Borgia Kostüme

Nacho Duato Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere Choreographie, Kostüme

Martin Duncan Die Entführung aus dem Serail Inszenierung

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Sören Eckhoff I Capuleti e i Montecchi, L’elisir d’amore, L'Enfant et les sortilèges/Der Zwerg, Die Entführung aus dem Serail, Fidelio, Saint François d’Assise, Don Giovanni, Lohengrin, Rusalka, Tristan und Isolde, Der Rosenkavalier Chöre

Phillip Ens Don Giovanni Der Komtur

Ensemble Modern Make No Noise

Tara Erraught L’elisir d’amore Giannetta, L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Das Kind, Rusalka Der Küchenjunge

Alex Esposito Don Giovanni Leporello

Stellario Fagone L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg, Lucrezia Borgia Chöre

Daniela Fally Ariadne auf Naxos Zerbinetta

Roberta Fernandes Erste Solistin Bayerisches Staatsballett

Séverine Ferrolier Solistin Bayerisches Staatsballett

Gerald Finley Don Giovanni Don Giovanni

Martin Gantner Der Rosenkavalier Herr von Faninal

Paul Gay L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Der Sessel, Ein Baum, Don Estoban, Saint François d’Assise Saint François

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Véronique Gens Don Giovanni Donna Elvira

Christian Gerhaher Liederabend

Rachele Gilmore L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Das Feuer, Die Nachtigall

Javier Amo Gonzales Solist Bayerisches Staatsballett

Norbert Graf Solist Bayerisches Staatsballett

Heike Grötzinger Der Rosenkavalier Annina

Edita Gruberova Lucrezia Borgia Donna Lucrezia Borgia

Ekaterina Gubanova Tristan und Isolde Brangäne

Demet Gül Die Entführung aus dem Serail Erzählerin

Martón Gulyás Undankbare Biester Dramaturgie, Regie

Heidi Hackl Rusalka Kostüme

Tomáš Hanus Rusalka Musikalische Leitung

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Manuela Hartel Fideliopiraten Videokünstlerin

Anja Harteros Der Rosenkavalier Die Feldmarschallin

Katja Haß Don Giovanni Bühne

Alan Held Rusalka Der Wassermann

Ben Heppner Tristan und Isolde Tristan

Falko Herold L’elisir d’amore, Mitridate, rè di Ponto Kostüme

Christof Hetzer Make No Noise Bühne und Kostüme

Martha Hirschmann L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Ein Schäfer, Das zweite Mädchen, Der Rosenkavalier Eine adelige Waise

Gerold Huber Liederabend Christian Gerhaher Klavier

Nam Won Huh Lucrezia Borgia Jeppo Liverotto

Steven Humes Fidelio Don Fernando, Lucrezia Borgia Gubetta

Stefan Hunstein 6. Kammerkonzert Sprecher

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Soile Isokoski Liederabend

Grzegorz Jarzyna L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Inszenierung

Ante Jerkunica I Capuleti e i Montecchi Capellio

Richard Jones Lohengrin Inszenierung

Joseph Kaiser Don Giovanni Don Ottavio

Ingrid Kaiserfeld Der Rosenkavalier Jungfer Marianne Leitmetzerin

Schorsch Kamerun Festspiel-Campus

Anja Kampe Fidelio Leonore

Vesselina Kasarova I Capuleti e i Montecchi Romeo

Christian Kass Wohin er auch blickt ... Licht

Amir Katz Liederabend Pavol Breslik Klavier

Jonas Kaufmann Fidelio Florestan, Liederabend

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Stephan Kimmig Don Giovanni Inszenierung

Tina Kitzing Wohin er auch blickt ... Bühne

Johannes Klama Ariadne auf Naxos Haushofmeister

Joachim Klein Lucrezia Borgia Licht

Roland Koch L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Der Regisseur

Wolfgang Koch Fidelio Don Pizarro

Terence Kohler Daphnis und Chloé Choreographie, VideoKonzeption

Peter Konwitschny Tristan und Isolde Inszenierung

Nadia Krasteva Rusalka Die fremde Fürstin

Benjamin Krieg Don Giovanni Video

Ingo Krügler Fidelio Kostüme

Alexey Kudrya Mitridate, rè di Ponto Marzio

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Martin Kušej Rusalka Inszenierung

Christian Lacroix I Capuleti e i Montecchi Kostüme

Norbert Lammert Präsident des Deutschen Bundestages Freiheitsfelder Redner

Johannes Leiacker Tristan und Isolde Bühne und Kostüme

Vincent Lemaire I Capuleti e i Montecchi Bühne

Guido Levi I Capuleti e i Montecchi Licht

Christof Loy Lucrezia Borgia Regie

Fabio Luisi Fidelio Musikalische Leitung

Jonathan Lunn Die Entführung aus dem Serail Choreographie

Matthew Lutton Make No Noise Inszenierung

Nino Machaidze L’elisir d’amore Adina

Jörg Mannes Wohin er auch blickt ... Choreographie

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Peter Mazalán Saint François d’Assise Frère Rufin, Lohengrin Brabantischer Edler

Richard McNicol Festspiel-Campus

Waltraud Meier Lohengrin Ortrud

Tigran Mikayelyan Erster Solist Bayerisches Staatsballett

Levente Molnár L’elisir d’emore Belcore, Don Giovanni Masetto, Make No Noise Joseph

Elena Mosuc Die Entführung aus dem Serail Konstanze

Hanna-Elisabeth Müller L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Das erste Mädchen, Der Rosenkavalier Eine Modistin

Münchner Hofkantorei Chorkonzert

Munich Opera Horns Hornsolisten des Bayerischen Staatsorchesters 5. Kammerkonzert

Jussi Myllys Fidelio Jaquino

Kent Nagano Ariadne auf Naxos, L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg, Saint François d’Assise, Lohengrin, Tristan und Isolde, Daphnis und Chloé/Wohin er auch blickt ... Musikalische Leitung

Eri Nakamura Ariadne auf Naxos Najade, Mitridate, rè di Ponto Arbate

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Tareq Nazmi Fidelio 2. Gefangener, Make No Noise Martin, Boss

Evgeny Nikitin Lohengrin Heerrufer des Königs

Hermann Nitsch Saint François d’Assise Szenische Konzeption und Gestaltung, Bühne und Kostüme

Kristīne Opolais Rusalka Rusalka

Lisette Oropesa Mitridate, rè di Ponto Ismene

Peter Pabst Ariadne auf Naxos Bühne

René Pape Tristan und Isolde König Marke

Olivier Pasquet Make No Noise Sound Design

Patricia Petibon Mitridate, rè di Ponto Aspasia

Ekaterina Petina Demi-Solistin Bayerisches Staatsballett

Francesco Petrozzi Ariadne auf Naxos Ein Offizier, Lohengrin Brabantischer Edler, Tristan und Isolde Melot, Der Rosenkavalier Der Haushofmeister bei Faninal, Ein Wirt

Adrianne Pieczonka Ariadne auf Naxos Ariadne, Lohengrin Elsa von Brabant

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Cyril Pierre Erster Solist Bayerisches Staatsballett

Dimitri Pittas I Capuleti e i Montecchi Tebaldo

Matthew Polenzani L’elisir d’amore Nemorino

Dean Power Fidelio 1. Gefangener, Lucrezia Borgia Oloferno Vitellozzo, Der Rosenkavalier Ein Tierhändler

Anna Prohaska Die Entführung aus dem Serail Blonde

Anja Rabes Don Giovanni Kostüme

Lenka Radecky-Kupfer Wohin er auch blickt ... Kostüme

Ulrich Reß Ariadne auf Naxos Scaramuccio, Saint François d’Assise Frère Élie, Rusalka Der Förster, Tristan und Isolde Ein junger Seemann, Der Rosenkavalier Valzacchi

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Christian Rieger Ariadne auf Naxos Ein Lakai, Lohengrin Brabantischer Edler, Lucrezia Borgia Don Apostolo Gazella, Tristan und Isolde Ein Steuermann, Der Rosenkavalier Ein Notar

Rebecca Ringst Fidelio Bühne

Kenneth Roberson Saint François d’Assise Frère Massée, Lohengrin Brabantischer Edler, Der Rosenkavalier Der Haushofmeister bei der Feldmarschallin

Jordi Roig Daphnis und Chloé Bühne und Kostüm, VideoKonzeption

Myron Romanul Der Widerspenstigen Zähmung Musikalische Leitung

Jürgen Rose Der Rosenkavalier, Der Widerspenstigen Zähmung Bühne und Kostüm

Peter Rose Der Rosenkavalier Der Baron Ochs auf Lerchenau, Die Entführung aus dem Serail Osmin

Christopher Roth The 80*81 Findings Videoperformance

Marco Santi Ariadne auf Naxos Choreographie

François Sarhan Encyclopédie Texte, Collage, Video, Vortrag

Christine Schäfer Saint François d’Assise L'Ange

Otto Schenk Der Rosenkavalier Konzeption

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Árpád Schilling Undankbare Biester Inszenierung

Marcus Schmickler Freiheitsfelder Komponist, Musiker

Bernd Schmidt Die Entführung aus dem Serail Bassa Selim

Roland Schubert Ariadne auf Naxos Truffaldin

Leif Segerstam Der Rosenkavalier Musikalische Leitung

Peter Seiffert Lohengrin Lohengrin

Nicole Seiler Living Room Dancers Konzept, Choreographie

Franz-Josef Selig Fidelio Rocco

Mimi Jordan Sherin Lohengrin Licht

Kristinn Sigmundsson Lohengrin Heinrich der Vogler

Daniela Sindram Ariadne auf Naxos Der Komponist

Ekaterina Siurina I Capuleti e i Montecchi Giulietta

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Lukáš Slavický Erster Solist Bayerisches Staatsballett

Robert Dean Smith Ariadne auf Naxos Bacchus, Der Tenor

Evgeniya Sotnikova L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Die Eule, Eine Schäferin, Rusalka 1. Waldnymphe, Der Rosenkavalier Eine adelige Waise

Nina Stemme Tristan und Isolde Isolde

Christoph Stephinger Saint François d’Assise Frère Bernard, Der Rosenkavalier Ein Polizeikommissar

Falk Struckmann Lohengrin Friedrich von Telramund

Daria Sukhorukova Erste Solistin Bayerisches Staatsballett

Nino Surguladze Lucrezia Borgia Maffio Orsini

Bálint Szabó Lucrezia Borgia Astolfo

Laura Tatulescu L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Eine Bergère, Die Fledermaus, Die erste Zofe, Fidelio Marzelline, Don Giovanni Zerlina, Ariadne auf Naxos Echo, Make No Noise Hanna

John Tilbury Freiheitsfelder Pianist und Improvisationsmusiker

Camilla Tilling L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Die Prinzessin, Donna Clara

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Reinhard Traub Fidelio, Don Giovanni, Rusalka Licht

Rüdiger Trebes Saint François d’Assise Frère Sylvestre

Ultz Die Entführung aus dem Serail Regie-Mitarbeit, Ausstattung, Lohengrin Bühne und Kostüme

Natascha Ursuliak Saint François d’Assise Mitarbeit Regie

Franco Vassallo Lucrezia Borgia Don Alfonso

Marita Viitasalo Liederabend Soile Isokoski Piano

Irmgard Vilsmaier L’Enfant et les sortilèges/ Der Zwerg Ghita

Michael Volle Liederabend, Ariadne auf Naxos Ein Musiklehrer, Tristan und Isolde Kurwenal

Michael Vorfeld Musiker und bildender Künstler Freiheitsfelder Glühlampenmusik

Manfred Voss Ariadne auf Naxos Licht

Erin Wall Don Giovanni Donna Anna

Kai Wangler Freiheitsfelder Akkordeonist: Quêtsch

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KÜNSTLER DER MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2011

Christopher Ward Konzert Opernstudio, Make No Noise Musikalische Leitung

Thomas Wilhelm Lucrezia Borgia Mitarbeit Choreographie

Zuzana Zahradníková Solistin Bayerisches Staatsballett

Martin Zehetgruber Rusalka Bühne

Lawrence Zazzo Mitridate, rè di Ponto Farnace

Fotos: Dario Acosta, Sussie Ahlburg, Yann Amstutz, Barbara Aumüller, Nomi Baumgartner, Michel Bo Michel, Marco Borggreve, Mathias Bothor, Felix Broede, Manu Burghart, Sim Canetti-Clarke, Emanuele Cremaschi, Thomas Dashuber, Benjamin Ealovega, Fabrizio Fenucci, Kristin Hoebermann, Anne Hoffmann, Michael Hörnschemeyer, Wilfried Hösl, Anna Hult, Johannes Ifkovits, Sascha Kletzsch, Larry Lapidus, Youri Lenquette, Barbara Luisi, Hans Jörg Michel, Kat Mistelbach, New Publicity, Juraj Novak, Elisabeth Novy, Stefan Okolowicz, Kurt Pinter, Monika Rittershaus, Karin Rocholl, Teatre Roma, David Ruano, Keith Saunders, Schenk, Marco Sittig, Stage Door, Christian Steiner, Bettina Stössl, Nikolaus Strauss, Jakub Świetlik, Manu Theobald, J. Thomas Fotografie, Toepffer, Virgin Classics, Tatiana Vlasova, Uli Webber, Tilbert Weigl, Alexandre Weinberger, Reinhard Werner, Henk Wittinghofer

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Die Produktionen der MĂźnchner Opernfestspiele 2011 Fotografiert von Wilfried HĂśsl

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Krist朝ne Opolais (Rusalka), Statisterie der Bayerischen Staatsoper Rusalka


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Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Der Widerspenstigen Z채hmung


Tara Erraught (L’Enfant) L’Enfant et les sortilèges

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Camilla Tilling (Donna Clara), John Daszak (Der Zwerg) Der Zwerg


Wlademir Faccioni Mein Ravel: Daphnis und ChloĂŠ

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Giuliana Bottino, Marlon Dino Vielf채ltigkeit. Formen von Stille und Leere


Krist朝ne Opolais (Rusalka) Rusalka

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Edita Gruberova (Lucrezia Borgia) Lucrezia Borgia


Chor der Bayerischen Staatsoper I Capuleti e i Montecchi

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Vesselina Kasarova (Romeo), Statisterie der Bayerischen Staatsoper I Capuleti e i Montecchi


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Fidelio


Lohengrin

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Anja Kampe (Leonore), Jonas Kaufmann (Florestan) Fidelio

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Die Entf端hrung aus dem Serail


L’elisir d’amore

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Adrianne Pieczonka (Ariadne / Primadonna) Ariadne auf Naxos


Tristan und Isolde

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Die Entf端hrung Don Giovanni aus dem Serail


Anja Harteros (Die Feldmarschallin) Der Rosenkavalier

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BAYERISCHE STAATSOPER UNFREI frei

SPIELPLAN Münchner Opernfestspiele 25.06. – 31.07.11 Soweit nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt. KARTEN Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@st-oper.bayern.de www.staatsoper.de


BMW M端nchen

BMW M端nchen

BMW M端nchen



GEFÖRDERT VON

GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE.

gefördert von GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE.

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GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DER MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE.

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SPIELPLAN

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AGENDA

Pavillon 21 MINI Opera Space Außergewöhnliches Programm für einen außergewöhnlichen Ort: Auch im zweiten Jahr erweitert unser Partner MINI das Programm des Pavillon 21 MINI Opera Space mit musikalischen, filmischen und sportlichen Ereignissen. MINI Music Lounge

MINI Autokino

MINI Yoga

Urbanes Leben benötigt den richtigen Sound. An drei Samstagen bestimmt der Pavillon 21 MINI Opera Space den Beat der Stadt und bringt am 2. Juli Ricardo Villalobos an die Turntables. Der in Berlin lebende, chilenischstämmige Klangkünstler gilt für viele als der beste Plattendreher der Welt. Er mixt genreübergreifend südamerikanische Percussions mit House und Techno und wird von seinen musikalischen Weggefährten Dandy Jack und Sonja Moonear begleitet. Am 9. Juli präsentiert Deutschlands Star-DJ Paul van Dyk sein sechstes Studioalbum Evolution, eine Innovation aus Beats, Melodie und Gesang. Die Party-Reihe Yum Yum, diesmal besetzt mit DJ Chrome und Max Mausser, macht am 16. Juli den Opera Space zum Open Space tanzbarer Töne und Clubmusik.

Drive-In-Cinema für urbane Cineasten: Das MINI Autokino zeigt die Filme Exit Through the Gift Shop, eine Dokumentation von und mit dem mysteriösen Streetart-Künstler Banksy, und Keep Surfing, in dem Regisseur Björn Richie Lob die Ursprünge und die Faszination der weltbekannten Münchner Subkultur der Eisbach-Surfer erforscht. Gäste können ab 20:30 Uhr in bereitstehenden MINI-Fahrzeugen Platz nehmen. Es gilt: first come, first served!

Sharon Gannon, die Begründerin der international anerkannten Yoga-Methode Jivamukti, nimmt sich in den Morgenstunden inspirativ Interessierten an. Die ehemalige Musikerin, Schriftstellerin und Tänzerin lebt heute in Woodstock (New York) und ist auf der ganzen Welt unterwegs, um Großstadtmenschen alte indische Yoga-Methoden näherzubringen.

Mittwoch, 13. Juli 2011, 21:30 Uhr Drive-In-Cinema Exit Through the Gift Shop Eintritt frei Donnerstag, 14. Juli 2011, 21:30 Uhr Drive-In-Cinema Keep Surfing Eintritt frei

Montag, 11. und Dienstag, 12. Juli 2011 8:00 – 9:00 Uhr Jivamukti Yoga Eintritt frei

Foto: Markus Pillhofer

Samstag, 2. Juli 2011, 22:30 Uhr Ruta 5 Labelnight Ricardo Villalobos Dandy Jack Sonja Moonear Eintritt VVK: 13,50 € Eintritt AK: 15,00 €

Donnerstag, 7. bis Samstag, 9. Juli 2011 8:00 – 9:00 Uhr Jivamukti Yoga Eintritt frei

Samstag, 9. Juli 2011, 22:30 Uhr Evolution Album Tour Paul van Dyk Eintritt VVK: 13,50 € Eintritt AK: 15,00 € Samstag, 16. Juli 2011, 22:30 Uhr Party-Reihe Yum Yum Eintritt AK: 9,00 €

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DIETER

RAM PL

Ein paar Fragen an:

Dieter Rampl, den neuen Vorsitzenden der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele

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EIN

PA A R

FRAGEN

AN

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M A X J O S E P H Herr Rampl, Sie sitzen im Aufsichtsrat Wert eines Kunstwerkes aus? d e s D R Ist denn nur gut, was viel Geld kostet? Oder ist das nur FC Bayern, stehen aber auch der Gesellschaft zur Fördeteuer, was vielen gefällt? rung der Münchner Opernfestspiele vor. Was beansprucht M J Was hören Sie, wenn Sie ein Bild von Picasso betrachIhr Nervenkostüm mehr: ein Champions-League-Spiel oder ten; was sehen Sie, wenn Sie Musik von Mozart hören? Liebeslust und -leid auf der Bühne? D R Pure Inspiration. D i e t e r R a m p l Ich habe ein Nervenkostüm, das ohneM J Woran erkennen Sie, dass etwas schön ist? hin einem schweren Pelzmantel und nicht einem leichten Oder hässlich? Kostüm gleicht. Deshalb werden Sie von mir laute ZwiD R An dem untrüglichen Urteil meiner Frau. schenrufe nur auf dem Fußballplatz hören, wenn Bayern M J Was bringt Sie zum Lachen? Und was zum Weinen? gegen Inter Mailand in Rückstand gerät. D R Bei beidem immer nur der Mensch. M J Die Gesellschaft fördert gezielt Neuproduktionen der M J Was kann man Ihnen nicht stehlen? D R Die Würde. Bayerischen Staatsoper. Welche Inszenierung der letzten Jahre fanden Sie besonders spannend? Und worauf M J Wohin würden Sie gehen, wenn Sie plötzlich vor dem freuen Sie sich in diesem Festspielsommer? Nichts stünden? D R Die Opernspannung assoziiere ich seit März mit der D R Zurück auf Los. M J Was würden Sie gerne noch lernen? jungen Mezzosopranistin Tara Erraught: Fünf Tage vor der Capuleti-Premiere einzuspringen und dann zu brilD R Menschen davon zu überzeugen, sich zu engagieren, am lieren. Respekt! Und was den Festspielsommer anbebesten natürlich für Musik. langt, lasse ich mich wie immer angenehm überraschen. M J Ist Luxus zwangsläufig an Geld gebunden? M J Welches persönliche Anliegen verbinden Sie mit Ihrem D R Haben Sie jemals einen Gipfel bestiegen und die atemberaubende, leise Schönheit der Natur genossen? Engagement für die Fördergesellschaft? D R Erleben zu dürfen, dass Oper modern und jung bleibt, M J Ist Kultur Luxus? D R Nein. Und wenn es so wäre, wäre Kultur tot. nicht verstaubt. Dass Oper zunehmend alle gesellschaftlichen Schichten anspricht, das macht die FasziM J Wen würden Sie bei der nächsten Dinnerparty gerne nation meines Engagements aus. neben sich sitzen haben? M J Mit welchen CDs könnte man Ihnen eine größere FreuD R Als Raucher würde ich gerne auf eine Zigarette neben de bereiten: Lohengrin oder Louis Armstrong, Fidelio Helmut Schmidt sitzen. oder Die Fantastischen Vier, Ariadne auf Naxos oder M J Und was tun Sie am liebsten, wenn Sie keine derartiAmy Winehouse? gen Termine wahrnehmen müssen? D R Mit Louis Armstrong. Denn Lohengrin, Fidelio oder D R In die Ferne blicken. Ariadne auf Naxos genieße ich bevorzugt in der Die Fragen stellte Margit Uber. Oper. Oper ist für mich etwas fürs Auge, für das di­ re­kte Erleben. M J Welche Musik empfinden Sie als Zumutung? D R Schlechte Musik. M J Hat Ihnen die Kraft großer Musik schon einmal Trost gespendet? D R Ja, in einigen sehr persönlichen Momenten. M J Als UniCredit-Präsident leben Sie nach vielen Jahren in München derzeit in Mailand. Ist Bella Isar tatsächlich die nördlichste Stadt Italiens? D R Ich wohne und lebe Gott sei Dank in beiden Städten. Und egal ob Mailand oder München, die Menschen verstehen es, das Leben zu genießen, und das verbindet beide. M J Wie unterscheidet sich das Mailänder Opernpublikum von dem in München? D R Ovationen am Ende eines Stückes schätzen Opernbesucher in Mailand wie München. Aber der Mailänder ist noch emotionaler. Oper wird noch mehr gelebt. M J Sie sammeln zeitgenössische Kunst. Eine empfehlenswerte Geldanlage angesichts der zahlreichen Unwägbarkeiten auf den internationalen Finanzmärkten? D R Nicht die Geldanlage, sondern der Genuss und die 221 Freude an Kunst treiben meine Sammlerleidenschaft. 221 M J Sagt der Kaufpreis etwas über den künstlerischen 221


F E S T S P I E L E M P FA NG D E R F Ö R D E R G E S E L L S C H A F T MÜNCHNER OPERNFE STSPIELE 2010

Aufnahmeantrag Ich/wir möchte(n) der Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V. beitreten als: Einzelmitglied (250 €)

Firmenmitglied (1.000 €)

Fördermitglied (1.500 €)

Förderndes Firmenmitglied ( 3.000 €)

Name

Straße und Hausnummer

Den ersten Beitrag werde(n) ich/wir nach der Mitteilung über die Aufnahme auf eines Ihrer Konten zahlen.

Postleitzahl und Stadt

Bitte füllen Sie diesen Aufnahmeantrag aus und schicken diesen in einem Briefkuvert an folgende Adresse:

Telefon-Nummer

Fax-Nummer

Datum

Unterschrift

Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele e.V. Maffeistraße 14, 80333 München


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ENGLISH

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Can open meaning be discovered through religion? Text Frido Mann Pictures Eckart Hahn Are there any other sources of meaning and can a satisfactory definition of value be found outside the unbosomed canon of the major world religions? Frido Mann embarks on a quest and discovers exciting approaches by Galileo Galilei and Francis of Assisi. He recommends an equal consideration of religion, nature and art as a path to the meaning of human existence. What all religions have in common in their history is the fact that they have implemented institutional forms. All of them have developed a machinery of power. When we look at the droves of people leaving the Christian churches, especially in Europe, we notice how great the desire is to free oneself from religious paternalism. The alternative is either to join one of the numerous small religious communities, to develop an indifferent or disapproving attitude, or to adopt a practice of private spirituality. To many, the message of love, sympathy, inner light and humility, coupled with the demand for charitable actions as we read in the various holy books and hear from the different religious institutions is still convincing. The reason why there are now so many people leaving the church is not because churches are unable to meet their own expectations (just take the abuse of children by celibate clergymen as one example), but the fact that the underlying message has become detached from real life and is dominated by the pursuit of power, thus stripping it of its persuasiveness. Important historical landmarks were the discoveries made by Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler and Galileo Galilei. The crucial question is: Does revelation in its conventional sense need to be restrained by the written and institutionally canonised evidence of reli-

EXCERPTS

gious experience recorded centuries ago by strangers? Or, may we – in the sense of mastermind Galileo Galilei – extend it to a new, individual or mutual experience within the “secular” fields of nature, culture and art? What was said about creating meaning by observing nature may also be applied to the “experience of being carried off” when experiencing or creating art. That is to say, religion, culture (art) and nature should be three equal sources of meaning and finding a definition of value.

carrying weapons or wearing a suit of armour. He was barefoot, like a beggar. The two men had a friendly discussion on religious matters. Francis even drew on these experiences when he established his rules. Francis is the patron saint of animals and ecologists, however not in the sense we use these terms today. Still, the radical siblinghood of creation in his Canticle of the Sun is a modern thought: If there really is a creator, then there is no hierarchy between human beings and animals, between brothers and sisters, between one creature and another.

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Messiaen considered his faith to be an intellectually spiritual matter. In which ways do the spiritual and the practical aspects of life collide as a Franciscan? Father Cornelius It’s more like a tension. Spirituality is no superstructure or a drug even, but rather an internal attitude, which manifests itself in the very practical activities of our daily life. The Gospel will always be superior to life, which is mired in struggles and pain. On the one hand, Francis was a mystic, who seemed strange to his brothers in many circumstances. However, the way in which he encountered the poor and organised his confraternity, how he could accept sorrow and death, shows his practical approach to managing life.

Steeped in beauty Interview Rainer Karlitschek and Miron Hakenbeck Photos Hubertus Hamm Kent Nagano is an Olivier Messiaen specialist. Since taking part in the world premiere in 1983, where Nagano was assisting Seiji Ozawas, there is no other conductor in the world, who has dedicated so much of his life to Messiaen’s opus summum Saint François d’Assise. So, there is more than one reason to arrange a meeting between the Bavarian General Music Director and Franciscan Cornelius Bohl from Munich’s St Anna Church. Kent Nagano To Messiaen, composing meant manifesting ones faith. The source of inspiration is one thing, the piece of work and its performance are something different, something new. So, as an interpreter this means that I have to take Messiaen’s faith seriously – otherwise I would be unable to really understand the work. The question of whether you share the composer’s faith as a performer is another, very personal one, and there is no standard answer to it. Father Cornelius During the time of the crusades, Francis met the Muslim sultan al-Kamil in Egypt – without 225 225 225

Messiaen had difficulties composing the seventh image of stigmata, because he had to find a way of expressing sor­ row and pain. Kent Nagano To Messiaen, delight, sorrow and love are similar in one aspect. They represent beauty. Although he had experienced World War II and composed the Quartour pour la fin du temps, the work braves the world with beauty. He supposed that everything could end – except beauty, which is eternal. The world premiere of Saint François d’Assise was like an endpoint to Messiaen, although it was such a big success. I called him many times and asked him if he would write something new. But he suffered from a composer’s block. Everything turned out only to be a sketch or a repetition of something that had been done before. I’m sure he


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was thinking about his own end. It was years later that he composed the big orchestra cycle Éclairs sur l’Au-delà. He suddenly seemed to be happy again, inspired – not long afterwards he died. Father Cornelius Messiaen frequently used the word grace, a term which often appears unsubstantial and like a set phrase heard in churches. Grace is gratia in Latin, something which is given to you as a gift. This is a big and primal experience: you are given life, the world, love and forgiveness. Even if you consider life as a punishment, you cannot create it yourself, you have to receive it. I think Francis based his life on this experience of receiving gifts. His Canticle of the Sun encompasses the belief in this one single God being the origin of everything. Life received will end and death is also given by God. And if everything is given to us as a gift, we do not have to hold on to life and try to create our own eternity. If everything is given to you, you don’t have to worry. Kent Nagano In California, where I come from, the names of all the big cities indicate Franciscan tradition: Los Angeles, San Diego, Santa Barbara and many more – the entire state was shaped by the Franciscan Junípero Serra, who founded numerous missions and settlements during the 18th century. The credo of giving is the starting point of Californian thinking. It was this missionary work which made California what it is today. Father Cornelius If I may add a footnote: Where the National Theatre is located today, our monastery stood for 500 years. That means this opera is bringing Francis back to his former home. Kent Nagano The piece has not been performed in Munich yet. Astonishingly, the first 15 minutes are often perceived as very unpleasant. It seems to be endless and you notice a lot of ambient noise due to a lack of concentration. I’ve experienced this in many different places, many times. However, then the audience are caught up into a whirlwind outside their everyday lives which they leave behind them. The first 15 minutes take an age, the other four hours only a minute.

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On Hermann Nitsch Text Almuth Spiegler Photos Heinz Cibulka If you are lucky, a thunderstorm rolls over the electric yellow canola and limegreen sprouting cornfields. It gets too cold to sit under the spacious court arcade in the middle of the castle and the ten cats and three dogs sneak into the kitchen, the geese flee into the barn, the white peacocks fly into the trees. Then, Rita Nitsch gives the order to go upstairs into the feudal dining room of the estate. And if you are even luckier, Nitsch – as everybody calls him, including his wife – sits down and starts to play the electric organ. You hear the natural thunderstorm outside and a thunder of culture inside the room. It escalates into pure noisiness and finds its climax in silence. Here, in this nondescript, small place, Hermann Nitsch, scandal-causing inventor of “Viennese Actionism” and “Gesamtwerk” artist from Vienna, has put down deep roots. More than 40 years ago, he founded his private Bayreuth, as he himself being a Wagnerian calls it, on this land. Rita Nitsch has turned the castle into a jewel box, a middle-class paradise. The authentic master sits at an ale-bench in the middle of the property like some kind of imp – an Austrian and jovial imp, one might add. Someone, who seduces people to participate in his lifework, the orgien mysterien theater (o.m.) in a spooky sort of way. If you climb the castle stairs you reach the impressive attic with a pouring floor, where Nitsch and his assistants pour, catapult and smear colours onto canvas. Shortly before Christmas in 1962, the first performance art event took place. It was the crucifixion and showering with paint of a naked man in the apartment of Otto Muehl, Nitsch’s Viennese Actionism colleague of that time. Together with Günter Brus and Rudolf Schwarzkogler the Actionists spattered and smashed 226 226 226

the facade, which Austrian society had laboriously built up after World War II. Most members of society considered themselves to be victims, not delinquents. The artists vomited out their distaste for the establishment, divested themselves, let blood and urine flow, turned their insides out. True orgies of an ­affirmative life. In order to stimulate the senses as much as possible, Nitsch uses everything that is good and holy: the most intense aspects of rituals, myths, requisites, philosophy and psychoanalysis. Nitsch chose Dionysus as his patron saint and in fact, what Nitsch celebrates at his castle are extreme Dionysian festivities, which aim to provide a non-Christian substitute to disappearing rituals. So far, the climax of this work, a yearning for vivacity, combining Nitsch’s paintings, performance art and compositions making one single experience, was the so-called “6-day play” in 1998. An organisational and artistic tour de force for Nitsch and his wife: the score consisted of 1.595 pages and there were 100 actors as well as 180 musicians. 1.000 kilos of tomatoes, 1.000 kilos of grapes, 10.000 roses, 1.000 litres of blood were used, the meat from three slaughtered bulls served as food. Nitsch is extremely well educated, extremely authoritarian, extremely stubborn and extremely consistent. “Always more of the same”, is what some critics say about his oeuvre. It is true that apart from the better conditions and the more opulent instruments, not much has changed. However, the concept functions, the keywords stay in mind: existence, myth, ecstasy. Nitsch has managed to deliver the matching images to our mutual subconscious: The video and picture documentation of his activities, the large collages made of odds and ends and paintings, the poured paintings. The latter originate from specific painting endeavours. Nitsch’s paintings, which provoked disgust and horror ten to twenty years ago now hang on the walls of the dentist next door. They have ­become status symbols and Nitsch has become something of a local saint. During the last couple of weeks, Nitsch was travelling back to the future, to Mu-


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nich, where he lived during the 1960s and where he was happy, away from ­Viennese intrigues. Nitsch loves contemporary music, he himself composed nine symphonies. And he loves Messiaen, “a true master of the 20th century.” However, he does not share Messiaen’s ­Catholicism. “Messiaen believed in Catholic symbolism. I use it pheno­ men­­ologically.” That will also be shown on stage – Nitsch wants to project ­action and see it happen live on stage – with theatre blood and without animals, ­however. Otherwise many people in the audience may see it as a provocation, especially because it is an opera performance and St Francis is the patron saint of animals. An argument, however, Nitsch is not interested in, in the same way he is not interested in St Francis as a person: “I don’t care about him. I don’t care about any saint”, is the quick and honest answer of the strict guardian of his complete works.

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Patriarchs and rebellions Text Rainer Karlitschek Illustrations Jaume Plensa Hardly any other composer in the history of music has occupied himself so intensely with the topic of fathers as Wolfgang Amadeus Mozart. Father figures from both early and later on in Mozart’s family cosmos have found their way into the Munich Opera Festival programme: King Mitridate and the Commander from Don Giovanni. How do we perceive authoritarian fathers with their appalling characters today? Director David Bösch is very interested in the question of what a 14 yearold thought about the story of usurper Mithridates. The role fathers play for their children and their influence on the children’s development until they reach adulthood – and vice versa – was extremely important to Mozart. Today, we can justifiably ask to what

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extent Wolfgang had his relationship to his own father in mind when he was composing. And the answer is it is difficult to say. However, there are hints. Leopold Mozart was considered to be the enlightened authority and catalyst behind genius Wolfgang. It is true, Leopold committed himself to the concepts of the Enlightenment, the new values of rationality and the idea that one could free oneself from one’s own chains and learn how to embark on intellectual flights of fancy. His son was the visible evidence. Still, Leopold was of the opinio^n that his role as head of the family was that of a patriarch, a mild version of an antique ­legal practice. The so-called patria potestas was an unlimited power of disposition, which was accepted by the state. That is to say that a father was the decision-maker when it came to the question of life and death. Mitridate, rè di Ponto is the story of a conflict between two brothers and sons, who try to combine the contradicting duties of a son with what they want to give as lovers to a woman they both love. Their father demands the impossible, total submission, the denial of themselves even. In the end, the rebellion against their father ­peters out, because the sons believe they can justify their father’s behaviour as being patriotic and targeted towards the opposing power. Upon their father’s death, both sons submit to his authority and commit themselves to the war against the Romans. Just like David Bösch, Stephan Kimmig, the director of Don Giovanni, had to think about how autobiographically he wanted to interpret Mozart’s work. The names of the characters speak volumes. The Commander, as a high-ranking member of a knightly ­order, is foremost characterised by his function in society. Apart from this honourable title, he is also a father, the father of Donna Anna. The ­authority he has within his family merges with that of his social standing. In this case, the father is not only the one who gives 227 227 227

life, he is also the highest authority for all members of the family. In Don Giovanni, once exposed, he is killed by the title character. In Stephan Kimmig’s much discussed interpretation, the Commander does not return as a majestic cemetery statue, but as a bishop with a vengeful axe or the hatchet of God. In addition, the entire choir from the underworld follows him as a battalion of state officials. There is an officer in uniform, a judge from the constitutional court in his robe, monks and statesmen of dubious origin. Kimmig stages a bitter victory over the Commander and his fatherly combatants; especially bitter, because the other protagonists are not capable of asserting themselves against the concentrated power of the church and state fathers. When attempting to escape they come up against an impenetrable wall of policemen, monks, politicians, armed forces and judges.

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Insight, elegance and subtlety Interview Miron Hakenbeck Illustrations Berto Martínez This spring, Anja Harteros rose to a new and great challenge, taking on the role of the Feldmarschallin in ­Richard Strauss’ Der Rosenkavalier. A conversation about the thoughts and hopes of a woman in her prime. How did you know that the time had come to have a go at the Feldmarschal­ lin? As a matter of fact I started to think about when to make the Marschallin part of my repertoire a long time ago. However, I didn’t make up my mind straight away as it’s a role that’s also given to older singers. That, of course, makes it a beautiful role, one you can grow old with – although the Marschallin was not intended to be an old woman. She is a woman who is in the prime of life. According to Strauss she is 32 years old.


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If we just take Christa Ludwig, Gwyn­ eth Jones or Elisabeth Schwarzkopf, we notice that the Marschallin has been embodied by singers with very different voices. The technical requirements of this role seem to permit that. Is the challenge of this role found in the way that it’s played? Technically, the role isn’t easy either. The Marschallin needs a bright height. Otherwise there will be enormous problems in the trio of the third act. Still, for this role, Strauss uses a parlando in the mid-range for most of the time. That makes it more difficult for sopranos than mezzo-sopranos to hit it convincingly. Nevertheless, I’ll try to achieve an elegant parlando with a sense of ease, as if I was talking, without stress or force. Hofmannsthal and Strauss gave Rosen­ kavalier the subtitle comedy with music, but the piece is also about age, time and abandonment. I find it exciting, comforting even, how the rug is pulled out from under the Marschallin again and again. And how she mentally manages to play down these experiences. That is what makes it so tragic: there is always the impulse to find this power within oneself, the power to take pleasure in what happens. The emotions she shows are ­never extremely uplifting or dark. She always keeps control of her temperament. When you interpret this role you have to find a balance. The danger is that you present too much of this smiling tone. I’ll try to find moments in which you sense that she’s suffering without pitying herself. The Marschallin shows the medallion with the image of Octavian to Ochs and suggests that he should deliver the rose. Does she arrange the encounter between these two people who are much younger? I think the performance of that would take it too far. There is comedy going on: Octavian, dressed as a maid, is also present in the room. Perhaps, she shows the medallion to the baron in ­order to provoke a dangerous and also funny situation. It is a way of playing with the stupidity and goatishness of the baron. At the same time she plays with fire: What would happen if the baron recog-

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nised Octavian at that very moment? Later on, when she’s alone with Octavi­ an, she predicts that he will leave her sooner or later. Octavian’s promise of life-long love makes her smile benignly. Due to their similar mentality the two have many things in common, despite the age difference. Still, there are differences: for instance, the number and kind of opportunities they can look forward to. The Marschallin is married. To her it is an affair which should ­remain secret. Futureless. He, however, is still idealistic and can recklessly hope for and imagine everything. After the night with Octavian she sudden­ ly discovers that she is aging. Is it the first time that this topic comes to her mind? These thoughts have been in her mind for quite a while. When you get older you wonder if the time will come when you’re all alone. The Marschallin has no children. Due to her social standing she has no financial worries. What concerns her is a fear of loneliness and the question of sense in everything she does. I think that if she had children she wouldn’t think about these things so often. I have noticed that many childless women still act like girls when they grow older. Mothers of the same age don’t necessarily appear older, but somehow more settled. Maybe they’ve found a reason for what they do and are. We’re now talking about modern ques­ tions concerning identity. The opera takes place in the Vienna of 1750, in a Rococo setting. The characters of Strauss have always been very modern, though, because they are basically x-rayed in a psychological way. All his characters are complex. The Marschallin’s mutability and judiciousness, elegance and sophistication, spontaneity and intensity – all that reminds me of the Figaro countess and her “big day”. The opera leads from a very intimate moment of two people through an ami­ 228 228 228

cable separation to the tentative start of another love. However, there is no return to the carefree moments of togetherness like at the beginning of the opera. That is very hurtful. But that is how things go. I believe that the Marschallin will have other lovers following ­Octavian. The question is whether she will find anyone else like him. And don’t forget: Once you reach a certain age, lovers don’t appear from nowhere.

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The girl that ate sand Text Paulus Hochgatterer Pictures Chiharu Shiota Some children are better off – in general as well as in respect of the development of their narrative competence in particular. As soon as they exist, somebody starts to communicate with them; they have only just pricked up their ears when they hear the latest family news; and only a short time later they start to tell their own three-word stories (supported by gestures at the beginning) and tomorrow they will present whole novels. Some children are rather badly off. Their language and story-telling can tend to become another thing. I myself got to know this other thing by encountering the girl that ate sand. At that time I was four years old. My family and I had moved and soon I made friends with some boys who were a little older than me and were characterised by having a rifle they could ­actually shoot with. That is to say, their rifle had a rubber band with leather attached to it, so that they could fire off small stones as you would with a slingshot. I pressurised my father and asked him to build such a rifle for me. He agreed and did the natural thing when your child is of a certain age - he cheated me. He provided me with a rifle that didn’t actually fire projectiles, so the act of shooting was pure pretence.


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Within the group I felt even more like what I already was: the smallest. Once, one of the boys said that there was a girl living just around the corner, in a house with a yard. The girl, they said, was already seven years old and would have gone to school if it weren’t for the fact that she couldn’t speak a word and, on top of that, “ate sand”. At some point, one of us took his rifle. After a while we were all standing there pointing our weapons at the girl. Nobody shot, nobody spoke and still, we all knew what we wanted. I have no idea what made the whole thing turn, a scowl, a small step forward, perhaps it was something that only happened inside the girl. In any case, she suddenly started to scream. It was so shrill and loud that we ran away immediately. What made us anxious at that time, the reason why we ran away, was something to do with the body. As this essay is on narrative interrelation, I will call this phenomenon the first poetological principle. A child screams. Some children are rather badly off. They scream or, in other terms, if we stick to the original term, their language can tend to become another thing, a loud and barely structured phonetic unloading. They take all the words they can find, form them into a cluster, a missile-like projectile and fire it off into the outside world with all the energy, they can muster and with all the air in their lungs. Children scream if they face weapons or if somebody tries to take their parents away. Children scream if they are threatened with annihilation. One child screams. What do the other children do? They’re frightened and run away. They put their hands over their ears. They don’t want to have heard anything. They saw things that weren’t there. They tell untrue stories. Sometimes they stand still and turn around. Being decent people, we are relieved. But there are also children who are different. Hans was such a child. Hans and I went to primary school together. To be precise, when I entered the third year, Hans was already there, because he had to stay down. Right from the

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start, our German teacher focussed on correcting his attempts at writing. ­After nothing seemed to help and he still made a whole lot of spelling mistakes, she started to display his dictations, full of her red marks, in the hallway so that everyone could stare at all the mistakes. Children like Hans enter a state which – in the minimal systematic of this text – I would like to call the second poetological principle: A child falls silent. A child falls silent, because his or her words and stories are not deemed worthy; because he or she cannot trust the narrative in their brain; because every tiny revelation, if it reached the outside world, has the potential to cause disarray or confusion. In other words: A child falls silent because there is a fundamental incongruity between their story of the world and that of their key ­authority figure. Being regularly beaten by a drunken father to a background drone of psychological degradation does not make a child fall silent, but rather that the ­father communicates to the child that this is acceptable. Not only the fact that the mother is mentally ill, has to go into hospital regularly and talks about committing suicide makes a child become silent, but the fact that the mother doesn’t stop telling her child that it is their constant jabbering that has driven her to despair. Not only the penis which is pushed into the child every Friday makes them hold their tongue, but rather the fabricated certainty that there is nothing improper about it and only the child’s understanding of good and evil, yours and mine, is in need of correction. After I returned to school after the Easter holidays, Hans was no longer there. Nobody knew where he was. Our teacher didn’t say a word and we speculated about him having entered a school for mentally handicapped children. For a while we devised plans for how to get near the old mill in order to find out if he still lived there. However, in the end we didn’t have the guts. 229 229 229

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Better good than beautiful music Text Kilian Kirchgeßner Picture Nico Serda “The moment I sit down and write, the music already exists in my head,” says Miroslav Srnka. At that point “I just have to put my ideas down on paper.” After a long morning walk in Prague’s palace garden, he locks himself into his study and starts to orchestrate the music on his computer. This room is Miroslav Srnka’s small world, isolated from everything else. “Even my wife has never seen me composing; not a single time since we met 17 years ago,” he adds. Miroslav Srnka’s musical journey started at the Prague National Theatre, where he went to see one of the big performances as a schoolboy: Antonín Dvořák’s Rusalka. Since that night, he knew he wanted to create music. Srnka studied at the Academy of Performing Arts in Prague and spent several months at the Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris. The breathtaking speed with which Miroslav Srnka became famous says everything about his talent, musical intuition and virtuosity in using different tools. In addition, it underlines his concentration and immense energy. He completed his degree in 2003. In 2005 the Berlin State Opera staged his 13-minute chamber opera Wall and in 2006 he became resident composer for the Heidelberg Philharmonic Orchestra. Then, in 2009 he was presented with the award for young talent by the renowned Ernst von Siemens Music Foundation. Miroslav Srnka says: “To me, the difference between beautiful and truly good music is most important”. He wants to create good music – technically precise, elaborate, grounded in mathematical accuracy, but still accessible. Make No Noise is his first feature-length opera. “In the morning I enter my study and know if I work the whole day and stay concentrated I will have created 20 seconds of


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music by the end of the day”. Srnka compares his work to that of a sculptor who has to work on a marble block for a very long time before the first contours become visible. “It takes a lot of effort to reach that point. If you’re lucky, the moment comes where everything starts to sparkle.” That very moment was the reason why he became a composer.

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Adventure, play, risk Text Tamás Jászay Pictures Máté Tóth Ridovics (Krétakör) For a couple of years now, the Hungarian group Krétakör (chalk circle), founded by director Árpád Schilling, have described themselves as a theatre laboratory. A laboratory that provides alert and attentive audiences with everything they need to understand the crucial questions of our times and the society we live in. This year, they are set to perform the opera Undankbare Biester (Ungrateful Bastards) to be first performed in the Pavillon 21 MINI Opera Space. Within the last one and a half decades, Árpád Schilling and his ensemble Krétakör Színház (Chalk Circle Theatre), which has toured the world, have achieved basically everything a theatre company without a venue and with only a small number of actors can achieve – in Hungary as well as abroad. A rare combination: Schilling and his group are lauded by both audiences and critics. Over the years a solid group of fans has emerged. Performances are treated by many as social events. However, in around 2008, the success story took a rather unexpected turn. Schilling dispensed with the broad repertoire mainly consisting of classical works and disbanded the cast leaving a production office consisting of only a few staff who make up the creative team that develops independent projects. The shift in focus can be summarised as follows: projects for specific audiences instead of a broad repertoire, contemporary issues and social prob-

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lems instead of dusty classics. The most important change which basically explains every other consequence is the fact that the director, who used to focus on the actors, now dedicates himself to the audience. Put simply, the usual model of theatre has a stage floating in a sea of lights, with a complete message delivered to the audience who are sitting comfortably in a dark auditorium. The only feedback we are used to is applause. In many cases, the interaction and communication between stage and auditorium is no more than that. What Schilling is really interested in is the biggest challenge of theatre as such: the transmission of a private message from the stage to an individual in the audience. That, however, makes it necessary for the audience to become involved in the action. As soon as every member of the audience makes a contribution to the common cause, which – ideally – is his or her cause anyway, theatre evokes something, theatre has an aim. The vision, therefore, of Schilling’s new projects is irreproducibility, which also includes a serious social message. The director set himself a task of nearly Brecht-like importance when he decided to make useful theatre. “As we’ve seen in other countries, one idea for establishing a theatre in Hungary that’s actively involved in the local community is to have a changeable formal framework but a consistent content. We’ve started to organise activities to mobilise the citizens of a country through theatre ...“, he wrote in 2009. In 2006, the actors of Krétakör had a first stab at activating a larger audience: In a small village in Transdanubia they founded a space station and confronted the people who live there with communicative creatures from outer space, thereby making the audiences think about the relationship ­between alien and local, exotic and wellknown in an entertaining and experimental way. In spring 2009, Krétakör invited people in Budapest to a twomonth series of “City Therapy” events 230 230 230

called The apology of the escapologist. The core themes of this series were birth, family and community. Circulating around these simple terms, Schilling organised a giant parlour game, which linked the streets and public spaces. Social groups which had been marginalised became the main characters: young mothers, the elderly and adolescents on the borderline between child and adulthood. In summer 2010 Krétakör and members of the Káva culture workshop went to two impoverished villages in Northern Hungary, where many Roma families live, in order to highlight the current problems within the community. They made use of theatre and drama education methods in order to generate support for necessary but difficult change. In both villages, actors, teachers and ordinary members of the public worked tirelessly to stage a new performance every night, although very ­little of it bore any resemblance to our traditional understanding of a performance. The result was comparable to an interactive family drama in several sequences. Shown on stage were the small problems of a small man (love, marriage, apartment, car, money etc.). So, the main aim of this, as well as of former projects was to encourage and support people coming together. Folk, who had never considered theatre to be part of everyday life, were thrust into a big mutual adventure. The opera premiere of Ungrateful Bas­ tards is also part of this series, which is anything but free from political messages. Composer Marcell Dargay has cooperated with Krétakör before and tries to use the language of opera which is considered to be aristocratic in order to speak about a very important problem affecting every society. For his new project, Schilling has picked child abuse as the central theme, a topic which is rarely staged. As in previous years, Schilling is working with common people: the main characters are performed by children and young people, between the ages of 9 and 16, from a music school in Budapest. With this opera, Schilling and the Krétakör group are not trying to say something new. What they want to show is that the prob-


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lems in our world need to be voiced effectively and authentically. The only thing that changes from time to time is the way of doing so.

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Black Swan Text Jörg von Brincken Illustrations Julie Morstad Crossing borders is part of our everyday life. The flexible human being ­(Richard Sennett) always works on his intellectual and emotional flexibility. At the same time, however, borders are crossed unnoticed, sensitivity to line-crossing fades, unlimited possibilities and challenging life plans make the critical moment, implied by the idea of border crossing, weaken – especially when life and ­career plans are result-orientated. This is an abstract dimension of manageability, which is enhanced by our global network and virtualisations in the media. However, there still seems to be the desire for absolute challenges, the not fully controllable moment. A passion for something radically new, which – according to Adorno in reference to modernity – is related to death and darkness. If we think of the all-embracing trend which outlines escalating experiences, it becomes clear that our body with its ability to endure suffering and threats becomes the actual origin of experience related to limits. Which role does art, especially body art, play in this context? The movie Black Swan by Darren ­Aronofsky offers a perspective worth a second thought. This is the story of a young, ambitious dancer, who has the unique opportunity to perform as the good white swan as well as the evil black swan in a much lauded choreography of Tchaikovsky’s Swan Lake. The movie is considerably more than a thrilling psycho etude on the murky depths of professional dancing. Rather it is a parable about artistic expression and experience based on a person’s painful

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(both for body and soul) transformation. At first, the dancer in Black Swan fails, because everything she does is judged according to formal criteria regarding effort and quality. Her dancing is physically perfect, controlled most appropriate for the role of the white swan. However, she does not have the spark, the all-consuming passion needed to embody the black swan - the metaphor for sin and destructive desires. The only way into this darker self demands capitulation to dangerously erotic impulses. Black Swan depicts the career of a dancer as a subtly schizophrenic process, which ends with the external and internal transformation into the black swan, on stage and in real life. In Black Swan, the heroine has an obvious tendency towards auto-aggression, which is probably due to the psychological pressure as she pushed herself to render a perfect interpretation of the black swan. The viewer automatically links her self-inflicted injuries to the pain that professional dancers are obliged to suffer. What at first seems to be a reaction to her stressful work, in the end becomes fantasy. The heroine pulls a small black feather from her never-healing wound on her back. Her nervous eyes turn into blood red gemstones – and finally, the young ballerina changes into a black swan within the magnificent premiere performance. The haunting beauty of the evil swan is no longer symbolic allegory: the metamorphosis has really taken place. In Black Swan the unexpected metamorphosis coincides with a catastrophe, the suicide of the young dancer. However, we do not know if she really dies or not. Experiencing limits and the challenges involved always means that a person’s integrity is called into question as soon as psychological and physical lines are crossed. To me it seems that the experience of our own self in moments of self-loss, when we extradite ourselves to sorrow, pain or our possible death, involves an extension of our sensitivity. A sensitivity to the limits, the partly horrible limits 231 231 231

within us; to dangerous attraction with us being the object of lust which is capable of destroying us. This lust seems to be as strong as it is insatiable. This lust forms a close union between art and other body-cultural behaviour, ­especially when it comes to dance, because being in danger and being afraid always causes a stirring, a palpitation of the heart. This is the passion meter, which leads every dance and makes it delightful. All excerpts by Laura Schieferle


AGENDA

Schöne Ferien! Im August geht die Bayerische Staatsoper in Theaterferien. Hier geben Künstler der aktuellen Saison Tipps zur Urlaubs­gestaltung und sprechen über inspirierende Orte und Rückzugsgebiete.

CALIXTO BIEITO Regisseur. Seine Neuinterpretation von Beethovens Fidelio ist zu den Festspielen wieder auf der Bühne des Nationaltheaters zu erleben. Ich muss zugeben, dass ich niemals viel Urlaub gemacht habe. Ich bin auch keiner, der sehnsüchtig auf einen Monat Erholung wartet. Im Gegenteil: Ich würde sagen, dass ich total an meiner Arbeit hänge (vielleicht sollte ich es auch nicht „Arbeit“ nennen), ich nütze aber meine vielen Reisen, um ein bisschen Tourismus zu machen. Als ich ein Kind war, bin ich viel mit meinen Eltern verreist in den langen Sommern des Spaniens der 1970er Jahre. Damals gefiel es mir, der Kälte des Nordens zu entfliehen und in die mediterrane Hitze ein­ zutauchen. Schwimmen habe ich allerdings im eiskalten Golf von Biskaya und in den Flüssen des Baskenlandes gelernt.

orie kannte, von dem ich in der Schule oder Universität gele­ sen, es aber eigentlich nicht verstanden hatte. Das Leben breitete sich in seiner ganzen Pracht vor mir aus. Ich fuhr wei­ ter in Richtung Süden: Quito, Guayaquil, Lima, Trujillo, Ma­ chu Picchu, die Anden, La Paz, São Paulo, Rio de Janeiro, Foz do Iguaçu, Asunción, das melancholische Montevideo. Ein enormer Rausch starker Eindrücke, Farben, Lichter und zarter Melodien. Schließlich kam ich in Buenos Aires an. Von allen Städten, die ich kenne, ist Buenos Aires die mit den meisten Gesichtern: das europäische mit seiner Mischung von all dem, was einem aus der Heimat bekannt ist, das lateinameri­ kanische, das künstliche und verschlossene des reichen Tei­ les der Bevölkerung und das der bolivianischen und peruani­ schen Einwanderer. Ein großes Amalgam, das Buenos Aires eine ganz eigene und einzigartige Persönlichkeit verleiht. Bu­ enos Aires ist unendlich. Ewig.

Nach einigen Wochen brach ich nach Patagonien auf – der Im Gedächtnis – selektiv wie bei allen – ist mir eine außerge­ Ort, der wohl dem Nichts am nächsten liegt. Der Wind und die wöhnliche Reise geblieben, die ich 1992/93 gemacht habe. Weite. Ich dachte an die letzten Verse von Calderóns La vida Eineinhalb Jahre meines Lebens verbrachte ich bis zum Früh­ es sueño (Das Leben ist ein Traum) in der sogenannten Versi­ jahr 1993 auf einer großen Tour, die mich von Caracas bis Us­ on von Zaragoza: „Alles ist Wind, alles ist nichts.“ Niemals huaia führte. Ich nenne das meine „amerikanische Liebe“, da habe ich dies besser verstanden. ich einen aufwühlenden Kontinent entdeckt habe, zärtlich Und von dort nach Ushuaia. Zu jener Zeit mein verlorenes Para­ und wild, schonungslos und wunderschön, so wie das Le­ dies. Ich war ernsthaft versucht, für immer dort zu bleiben. In ben selbst. So weit entfernt und verschieden vom alten Euro­ der südlichsten Stadt der Welt. An einem Ort fern ab von allem pa, wie die riesige Distanz, die uns trennt. Wenn ich an diese Bekannten. Zwischen Walen, Bibern, Seehunden und uner­ Reise denke, schäme ich mich in gewisser Weise wegen un­ messlichen Wäldern und Bergen. Manchmal frage ich mich, serer hochmütigen und banalen europäischen Dummheit. Es was aus meinem Leben geworden wäre, wenn ich in Ushuaia war ein sehr langer Urlaub in Ländern, die ich für immer im geblieben wäre, um Schlittenhunde zu erziehen. Ich werde es Gepäck meiner Leidenschaften mit mir führen werde. Meine niemals wissen. Aber es muss wohl so sein, dass sich unser Worte können niemals meine Emotionen und Erinnerungen kleines Dasein von all jenem nährt, das wir nie erleben. Von von damals wiedergeben. Aber ich kann jedem empfehlen, mit den Geheimnissen, die vielleicht mehr versprechen als sie ver­ offenem Geist und aufmerksamen Sinnen nach Venezuela bergen. Wer weiß? Es war ein wunderbarer Urlaub, jener von oder Kolumbien zu reisen, um wunderschöne Meere zu entde­ 1992/93. Ich werde nach Ushuaia zurückkehren, auch wenn cken oder Metropolen, die an der imperialistischen Über­ mir schon jetzt klar ist, dass es niemals dasselbe sein wird. macht der USA zerbrachen, herrliche koloniale Viertel oder Städte, schöne Augen und fantastische Berge, überzogen Übersetzung: Florian Heurich vom Regenwald. Gefährlich und reizvoll zugleich, wie alles in diesen Regionen. Die kolumbianischen Wälder haben meine Sinne auch mit Fantasien erfüllt, die mir Türen öffneten, von 232 denen ich niemals gedacht hätte, dass ich sie je werde öffnen 232 können. Ich begriff nun vieles, was ich bisher nur in der The­ 232


URLAUBSTIPPS

NORBERT GRAF Solist des Bayerischen Staatsballetts

MANUELA HARTEL Medienkünstlerin. Hartel gestaltet zu den Festspielen 2011 die Fideliopiraten im Pavillon 21 MINI Opera Space. Mein Reisetipp zum Opernereignis des Sommers ist Eremo delle Carceri am Monte Subasio, oberhalb der Stadt Assisi. Um die Arbeit Olivier Messiaens besser zu verstehen, will ich dem heiligen Franziskus etwas näher kommen und mache mich also auf nach der Pilgerstadt. Die großen Kirchen, die Krypta des Heiligen und die Souve­ nirläden mit ihrer Mischung aus Taukreuzen und Plastikpis­ tolen lasse ich erstmal hinter mir und wandere höher, durch den frühlingsfeuchten, blühenden Wald zur steilen Wald­ schlucht, um in der Einsamkeit der Einsiedelei, tja, was nun eigentlich zu finden? Die Stille?

Illustration: Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche

In den Steineichenwald um den kleinen Klosterbau zog sich Franziskus zum Gebet zurück. Hier predigte er zu den Vögeln – und wirklich, still ist es hier. Nur der Wind bläst stetig und fordernd. Es scheint fast, als wolle er in mich dringen. Ich bin allein, die Jahreszeit, Anfang April, ist gut gewählt, noch ver­ schlägt es wenige Besucher hierher, bis auf diesen Vogel mit außergewöhnlichem Gesang, der meine Wanderung beglei­ tet. Er lässt sich mit mir auf den Felsen nieder, zieht unter den Eichen einher und folgt mir über den Bach. Ich sehe den Vo­ gel nicht, ich höre ihn nur. Doch durch die Eindringlichkeit seiner ungewöhnlichen Intervalle und mit dem Wind, der an meinem Ohr flüstert, verstehe ich auf einmal. Etwas Altes und Kleines berührt mich. So klein und so anrührend wie diese Tonfolge. Hierher kann man mit seinen ganz persönlichen Fragen kommen. Und die Vögel, sie haben vom heiligen Fran­ ziskus wohl die Antworten gehört. Zurück auf dem Klosterweg 233 verlässt mich der Gesang. Doch der Vogel hat mir ein Ge­ 233 233 schenk gemacht: Mein Herz ist voll …

Wir dürfen eigentlich nie aufhören, uns zu bewegen. Stillstand bedeutet Verlust der Muskeln und der Kraft und der Routine des täglichen Rituals. Und das heißt, nach einem langen schö­ nen Sommer ohne Training und Proben am Beginn der nächs­ ten Spielzeit wieder bei fast null anfangen – das will niemand. Deshalb hatten wir beim Staatsballett früher oft geteilte Som­ merferien. Der Urlaub darf nicht zu lang und nicht zu radikal sein. Will heißen: Vier Wochen Couch-Potato – so verführe­ risch es einem erscheinen mag – wären das Ende der Karriere. Aber wer will das auch wirklich? Entspannen bedeutet für mei­ ne Frau Valentina (Anm. der Redaktion: Valentina Divina ist Ballettmeisterin) und mich vor allem, Neues kennenzulernen. Als wir noch keine Kinder hatten, gingen wir mit Begeisterung backpacken in Kanada. Mit Zelt und Wanderausrüstung in die richtige, echte Wildnis! Die Bären kamen manchmal so nah an unser Zelt, dass es Zeit wurde, unseren Letzten Willen nieder­ zuschreiben … dachten wir. Aber letztlich gingen diese Aben­ teuer doch immer harmlos aus. Wir sahen wochenlang Berge und Seen, wanderten viele Kilometer weit, etappenweise abge­ löst von ausgedehnten Kanufahrten auf dem kanadischen Wildwasser, und zum Abschluss dann noch eine kurze Zeit am Meer: schnorcheln, ausspannen. Inzwischen sind wir eine vierköpfige Familie – da machen ei­ nem plötzlich Dinge Spaß, da entspannt man sich in Situatio­ nen, die man sich ohne Kinder nicht einmal vorstellen konnte: Schöne Ferien sind heute Zeiten ohne Pflichten, spät aufste­ hen und mit den Kindern Zeit ohne Ende verbringen, auf dem Boden liegen und mit LEGO-Steinen Häuser bauen, Straßen, Städte … Science-Fiction und Comics vorlesen und Bücher über Geschichte. Fußball spielen oder Fußball schauen. 1. FC Köln. Und Fahrrad fahren in einem dem Menschen angemesse­ nen Tempo, so, dass die Welt noch wahrnehmbar ist in ihren Details, nicht vorbeifliegt in mörderischer Eile. Tanzen heißt, eine gute Dynamik haben, Zeit dehnen und Zeit komprimieren können, in der Musik und im Raum. Das prägt auch meinen Ur­ laub, die Ferien – ich dehne die Zeit, so gut ich kann.


AGENDA

PAUL GAY

HERMANN NITSCH

Bariton. Gay verkörpert die Titelrolle in der Festspielpremiere von Messiaens Saint François d’Assise.

Aktionskünstler. Nitsch zeichnet für die Neuinszenierung von Messiaens Saint François d’Assise verantwortlich.

Freizeit heißt für mich viel Unterschiedliches. Als reisender Sänger ist es etwas Besonderes, zu Hause zu sein mit meiner Frau und unseren drei Kindern, Freunde einzuladen, für sie zu kochen und die Schätze aus dem Weinkeller zu bergen, die dort viel zu lange schlummern. Das Allerliebste ist mir aber das Golfspielen, am besten direkt bei Sonnenaufgang zwi­ schen fünf und sieben Uhr, wenn der Golfplatz noch vom Mor­ gentau feucht ist – allein, mit meinen Söhnen oder guten Freunden. Das ist beinahe eine Meditation. Zur Abwechslung verschönere ich gerne unser Haus: streichen, mauern, klemp­ nern, Parkett und Fließen legen – das entspannt mich sehr.

ich habe drei jahre in harmating bei ascholding in oberbayern gewohnt. ich empfehle einen urlaub in dieser wunderbaren gegend.

MARTIN KUŠEJ Regisseur (2010/11 an der Bayerischen Staatsoper: Antonín Dvořáks Rusalka). Kušej ist designierter Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels. Mein Ort der Inspiration bin ich selber. Ganz einfach. Ich hatte fünf Jahrzehnte Zeit, um da eine Art Fundus oder Lagerhalle anzulegen, in der alles drin ist, was ich für meine Kunst brau­ che. Ja, natürlich, ich musste dafür durch diverse Dschungel, Wüsten und Ozeane reisen, musste Frauen verzweifelt lieben und tausende Bücher lesen, Angst um mein Herz haben und einen Sohn großziehen, als Wachmann arbeiten, Regie studie­ ren, Freunde sterben sehen, mit Leuten reden, reden, reden, die Salzburger Festspiele überleben, jubeln, bergsteigen, dichten, lügen, unterliegen und gewinnen, trauern, reiten und Kajak fahren lernen, den Stromboli sehen und einen Wal, träumen, viermal von der Brücke springen, mich in Mozart verlieren, Tanzkurs machen, Erich Fried, Alexander Kluge und Peter Brook kennenlernen, kochen, ja, für viele, viele Menschen ko­ chen, Hunderte Beziehungen aufbauen zu Schauspielern oder Sängern und sie wieder verlaufen lassen, immer wieder das Herz öffnen, weiter reisen, weiter laufen, am Meer sein, in Triest, in Buenos Aires, Pulverschnee, ja, Menschen den ers­ ten Schnee zeigen, Nachttauchgänge machen, versuchen, Ge­ dichte zu schreiben, zuhören, schwitzen, verwundet sein, im Theater in Ohnmacht fallen, mich immer wieder eines Neuen besinnen, konservativ werden und erschrecken, ankämpfen, den Garten bestellen, überraschen, einen Ort der Ruhe finden (Maria Saal), enttäuschen, enttäuscht sein, von Harnoncourt lernen, Menschen begeistern, Filme sehen, endlich die Frau meines Lebens finden und so weiter.

Die Ferien verbringen wir in unserer zweiten Heimat, auf der Halbinsel Cotentin in der Normandie, wo wir ein Haus direkt am Strand besitzen, das mein Vater als Architekt 1946 entworfen hat. Wir schlafen dort zu fünft auf acht Quadratmetern. Es ist das einzige Häuschen am ganzen Strand, in dem man schlafen kann. Bei geöffneter Tür sind es fünf Meter zum Wasser – end­ los der Blick auf das wilde Meer. Morgens und abends gehört 234 der Strand uns allein! Eine Tradition, die ich seit 40 Jahren im­ 234 234 mer neu belebe.


URLAUBSTIPPS

FALKO HEROLD Kostümbildner der Neuinszenierung von Mozarts Mitridate, rè di Ponto

ein riesiges monster kauert vor seouls ­skyline und wird von david und falko fotografiert und gefilmt. wer in den letzten jahren abseits der cineplexx-ketten im kino war, vielleicht in solchen kleinen kinos, die in ihren fenstern die zerknitterten originalplakate aushängen, dem werden mit­ unter filmplakate in einer wunderbar eleganten schrift aufge­ fallen sein; diese schrift heißt „hangeul“ und ist die offizielle schrift für das koreanische in nord- und südkorea. obwohl sie den chinesischen schriftzeichen ähnelt, ist sie eine buchsta­ benschrift und daher unserer schrift ähnlicher als es auf den ersten blick scheinen mag. der grund, warum man seit einiger zeit in deutschen kinos immer wieder koreanische filme entde­ cken kann, ist ein boom der südkoreanischen filmindustrie, der sogenannten „korean new wave“, die von filmemachern wie kim ki-duk, park chan-wook und bong joon-ho angeführt wird und die seit den 1990er jahren nahezu ungebrochen anhält.

Illustration: Falko Herold

nun hat südkorea nicht nur wunderbare erzähler hervorge­ bracht, sondern es ist auch hungrig nach europäischer kultur – weshalb das goethe-institut in seoul den regisseur david bösch eingeladen hat, um am myeongdong theater goethes urfaust zu inszenieren – mit koreanischen schauspielern. und ich kann ihn als ausstatter begleiten und werde so den som­ mer in seoul verbringen dürfen. das beste daran: ich werde den ganzen tag im kino sein! denn das myeongdong theater war einmal ein kino, erbaut 1934 in stolzem art deco. die ge­ schichte des gebäudes spiegelt die geschichte koreas: das kino diente erst den japanern, später den amerikanern als projektionsapparat ihrer eigenen kultur; nach dem abzug der amerikaner war im myeongdong eine zeit lang das rathaus von seoul untergebracht. ende der 1950er jahre diente das gebäude noch als unterkunft für das koreanische national­ theater. hier fand auch die erste opernaufführung koreas statt. nach­ dem das theater an private investoren verkauft wurde, stand das gebäude nach der geschäftlichen pleite kurz vor dem ab­ riss. auf initiative der menschen, die im myeongdong ihre ers­ 235 ten filme und theateraufführungen gesehen haben und die das 235 theater retten wollten, kaufte die stadt das gebäude 2003 zu­ 235

rück. heute steht allerdings nur noch die restaurierte fassade des ursprünglichen gebäudes; es wurde komplett entkernt und zu einem modernen theater umgebaut. natürlich gibt es auch hürden zu überwinden: wird mein neu beantragter reise­ pass rechtzeitig fertig? wie wird sich die lage in fukushima auf korea auswirken? wie werden wir mit der hohen luftfeuch­ tigkeit im sommer, der regenzeit in korea, zurechtkommen? werden sich die ungleichen staaten in nord und süd wieder einmal in die haare kriegen? aber all diese schwierigkeiten verblassen dann doch bei dem gedanken, das land kennenlernen zu können, das uns die schönsten kinomomente geschenkt hat seit der revolution des amerikanischen independent cinema der easy riders und raging bulls – und mit dem poetischen monsterfilm gwoemul / the host obendrein ein prophetisches bild unserer gegenwart liefert: zwischen dem ökologischen desaster und dem tri­ umph der fantasie.

KRISTĪNE OPOLAIS Sopranistin. Die umjubelte Rusalka der Premierenserie von Martin Kušejs Inszenierung kehrt zu den Festspielen wieder auf die Bühne des Nationaltheaters zurück. Ich reise durch meinen Beruf das ganze Jahr über sehr viel. Wenn ich also mehrere Wochen Urlaub habe, versuche ich die Zeit, die ich in Flugzeugen oder anderen Verkehrsmitteln ver­ bringe, möglichst gering zu halten. Deshalb bedeutet Urlaubs­ zeit für mich immer Rückkehr in meine Heimat. Ich wohne in Riga und liebe diese Stadt. Sie hat einen entzückenden Stadt­ kern mit wunderbar restaurierten Gebäuden aus vielen ver­ schiedenen Epochen. Hier fühle ich mich wohl und verbringe die meiste Zeit mit mei­ ner Mutter, meinen Freunden und meinem Hund. An den Wo­ chenenden suche ich Ruhe in meinem kleinen Ferienhaus in der wildromantischen Landschaft des benachbarten Weiß­ russlands, auf dem Tagesplan stehen nur Sauna und Wellness. Es gilt: no sports! Singen ist ja ohnehin Hochleistungssport, deshalb bin ich im Urlaub meist ziemlich faul. Ich versuche zu­ mindest, möglichst wenig an die Arbeit zu denken, keine klas­ sische Musik – schon gar kein Singen! Aber meistens halte ich das nur für die erste Woche durch. Ich kann einfach ohne Mu­ sik nicht leben!



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