MAX JOSEPH Nr. 3 2014/15 "Bisse"

Page 1

D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF

MAX JOSEPH

BISSE

BAYERISCHE STAATSOPER

Das Spiel kann beginnen: Marlis Petersen Premiere Lulu Vom Film zur Oper: Axel Ranisch und Marcus H. Rosenm체ller Premieren Pinocchio und Le Comte Ory Der Liebe abgeschworen: Ein Mann erz채hlt


BLICKE KUSSE BISSE

MAX JOSEPH 3 2014 – 2015

Das Magazin der Bayerischen Staatsoper


EDITORIAL Der Atem stockt, wenn man sich jenen Moment nochmals ansieht, als Mike ­Tyson am 28. Juni 1997 Evander Holyfield im Boxkampf um den WM-Titel im Schwergewicht ein Stück dessen rechten Ohres abbiss. Unglaublich jene Sekunden, in denen Tyson sich mit der Zunge die Lippen leckt, während die Um­ stehenden und die Reporter zu verstehen versuchen, was passiert ist. Ein ­Augenblick des animalischen Reflexes; des Zivilisationsbruchs. Der weit unter­ legene Tyson hatte die Regeln des Spiels gebrochen, mit nur einer basalen, überlebenswichtigen Bewegung des Unterkiefers. Der Biss eines anderen – häufig auch Synonym für einen menschlichen Abgrund. Und jede Begegnung, in der Menschen sich auf Nähe einlassen, scheint diesen Biss zu kennen. 1895 hat Frank Wedekind mit seiner Lulu eine besonders „beißende“ Figur geformt: „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, / Zu ­locken, zu verführen, zu vergiften – / Zu morden – ohne dass es einer spürt“. Alban Bergs Oper Lulu, die auf Wedekind basiert, ist nun in einer Neuinszenierung von Dmitri Tcherniakov zu erleben. Generalmusikdirektor Kirill Petrenko dirigiert, die Sopranistin Marlis Petersen singt die Titelrolle. Im Gespräch mit MAX JOSEPH teilt sie ihre Gedanken zur Figur: „Lulu ist keine Femme fatale. Sexualität ist für sie so natürlich wie Essen und Trinken, aber ansonsten ist sie noch eine unfertige Persönlichkeit.“ Jemandem so nahe zu kommen, dass es zu Bissen kommt: das scheint heute wiederum in Beziehungen gar nicht mehr notwendig zu sein. Man will ­Gefühle nicht unbedingt verschwenden und sich einer möglichen Verletzung aussetzen. Eher verlässt man sich auf eine ausgerechnete Passgenauigkeit. ­Georg Diez beschreibt in seinem Essay eine Gesellschaft, die Wunden aus Be­ ziehungen vorab mit einkalkuliert. Der Journalist Thomas Östreicher bringt uns die Geschichte eines Menschen nahe, der der Liebe sogar ganz abgeschworen hat, um in Sicherheit zu bleiben. Außerdem in dieser Ausgabe: Der Regisseur Axel Ranisch kehrt mit der Kinderoper Pinocchio zurück an die Bayerische Staatsoper. Marcus ­H. ­Rosenmüller inszeniert erstmals eine Oper. Der bekannte Filmregisseur erweckt mit dem Opernstudio Gioachino Rossinis Le Comte Ory zum Leben, eine Komödie um Verführung, Verwechslung und Begehren. Im Gespräch für unser Magazin erzählen beide, was für sie in der Oper neu ist und was sie am meisten fasziniert. Die Sänger des Opernstudios wurden unterdessen von Fotograf Hendrik Schneider in Szene und in skurrile und traumhafte Bildwelten ­gesetzt, die die Lust am Spiel und an Verkleidung zeigen, und zugleich an jene Abgründe erinnern, die darunter liegen. Nach den Blicken und Küssen, frei nach Kleist, widmet sich die dritte Ausgabe von MAX JOSEPH also ganz den Bissen. Und auch wenn sich heute das Verhältnis zu den Bissen verändert hat: Es gibt einen Ort, an dem man sich ­unbedingt den Abgründen eines Bisses aussetzen sollte. Nämlich in der Oper, in der Gegenwart von Lulu, Elektra, von Julia, Violetta oder Onegin.

Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper

3


BISSE, VIELL Sexuell ist heute alles m旦glich und erlaubt, die 足Verabredung dazu vorausgesetzt. Was 足bedeutet das f端r die Treue? Ein Essay von Georg Diez. 12


Leta Sobierajski / Wade Jeffree, Complements #31, 2014

EICHT

13


Kann der Mensch treu sein? Soll er? Muss sie? Und wozu? Geht es ums Glück, dieses haltlose Versprechen, das so viele ins Unglück stürzt, weil sie suchen und suchen und suchen und nicht merken, wenn sie etwas finden? Geht es ums Prinzip, weil das kapitalistische System die Familie als Fundament der Wirtschaft braucht und die Erbfolge, die alles am Laufen hält, nicht durcheinander kommen soll? Geht es um den Erhalt der Spezies, auch wenn es da, sagt die Logik, sagt die Evolutionsbiologie, besser wäre, wenn die Frauen – und wohl auch die Männer – sich nicht nur auf einen Partner verlassen würden, das würde die genetischen Chancen auf ihr Fortbestehen enorm verbessern? Geht es also um etwas, das gesellschaftlich gelernt ist – oder ist Treue doch nur eine großangelegte bürgerliche Verschwörung, eine Art Ideologie, die die männliche Dominanz festigen sollte, denn wenn ein Mann untreu war, war er ein Galan, wenn eine Frau untreu war, dann war sie eine Schlampe? „Es war wild“, sagt Lola, sie lebt in New York, sie ist 26, sie steckt mitten drin in der dritten sexuellen Revolution. „Ich hatte manchmal drei Verabredungen zum Sex am Tag. Ich war süchtig danach.“ Die dritte sexuelle Revolution wird von der Technik vorangetrieben. Lola organisierte ihren Sex mit der iPhone-App OkCupid. „Ich hatte einfach keine Zeit, außerhalb meines Freundeskreises nach Männern zu suchen, die mir gefallen“, sagt sie. „Also habe ich mich bei OkCupid angemeldet. Auf einmal waren da Massen von Männern, attraktiven Männern. Ich dachte, ich wäre allein. Nun merkte ich: Ich bin nicht allein – und besser noch, die wollen alle Sex mit mir.“ Wie heißt es im Prolog von Franz Wedekind über den Erdgeist Lulu: „Hereinspaziert in die Menagerie, Ihr stolzen Herren, Ihr lebenslust‘gen Frauen, Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen Die unbeseelte Kreatur zu schauen, Gebändigt durch das menschliche Genie.“ Nun war es genau dieses menschliche Genie, das die heiße Wollust befreite: „Ich wurde gierig“, sagt Lola, „richtig gierig nach Männern. Der Sex war super, er war frei, und wenn er nicht super war, musste ich den Kerl ja nicht mehr treffen, es gab schon fünf oder zehn andere, die auf

14

mich warteten. Ich wurde auch extrem anspruchsvoll. Es war wie ein Luxus-Buffet: Ich ging von einem leckeren Gericht zum nächsten, ohne jede Konsequenz.“ Und wieder Wedekind: „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, Zu locken, zu verführen, zu vergiften – Zu morden – ohne dass es einer spürt. Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert! Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Pfauchen Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen.“ Ja, genau, die Urgestalt des Weibes. Was war das nochmal gleich? Bislang waren es eigentlich vor allem schwule Männer, die ihren Sex so frei organisierten, über GayRomeo oder Grindr,­­effektive Sex-Apps, bloß keinen Kaffee davor und kein Gespräch danach, schnelle, verfügbare Körper. Heute kann man eine Veränderung der weiblichen Lust beobachten, selbstbestimmter, selbstbewusster, freier und damit vielleicht gefährlicher, für die Männer, die armen: Lulu sind alle. Lulu ist jedenfalls keine Ausnahme mehr. Lulu hat sich etabliert, sie hat sich durchgesetzt, sie ist heute Sekretärin, Architektin, Lehrerin. Es war wie immer: Die sexuellen Revolutionen der Vergangenheit waren Minderheitsbewegungen, die die Mehrheit nach und nach erfasst haben – Freuds Entdeckung des Sexualtriebs galt um 1900 als abstrus. Und der Freiheitsrausch der 68er hat die Mehrzahl der Deutschen verstört: Homosexualität, uneheliche Kinder – ein Skandal damals, heute selbstverständlich. Gesellschaften werden verändert durch das Verhalten einer Avantgarde, die das Wertesystem der Mehrheit und die Gefühle vieler Einzelner verletzt. In Deutschland wie im Westen überhaupt war es dabei vor allem das Erbe des Christentums, das den Blick auf Sex bestimmte: Von der Schande zur Sünde, Sex war stets an Schuld und schlechtes Gewissen gekoppelt. Der freie Sex war damit immer eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung, womöglich, wenn man Karl Marx, Bertrand Russell oder Michel Foucault glaubt, sogar des bürgerlich-kapitalistischen Systems überhaupt.  Das war in der ersten sexuellen Revolution um 1905 so, eine Revolution des Denkens vor allem, angeführt ausgerechnet vom Frauenhasser Sigmund Freud, der den Sex­

Essay Georg Diez


Die neosexuelle Revolution, sagt Volkmar Sigusch, ist eine Befreiung der Lust, die privat passiert. Und: Der Sex ist wie alle Lebens­ver­hältnisse der ­radikalen ­Beschleunigung und auch Atomisierung ausgesetzt. trieb des Menschen erkannte und beschrieb und ihn gleich wieder einsperrte und pathologisierte – nur durch die Psychoanalyse, so sagte Freud, sei der Konflikt von Begehren und Gesellschaft zu regeln: Sex war gut und schlecht, Sex war die Erlösung und das Problem. Das war auch in der zweiten sexuellen Revolution von 1968 so, einer Revolution der Verhältnisse, sie war radikaler, politischer, sie wollte die Befreiung der Frau, die ­Befreiung des Mannes, die Befreiung aller durch Sex, so visionierte es Wilhelm Reich, einer der Vordenker der Bewegung – und hier, in dieser Über-Utopie, kippte dann auch das Freiheitspathos in ein fast totalitäres Versprechen: Sex war nur gut, Sex war die Erlösung. Geblieben ist von dieser zweiten sexuellen Revolution ein doppeltes Erbe: Es bleibt das Verdienst, nicht nur von Alice Schwarzer, wie es immer gern heißt, die Bewegung war viel breiter und vielschichtiger, als das die heutige Zuchtmeisterin gern hätte, es bleibt also das Verdienst, durch die Politisierung der Lust erst die heutige Privatisierung der Lust ermöglicht zu haben. Aber zur Freiheit kam damals auch die Negativität, die Furcht und schlechte Laune – jeder Sex ein Akt der Unterwerfung unter männliche Begierde und damit schlecht, jede Penetration fast schon eine Vergewaltigung: Es war nur ein Teil des feministischen Diskurses, der in diese Richtung lief, doch dieser Teil war wirksam, eine Politisierung der Lust, die das Verhältnis von Frau und Mann bis heute prägt. Gegen diese Sicht auf Sexualität wendet sich etwa Volkmar Sigusch, der in seinem Buch Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten ein völlig neues Bild der Sexualität und des Sex zeichnet: Er spricht von der dritten, von der „neosexuellen Revolution“. Webseiten, Viagra, Selfsex, Asexualität, Sex-Freunde, Drei-, Vierer-, Fünferbeziehungen, Porno im Wohnzimmer, der Körper als Tempel, gepflegt und rasiert, tätowiert, Yoga-trainiert, biegsam, beugsam – und Fesseln, Folter, ­

Käfige und Peitschen: Alles, was früher als Perversion galt, wundert heute niemanden mehr. Die heterosexuelle Welt lernt von der emanzipierten schwulen Subkultur, dass man Sex auch von der Liebe trennen kann. Diese sexuelle Revolution ist weniger laut, dafür intimer. Weniger pathetisch, dafür pragmatischer. Weniger ideologisch, dafür nicht weniger politisch. Es ist eine Revolution ohne Demonstrationen, Straßenschlachten oder kollektive Aufrufe. Sie ist nicht, wie ­Sigusch über 1968 urteilt, „wahnhaft aufgeladen“ und von Utopien überfrachtet – es ist eine Befreiung der Lust, die privat passiert. Die Sexualität ist damit von ihrer symbolischen Bedeutung befreit, mit der sie seit 1968 belegt wurde – für Sigusch hat das einen widersprüchlichen Effekt: Einerseits ist der Sex freier, andererseits ist der Sex banaler, es ist ein Sex im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus, und damit für Sigusch wie alle Lebensverhältnisse der radikalen Beschleunigung und auch Atomisierung ausgesetzt. Sex ist verfügbar und flüchtig, die Möglichkeit der Nähe ist digital, und die Reize der Körper sind es in vielem auch, eine Pornografisierung der Lust einerseits, und andererseits durch Tinder und andere Dating-Dienste eine ganz konkrete Chance, fast jederzeit und überall richtigen Sex zu haben. Eine merkwürdige Situation gerade für junge Menschen, die, sagt Sigusch, „sehr cool und sehr entspannt“ auf die neuen Realitäten reagieren. Mädchen schauen sich ab und zu Pornos an, weil sie „das mal gesehen haben wollen“, Jungs schauen regelmäßig – was aber nicht heißt, dass sie noch diejenigen sind, die bestimmen, wann es zum Sex kommt. „Die jungen Frauen geben den Ton an“, sagt Sigusch. Früher waren es die Jungs, die den ersten Sex initiierten, heute sind es die Mädchen. Das Alter hat sich laut Sigusch nicht wesentlich verändert: Im Durchschnitt haben Mädchen mit 16,5 Jahren den ersten Geschlechtsverkehr, die Jungen etwas später. Bei Wedekind heißt es: „Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen. Wisst Ihr den Namen, den dies Raubtier führt?“ Das war die männliche Sicht, die männliche Furcht, vor Lulu, vor dem Weib an sich, eine körperliche Furcht fast vor dem Verschlingen, phallisch, freudianisch, irgendwie lächerlich, wie Männer eben so sind.

Bild Leta Sobierajski und Wade Jeffree

15


Der Feminismus rannte dagegen an, völlig zu Recht, aber er befreite nicht nur, das merkte man irgendwann, er führte auch seine eigenen Dogmen ein, brachte seine eigenen Probleme mit sich. Viele Männer, so schien es um die Jahrtausendwende, waren plötzlich verunsichert, ob Frauen Sex überhaupt mögen, ob ein Blowjob schon Frauenverachtung bedeutet, ob es okay ist, beim Sex zu dominieren. Es waren Muster eines rigoros-lustfeindlichen Feminismus, gegen die sich wiederum eine neue Generation von Frauen wendet: Von „hypostasierten feministischen Ahnen“ etwa spricht die britische Autorin Katherine Angel: „Ich sehe, wie sie mein Begehren, meine Perversion im Zaum halten. Ich schaue zu ihnen, ihren gierigen Augen, ihrer Gewissheit. Ich spüre ihre Hände um meine Kehle.“ Angel hat genug Foucault gelesen, um zu wissen, was Sex mit Macht zu tun hat; sie hat aber gerade deshalb jüngst ein Buch geschrieben: Ungebändigt. Über das Begehren, für das es keine Worte gibt – das ein Manifest ist für die ­weibliche Lust. „Als ich ein junges Mädchen war“, schreibt Angel, „als ich klein war und Begehren verspürte – eine amorphe Begierde, auf nichts Bestimmtes gerichtet und vielleicht gar auf mich selbst gerichtet –, da fragte ich mich: Wo sind die hungrigen Frauen?“ Doch alles, was die junge, suchende Katherine zu sehen bekommt, ist ein Zerrbild von Weiblichkeit – es „erlaubte meiner Mutter und mir mit unserer Verurteilung sexistischer Werbung, wenn wir Arm in Arm durch die Stadt bummelten, die Frau, die ich einmal werden könnte – attraktiv, reizvoll, provozierend und damit mächtig wie auch verletzlich zugleich –, wieder in eine Kiste zu stecken.“ Und auch einflussreiche Feministinnen wie Shere Hite änderten nicht viel, indem sie die Frage von Macht und Hingabe darauf reduzierten, wer beim Sex oben ist und wer unten – und ob „doggy-style“ schon eine frauenfeindliche Handlung ist. „Ich würde“, schreibt Angel, „am liebsten knurren, um die Männer in Schutz zu nehmen, die mir, weil sie auf mich eingingen, weil sie mich liebten und begehrten, so viel Lust, so viel verschwommene Lust verschafft haben – Lust klitoraler Art, Lust vaginaler Art, Lust von vielerlei Art, Lust von egal welcher Art.“ In ihrem Buch, einem poetisch flirrenden Memoir mit politischer Schärfe, führt sie die Schwierigkeit vor, die Sprache, aber auch den Körper von den Hüllen, den Konventio-

16

nen, den Ängsten zu befreien, die Jahrzehnte von verbitterten Reden darum gelegt haben. „Es war ein Fehler der Feministinnen“, sagt sie, „zu glauben, dass du etwas verlierst, wenn du deinen Körper einsetzt und Sex willst und den männlichen Blick auf dich ziehst. Wenn der Feminismus funktionieren würde, würde er die Frauen verfickt nochmal das machen lassen, was sie wollen.“ Es geht also, wie am Ende immer, um Freiheit. Und um die Angst davor. In der neokonservativen Angstgesellschaft, in der wir leben, gibt es beides: die Möglichkeit, all das zu tun, was man will, Verletzungen inbegriffen, und die Realität der Zweierbeziehung mit all den daraus folgenden Problemen. Penthesilea verschlingt Achill, auch das eine Männerfantasie. In der Postpostmoderne und in der Pornomoderne, also in der Gegenwart, gilt das immer noch, diese sexuelle Vorstellung, die auf Verletzung beruht – nur wird sie anders organisiert, sie wird anders inszeniert, das Verschlingen ist manchmal nur virtuell oder finanziell. Geblieben ist die Sehnsucht nach dem Biss. Nach dem süßen Schmerz. Nach dem Schmerz überhaupt. Es ist eine existenzielle Sehnsucht, es geht darum, sich zu finden, durch den anderen, womöglich in einer Projektion. Die Verletzungen sind internalisiert, sie sind in die Beziehungen eingeschrieben, integriert, sie sind mit einberechnet, sozusagen, sie werden nicht mehr durch Zeit und Raum vorangetrieben, wie bei Penthesilea und Achill, sie sind jederzeit, auch das ist ein Zeichen unserer Zeit, gleichzeitig anwesend. Präsenz wiederum ist gut und schlecht für Liebe, für Sex, für die Sehnsucht. Präsenz ist Erfüllung und Mangel ­zugleich. Nur in der Abwesenheit gibt es das Absolute. Das ist ein Widerspruch, der sich wohl nie lösen lässt. Was das für die Treue bedeutet? Das muss jeder selbst entscheiden. Es ist nicht der Fluch der Freiheit. Es ist einfach ein schwieriges, komplexes Versprechen. Es ist das Wesen der Lust. Mehr über den Autor auf S. 8


WENN LEBEN UND WOHNEN DAS GLEICHE NIVEAU ERREICHEN, IST MAN ANGEKOMMEN. MERZSTRASSE 1–3, MÜNCHEN In Alt-Bogenhausen, dem gehobensten Münchner Wohnviertel, entstehen sieben Drei- und Vier-Zimmer-Wohnungen von ca. 122 m bis ca. 214 m. Nah an Prinzregentenplatz und Isar findet man hier Ruhe und Privatheit, aber auch alle Annehmlichkeiten städtischen Lebens. Helle Räume mit bodentiefen Fenstern, mit Naturstein ausgestattete Bäder sowie großzügige Balkone, Loggien und Terrassen schaffen eine Atmosphäre, in der sich Wohnkultur und Individualität entfalten können. Vollendet wohnen.

EnEv 2014 EA-B · HZG BHKW Bj. (EA) 2014 62,2 kWh/(m²a)

Beratung und provisionsfreier Verkauf: 089 415595-15 www.bauwerk.de Bauwerk Capital GmbH & Co. KG, Prinzregentenstraße 22, 80538 München


„Oper ist wie Wein- oder Biertrinken. Man muss eine Hemmschwelle überwinden, dann ist es geil“ Zwei Individualisten arbeiten in diesem Frühjahr an der Bayerischen Staatsoper: Marcus H. Rosenmüller inszeniert mit dem Opernstudio Gioachino Rossinis Le Comte Ory. Axel Ranisch kehrt für die ­Kinder­oper Pinocchio zurück ans Haus. In MAX JOSEPH sprechen die beiden Kinoregisseure über die Unterschiede zwischen Film und Oper. Premiere Le Comte Ory Premiere Pinocchio


35



MAX JOSEPH Herr Ranisch, Sie haben fast die ganze Nacht in den Gängen der Bayerischen Staatsoper Filmmaterial für Ihren Pinocchio gedreht und deshalb nur drei Stunden geschlafen. Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind. Es ist Ihre dritte Operninszenierung, was genau hat Sie an dem Stoff gereizt? AXEL RANISCH Der Dramaturg Rainer Karlitschek hat mich vor einem Jahr gefragt, ob ich Angst vor Kindern habe. Die Staatsoper wollte nämlich eine eigene Produktion für den Kinderchor machen. Einhundert Kinder und Pinocchio? Das fand ich super! MJ Herr Rosenmüller, nach Ihren erfolgreichen bayerischen ­Kinofilmen gehen Sie nun mit Le Comte Ory im Cuvilliés-­ Theater auf die Opernbühne. Wie kam es dazu? MARCUS H. ROSENMÜLLER Für mich kam die Anfrage überraschend, und ich kannte diese Oper auch nicht. Aber ich war sofort begeistert: vom Thema, dem Schwung und der Freude in der Musik. Die Hauptperson ist voller Selbstbewusstsein, ein Gigolo. Er sieht die Welt anders, als andere sie sehen. Er hat eine positive Sicht und geht den Freuden dieser Welt nach. Das ist auch in der Musik zu spüren. Das hat mich schwer ­gereizt. MJ Wenn man sich heute den Comte Ory anschaut, einen Verführer und Betrüger, dann wirkt er wie ein Sexsüchtiger, der immer nur das begehrt, was er gerade nicht haben kann. Sie haben aber einen sehr positiven Zugang zu ihm bekommen. MHR Ich musste erst mal lange überlegen, wie man den überhaupt negativ sehen kann. Es war mir klar, dass er mein Held ist, deswegen habe ich versucht, ihn von ­allen Seiten zu beleuchten. Ich sehe ihn nicht schwarz-weiß. Obwohl die Lust an der Verführung im Menschen angelegt ist, geht es für mich nicht ums Sexuelle, auch wenn das natürlich dazugehört. In der Oper Le Comte Ory spielt ein Brief eine wichtige Rolle, nach dem die Krieger gleich heimkommen. Der Comte hatte nicht mit in den Krieg wollen, blieb bei Wein, Weib und Gesang. Ich sehe da eine existenzielle Frage: Darf ich mein positives Weltbild haben, obwohl woanders schreckliche Sachen passieren? Darf ich das Leben trotzdem feiern? MJ Eine klassische Deutung von Pinocchio wäre, dass der ­heranwachsende Mensch mit den Gegensätzen von Gut und Böse – also ein fleißiger Mensch werden und sich nicht verführen lassen – konfrontiert wird, bis er ein ausgeglichener ­Erwachsener ist. Sie haben eine ganz eigene Deutung für Ihre Inszenierung des Stücks gefunden.

AR Die Themen bleiben genau die gleichen. Pinocchio wird immer wieder verführt und versucht dabei, ein anständiger Junge zu sein. Wir haben aber eine neue Figur für die Oper erfunden, nämlich seinen Erschaffer selbst, den Schriftsteller Carlo Collodi. Er spielt bei uns mit und ist Nachtpförtner in der Oper. So verdient er sich Geld dazu, weil er nicht alleine vom Schreiben leben kann. Er geht nachts einsam durch die Gänge der Bayerischen Staatsoper, durch Kostümfundus, Stofflager, Schuhlager, die große Hauptbühne. Er denkt sich dabei Pinocchio, Geppetto und eine Fee aus. Seine Rundgänge und das, was er sich da ausdenkt, sieht man in der Inszenierung als Film auf der Leinwand. Die Fee ist die moralische Instanz in der Oper, und es gibt eine Rivalität über den Kopf von Pinocchio hinweg zwischen der Fee und dem Nachtpförtner. Dazwischen steht Pinocchio wie zwischen zwei übergroßen Eltern, die wie Teufelchen und Engelchen auf ihn einreden. Insofern haben Pinocchio, der sich verführen lässt, und Ory viel miteinander zu tun. MJ Nach der Schweizer Psychologin Alice Miller gibt es in uns eine geheime Kammer mit Requisiten aus unseren Kindheitsdramen, die wir immer wieder hervorholen. Welche Requisiten holen Sie für Ihre Filme und Stücke daraus hervor? AR Alle möglichen! Ich mache das bei meinen Filmen, und es wird auch hier nicht ausbleiben. Ich kann immer nur aus dem schöpfen, was aus mir heraus kommt und entsteht. Geschichten, zu denen ich auch einen eigenen Zugang habe, die ich vielleicht aus der eigenen Biografie kenne, gefallen mir am besten. Man bedient sich aus dem Fundus an eigenen Erlebnissen und wandelt sie dann um. MHR Ja, es gibt Grundaspekte, die sind so verwurzelt in einem, die wird man immer in Gegebenheiten, in Motiven und in den Charakteren finden und sie damit füllen. Die Kindheit ist dann aber auch irgendwann erschöpft. Unser inneres Kind hingegen ist die Neugierde. Es gab bei mir zwei Angebote für Filme, mit denen ich erst einmal gar nichts zu tun hatte, die ich aber nicht abgesagt habe. Da hatte ich erst mal Bammel. Aber das Interessante dabei war, dass ich mir etwas aneignen konnte. Natürlich kommen dann trotzdem die Requisiten von früher in die Geschichte hinein, aber es kommt auch was Neues dazu. MJ Wie sind Ihre Erinnerungen an die erste Berührung mit der Oper? MHR Mit zwanzig habe ich es ein paar Mal versucht, und es hat mich überhaupt nicht berührt. Ich habe keinen

„Es begeistert mich, dass das Publikum einer Bühnenvorstellung einen viel größeren Willen zum Abstrahieren mitbringt. Wenn die Leute sich in ein Kino setzen, ist Naturalismus angesagt. Aber wenn sie in die Oper gehen, dann kann ein Tisch plötzlich alles sein: ein Bett, ein Altar, alles.“ – Axel Ranisch Interview Dinah Marte Golch

37



39


„Die Arbeit bis jetzt macht unheimlich Spaß, besonders mit dem Stück, weil mich das tatsächlich so trifft. Da denke ich: Also der Rossini und ich … !“ – Marcus H. Rosenmüller Zugang gefunden. Mir ging es mit vielen Dingen so, leider auch erst einmal mit der Literatur. Außer bei Gedichten, die mochte ich von klein auf. Dann kam ich plötzlich mit dem richtigen Buch, der richtigen Anfrage in Kontakt. Ich bin noch ein paar Mal in die Oper gegangen, und dann ging etwas auf, und ich konnte mich einfühlen. MJ Wie ist es denn bei Ihnen, Herr Ranisch? War Oper etwas, das Sie schon in der Kindheit begleitet hat? AR Ich bin ein kleiner Klassik-Nerd. Das hat mich auch in der Kindheit zum Außenseiter gemacht – (lacht) unter anderem! Ich habe symphonische Musik immer geliebt, und sie hat dann auch in meiner Pubertät eine sehr große Rolle gespielt. Die Oper hat einen Hauch länger gebraucht. Oper ist wie Wein- oder Biertrinken, man muss erst eine Hemmschwelle überwinden, dann gewöhnt man sich dran und dann ist es geil. Plötzlich merkt man dann auch: Dieser Wein schmeckt anders als jener. Das ist super. MJ Film und Oper sind zwei unterschiedliche Medien. Empfinden Sie die Regeln der Oper als Begrenzung, oder inspiriert Sie das zu besonderer Kreativität? AR Es begeistert mich, dass das Publikum einer Bühnenvorstellung – sei es Theater oder Oper – einen viel größeren Willen zum Abstrahieren mitbringt. Wenn die Leute sich in ein Kino setzen, ist Naturalismus angesagt. Aber wenn sie in die Oper gehen, dann kann ein Tisch plötzlich alles sein: ein Bett, ein Altar, alles. Das macht einen ganz großen Fantasietopf auf. Was ich an der Oper noch toller finde, auch besser als am Sprechtheater, ist, dass die Akteure ihren eigenen Soundtrack mit auf die Bühne bringen. Sie können einfach sein, und dadurch macht mir das Inszenieren auch viel mehr Spaß. Die Sänger stellen auch nicht so viele Fragen. Schauspieler fragen ja immer unfassbar viel: Das habe ich jetzt nicht verstanden, warum muss ich von da auftreten? Was ist vorher passiert? (Beide Regisseure lachen) Der Sänger muss eben die Emotion nicht von Null auf spielen, er kriegt sie im Rücken mit dem Orchester mit. Trotzdem habe ich bisher bei jeder Operninszenierung noch ein, zwei Schauspieler reingeschummelt, damit ich irgendwas habe, womit ich mich auskenne. MJ Herr Rosenmüller, als Ihr Film Wer früher stirbt, ist länger tot herauskam, hörte man, dass Sie 36 Drehbuchfassungen geschrieben haben. Bei der Oper steht das Libretto fest, und es wird wahnsinnig viel Text wahnsinnig oft wiederholt. MHR Eigentlich wird wahnsinnig wenig Text wahnsinnig oft wiederholt! MJ Bei einem Film würde man doch schon in der Drehbuchfassung stark kürzen, und beim Schnitt würden nochmals Szenen

40

hinausfliegen. Hatten Sie beim Libretto mit den Wiederholungen Schwierigkeiten, oder haben sie Sie inspiriert, so zu ins­ zenieren, dass sich das Redundante jedes Mal steigert und ­dadurch neu wird? MHR Das ist genau der Schlüssel. Es ist eine spannende Aufgabe. Für mich ist das Korsett des Librettos eine neue Erfahrung. Es ist so, wie es ist. Wie kann ich diese Geschichte trotzdem erzählen? Diese Herausforderung macht dann Spaß, wenn ein Knoten gelöst wird. Ich habe ja volle Unterstützung von dem Dramaturgen Daniel Menne. Wir sitzen dann zusammen mit den Leuten von Kostüm und Szenenbild und überlegen, wie das alles ausschauen kann. Es ist wie ein Rätsel: Man hat das Ergebnis und muss die Aufgabe richtig stellen. Das ist tatsächlich ein riesiger Unterschied zum Film. Da gibt es unzählige Drehbuchfassungen. Ich bin bis zum Schluss am Ändern. Das geht hier überhaupt nicht. Das wird mir bestimmt helfen, mich auch bei der Filmarbeit früher festzulegen. MJ In der Filmwelt sind Ihre Namen bestens bekannt. In der Opernbranche gelten Sie als Nachwuchs. Ist es für Sie auch eine neue Freiheit, sich kreativ ausleben zu können, ohne an Ihren früheren Arbeiten gemessen zu werden? MHR Ich bin froh, dass ich mich ausprobieren kann. Es ist etwas ganz Neues und deswegen spannend. Ich war schon immer offen für Neues. Die Arbeit bis jetzt macht unheimlich Spaß, besonders mit dem Stück, weil mich das tatsächlich so trifft. Da denke ich: Also der Rossini und ich … ! (strahlt) Ich hoffe, es wird nicht die letzte ­Arbeit bleiben. AR Ich bin ja überall neu. Auch beim Film habe ich noch nicht so wahnsinnig viel gemacht. Ich freue mich über jede Spielwiese. Ich darf meine Filme drehen und dann darf ich hier so eine tolle Sache an der Oper machen. Ich wäre so gerne Dirigent geworden oder Komponist. Ich habe aber zu spät damit angefangen, weil ich immer nur Musik gehört, aber nie an die Praxis gedacht habe. Dann habe ich Film ­studiert und bin Regisseur geworden. Und jetzt kommt die Oper doch durch die Hintertür zu mir. Jetzt bin ich plötzlich von klassischer Musik umgeben und darf mit einem riesigen ­Kinderchor arbeiten. Alles, was die singen, hat CD-Qualität, das ist unfassbar! Das erfüllt mich von innen mit so einem Glück, das macht mich so hell und lässt mich strahlen. MJ Sie setzen Film als erzählerisches Stilmittel in Pinocchio ein. Das hatten Sie auch in Ihrer ersten Operninszenierung gemacht. Können Sie die Finger doch nicht ganz vom Film lassen? AR Ich hätte es auch ohne gemacht, aber es war ein Wunsch der Dramaturgie, und es ist natürlich sehr schön. Das letzte

Fotografie Fritz Beck


41


Mal habe ich zwei Einakter an einem Abend miteinander verschränkt (The Bear / La voix humaine, Münchner Opernfestspiele 2013, d. Red.). Das eine Stück hatte ich verfilmt und es lief auf der Kinoleinwand. Das andere wurde live im Publikum gespielt. Die Leute wussten am Anfang nicht, dass Sänger unter ihnen saßen. Sie dachten, sie wären nur zu einer Opernverfilmung ins Kino geladen. Es hätte fast eine Schlägerei gegeben, weil eine Sängerin als Störung empfunden wurde und eine Frau ihr unbedingt das Handy wegnehmen wollte. Es gab einen richtigen Kampf. Das ­letzte­ Mal habe ich also eine Oper mit ins Kino genommen, und bei Pinocchio nehme ich den Film mit in die Oper. Die ­Kinoleinwand ist Teil des Bühnenbilds. MJ Haben Sie im Vorfeld Inszenierungen der Opern angesehen, oder wollten Sie ganz frei sein? MHR Ich habe mir Inszenierungen angesehen, die mir gefallen haben, die aber in eine ganz andere Richtung gingen. Ich gehe nicht in die Falle, etwas nachzuinszenieren. Es gibt immer mehrere Wahrheiten. Autor und Regisseur haben oft verschiedene Filme im Kopf. Letztlich muss es dann eine Sicht bleiben, und das ist beim Film eher die der Regie. Bei der Oper sehe ich mich mehr unterstützend, als Beiwerk für das Werk. Beim Film ist der Film die Aussage, bei der Oper die Musik, da ordne ich mich unter. AR Pinocchio ist erst 2006 geschrieben worden, da gibt es nicht viele Inszenierungen. Ich habe nur Fotos gesehen. Das ist aber auch ganz schön, dadurch entstehen die eigenen Bilder zuerst. Ich würde nicht schlafen können, wenn ich wüsste, ich müsste den Fidelio inszenieren, den schon achthundert Leute gemacht haben und den ich selbst schon fünf Mal gesehen habe. Da hätte ich Albträume. Pinocchio ist super, da sprudelt die eigene Fantasie.

Marcus H. Rosenmüller, geboren in Tegernsee, ­studierte von 1995 bis 2002 an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Seit seinem Film Wer früher stirbt, ist länger tot aus dem Jahr 2006 gilt er als Erneuerer des modernen bayerischen ­Heimatfilms. Der Film gewann u. a. den Förderpreis Deutscher Film, den Deutschen Filmpreis in den Kategorien Regie und Drehbuch sowie den­ ­Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Beste ­Nachwuchsregie. Von 2006 bis 2014 drehte ­Rosenmüller insgesamt zehn Kinofilme, darunter Beste Zeit (2007), Räuber Kneißl (2008), Sommer der Gaukler (2011) und Beste Chance (2014). Seit 2013 inszeniert er das traditionelle Nockherberg-Singspiel in München.

Axel Ranisch, geboren in Berlin, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Medien- und Theaterpädagogen und leitete als solcher zahlreiche soziale Projekte. Von 2004 bis 2011 studierte er Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam/Babelsberg. Sein Diplom­film Dicke Mädchen (2011) lief bei den ­Hofer ­Filmtagen, erhielt zahlreiche Preise und tourt ­seither durch die internationale Festivalszene. Ebenfalls 2011 gründete Ranisch die Produktionsfirma Sehr gute Filme und drehte zahlreiche (Kurz-) Filme, zuletzt Ich fühl mich Disco (2013), Reuber (2013) und Alki Alki (2014). Zudem ist er regel­mäßig als Schauspieler tätig. Bei den Münchner Opernfestspielen 2013 inszenierte er The bear/ La voix humaine. 2014 kam in Hannover unter seiner Regie die Oper George von Elena Kats-Chernin, für die er auch das Libretto schrieb, zur Uraufführung.

Le Comte Ory Komische Oper in zwei Akten Von Gioachino Rossini Premiere am Sonntag, 12. April 2015, Cuvilliés-Theater Weitere Termine im Spielplan ab S. 95

Dinah Marte Golch ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit höchsten Weihen. Ihr Dreh­buch zum T ­ atort: Nie wieder frei sein erhielt den GrimmePreis, insgesamt wurden mehr als fünfzig ihrer Drehbücher verfilmt. Ihr psychologischer Kriminalroman Wo die Angst ist wurde 2014 ebenfalls ­ausgezeichnet. ­Kürzlich startete sie ihren Blog www.auftragsmoerderin.wordpress.com.

42

Pinocchio Familienoper in zwei Akten Von Pierangelo Valtinoni Premiere am Freitag, 5. Juni 2015, Reithalle Weitere Termine im Spielplan ab S. 95


BOGNER HAUS MÜNCHEN

Residenzstraße 15

bogner.com


Eva Stenram, Drape X, 2012

Wo ist Lulu?

44


In der flirrenden Bohème ­des München von 1890 erweckte Frank ­Wedekind den Erdgeist Lulu zum L ­ eben. Dem heutigen München stellt der Schriftsteller Hans Pleschinski ein schlechtes Zeugnis aus.

Solche Tagebucheintragungen haben Seltenheitswert: „Trüber, schwüler Tag. Nachmittag verschlafen.“ „Fast den ganzen Tag zuhause.“ Öfter heißt es für einen ganzen Tag summarisch: „Gebummelt.“ Das Spazieren, Bummeln, Promenieren war für Frank Wedekind, den genialen Freigeist, der seine Liebessehnsüchte im Erdgeist Lulu versammelte, ein Lebens­ elixir. Schon in seinen frühen Münchner Jahren 1889 und 1890 war der Fünfundzwanzigjährige emsig unterwegs. Frank Wedekind streifte durch das frisch entstehende Schwabing, durch den Englischen Garten. Er marschierte bis zur Menterschwaige und zur Großhesseloher Brücke hinaus. Auf der Maximilianstraße ließ er sich mit einem begierigen Herrn, der ihm folgte, fast auf ein Abenteuer ein. Große Anziehungskraft übte auf den jungen Dichter, Müßiggänger und Weltbeobachter die Sendlingerstraße aus, sozusagen die Rotlichtmeile in bester Lage: „Es ist entschieden die belebteste Straße Münchens. Die Priesterinnen machen hier schon am hellen Tage Proselyten.“ Hier war die Prinzregentenzeit offenherzig, und die Aktbilder der Pinakotheken fanden ihre lebendige Entsprechung. Käufliche Liebe in Rathausnähe, und rundum ­florierten die übrigen Gewerbe. Doch Frank Wedekind, der Rebell gegen alle Be­ engung, der geborene Voyeur, durchmaß das großstädtisch wachsende München nicht nur von einem Ende bis zum anderen. Die Lokalitäten, in denen er die Füße ausstreckte und Erfrischungen genoss – „Mein täglicher Bierkonsum ist jetzt auf 3 1/2 Maß gestiegen“ –, all diese gastronomischen Oasen bilden eine eigene Münchner Stadtkarte: Franziskaner, Hofbräukeller, Regensburger Wurstküche, Café Karlstor, ein „mohammedanisches Café“ in der ­Müllerstraße und natürlich die damalige Sensation: „Das Café Luitpold ist mir in der Tat jetzt ein zweites Heim geworden. Was mir besonders gefällt, ist die Beleuchtung, bei Tag ein mildes Oberlicht und nachts die Beleuchtung der helldekorierten Kuppeln durch unsichtbare Lichtquellen. Sodann kommt für mich Einsiedler die Menge Publikum sehr in Betracht, die unablässig die Säle durchströmt …“

Bilder Eva Stenram

Hier konnte Wedekind verschnaufen, träumen, Freunde treffen, das Gehabe der Gäste studieren, sich zwanglos in die Kellnerinnen verlieben: „Insgesamt erschienen sie mir mit ihren schwarzen Röcken und weißen Schürzen wie eine Schar Elstern.“ Noch lebhafteren Sinnesrausch vermittelten dem Anbeter weiblicher Schönheit längst verschwundene Kabarettspelunken, die Westendhalle in der Sonnenstraße, das Monachia, das Tingeltangel Münchner Kindl, wo ein „Hermaphrodit als Backfisch“ Furore machte. Bittere Einsamkeit und wollüstiges Eintauchen ins Leben wechselten sich in Wedekinds Münchner Tagen ab. Galant, aber recht kühn folgte er Damen durch den Englischen Garten oder umkreiste in der Alten Pina­ kothek eine junge Malerin, die er durch sein Begehren und seine Schilderung unsterblich machte: „Mit besonderer Andacht versenke ich mich in die ausdrucksvolle Linie i­hres Halbprofils, das vom Auge nichts als die Wimper sichtbar werden läßt. Aber wie klug und ernst springt diese Wimper vor!“ So kann nur jemand blicken und schreiben, der Frauen vergöttert. Und die angehimmelten Münchnerinnen reagierten nie kaltherzig. Das sei zu ihrem Ruhme festgehalten. Mit der Arbeit an seiner Tragödie Lulu begann Frank Wedekind 1892 in Paris. Doch es will scheinen, als habe er bereits in einem Münchner Varieté eine Gestalt beobachtet, die das Urbild der sorglosen Kindfrau und Liebesgöttin Lulu sein könnte. „In der Scholastica bedient ein junges Mädchen, in der ich die Nixe aus Goethes Fischer wiedererkenne. Gesichtszüge wie eitel Wellenschlag, einen üppigen, schön gegliederten Körper und ein helles Lachen, das einen gewissen Mangel an tieferer Empfindung, une certaine froideur de cœur, verrät … Besonders oben her ist sie so prachtvoll gewölbt wie die Hagia So­ ­ phia. Ihr Name ist Fanny, ein echter Nixenname … ­Fanny ist ein Kind und wird ihr Lebtag eins bleiben, das dabei doch überall, wo es gilt, mit überraschender Wärme das Weib repräsentiert. Fanny ist stets forsch, entweder munter oder launenhaft. Sie ist nicht heißblütig, aber sinnlich. Wer sie in den Armen hält, der fürchtet, unzüchtig zu

45


Eva Stenram, Drape IV, 2012

„Mit besonderer Andacht versenke ich mich in die ­ausdrucksvolle Linie ihres Halbprofils, das vom Auge nichts als die Wimper sichtbar werden läßt. Aber wie klug und ernst springt diese ­Wimper vor!“ – Frank Wedekind, aus: Die Tagebücher, Eintragung vom 5. September 1889

46


­ erden … Dabei schwebt man in fortwährender Besorgw nis, die schönen, üppigen Glieder wären Zauberspuk und möchten mit einem ins Nichts zerfließen.“ Von der angebeteten Kellnerin Fanny im rauen ­Tingeltangelbetrieb Münchens ist es nur ein dichterischer Schritt zum berühmten und einst – oder noch immer?­  –  skandalösen Lulu-Gedicht, dem Hymnus auf befreiende ­ Lust: Ich liebe nicht den Hundetrab Alltäglichen Verkehres; Ich liebe das wogende Auf und Ab Des tosenden Weltenmeeres. Ich liebe die Liebe, die ernste Kunst, Urewige Wissenschaft ist, Die Liebe, die heilige Himmelsgunst, Die irdische Riesenkraft ist. Mein ganzes Innere erfülle der Mann Mit Wucht und mit seelischer Größe. Aufjauchzend vor Stolz enthüll' ich ihm dann, Aufjauchzend vor Glück meine Blöße. Nach Lebensstationen in Paris, London und Berlin kehrte Frank Wedekind zur Jahrhundertwende wieder nach München zurück. Der aufrührerische Dichter hatte zwischenzeitlich auch eine Festungshaft abgesessen, nachdem er wegen eines Spottgedichts auf die pompöse Palästina-Reise Kaiser Wilhelms II. angeklagt und verurteilt worden war. Als Mitarbeiter des Simplicissimus, Ensemblemitglied des Kabaretts der Elf Scharfrichter, allerorten beraunter, bisweilen auch gespielter Verfasser fulminanter Theaterstücke, Der Erdgeist, Marquis von Keith, Frühlings Erwachen, bezog er in München eine recht herrschaftliche Wohnung in der Prinzregentenstraße 50. Bürgerliche Ruhe, der „Hundetrab“, kehrte trotz Frau und Kind in den Räumen auf der eleganten Rive droite Münchens nicht ein. Vor allem die Torggelstube am Platzl wurde für den Bohemien zur zweiten Heimat, wo er sich im Anblick von Weiblichkeit verlieren konnte und Dichterkollegen zum Austausch fand. „Er hatte die Fähigkeit“, hielt Erich Mühsam fest, „einen Menschen, ein Ereignis, ein Kunstwerk, eine politische oder kulturelle Streitfrage mit einer Prägnanz zu charakterisieren, die das gestellte Problem mit den schärfsten Konturen ans Licht hob und keiner Zweideutigkeit einen Ausweg ließ. Seine Kritik war oft boshaft, sarkastisch und jede Illusion zerstörend – sie war nie um der Gehässigkeit willen negativ.“ Erspähte Frank Wedekind heute auf Münchens Straßen, in seinen Wirtshäusern weiterhin Lulus, Nixen, leidenschaftliche Engelsgestalten? Und wo würde er sie nun, einhundert Jahre später, finden, beobachten, anhimmeln können?

Text Hans Pleschinski

Die Stadt hat sich kolossal verändert. Der Zweite Weltkrieg hat viel einstige Pracht und Schummerigkeit hinweggefegt. München ist auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt, als großer Brei sickern monotone Vororte ins Umland. Ein elegant herausgeputzter Dandy wie Wedekind mit Hut, Schal und Blume am Revers wäre heute im Geschiebe einer U- oder S-Bahn deplatziert. Der rhythmische Strom von Menschenmassen in die Geschäfts- und Verwaltungsbauten der Innenstadt und abends wieder ­hinaus nach Zorneding und Poing erzeugt nicht die Atmosphäre, um Zaubergestalten zu vergöttern. In heutigen Bahnen und Bussen starren Menschen auf ihre Smart­ phones. Auf den Gehwegen plärren Passanten in ihre Wandertelefone und nehmen kaum wahr, wen sie im Palavern oft anrempeln. Die sportive Hektik unserer Tage ist aller Träumerei, auch von einer Lulu, feind. Und in einem Swinger-Club, wo Sex funktionalisiert ist, kommt es wohl selten auf den betörenden Wimpernschlag an. Doch viel Gravierenderes würde es einem Frank ­Wedekind schwermachen, sich in Liebessehnsüchte wohlig zu verlieren. Wedekind hätte heute keine Muße mehr. Es gibt keine Bohème mehr. München ist zu teuer geworden, um junge Schlendriane sich kreativ entwickeln zu lassen. Ateliers für Maler, Fotografen sind schier unbezahlbar geworden. Ein junger Dichter fände keine mäzenatische Hausverwaltung, bei der er seine Mietrückstände anschreiben lassen könnte. Ohne Bohème stirbt die lebendige Kultur. Und Schwabing ist längst eine Brache, auf der keine künstlerische Saat mehr grünt. Keine Kellnerin der Münchner Lokale, ehedem Herrin ihrer Tische, serviert einem charmanten Hungerleider zur Suppe noch gratis eine Brezn. Anstatt zu bummeln, sich mit dem Leben vertraut zu machen, müsste Wedekind sich heute um seine Krankenkassenbeiträge und zeitig um seine Altersvorsorge kümmern. Das funktioniert nur mit einem Achtstundenjob, und seine Fantasie würde verkümmern. In überlauten Clubs, kürzlich noch Discotheken genannt, müsste er einem Mädchen ein Kompliment zubrüllen, unter Bass­ gehämmer gequält flirten. Ganze Sätze sind hier schwer vermittelbar. Und sind es Lulus, Zaubergeschöpfe, die sich neuerdings mit Pullen in der Hand, dem Wegebier, durch die Straßen schieben? Eher stoßen gestresste junge Männer auf verspannte junge Frauen, die, von manipuliertem Zeitgeist aufgepeitscht, gerne gleich alles auf einmal genießen wollen: Spaß, risikofreie Hingabe, Spaß, unverbindliche Treue, Spaß. Sex, die erotische Überwältigung wird ersehnt. Doch trotz pornografischer Übersättigung via Werbung und Fernsehkanäle scheint Sex seltener zu werden. Viele junge Japaner halten, nach statistischen Erhebungen, Sex bereits für zu aufwendig und für zu schmutzig. Sind diese asiatischen Youngsters und ihre Karrieristenkollegen in Silicon Valley eine Avantgarde für ein keimfreies Leben unter dem globalen Motto Gesund, abstinent und erfolgreich bis in den Tod?

47


Tingeltangel, Kabaretts mit Revue, voller Dunst, Laszivität und Verführung fände Frank nirgendwo mehr. Wie die Bohème ist auch die Kleinkunst mit ihren menschlich so direkten Darbietungen, dem Sang von Chanson­etten und dem Schweiß von Akrobaten wegsaniert. Man lebt nun im Allgemeinen gut versorgt, doch ohne Abenteuerlichkeit und Fantasie. Auch daran ist das Jauchzen von Faschingsbällen erstickt. Maskieren und Demaskieren waren über Jahrhunderte ein Fluidum des Flirts. Die Bewegungen mit dem Fächer beinhalteten eine eigene Sprache für Annäherung oder Abweisung. Für vorgefertigte Abwechslung im Alltag sorgen die elektronischen Medien oder ein Klettergarten. München ist viel größer geworden, doch auch grausam ärmer an Originalen und konformer. Menschen lassen sich nur noch zögerlichst auf andere ein. Ein Mitmensch könnte ­anstrengend sein. Und Frank Wedekind geriete heute in größte Schwierigkeiten, wenn er seiner Art von Frauenliebe frönte. Undenkbar, dass er heute Serviererinnen längere Zeit mit den Augen verschlingen dürfte, einer Dame durch den Englischen Garten schmeichelnd hinterdreinspazierte, um sie dann sogar ins Gespräch zu ziehen: „Ich beschließe, sie auf jeden Fall per gnädige Frau anzureden.“ Wedekind träfe in Parks nun eher auf Joggerinnen mit activity ­sensor ums Handgelenk, die ihre Soundbeschallung regeln und den Schwärmer bestenfalls strafend registrieren würden. Das Selbstverständnis von Frauen hat sich grundlegend gewandelt. Der Adorant von früher ist zum potenziellen Straftäter geworden. Zu Recht verbitten sich Frauen, zum Objekt von Lust reduziert zu werden. Doch sie zahlen, wie die Männer, einen Preis dafür, Charme, innewohnende Sinnlichkeit, den abenteuerlichen Moment der unantastbaren Selbstständigkeit unterzuordnen. Darüber sind viele Spiele der Annäherung, des Kokettierens, der sinn­ lichen Erfüllung verloren gegangen. Parallel dazu hat sich die Kleidung beider Geschlechter zu einer Uniformität angeglichen. Das Korrekte und Praktische siegt über die Nuancen der Lust. Frank Wedekind könnte heute, weil er keine Muße hätte, nicht mehr stundenlang durch München wandern. Es ist eine funktionierende helle klimatisierte Welt, die wir uns zubereitet haben. Ihre unbarmherzigen Mechanismen würden eine Lulu und ihren Bewunderer zerquetschen. Ein nur noch tüchtiges Abendland gerät auf den Höllenpfad amerikanischer Prüderie. In wenigen Bars könnte Frank Wedekind gewiss noch klassisch flirten. Doch auf den unwiderstehlichen Sog des Verruchten müsste er auch dort verzichten. Wenige verbliebene Cafés könnte er sich ersparen. Dort nagt eine überalternde Gesellschaft Gebäck. Bei Starbucks und San Francisco Coffee Company wird einem Genießer wiederum schon von der Pappbecherplörre übel. In den Theaterfoyers späht keine mondäne Halbwelt

48

mehr, – wohin ist sie zerstäubt? – nach erotischem Kitzel. Das Terrain gehört dem kulturgeneigten Bürgertum. Kaum Schleusen ins Elysium irgendwo. Per Mausklick oder Tastatur kann sich ein Spalt dorthin auftun. Das Internet-Dating-Radar verspricht schnelle Kontakte mit anderen Menschen, die Nähe und Liebe suchen. Hier tut sich ein ganzer Kosmos von Mitteilungen auf. Das Begehren, nicht allein sein zu wollen, ist eindeutig. Und noch fand fast jeder Topf seinen Deckel. Die Rituale sind kompliziert und noch nicht entstanden. Die Selbstdarstellungsfotos sind wichtig. Ist das Porträt reizvoller als die Gesichtswirklichkeit, so beschwört man Enttäuschung beim Zusammentreffen herauf; wirkt man auf seinem pic wie Aschenbrödel oder der Neffe von Quasi­ modo, so wird man schätzungsweise weggeklickt. Beim ­zunehmenden Internet-Dating ist eine vertrackte Balance zwischen ungezwungener Selbstanpreisung und gehöriger Scheu vor dem anderen einzuhalten. Können wir uns ­sehen? – Ja, machen wir das doch. – Wann? – In einer Stunde links vom Siegestor. Mitunter erscheint dann doch niemand am Sieges­ tor. Vielleicht sind jedoch sogar schon Ehen, glückliche, dem elektronischen Balz- und Sehnsuchtsraum entsprungen. Bedeutsam für alles im Leben, auch für das Trachten nach Zweisamkeit, das unverwüstlich ist, bleibt die Maxime des Philosophen Johann Georg Christoph Lichtenberg: „Wer etwas Neues sehen will, muß etwas Neues machen.“ Also muss der Mensch auch kühn auf dem Pfad der Eroberung von Herzen bleiben. Und er tut es, da Einsamkeit das schwerste Los zu sein scheint. Das brummende aktive München müsste täglich verinnerlichen, dass Liebeszauber sich nicht erarbeiten lässt. Die Magie, der Eros sind ein Geschenk des Himmels, das Begeisterung, Offenheit und Andacht braucht. Und vor allem umfassende Menschensympathie. Dann kann weiterhin jeder Wimpernschlag, gleich wo, ob bei Burger King, in der Oper oder auf der Straße ein Lächeln, ein erstes Wort und schließlich Glück und Leid der Liebe, die tiefsten Gefühle, zur Folge haben. Wo Romeo und ­Julia, Daphnis und Chloé, wo Wedekind und Lulu nicht sind, dort herrschen leerer Radau oder Friedhofsruhe.

Hans Pleschinski ist Schriftsteller und lebt in München. Zuletzt erschien sein Roman Königsallee.

Mehr über die Bildkünstlerin auf S. 8



Zurück zu den Lebenden Gegenüber der Bayerischen Staatsoper verkauft Peter Schratz das Magazin Biss – Bürger in s­ ozialen Schwierig­keiten. Vor vier Jahren veränderte ein Zahnarzt sein Leben. Er und andere Menschen ­erzählten dem Journalisten­ Andreas­Unger von der ­B edeutung von Zähnen. Wenn Peter Schratz im Franziskaner schräg gegenüber dem Max-­JosephPlatz sitzt und den Niederbayerischen Krustenbraten bestellt, dann ahnen weder Kellnerin noch Gäste, was das für ihn bedeutet. Sie achten nicht weiter darauf, wie herzhaft er in die Kruste beißt, wie schnell die Knödel weg sind, wie breit und zufrieden er dann grinst. Und vielleicht ist es auch für ihn selbst ganz normal geworden. Doch Schratz, ein gepflegter Herr, dem man seine 61 Jahre nicht unbedingt

60

ansieht, erinnert sich noch an die Zeit, als das anders war. „Ich bin ein paarmal beim Zahnarzt im Warteraum gesessen, aber als ich den Bohrer gehört habe, da war ich sofort wieder gesund.“ Er war 25, als zum ersten Mal ein Zahnarzt seinen Mund von innen sah; die Mahnung, die Zähne häufiger zu putzen, kam ziemlich spät. Als sie l­ ocker wurden und ausfielen, musste Peter Schratz lernen, wie man Schnitzel lutscht.

Mit den Zähnen beginnt unser Verdauungssystem: beim Greifen, Zerkleinern und Einspeicheln der Beute startet die Aufbereitung von Nahrung in Nährstoffe. Aber Zähne sind mehr als Werkzeuge. Sie sind so etwas wie der Haupteingang in das Innere des Menschen. Die Augen, heißt es, seien das Tor zu Seele – aber in Wirklichkeit verraten die Zähne viel mehr: nicht nur über Ernährung und Zahnarztphobien. Sondern über Vorlieben, Gewohnheiten, über Disziplin, Eitel-


Fotografie Schmott

61


keit, Scham. Marketingleute würden sagen: Das Gebiss zählt zum Markenkern eines Menschen. Gabriele Lindemaier hat den größten Teil ihres Berufslebens damit zugebracht, in den Zähnen von Menschen zu lesen. Die zierliche Frau im Arztkittel wirft über ihre braune Brille hinweg einen warmen, neugierig-skeptischen Blick auf den Besucher, der sich für ihr Gespür für Gebisse interessiert. Sie führt ihn auf grauem Linoleum hinunter in den Keller, vorbei an Sezierraum und Leichenkühlraum, in ihr Büro mit Blick auf den Kellerschacht. ­Lindemaier ist in dem Alter, in dem andere in ihrer Jolle den Starnberger See erkunden, aber sie liebt es hier drin, wo auf dem Fensterbrett ein Menschenschädel steht, daneben der dazugehörige Unterkiefer. „Bloß zur Zierde“, wie sie sagt. Lindemaier ist Zahnärztin in der Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität. Sie verbringt einen Großteil der Zeit damit, im Auftrag der ermittelnden Behörden unbekannten Toten ihre Identität zurückzugeben. Dabei vergleicht sie etwa das Gebiss mit den Abdrücken und Unterlagen, die der Zahnarzt bei ­einer Behandlung eines Vermissten erstellt hat: Handelt es sich um dieselbe Person? Die Abdrücke sind passgenau wie ein Fingerabdruck. Lindemaier kann auch das Alter eines Menschen eingrenzen; das ist wichtig, wenn etwa bei Flüchtlingen unklar ist, ob sie volljährig sind. Bei Kindern achtet sie auf die Milchzähne. Bei älteren Menschen sei die Altersbestimmung schwieriger – dafür verraten deren Gebisse mehr über Lebensgewohnheiten: Gelbe oder braune Verfärbungen deuten auf Raucher, Tee- oder Kaffeetrinker hin (oder Lakritzesser). Wie war die Mundhygiene, wie gut hat jemand auf sich geachtet? Aus Zahnfüllungen lassen sich vorsichtige Rückschlüsse auf den sozialen Status ziehen: Amalgam, Keramik oder Gold? Wie filigran sind die Inlays geformt und eingepasst? Auch aus welchem Teil der Welt jemand stammt, steht

62

manchmal in den Zähnen: Manche älteren Südeuropäer schätzen es, wenn ein Goldzahn hervorblitzt, während sie sprechen oder essen – ein Hinweis nicht nur auf ihre ­Herkunft, sondern auch auf ihr Statusbewusstsein. „Sind Zähne stark abgerieben, kann das auf ein hohes Lebensalter hindeuten. Es könnte aber auch belegen, dass jemand in der Nähe einer Küste gelebt hat. Wahrscheinlich liegt das an feinen Sandbeimengungen in der Nahrung.“ Das half Lindemaier und i­hren Kollegen, Einheimische von Touristen zu unterscheiden, die beim Tsunami auf Ko Samui und Sri Lanka ums Leben gekommen waren. An charakteristischen Abnutzungen der Zähne erkennt man Tischler und Dachdecker, die gerne Nägel zwischen den Lippen hielten; Näherinnen, die den Faden mit den Zähnen fixierten und abbissen; und Pfeifenraucher, deren Passion mit den ­Jahren eine charakteristische Einkerbung der Zähne hinterlassen hat. Zurück zu den Lebenden. Peter Schratz verkauft das Magazin Biss – Bürger in sozialen Schwierigkeiten an seinem Stammplatz gegenüber der Oper. Er ist 1953 geboren, während der Fresswelle der Wirtschaftswunderjahre, als die Deutschen ziemlich viel ziemlich fettiges, süßes und endlich wieder billiges Zeug aßen. „Ich hab als Kind zur Hälfte Süßigkeiten gegessen“, sagt Schratz. Dazu habe er Limo getrunken. Als er Jahre später wegen einer Tuberkulose zwei Jahre auf Krücken ging, seinen Job als Elektro-Verkäufer verlor und ein Jahr lang auf der Straße lebte, war es ganz um seine Zähne geschehen – vor zehn Jahren sind ihm die letzten ausgefallen. „Die ewige Mundfäule, der Mund­ geruch. Und beim Blick in den Spiegel denkst du, du bist jetzt 100. Was ja okay wäre, mit 100. Aber ich war erst 40.“ Wenn zum Reden nur noch Gaumen und Zunge zur Verfügung stehen, hört man das: um die Zahnlaute N, T und D zu bilden, berührt die Zunge die Innenseite der Schneidezähne; auch das S lässt sich ohne Zähne

schlechter sprechen. „Dich versteht manchmal keiner. Und dann ist die Aussprache auch noch feucht. Man wird ruhiger und ruhiger, man lacht seltener. Aber die Leute merken trotzdem, dass mit deinem Mund was nicht stimmt. Wegen den hohlen Wangen. Man fühlt sich nur mit Zähnen als voller Mensch.“ Dessenthalben verspottet habe ihn niemand. „Im Gegenteil: Die Leute hatten Mitleid.“ Schlechte Zähne sind ein Stigma. Von dessen Beseitigung lebt eine ganze Industrie. In asiatischen Ländern mit aufstrebender Mittelschicht und in den USA ist es Mode, nicht nur stolz auf schöne Zähne zu sein, sondern auch darauf, dieser Schönheit nachgeholfen zu haben: Manche Erwachsene tragen Spangen, es gibt sie in bunt und in der Form von Hello Kitty und Mickey Mouse, manchmal als Modegag ohne medizinische Funktion. Aber nicht mit dem „ästhetisch-ganzheitlichen Zahnarzt“ Dr. med. dent. Dr. phil. Johannes Edelmann!­Er hat den Begriff der „Psychodontie“ erfunden, ihn als Markennamen eintragen lassen und ein Buch mit diesem Titel verfasst, in dem es heißt: „Die Psychodontie versteht den Menschen ganz und dental! Deshalb ist nun mit ihr die umfassendste Form der Zahnheilkunde erreicht und das Kriterium echter Ganzheitlichkeit erfüllt. Die Psychodontie erkennt den dental-psycho-sozialen Kontext.“ Aufgrund seines dental-holistischen Weltund Menschenbildes traut sich Edelmann ohne Weiteres, Zusammenhänge zwischen Zahn, Seele und Geist herzustellen. Jeder Zahn stehe für eine bestimmte Eigenschaft: der Eckzahn sei der „Macht-Zahn“, die ersten großen Backenzähne die „Existenz-Zähne“, die Weisheitszähne die „Zähne des höheren Selbst“. Selbst einen „Tat-Zahn“ (sic!) hat er ausgemacht. Zwischen den Ausführungen eines Doktor Edelmann und den Zahn­ interpretationen von Esoterikern bestehen, vorsichtig formuliert, keine


Die Rechtsmedizinerin Gabriele Lindemaier ermittelt die Identität unbekannter Toter ­anhand ihres Gebisses.

Text Andreas Unger

63


unüberbrückbaren Gegensätze. Doch selbst für den Fall, dass Edelmanns Erkenntnissen nur ein begrenztes Maß an wissenschaftlicher Signifikanz zuzubilligen sein sollte, haben sie doch wenigstens historische Kontinuität. Ausfallende Zähne gelten in der Kunst und im Traum seit Urzeiten als Symbol für Verfall und Tod. Aristandros aus ­Telmessos, Lieblingstraumdeuter ­Alexanders des Großen, hat im vierten Jahrhundert vor Christus Zusammenhänge zwischen Gebiss und ­Beißendem postuliert. Demzufolge stehen Zähne des Oberkiefers für diejenigen, die im Haus des Träumers das Sagen haben, während die unteren eher das Gesinde repräsentieren. Die Zähne der rechten Reihe stehen für Männer, die der linken für Frauen – es sei denn, ein Bordell­besitzer beschäftige nur Frauen oder ein Landwirt nur Männer, dann stehen die Zähne der rechten Seite für die Älteren, die der linken für die Jüngeren. So ist es nachzulesen im Traumdeutungslexikon „xisea.de“. Das Lexikon sei Freunden der gefühlten Evidenz empfohlen. Man lernt etwa, dass gesunde Zähne Erfolg verheißen, schlechte hingegen vor Misserfolgen warnen, während falsche Zähne ein Hinweis auf Täuschung sein können. Ausdrücklich gewarnt sei an dieser Stelle davor, gemäß der „arabischen Traum­deutung“ von kariösen Eckzähnen zu träumen: „Träumt einer, ein solcher Zahn sei zerbrochen, so wird der­jenige, der Pfeiler des Hauses und ­Geschlechts ist, unweigerlich in Lebensgefahr kommen und keine Hoffnung auf Rettung haben.“ Da hilft der beste Zahnarzt nicht. Ansonsten können im Traum ausfallende Zähne – Zutreffendes bitte ankreuzen – hindeuten auf: den Verlust der Jungfernschaft oder Potenzhemmungen, Schuldgefühle aus Liebe, liebesbedingte Kannibalismusbedürfnisse oder alles, was an dieser Stelle aus Platzgründen nicht ausdrücklich genannt werden kann. Die Zahntraumdeutung hat ein ziemlich unbeschwertes Verhältnis zu

64

naturwissenschaftlicher Signifikanz. Wer träumt, dass ihm ein Zahn ausfällt, mag das, wenn er will, auf Verlustängste beziehen oder gar einen Todesboten darin erkennen – er kann es aber auch bleiben lassen und sich darüber freuen, mit intakten Zähnen aufgewacht zu sein. Gewiss gibt es Zusammenhänge zwischen Zähnen und Persönlichkeit – aber erstens in Form von Wechselwirkungen, und zweitens spielen dabei auch Erbgut, Lebensweise und Lebensgeschichte eines Menschen eine Rolle. Vor eindeutigen Zuordnungen sollte man sich also hüten, und erst recht vor Voraussagen. Unbestreitbar ist und bleibt nur die Erkenntnis: Zähne sind das Tor zum Mundesinneren. Interessant sind diese Deutungen aber hinsichtlich ihres metaphorischen Gehalts, der wiederum mit dem Reichtum an Bedeutungen zu tun hat, die Zähnen zugeschrieben werden. So beziehen sich zahlreiche Redewendungen auf das Gebiss. Fast alle sind mit starken Gefühlen verbunden: Wer etwas nicht „zähneknirschend hinnehmen“ möchte, sondern „den richtigen Biss hat“, kann sich „durchbeißen“, es sei denn, er „beißt sich die Zähne aus“, so dass er anschließend „auf dem Zahnfleisch geht“ oder gar „ins Gras beißt“. Zähne bilden sich bereits in der siebten Schwangerschaftswoche, und zwar in Form zweier Plättchen für die Milch- und für die zweiten Zähne – sie sind eine elementare Angelegenheit. Und eine vieldeutige: Zwischen Lächeln und Zähnefletschen liegen nur ein paar Muskelzuckungen; Lächeln gilt als die charmanteste Art, dem Gegner die Zähne zu zeigen. Der Zahn, genauer gesagt der Zahnschmelz, ist das härteste Material des menschlichen Körpers und steht für Aggression: mit den Zähnen reißen und töten Fleischfresser Beute, zerkleinern sie und bereiten sie zur Einverleibung vor. Gleichzeitig sind schöne Zähne ein Zeichen von Anmut. Im Hohelied etwa heißt es: „Deine Zähne sind weiß wie eine Herde gescho-

rener Schafe, / die gerade aus der Schwemme steigt. / Sie alle werfen Zwillinge, / keins hat einen Fehlwurf gehabt.“ Aus Zähnen wird Aggression und Erotik, Vitalität und Krankheit, Jugend und Alter herausgelesen. Und in sie hineingeheimnist. Was nichts daran ändert, dass der erste Eindruck, den Menschen sich voneinander verschaffen, maßgeblich auf den Zähnen beruht. Früher ein schweres Los für Peter Schratz. Zwar hatte er mit 56 eine Prothese bekommen, die besser war als ein zahnloser Mund, aber nicht viel. „Die ist beim Husten rausgeflogen.“ Vor gut vier Jahren kam der Zahnarzt und Implantologe Wolfgang Bolz an Peter Schratz’ Verkaufsplatz gegenüber der Oper vorbei. Ein Zahnarzt mit Sinn für Ironie: Dass ein Mensch ohne Zähne Biss verkauft, das fand er nicht richtig. Er bat Schratz, einmal in seiner Praxis vorbeizukommen, da könne man bestimmt etwas machen. Vier Monate und eine siebenstündige Operation später hatte Peter Schratz einen kompletten Satz strahlend weißer, stabiler Zähne zum Essen, Sprechen, Lachen. Wert: über 30.000 Euro. Drei Zähne musste Bolz im Jochbein verankern, weil der Oberkiefer schon zu stark geschädigt war. „Mit denen kann ich noch mal so richtig ins Gras beißen“, sagt Schratz und grinst dabei ein sehr weißes, breites, ansteckendes Grinsen. „Nur für die Arbeit bei Biss sind die schönen Zähne manchmal blöd, weil mich die Leute jünger schätzen und sich denken: So wie der grinst, kann der auch arbeiten.“ Tut er ja: Steht bei Wind und Wetter gegenüber der Oper und verkauft Biss, samt einem charmanten Lächeln.

Andreas Unger ist Sozialjournalist und war Chefredakteur des Münchner Straßenmagazins Biss – Bürger in ­sozialen Schwierigkeiten.


SEIT 1954

MAßGEFERTIGTE KLEIDUNG AUS DEUTSCHLAND

München - Maximiliansplatz 17 Mo.-Fr. 10.00 - 18.30 Uhr Sa. 10.00 - 16.00 Uhr Telefon (0 89) 230 76 533 oder nach Terminvereinbarung

muellermassmanufaktur.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.