MAX JOSEPH VOX POPULI
Calixto Bieito über Boris Godunow Zum Dinner mit Richard Jones – Hänsel und Gretel Noch Fragen? Markus Lüpertz und Jamie Oliver
BAYERISCHE STAATSOPER
D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF
WIR SIND DAS VOLK
Modest Mussorgsky macht in seiner Oper Boris Godunow einen ungewöhnlichen, einen manipulierbaren und einen potenziell sehr mächtigen Akteur zu einem seiner Protagonisten: das Volk. Wir erleben derzeit, wie das Volk ganz real zu einem sichtbaren Akteur geworden ist, auf dem Tahrir Platz in Ägypten, auf den Straßen der arabischen Länder, auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv, in den Occupy-Zeltstädten westlicher Großstädte. Seine Umrisse waren lange nicht mehr zu erkennen, der Begriff schien zu ruhen seit dem Zerfall der Sowjetunion 1989/90 und seitdem die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung ihm zu jener selbstbewussten Neuformulierung verholfen hatte: Wir sind das Volk. Hat das wieder erwachte Volk auch eine Stimme, eine vox populi? Janne Teller schreibt in ihrem Essay, vox populi sei lauter und vielgestaltiger denn je und doch übertöne sie nicht die mächtigste Stimme der Zeit: die des Geldes. Auch Regisseur Calixto Bieito, der Boris Godunow für die Bayerische Staatsoper neu inszeniert, hat wenig Hoffnung für die Durchschlagskraft der Stimme des Volkes, die Erfahrungen in seiner spanischen Heimat vor Augen. Begleitend zeigen wir einen Fotoessay von Till Janz, der mit modernsten Mitteln der Fotografie klassische und weniger klassische Herrscherporträts interpretiert. Mag vox populi auch nicht das Wort führen, so ist sie doch hörbar in den Geschichten und Märchen des Volkes. Die Bayerische Staatsoper zeigt Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel in der Inszenierung von Richard Jones. „Hunger ist der beste Koch“, heißt es bei Humperdinck, und so siedelt Jones die berühmte Hexenküche zwischen Mangel und Fantasie der Erfüllung aller kulinarischen Wünsche an. Für MAX JOSEPH traf die Journalistin Tina Mendelsohn den publikumsscheuen Regisseur – natürlich – zum Essen. Der Londoner Fotograf Jonnie Craig spielte für uns den Paparazzo und nahm die beiden auf, zwischen Würstchen und schweren Gedanken. Und natürlich ertönt vox populi auch in Form von Liedern. Hänsel und GretelDirigent Tomáš Hanus erzählt über den Reichtum der tschechischen Volkslieder, ihre wechselnde Bedeutung und ihre politische Kraft. In Russland gab es seit jeher eine starke Tradition, politischen Protest musikalisch auszudrücken, was sich mit den Aktionen der Punkband Pussy Riot fortzusetzen scheint. Auch die Geschichte von Sarah Khan ist eine Farbe davon, wie Lieder wirken können, wenn sie erzählt, wie ihr pakistanischer Vater mithilfe von Schlagern ein wunderbar blumiges Deutsch lernte. Wir können in Geschichten, Gesängen, ja in kulturellen Überlieferungen sehr wohl Volkes Stimme hören und erkennen, wenn der Zeitpunkt richtig ist. Wie lange wird dann eine politische vox populi wirkungslos bleiben, hat sie sich einmal als Akteurin erkannt?
Nikolaus Bachler, Staatsintendant
Editorial
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VOX POPULI: Hier spricht das Geld
Essay Janne Teller Man könnte annehmen, die Wirkung der vox populi sei mächtiger als je zuvor. Doch ihr Einfluss auf das System der freien Marktwirtschaft bleibt verschwindend gering. Denn die Macht der Stunde hat das Geld. 12
Ich spreche, du sprichst, er spricht, sie spricht, sie sprechen. Jeder spricht. Aber worüber sprechen wir? Mit wem sprechen wir? Hört irgendjemand zu? Und wenn wir glauben, wir richten das Wort an diejenigen, die an der Macht sind, unsere Politiker, unsere Regierungen, erreichen wir damit die Kräfte, die tatsächlich wirken? Oder ist nicht die wahre Macht der Stunde etwas ganz anderes als die Welt altmodischer Politiker? Und spricht diese reelle Macht mittlerweile nicht mit viel zwingenderer Stimme, mit ungleich mehr Wirkung, als noch die lauteste, am besten abgestimmte öffentliche Äußerung, die wir, die Bürger dieser Welt, jemals zustande bringen könnten? Ich spreche hier über das, was wirklich spricht: das Geld.
DIE STIMME DES VOlKES Vox populi begegnet uns in zwei verschiedenen Formen: Es gibt die gemeinschaftliche Stimme der Vielen, wie wir sie derzeit etwa in zahlreichen Internet-Petitionen unterschiedlichster Zielrichtungen erleben – für die Freilassung von liu Xiaobo, für die Anerkennung Palästinas, gegen Gasbohrungen – oder, stärker sichtbar, in den großen Demonstrationen gegen weitere Sparmaßnahmen in Spanien und Griechenland. Vox populi kann aber auch die einzelne Stimme aus einer Menge sein, wie die des Kindes, das in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider als Einziges die Wahrheit ausspricht – heutzutage der Whistleblower sozusagen.
Um wirken zu können, ist die Stimme sowohl der Vielen als auch des Einzelnen auf ihre Zuhörerschaft angewiesen. Was spielt es für eine Rolle, was wir sagen, wenn es niemand hört, oder wenn alle, die das Gesagte hören, nichts dazu unternehmen können oder wollen. Dann entsteht nur Schall, aber keine Welle. Folgenlos für jeden, mit Ausnahme des Moments, der die Stille verliert.
Mit all den Nachrichten, die heute ständig die Runde machen, wird deutlich, dass wir uns immer öfter an beiden Formen von vox populi beteiligen. Durch das Internet und die sozialen Netzwerke verschmelzen beide immer mehr zu einem großen Chor, wenn sich die akribischen Recherchen von Einzelnen wie ein lauffeuer verbreiten – so geschehen etwa im März 2012 mit dem Video über den ugandischen Guerillaführer Joseph Kony und dessen Missbrauch von Kindern als Soldaten. Man würde also annehmen, dass die Wirkung der vox populi heute mächtiger ist als jemals zuvor. Und die Stimme der Vielen erringt wohl ihre Siege, in ganz unterschiedlichen Fällen: Als beispielsweise eine halbe Million Avaaz-Aktivisten im Internet im November 2011 erfolgreich den bolivianischen Präsidenten Morales unter Druck setzten, so dass er den Bau einer Autobahnstrecke stoppen musste, die den Amazonas durchschnitten hätte; oder als im Januar 2011 eine Kampagne gegen die Hilton Hotels erreichte, dass die Hotelkette, die in ihren Häusern beide Augen beim Menschenhandel mit Frauen und Kindern zu-
Zeichnungen Dan Perjovschi
drückte, für ihre Mitarbeiter ein rigoroses Training zur Erkennung und Verhinderung von sexueller Versklavung einführte. Und doch scheint es trotz all dieser Erfolge, dass vox populi dort immer weniger Wirkung zeigt, wo sie am relevantesten wäre: bei der Verbesserung der Gesamtstruktur und der treibenden Kräfte unserer Gesellschaften, um sie menschlicher und lebenswerter für uns alle zu machen. DIE MACHT DES HÖRENS Ich spreche hier über die westliche Welt, über kapitalistisch strukturierte Demokratien. Ich rede nicht von autokratisch regierten ländern, in denen die vox populi, wenn sie sich zu erheben wagt, eine durchaus erschütternde Wirkung hat, wie es zurzeit der revolutionäre Arabische Frühling zeigt. Ein Volk, das sich gegen seine Despoten auflehnt – indem die Stimme des Einzelnen die Wahrheit ausspricht und die Stimme der Vielen dann die notwendigen Veränderungen fordert –, hat genau dann Erfolg, wenn die Stimmen zahlreich genug sind, um eine Strömung zu erzeugen, der niemand, auch kein tyrannischer Herrscher, Widerstand leisten kann.
Wir in der westlichen Welt können oberflächlich gesehen alles sagen und tun, was wir wollen. Und die meisten von uns nutzen dieses demokratische Grundrecht durchaus: Wir alle spre-
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chen. Wir alle schreiben. Fast immer. Wenn nicht in der Presse, so doch in unseren sozialen Netzwerken, auf Facebook, Twitter usw. Die Technologie hat uns alle zu öffentlichen Rednern gemacht: Wer keinen Verlag für sein Buch findet, publiziert es selbst. Werden die eigenen Artikel nicht ge-
druckt, dann stellt man sie in das eigene Blog. Und wenn die Beiträge immer noch niemand liest, kann man sich mit jemandem verlinken, der mehr Aufmerksamkeit bekommt. Im Namen der Meinungsfreiheit wird sogar das Recht verteidigt, auch noch die hasserfülltesten Tiraden verbreiten zu dürfen. Man darf also beinahe alles sagen, was man will. Was aber niemand garantieren kann, ist, gehört zu werden. Die Demokratie hat keine Regeln für das Zuhören. Eher im Gegenteil. Jeder Polterer, der in einer Autokratie Vorschriften erlässt, muss per Anordnung gehört werden, genau wie jeder Dissident Gehör bekommen wird, damit er zum Schweigen gebracht werden kann. Aber wer hört zu in den modernen D emokratien des freien Massengesprächs?
Ja, natürlich zählen auch die ‚likes‘ und ‚zwei Daumen hoch‘ oder die mehr oder weniger seriösen Kommentare auf alles, was gesagt (= gepostet) wird. Von zuhause aus können wir bequem
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zustimmen oder dagegen sein, und nicht wenige hegen ziemlich barsche Ansichten, vor allem wenn man sie anonym äußern kann. Zusätzlich wählen und demonstrieren wir (zumindest haben wir Gelegenheit dazu) und veranstalten die verschiedensten gesellschaftlichen Aktionen. Politiker wollen ohne Frage Stimmungen und O-Töne mithilfe ihrer Fokusgruppen und endlosen Meinungsumfragen einfangen. Aber trotz der erstaunlichen Menge von Klagen und Kritik an der heutigen Gesellschaft und trotz des scheinbar guten, freilich aber populistischen und eigennützigen Willens der Politiker bleibt die Wirkung auf das System der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs, das ja diese Missstände erst verursacht, verschwindend gering.
Man könnte versucht sein, dies mit einer Inflation des Worts zu erklären: Weil mehr Worte und Meinungen als jemals zuvor öffentlich geäußert werden, sinkt, wie bei einer Inflation üblich, der Wert der betreffenden individuellen Einheit rapide. Ich bin aber überzeugt, dass die Ursache viel tiefer geht: dass nämlich die wahre Macht der Stunde nicht unsere demokratisch gewählten Regierungen sind, sondern das Geld an sich. Die Stimme des Geldes Vor zwei Jahrzehnten, 1992, begleitete ich meinen damaligen Chef, den Geschäftsführer der UNDP, William H. Draper III, auf einer Reise durch Nordeuropa, um Fördermittel für Projekte in Osteuropa und den Staaten der früheren Sowjetunion zu sammeln. Ich war die besondere Referentin, was so viel hieß wie Redenschreiberin, politische Beraterin und Verantwortliche für alles von Flugtickets bis hin zu den politischen Inhalten. Als Dänin wuss-
te ich, dass zu dieser Zeit das Letzte, was sich der amerikanische Chef einer gemeinnützigen Organisation in Skandinavien leisten konnte, eine Glorifizierung des Kapitalismus oder der Macht des Geldes war. Also hatte ich es ver-
mieden, Mr. Drapers liebste Redewendung, Money talks (Geld regiert die Welt), in den von mir geschriebenen Reden zu verwenden. Außerdem dachte ich, ich hätte diesem hartgesottenen Republikaner und Freund von Präsident George Bush Sen. verständlich gemacht, warum Geld in Skandinavien nicht so sprach, so wie er sich das dachte; ein Skandinavien – wahrscheinlich näher an einem realen Sozialismus, als irgendein Teil dieser Welt es jemals war –, das an die Gleichheit der Menschen und menschlichen Werte jenseits irgendeiner Währungseinheit glaubte. Dennoch, inmitten der sorgfältig formulierten Rede über die Nöte der früheren Ostblockstaaten und deren Bedarf an Hilfe beim Übergang der zerrütteten Planwirtschaften in stabile, nachhaltige, demokratische Marktwirtschaften wich Mr. Draper plötzlich vom Manuskript ab, vergaß, dass er im Namen einer Organisation sprach, die die ganze Welt vertritt und nicht nur die Vereinigten Staaten, und sagte zu meiner Bestürzung: „Es hat uns Milliarden gekostet, den Kommunismus zu stürzen, und dieses Geld wurde umsonst ausgegeben, wenn wir jetzt zögern, die paar Millionen zu investieren, die wir brauchen, um den Sieg der Demokratie, der Freiheit und des kapitalistischen Systems sicherzustellen.“ Dies konnte nur als ein Plädoyer für einen deregulierten freien Markt aufgefasst werden, vor allem als Mr. Draper seine Tirade mit dem Ausruf beendete „Money talks!“.
Die norwegischen Politiker und Technokraten waren sprachlos wie ich, auch wenn ich mir das nicht anmerken lassen durfte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob und welche diplomatischen Anstrengungen aufgebracht wurden, um den Besuch noch zu einem guten Abschluss zu bringen. Aber für lange Zeit versinnbildlichten diese Bemerkungen für mich den tiefen Graben zwischen der Weltsicht der amerikanischen Rechten und Europa. Dennoch musste ich in den letzten Jahren feststellen, wie recht Mr. Draper doch hatte. Nicht mit seinen Werten und Idealen, aber mit der grundlegenden Tatsache: Geld spricht wirklich. Ich könnte sogar noch weiter gehen und sagen, dass in der heutigen Welt der Satz gilt: Geld schreit.
DAS FANTASTISCHE CASINO Die Stimme des Geldes ist laut, aber sie ist nicht grob oder unattraktiv, wie man vielleicht glauben könnte. Ist sie vor dir, ist sie von so bestechender Schönheit wie die lockstimmen der Sirenen, die für Odysseus gesungen haben, so durchdringend und unwiderstehlich und zu immer noch mehr Wünschen verführend: die üppigen, seidenen, goldenen und samtweichen Träume von luxus. Doch auf seiner Kehrseite liegt, wenn sich all die zauberhafte Versuchung auflöst, in dem düsteren Widerhall nur ein angsteinflößend nebliger Hohlraum, der von der sehr realen Bedrohung handelt, ohne Geld überleben zu müssen.
Essay Janne Teller
Der marktgetriebene Kapitalismus ist eine sehr effiziente Weise, Ressourcen zu verteilen und die basalen ökonomischen Transaktionen abzuwickeln. Aber dieser Kapitalismus hat kein Endziel, keinen Wert an sich, es sei denn, unersättliche Komparative zu erreichen: größer, weiter, mehr, schneller, höher, länger, reicher … Wenn man diese Wirtschaftsform also nicht aufmerksam überwacht, läuft sie irgendwann Amok oder wächst sich zu einem zerstörerischen Tornado aus. Als in den 1990er-Jahren der Finanzsektor dereguliert wurde, haben die Politiker unsere Wirtschaft fatalerweise aus der Hand gegeben. Indem man den Handel mit Finanzderivaten bis zu einem schwindelerregend hohen Grad trieb, wurden selbst seriöse Geldgeschäfte bald in diesem virtuellen Finanzcasino abgewickelt. Regierungen regulieren das Glücksspiel, weil sie wissen, dass es süchtig macht und gefährliche Folgen haben kann. Aber unsere Realwirtschaft haben sie in die Hände von Glücksspielern gegeben, die an jeder Transaktion verdienen, egal ob sie für den Kunden einen Gewinn oder einen Verlust bedeuten. Doch jeder Aufruf, diesen Wahnsinn zu stoppen, zielte bisher ins leere. Der Grund dafür liegt sicher in unser aller Verstrickung in dieses Glücksspiel – durch Hausund Grundbesitz, Rentenbezüge, Ersparnisse und natürlich Kredite.
Wie immer beim Glücksspiel profitieren bei diesem weltweiten Kampf um immer mehr Geld einige Wenige auf Kosten der Massen. Vor zwanzig Jahren verdienten in den Vereinigten Staaten die 1% Spitzenverdiener noch
12%, heute schon 23% des Gesamteinkommens. Die mittleren Einkommen sind in den letzten 15 Jahren real überhaupt nicht gestiegen! In den ländern Südeuropas wächst eine junge Generation heran, die seit dem Zweiten Weltkrieg die erste ist, die einer weniger
guten wirtschaftlichen Zukunft entgegensieht als die Generation ihrer Eltern. Gleichzeitig werden, aus kurzsichtiger Profitgier, natürliche Ressourcen aufgebraucht, der Amazonas und andere natürliche lebensräume zerstört, luft und Meere verschmutzt und die globale Erwärmung steigt weiter an. Alles und jeder ist käuflich: Man kann eine Gebärmutter gegen Bezahlung nutzen, um das Kind gebären zu lassen, das man selbst nicht austragen kann. Wenn jemand arm genug ist, kann man ihm eine Niere oder andere Körperteile abkaufen. Immer mehr junge Studentinnen haben die Gesetze des Marktes verstanden und finden über einschlägige Webseiten Männer, die ihnen als Gegenleistung für kleinere oder größere Intimitäten einen angenehmeren lebensstil ermöglichen. Das ist das obere Ende einer Skala, auf der Körper gegen Vergnügungen und Gucci-Taschen gehandelt werden. Doch diese Skala reicht von Begleitservices bis zur Straßenprostitution und dem internationalen Menschenhandel mit Frauen und Kindern. Wenn man diejenigen einrechnet, die als Arbeits- und Haushaltssklaven missbraucht werden, so gibt es heute eine höhere Anzahl Sklaven als jemals in der Menschheitsgeschichte. Und dabei sind die Millionen noch nicht berücksichtigt, die weltweit für einen lohn arbeiten, von dem sie sich und ihre Kinder nicht ernähren können.
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„VOX POPULI gegen das Geld ist wie David gegen Goliath,
nur ohne die Steinschleuder.“
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Wer trifft die Entscheidung, ob der Euro überleben soll oder nicht, wie hoch Fonds- und Aktienpreise steigen oder der leitzins, der über das Schicksal von einzelnen Unternehmen und ländern entscheidet? Wer entscheidet wirklich, ob es sich lohnt, weite Teile von unberührtem Urwald zu roden oder in die riskante Fördertechnologie des „Fracking“ zu investieren? Nicht die Politiker, sondern die Glücksspieler in diesem fantastischen Casino, harmlos und nett auch bezeichnet als „Finanzmarkt“. An wen sonst als an den Finanzmarkt soll vox populi sich dann wenden? Das Problem dabei: Es ist keine gleichberechtigte Kommunikation. Es ist wie mit David und Goliath, nur ohne die Steinschleuder. Wir Menschen können sprechen, als Individuen, als Gruppen oder als Organisationen mit wechselseitigen Interessen, die heutigen lobbyisten. Aber werden wir gehört, wenn wir anspruchsvolle Ideen haben, ein unbestechliches Argument? Oder wenn unsere Worte womöglich größere ökonomische Auswirkungen haben – werden sie die Existenzgrundlage von Unternehmen bedrohen können oder das Verteilen oder Vorenthalten von Wahlspenden? Nur das Geld spricht! Aber was sollen wir tun? Was können wir tun? Wie können wir vox populi zurückgewinnen?
DIE STIMME VON MORGEN Ich glaube, es war Voltaire, der schrieb: „Mehr Sklaven haben Tyrannen geschaffen, als Tyrannen Sklaven.” In unserer freien Welt haben wir das Geld zu unserem Tyrannen gemacht. Wir sind süchtig nach unserem Tyrannen.
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Geld spricht nicht mit dem eigenen Mund. Es ist ein Bauchredner, der unsere lippen und Hände benutzt. Wir sind nur die mehr oder weniger freiwilligen Handpuppen in diesem unheilvollen Wettkampf um immer mehr.
Aber es muss nicht so sein. Wie bei allen Abhängigkeiten gibt es auch hier einen Ausweg. Wir müssen klein anfangen, ein Schritt nach dem andern. Wir müssen tun, was Alkoholiker seit Jahrzehnten tun, um endlich nüchtern zu werden: Zuerst müssen wir akzeptieren, dass die Macht des Geldes stärker ist als wir. Dass wir machtlos sind gegenüber dem Geld und dass unser Leben zügellos geworden ist aufgrund unserer Abhängigkeit davon. Zweitens müssen wir erkennen, dass kein individueller Wille, sondern nur eine größere Kraft der Menschlichkeit unsere Geldsucht beenden und unsere geistige Gesundheit wiederherstellen kann. Drittens muss jeder von uns die Entscheidung treffen, sein Leben und seinen Willen nicht mehr dem Geld unterzuordnen, sondern sich auf diese allumfassende Kraft der Menschlichkeit zu konzentrieren. Viertens müssen wir uns unerschrocken auf die Suche in uns selbst machen, um herauszufinden, was wir in unserer Gier falsch gemacht haben, müssen dazu stehen und müssen Wiedergutmachung leisten gegenüber allen Menschen, Lebewesen und natürlichen Lebensräumen, denen wir geschadet haben. Fünftens müssen wir
uns weiterhin genau beobachten und wenn wir merken, wir fallen zurück in alte Muster, müssen wir die Kraft aufbringen, ‚Nein‘ zu sagen. Und sechstens sollen dieser Prozess und die Erkenntnis, die er uns gebracht hat, als Orientierung dienen für den Rest unseres Lebens, damit wir auch unseren Mitmenschen Orientierung geben können.
Geben ist das Gegenteil von Handeln. Geben ist ein Machtgewinn gegen die Stimme des Geldes. Geben ist Freiheit. Wenn man gibt ohne Erwartung von Gegenleistung, dann befreit man sich von der Abhängigkeit von Geld. Geben heißt auch lieben. Und liebe ist aus sich heraus eine größere Kraft der Menschlichkeit. liebe ist eine Sprache. Es ist die Sprache des Geistes aller wahrhaftigen menschlichen Beziehungen, aller wahrhaftiger Religion, aller wahrhaftiger Kunst. Die Sprache der wirklichen Menschlichkeit. Stellen Sie sich vor, wir alle sprächen miteinander in der Sprache der liebe statt mit der des Geldes, stellen Sie sich vor, dass nicht Geld, sondern liebe die vox populi wäre. Stellen Sie sich dieses Morgen vor, Schritt für Schritt. Aus dem Englischen von Sabine Voss
Die Zeichnungen von Dan Perjovschi stammen aus dem Bildband Solo für Dan Perjovschi: Daily, Weekly, Monthly, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2012. Mehr über die Autorin auf S. 8
„Ich habe nicht viel Hoffnung“ Calixto Bieito kehrt für die Neuinszenierung von Modest Mussorgskys Boris Godunow an die Bayerische Staatsoper zurück. Gedanken des spanischen Regisseurs über künstlerischen Freiraum, das schlechte Gewissen der Mächtigen und die Krise in seinem Heimatland. Premiere Boris Godunow
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Calixto Bieito
„Mussorgskys Boris Godunow zeichnet auf visionäre Art und Weise eine Gesellschaft, die der heutigen sehr ähnlich ist, in der die breite Masse nicht weiß, von wem, warum und wo die Entscheidungen getroffen werden.“
Inszenierung und Probe … sind für mich Momente der Freiheit, wie ich sie in keiner anderen Situation finde. Ein Raum, in dem ich meine Gedanken und Fantasien fließen lassen und teilen kann. Sich in einem Probenraum einzuschließen, ist immer noch etwas Utopisches und sehr Schönes. Es ist die Möglichkeit, eine fiktive Parallelwelt zu erschaffen, wo alles möglich ist und wo die Grenzen, die einem die Realität auferlegt, verschoben oder verändert werden können. Der Kern des Inszenierens … ist das Bedürfnis, etwas auszudrücken, das in dir steckt und das nach draußen kommen muss. Das ist wirklich ein starkes Bedürfnis. Inszenieren, manipulieren, kontrollieren – … dieser Dreiklang passt für mich nicht zusammen. Manipulation hat eine negative Bedeutung, die mich nicht wirklich überzeugt. Inszenieren heißt, ein Team zu einer Idee zu führen. Das bedeutet, dass der Regisseur vorangeht mit seinen genauen Vorstellungen, gleichzeitig muss er jedoch auch seine Emotionen und Ideen mit den anderen teilen. Motivieren ist hier das schönere Wort. Ein kreatives Miteinander mit einer Gruppe von Künstlern erreichen, damit sie das Beste aus sich herausholen. Mussorgskys Oper Boris Godunow … zeichnet, ich würde fast sagen auf visionäre Art und Weise, eine Gesellschaft, die der heutigen sehr ähnlich ist, in der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede zwischen einer Minderheit und einer Mehrheit immer größer werden. In der die breite Masse nicht weiß, von wem, warum und wo die Entscheidungen getroffen werden, die das tägliche Leben beeinflussen. Ein Volk, das fast in einer notorischen Ignoranz lebt. Das schlechte Gewissen … ist für mich das zentrale Thema der Boris-Figur, das ihn bis in die tiefsten Abgründe seines Denkens verfolgt. Und hier stelle ich mir eine entscheidende Frage: Können wir nach dem schrecklichen 20. Jahrhundert und nach all den Grausamkeiten, die Politiker, Militärs und generell die Mächtigen begangen haben, noch glauben, dass irgendjemand ein schlechtes Gewissen hat wegen seiner negativen Taten? Ich wage zu denken, dass der Mehrheit der Mächtigen ihre Verbrechen und ihr korruptes Handeln ziemlich egal sind. In meinem Land erlebe ich ständig, wie sich Politiker oder irgendein Mitglied des Königshauses für den Rest der Menschheit nicht die Bohne interessieren. Leben wir in einer Gesellschaft der gnadenlosen Raubtiere, wo es für Gutheit keinen Platz mehr gibt? Existiert noch irgendeine Form von Gewissen bei denjenigen, die uns regieren? Haben wir nicht letztlich doch Mitleid und guten Willen erlebt? Ja, es gibt viele Fälle von Solidarität zwischen Individuen, die mit Macht nichts zu tun haben. Aber gründet sich Macht nicht auf das Verbrechen, auf das Fehlen von Werten und Skrupeln, auf die fortwährende Zerstörung und auf die Bereicherung auf Kosten des Volkes? Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, korrumpiert die Macht normalerweise denjenigen, der sie besitzt. Das Volk in Boris Godunow … kann nicht rebellieren, weil es seit jeher, wie in Spanien, domestiziert ist. Es ist wie wir: passive Wesen, die Opfer der Manipulation durch die großen wirtschaftlichen Strukturen sind.
Fotoessay Till Janz
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Die finanzielle Situation in Spanien … ist für die Kunst eine Katastrophe. Die Kultur in Spanien steht schon seit Jahrhunderten im Zeichen des Vergnügens, der Banalität und der Oberflächlichkeit. Regierung auf Regierung hat ihr Desinteresse für Kultur und Kunst unter Beweis gestellt. Sehr viele spanische Künstler mussten ihre Arbeit im Ausland ausüben, vor allem im 20. Jahrhundert. Aber das hat sich bis heute nicht geändert und die Wirtschaftskrise hat genau gepasst, um das Wenige, das in den letzten dreißig Jahren geschaffen wurde, wieder zu zerstören. Die Euro-Krise … hat in Spanien ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und der geistigen Blockade hervorgerufen, obendrein Ohnmacht und Traurigkeit. An Straßenprotesten … habe ich in Spanien bei der Bewegung 15. Mai im Jahr 2011 teilgenommen und in Buenos Aires zusammen mit den Madres de Plaza de Mayo, der Organisation von Müttern, deren Kinder in der Militärdiktatur verschwunden sind. Das war aber mehr ein Akt der Solidarität ohne viel Hoffnung. Einige meiner Inszenierungen haben wütend gegen die Schlechtigkeit des Wesens Mensch protestiert. „Das Leben ist ... eines Toren Fabel nur, voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar“, wie Macbeth sagt. Wofür ist es wert, auf die Straße zu gehen? Ich habe nicht viel Hoffnung. Es tut mir leid. Meine einzige Form des Protests … ist, zu versuchen, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen und meine Freiheit darin zu zeigen. Zu versuchen, konsequent mit mir selbst zu sein, auch wenn es vielleicht nichts bringt. Nein, ganz ehrlich, es bringt nichts. Ich bin bloß ein einfacher Regisseur.
„Meine einzige Form des Protests ist, zu versuchen, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen und konsequent mit mir selbst zu sein, auch wenn es vielleicht nichts bringt. Ich bin bloß ein einfacher Regisseur.“
Spanien heute … ist es nicht gelungen, nach der transición, der Übergangszeit zwischen der Diktatur Francos und der Demokratie eine richtige Aussöhnung zu erreichen, da es seine historischen Wunden nicht verkraften konnte. Der Text beruht auf Fragen von Andrea Schönhofer. Aus dem Spanischen von Florian Heurich Fotograf Till Janz verwendete für den Fotoessay mit Calixto Bieito die CGI-Technik (Computer-Generated Imagery), mit der die Porträts des Künstlers in bestehende Tableaus eingearbeitet wurden. Mit bestem Dank an die English National Opera, London, in deren Räumlichkeiten die Porträts von Calixto Bieito aufgenommen wurden.
Der Katalane Calixto Bieito ist einer der international gefragtesten Schauspiel- und Opernregisseure. Er war von 1999 bis 2011 künstlerischer Leiter des Teatre Romea in Barcelona. Im deutschsprachigen Raum gab er sein Opernregiedebüt 2001 mit Don Giovanni an der Staatsoper Hannover. Er inszenierte unter anderem an der Komischen Oper Berlin (Die Entführung aus dem Serail, Gespräche der Karmelitinnen), in Frankfurt (Macbeth), Stuttgart (Parsifal), Basel (Aus einem Totenhaus) und bei der Ruhrtriennale Hosokawas Hanjo. Im Schauspiel realisierte er in Deutschland u.a. Lulu in Mannheim und Der Kirschgarten am Residenztheater München. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er 2010 Fidelio.
Boris Godunow Oper in vier Teilen (sieben Bilder) Von Modest Mussorgsky
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Premiere am Mittwoch, 13. Februar 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94
Ein Schatz in Mähren Ein Gespräch mit Dirigent Tomáš Hanus über die Welt der tschechischen Volksweisen.
Brüderchen, komm, tanz mit mir wird es heißen, wenn Tomáš Hanus die Premiere von Humperdincks
Hänsel und Gretel an der Bayerischen Staatsoper dirigiert. MAX JOSEPH- Autor Kilian Kirchgeßner hat mit dem
Premiere Hänsel und Gretel
tschechischen Dirigenten über den Zauber und die politische Kraft von Volksweisen gesprochen. 61
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Text Kilian Kirchgeßner
Auf seine Welt hat Tomáš Hanus den besten Blick, wenn er am Esstisch sitzt, an dieser langen Tafel mit ihren zehn Plätzen. Die mährischen Hügel kommen durch die raumhohen Fenster in sein Speisezimmer; die Hügel, die sich entlang des Horizonts hintereinander schichten. Für diesen Blick ist Tomáš Hanus hierher gezogen, an den Rand der mährischen Hauptstadt Brünn, hat sich sein Klavier in den 13. Stock wuchten lassen, fast nach ganz oben in dem neuen Apartmenthaus, und wenn er hier sitzt, wo sich unten im Tal die Türme des St.-Peter-und-Paul-Doms abzeichnen und die Mauern der Burg Špilberk und wo man dort hinten weit im Süden die Grenze nach Österreich erahnt, dann ist er Teil dieses wundersamen mährischen Kosmos. Man kann, auf dem windumpfiffenen Balkon stehend, sogar die Smetana-Straße erahnen, dort hinten im Brünner Häusermeer. Für Tomáš Hanus ist sie der Mittelpunkt seiner mährischen Welt: Dort steht das Haus, in dem einst der Komponist Leoš Janáček gelebt hat. „Unsere Wohnung war nur ein paar Schritte entfernt vom Janáček-Haus, dort habe ich meine ganze Kindheit verbracht. Mein Vater war erster Oboist im Janáček-Theater, meine Mutter war Gesangsprofessorin am Konservatorium. Natürlich gab es bei uns zu Hause immer viel Musik. Wenn ich Taschengeld bekommen habe, bin ich losgelaufen und habe Schallplatten heimgebracht, der Verlag hieß schon im Kommunismus Supraphon. Janáček war eher meine eigene Entdeckung als die meiner Eltern. Die letzte Szene in seiner Oper Das schlaue Füchslein hat schon damals Tränen in mir geweckt, als ich noch ein Kind war. Und wissen Sie was? Janáček schafft das bis heute.“ Leoš Janáček: Auch er war ein Kind aus Mähren, auch er vergötterte die Musik dieser Region. Er studierte die Volkslieder, die man auf dem Land sang, die eine Generation von der anderen übernahm, in den abgeschiedenen Regionen am Karpatenbogen, wo Tschechien auf die Slowakei trifft und wo die Einflüsse aus Brünn, gar aus Prag, kaum ankommen. Diese Lieder, diese geronnene Tradition, griff Janáček in seinen Kompositionen auf. Es sind unter anderem diese Werke, inzwischen gut 100 Jahre alt, die Tomáš Hanus berühmt gemacht haben. Er führte sie und andere Werke mit den großen Orchestern in Paris, München, Basel oder Helsinki auf; eine lange künstlerische Reise, die ihn zu einem der gefragtesten jungen Dirigenten machte. „Kennen Sie die Zymbal-Musik? Das Zymbal ist ein Instrument von hier, eine Art Hackbrett, das man mit einem Klöppel spielt. Es gibt wunderbare Ensembles, die diese Musik perfektioniert haben. Für mich ist die Gruppe Hradištan ein Beispiel, wie es mit der Folklore-Tradition weitergehen kann. Zufällig stammen die Musiker aus der mährischen Stadt Uherské Hradiště – ganz in der Nähe liegt Velehrad, dieser mystische Ort, an dem einst die Slawenapostel Kyrill und Method gepredigt haben. Das ist sozusagen die Essenz des Slawischen. Diese Musiker spielen
traditionelle Lieder – und sie komponieren eigene Stücke, die ihrerseits wieder Volkslieder werden. Für mich ist ein Lied dann ein Volkslied, wenn es die Fähigkeit hat, in die Herzen der Menschen einzutreten. Oft sehe ich das bei mir in der Familie: Wenn ich auf Konzertreise bin, begleiten mich meistens meine Frau und unsere sechs Kinder. Wir hören unterwegs im Auto ein Lied, und die Kinder singen plötzlich mit, sie kennen die Strophen auswendig. Ist das nicht ein gutes Zeichen? In der Musik liegt ein Reichtum, der eine Nation begleitet und stärkt; es sind kulturelle Wurzeln.“ Wegen dieser Wurzeln lebt Tomáš Hanus in Brünn. Sein Mähren lässt ihn nicht los, obwohl er seine Engagements überall auf der Welt hat, oft schläft er monatelang in Hotels. Daheim in Tschechien tritt er fast nie auf. Exilkünstler nennt er sich manchmal, und obwohl er es mit einem feinen Lächeln sagt, wirkt es sarkastisch: So gefeiert er im Ausland ist, so sehr wird er in der Heimat ignoriert. Brutal regieren die tschechischen Kulturpolitiker derzeit ihre Museen, ihre Opern, Theater und Konzerthäuser nieder. An den Schlüsselstellen in Ministerien und Behörden sitzen bürokratische Sachwalter; als Direktoren von Opernhäusern und Museen werden Manager ernannt, die einzig und allein auf ausgeglichene Bilanzen zu achten haben. Natürlich fehlt es an Geld, aber vor allem fehlt es an der Liebe zur Sache und wohl auch am aufrichtigen Interesse. Dieses mangelnde Bewusstsein für die eigenen Juwelen ist zu einer Kontinuität geworden – wenn auch heute unter ganz anderen Vorzeichen als noch vor 30 Jahren, als Tomáš Hanus die Ignoranz als Schüler erlebte. „Es ist viel kaputt gegangen über die Jahre des Kommunismus. Nicht jede Familie schafft es, den Reichtum an Traditionen an die Kinder weiterzugeben. Nehmen wir ruhig das Beispiel der Musik: In den Schulen haben wir früher nur selten die alten Lieder gesungen. Stattdessen gab es diese ständigen Versuche, uns gründlich die Köpfe zu waschen. Wir haben sowjetische Lieder singen müssen, da ging es um Väterchen Lenin, um die große Oktoberrevolution und diese Sachen. Das waren typisch sowjetische Lieder. Für die eigene Volksmusik haben die Schulen nichts getan;
„Auf Konzertreisen begleiten mich meist meine Frau und unsere sechs Kinder. Wir hören im Auto ein Lied, und die Kinder singen plötzlich auswendig mit. In der Musik liegt ein Reichtum, der eine Nation begleitet, es sind kulturelle Wurzeln.“
Exilkünstler nennt sich Tomáš Hanus manchmal, mit einem feinen Lächeln: So gefeiert er im Ausland ist, so sehr wird er in der Heimat ignoriert.
„Ich stand 1989 auch auf den Straßen, voller Hoffnung. Verboten war Ach Synku Synku natürlich nicht, aber wenn man es auf bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten gesungen hat, konnte das schon ein Grund für ernsthafte Probleme sein.“
Fotografie das schmott
sie haben lieber diese sowjetischen Pionier-Gesänge als wertvolles Gut präsentiert. Diese Wunden aus dem Kommunismus sind bis heute nicht verheilt.“ Aber so, wie die Kommunisten ihre Lieder pflegten, hatte auch der Widerstand seine Melodien. Tomáš Hanus richtet sich in seinem Sessel auf und singt. Ach Synku Synku, er singt nur die ersten Takte. Ein Kinderlied ist es mit simpler Melodie: „Ach Söhnchen, Söhnchen, bist du zu Hause, bist du zu Hause? / Das Väterchen fragt dich, hast du gepflügt, hast du gepflügt?“ Diese banale Komposition schaffte es, zu einer der Hymnen der Revolution zu werden. Im Mund der Demonstranten wurde der harmlose Text zu einer scharfen Waffe gegen das Regime. „Das war das Lieblingslied von Tomáš Garrigue Masaryk, dem Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik von 1918. Er war ein Mann, der viel von Ethik in der Politik gesprochen, der sich mit geistigen Idealen beschäftigt hat. Und dann singt man also dieses Lied in der kommunistischen Zeit und verwandelt es so in eine Botschaft. Wir haben es im Gedenken an die Freiheit aus der Zeit Masaryks gesungen, im Gedenken an seine Persönlichkeit und seine Verdienste. Ich stand 1989 auch auf den Straßen, damals als 19-Jähriger, weil ich so eine große Hoffnung mit den Entwicklungen verbunden habe. Verboten war Ach Synku Synku natürlich nicht, aber wenn man es auf bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten gesungen hat, konnte das schon ein Grund für ernsthafte Probleme sein.“ Es ist nicht die einzige Hymne des Widerstands in der früheren Tschechoslowakei. Auch neue Lieder gingen plötzlich von Mund zu Mund, wenn sie den Geist der Zeit trafen und wenn sich alle wiederfanden in der Melodie und im Text. Selbst die jungen Tschechen, die erst nach der Wende geboren wurden und jetzt allmählich ihr Abitur machen, kennen diese Lieder. Nicht immer verstehen sie den Zusammenhang, in dem sie entstanden, nicht immer erkennen sie die Anspielungen im Text; trotzdem sind die Lieder Allgemeingut geworden. Oder, wenn man so will: Volkslieder – selbst wenn sie mit Folklore im engeren Sinne überhaupt nichts zu tun haben. „Es gibt viele Liedermacher aus dieser Zeit, die nur mit Gitarrenbegleitung über Politik und Gesellschaft singen. Karel Kryl zum Beispiel. Er hat eines dieser Stücke geschrieben, die zum Volkslied geworden sind. Bratřičku, zavírej vrátka heißt es, entstanden nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts: „Brüderchen, schließe das Tor! / Es regnet
und draußen ist es dunkel geworden. / Diese Nacht wird nicht kurz sein. / Der Wolf stürzt sich auf das Lamm. / Brüderchen, schließe das Tor! / Schließe das Tor!“ Solche Lieder waren für uns damals sehr, sehr wichtig. Viele Leute haben diese Lieder auswendig gekannt und gesungen.“ Tomáš Hanus steht auf und geht zu seinem Studierzimmer. Ein kleiner Raum ist es, auf der einen Seite steht sein Schreibtisch, überhäuft von Partituren, gegenüber das Klavier, ein altes Meisterwerk des tschechischen Herstellers Petrof. Er sei Künstler und kein Politiker, sagt Tomáš Hanus – aber natürlich sieht er, wie die Musik politisch werden kann. Das Kinderlied Ach Synku Synku ist plötzlich aufgeladen mit einer Bedeutung, die es eigentlich nicht hat, und der protestierende Karel Kryl ist Jahre nach seinem Tod und weit nach dem Ende des Kommunismus von der politischen Sphäre in den Bereich des Volkslieds eingegangen. Man kann aber in der tschechischen Geschichte noch viel weiter zurückgehen, wenn man die Wechselwirkungen von Musik und Politik beobachten will – zum Beispiel ins 18. und 19. Jahrhundert, als die Nationalbewegung in ihrer Blüte stand. Damals unter der Habsburger Herrschaft trugen viele Tschechen die Musik als Galionsfigur vor sich her; damals, als Deutsch in Prag die Amtssprache war und Tschechisch allgemein als Dienstbotenjargon belächelt wurde. Wie gut, dass es da einen Bedřich Smetana gab und einen Antonín Dvořák, zu denen eine ganze Nation aufschauen konnte! Ihnen hat die Bürgerschaft glänzende Säle gewidmet, um den Ruhm des Tschechischen zu mehren – das prunkvolle Prager Nationaltheater mit seiner goldenen Krone zeugt heute noch von dieser Zeit und auch das Repräsentationshaus mit seinen verschwenderischen Jugendstil-Ornamenten. Tomáš Hanus brummt, wenn er darüber spricht: Ein wenig zu plakativ, sagt er, seien Dvořák, Smetana und all die anderen präsentiert worden, ein wenig zu einseitig – und vor allem viel zu politisch. Aber dann gab es zu dieser Zeit noch jenen Pfarrer aus Mähren, den heute kaum mehr jemand kennt: František
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Sušil hieß er und hatte das eigentümliche Hobby, durch mährische Weiler zu ziehen und die Leute aus den Dörfern ihre Lieder singen zu lassen. Melodien und Text notierte er genau in seinen Büchlein und fasste sie schließlich zu einem Kompendium zusammen: Die Mährischen Nationallieder nannte er sein Werk, das schließlich unglaubliche 2.400 Lieder umfasste und als Beitrag zur Nationalbewegung gedacht war. Bewirkt hat František Sušil aber etwas ganz anderes: Er begeisterte einen mährischen Musikstudenten aus Brünn namens Leoš Janáček. Der verliebte sich in die urtümliche Kraft der Volkslieder, destillierte sie in ihre reinste Form und erhob sie zu den Motiven seiner Opern. Der Faszination der Volkslieder ist er sein Leben lang erlegen. Genauso wie auch Engelbert Humperdinck, der fast zur gleichen Zeit wie Janáček deutsche Volkslieder in der Oper verwendete – Hänsel und Gretel ist sein Werk. Tomáš Hanus indes steht auf seinem Balkon im 13. Stock und schaut hinunter auf die Türme von Brünn, wie sie aus den sanften mährischen Hügeln hinaufragen. Die Landschaft, die er sieht, klingt für ihn nach Leoš Janáček, nach Heimat. Fast hundert Jahre alt sind die Opern von Janáček, um ein Mehrfaches älter sogar die Melodien, die hier in den Tälern zwischen Tschechien, Österreich und der Slowakei von Generation zu Generation getragen worden sind. Wenn Tomáš Hanus sie mit seinen Kindern singen wird, vor dem Zubettgehen oder irgendwo in Europa auf einer Konzertreise, werden die uralten Melodien wieder jung sein. So zeitlos jung, wie nur Volkslieder sein können.
Kilian Kirchgeßner berichtet seit 2005 als Korrespondent von Prag aus für Zeitungen wie Die Zeit und den Tagesspiegel und zahlreiche ARD-Hörfunkprogramme. Seine Re portagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Die Fotografien stammen aus der Serie Recently in Hatě von Mathias Schmitt und Michael Ott, dem Fotografenduo das schmott. Sie fotografierten die Einkaufsstadt Excalibur City am Grenzübergang Hatě Chvalovice in Tschechien. Mehr über die Fotografen auf S. 8.
Der tschechische Dirigent Tomáš Hanus ist eng mit der Musik seines Landes verbunden, die er international aufführt. An der Bayerischen Staatsoper war er bereits bei Rusalka und Jenůfa zu erleben. Miroslav Srnkas Jakub Flügelbunt brachte er 2011 an der Semperoper Dresden zur Uraufführung und dessen Werk My Life Without Me wird er beim diesjährigen Prager Frühling dirigieren. An der Finnischen Nationaloper leitete er 2005 Katja Kabanova, an der Opéra national de Paris Die Sache Makropulos, an der Deutschen Oper Berlin und an der Opéra de Lyon Das schlaue Füchslein. Hanus studierte bei Jiří Bĕlohlávek an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brünn, wo er ab 2007 für zwei Spielzeiten Musikalischer Direktor des Nationaltheaters war. Natürlich dirigiert er auch zahlreiche nicht-tschechische Werke wie 2012 die Uraufführung von Scartazzinis Der Sandmann am Theater Basel, die Neuproduktion Hänsel und Gretel und das 4. Akademiekonzert an der Bayerischen Staatsoper.
Hänsel und Gretel Märchenoper in drei Bildern Von Engelbert Humperdinck
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Premiere am Sonntag, 24. März 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94