MAX JOSEPH

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Diana Damrau über Frauenrollen – Les Contes d‘Hoffmann Ein Keim erstickt: Protestwellen in Shanghai – Turandot Konstantin Wecker über den Rausch der Inspiration MAX JOSEPH

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Zeiten wenden

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2009 Fede Yankelevich, Musicópata, FEDE YANKELEVICH, ZEICHNER AUS MADRID, LEGT ZWEI BILDER IN EINES. ÜBER DEN KLANGKÖRPER DER ALTEN ZEIT SCHIEBT SICH DIE FRATZE EINER NEUEN ZEIT: EIN MASKENSPIEL AUS SCHÖNEM KLANG UND SCHÖNEM SCHEIN UND DUNKLEM SPIEL UND ALLEN DÄMONEN DER WELT, DIE AUS EINEM ALTEN GEIGENGEHÄUSE HERAUSKRIECHEN.


Editorial Lassen sich Zeiten wenden? Können wir sie drehen und neu entdecken? Für die Zukunft neu beeinflussen? Zum Auftakt der neuen Spielzeit möchten wir Sie einladen, mit MAX JOSEPH in das 19. Jahrhundert einzutauchen, in welches uns Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann führt, um gleichzeitig immer wieder darüber erstaunt Luft zu holen, wie sehr die Fragen der damaligen Zeitenwende unseren heutigen ähneln. Den Anfang macht Joachim Käppner in seinem Essay, wenn er beschreibt, dass es mit einer vermeintlich guten alten Zeit oder gar einer früheren, jetzt herbeige­sehnten­ Ordnung und Überschaubarkeit nicht weit her ist. Er zeigt, wie elementar in Umbruchzeiten der Gleichklang von technischem Fortschritt und demokratischer Teilhabe ist – oder gewesen wäre: Im Deutschland des 19. Jahrhunderts blieb das eine hinter dem anderen zurück mit dem bekannten Ergebnis, dass unter anderem die unterentwickelte Demokratie zur Katastrophe führte. Das Verhältnis von Demokratie und Fortschritt führt uns unmittelbar ins heutige China, in welchem La Fura dels Baus ihre Inszenierung von Puccinis ­Turandot ansiedeln werden. Xifan Yang erzählt aus einer Gesellschaft der Gegensätze, von Megalomanie, Fortschrittsglauben und Begeisterung, in der gleichzeitig – wäre das Tempo sonst möglich? – demokratische Tendenzen auf perfide, da nicht vorhersehbare Weise unterdrückt werden. Die Fotografien von Zhang Xiao vermitteln uns diese ambivalente Stimmung auch in jedem Einzelnen. Die Vertuschung der Ursachen des Zugunglücks in Wenzhou löste Empörung aus, aber bereits kurz darauf drückte ein unsichtbares Maßnahmenbündel die Menschen in ihren Alltag zurück. Auf das Innenleben des Einzelnen weist uns abermals Hoffmann als zeitlose Figur des ewig zaudernden und hadernden Künstlers, vom Realen getrennt durch die Fantasie seiner Traumfrauen. Diese wiederum werden in der Produktion ganz real von der einen Diana Damrau gesungen, die mit Eva Gesine Baur über Frauenporträts aus dem 19. Jahrhundert gesprochen hat. Von Frauenrollen in der heutigen Zeit können beide ein Lied singen. Die Erzählerin Ulrike Draesner hat die Kollegenfigur des E. T. A. Hoffmann und dessen Suche nach dem Musenkuss auf sich wirken lassen, vor allem aber die dramaturgisch spannende Situation vor diesem Ereignis, dem Warten auf – den Muserich. Das zeitlose Künstlerproblem, ergänzt um einen Pinselstrich des Jahres 2011. Und natürlich haben wir uns auch ästhetisch auf viele verschiedene Arten dem 19. Jahrhundert genähert, über Künstler wie Jessica Harrison, die ganz der Porzellankunst verfallen ist und ihren zarten ätherischen Wesen viel mehr Tiefe und Sinn für das Leiden zugestehen möchte als man aus sicherer Distanz jemals ahnen konnte. Eine tagelange Porträtsitzung haben wir unserem Dirigenten Constantinos Carydis erspart, wohl aber wurde sein Porträt von Naomi Cayne in hingebungsvoller, dem Detail der Kunst ergebener Weise in diese Ausgabe hineingestickt. Dass Ihnen diese Reise in die inneren und äußeren Welten des 19. Jahrhunderts Freude bereitet und gleichzeitig wach macht für unsere Zeitenwende, das hoffen wir. Eine aufregende, verwickelnde und schöne Spielzeit wünscht Ihnen

Nikolaus Bachler, Staatsintendant


»Im düstern Auge keine Träne, / sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: / Deutschland, wir weben Dein Leichentuch, / wir weben hinein den dreifachen Fluch – / Wir weben, wir weben!«

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Heinrich Heine, Die schlesischen Weber

Essay

Joachim Käppner


Mehr Hungerrevolte denn Umsturzversuch war der Auf­ stand­­der schlesischen Weber im Jahr 1844, für die Heinrich­ Heine in seinem Gedicht Partei ergreift. Der Notschrei ­richtete sich gegen die kalten Mechanismen des frühen ­Kapitalismus. Die Weber, die in Heimarbeit schufteten, hat­ ten keine Chance­mehr gegen die neuen Maschinen; sie fie­ len ins Elend, ohne recht zu begreifen, warum nicht mehr funktionierte, was über Generationen bewährt gewesen war. Nicht sehr viel anders muss sich eine Generation später Max Graf gefühlt haben, der Vater des Schriftstellers Oskar ­Maria Graf. Der Großvater war noch Tagelöhner, Rechen­ macher, in der Landwirtschaft gewesen, in Berg am Starn­ berger See; Max kam dann mit einem Eisernen Kreuz und einer steifen Hand aus dem „Siebzigerkrieg“ gegen Frank­ reich. Später schrieb der Sohn: „Was sollte er daheim in all der drückenden Not anfangen? Er ging bedrückt herum und war die meiste Zeit unleidlich. Wohin er auch schauen mochte, überall regte sich das neu erweckte, ungestüme Leben, nur mit dem Gewerbe des Vaters schien es immer mehr abwärts zu gehen. Die Bauern hatten sich längst an die billigen neuen Erntegeräte gewöhnt, die in den neuent­ standenen Fabriken der Städte hergestellt wurden.“ Noch einmal 60 Jahre später machte sich die Schriftstellerin Ri­ carda Huch in ihrem Buch Im alten Reich auf, das festzu­ halten, was in den Städten des Reichs – vor dem Bomben­ krieg von 1944/45, wohlgemerkt – vom alten Glanz geblieben war. Und oft geht es ihr wie in Bautzen: „Im Märchen kommt es wohl vor, daß einer, durch dicken Wald wan­ dernd, es plötzlich grau durch die schwarzen Tannen schimmern sieht: da liegt ein verwünschtes Schloß mit Zinnen und Brüstungen, das nur ein Kind des Glückes, von guten Geistern geführt, auffindet. Nicht durch hohe Wäl­ der muß sich schlagen, wer Bautzen aufsuchen will, son­ dern durch mehr oder weniger häßliche moderne Straßen und Mietskasernen.“ Drei Dichter und das Deutschland des 19. Jahrhunderts. So un­ terschiedlich sie und ihre Themen sind, so gemeinsam ist

Text Joachim Käppner

Wenn derzeit eine IT-Firma erstmals in der Geschichte das wertvollste Unternehmen der Welt ist, ist dies nur messbares Indiz eines unermesslichen Wandels. Seine Überforderungen führen zu Unsicherheit, Angst und Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen. Dies war im scheinbar geordneten 19. Jahrhundert schon einmal so. Für MAX JOSEPH spürt Joachim Käppner dieser vermeintlichen Ordnung nach und entdeckt dabei verblüffende, wenn nicht alarmierende Parallelen zur Zeitenwende, die wir heute erleben.

Bilder Nick van Woert

DIE GEWISSHEITEN ZERFIELEN WIE MODRIGE PILZE.

ihnen eines: das Staunen, ja der Zorn über den Wandel der Welt, über die Entdeckung der Geschwindigkeit, mit der das Gewohnte weichen muss, sei es das Wesen der Arbeit oder das Gesicht der alten Stadt. Vielen Menschen heute dagegen erscheint, wenn auch eher unbewusst, das 19. Jahrhundert als gute alte Zeit. Eine andere Zeit, die vor den Weltkriegen lag, in der die Welt noch nicht­ aus den Fugen geraten war und in der die Dinge noch ihre Ordnung hatten, so zweifelhaft diese Ordnung auch gewesen sein mag. Eine Epoche der Geborgenheit, die uns in den Sälen der großen Kunstmuseen greifbar nahe erscheint und doch so fern ist. Diesen Gedanken verkörpert für uns nach wie vor das Werk Carl Spitzwegs, und nur zu bereitwillig übersieht man, dass der kauzige Münchner Maler seine Zeit auf meisterliche, zugestanden warmherzige Weise als Welt von gestern karikierte: die gähnenden Provinzsoldaten auf den Wällen bröckelnder Festungen, die Enge der spitzgiebligen Kleinstadt, das Idyll der Vorgärten. So bleibt ausgerechnet das 19. Jahrhundert ein gefühlter Gegenentwurf zur Jetztzeit und den verwirrenden Zumutungen des heutigen Wandels, dem sich der Einzelne ausgesetzt fühlt. Seit der Epochenwende von 1989 ist dieser Wandel immer rasanter geworden. Der amerikanische Publizist Francis Fukuyama hat versucht, das Ende des Kommunismus und den Siegeszug der Demokratie als Vollendung jenes Fortschritts auszulegen, der 1776 und 1789 mit der Unabhängigkeitserklärung des freien Amerika und der Französischen Revolution begonnen habe. Das „Ende der Geschichte“ nannte er sein viel gelesenes Buch, so als habe die historische Entwicklung der Menschheit ein Stadium der Vollendung erreicht – ironischerweise ein Denkmuster, das jenem des just überwundenen Kommunismus gar nicht unähnlich sah. Vieles schien seinen Optimismus zu rechtfertigen: der Siegeszug der Freiheit in Osteuropa, der Beginn einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, der freie Welthandel. Dennoch ist das Gefühl der Unsicherheit immer stärker geworden. Die neuen Bedrohungen haben alte Gewissheiten verschlungen. Der Terror, der spätestens seit 9/11 mitten in das Herz der Zivilgesellschaften zielt und eine dunkle Drohung bleibt. Der Kapitalismus, strahlender Sieger des Zweikampfs der Systeme bis 1989, zeigt in für jedermann sichtbarer Weise sein hässliches Gesicht. Von den Verherrlichern des freien Marktes wie eine säkulare Verheißung bejubelt, ruiniert er ganze Volkswirtschaften, Währungen, Berufsstände. Die Gier des Aktienmarktes ist ein Hohn auf das Gemeinwohl, ein Begriff übrigens, den ein ehemaliger FDP-Chef auf seinen Parteitagen gern mit Häme überzog. Es liegt im Wesen jeder Nostalgie, Dinge zu verklären und in angenehmer Unschärfe zu belassen. Die Sehnsucht nach dem 19. Jahrhundert ist davon zutiefst durchdrungen. Die


Joachim Käppner

seit der Römerzeit in großem Ausmaß die holprigen Kutschenwege des Alten Reiches. Telegraphen verbanden plötzlich alle großen Zentren Europas, in denen man über die Jahrhunderte gelernt hatte, der mündlichen oder schriftlichen Nachricht erst einmal gründlich zu misstrauen. Doch schon im Krimkrieg 1853 bis 1856 kamen die Nachrichten von der Front mit nie gekannter Schnelligkeit bei den Zeitungslesern an. Am Ende des Jahrhunderts war selbst Amerika durch ein Transatlantikkabel mit dem alten Kontinent verbunden. Noch vor 1914 wurden die Autos erfunden, das Flugzeug, das Telefon. Und wie heute stieß der Wandel auf ebenso leidenschaftliche wie hilflose Widerstände, denn seine Dynamik riss sie alle fort. Die Maschinen unterstützten den Menschen nicht mehr, wie in vorindustriellen Zeiten das Mühlrad oder der Webstuhl, sie ersetzten ihn oder zwangen ihn, sich ihrem

Jahrtausendelang war der technische Fortschritt eine Schnecke gewesen. Jetzt war plötzlich machbar,­ was einst Fantasie ge­ wesen war – was für eine spektakuläre Parallele zum 20. Jahrhundert.

Essay

gewaltige Erschütterung des Ersten Weltkrieges, der sich nun bald zum 100. Mal jährt, diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die nach nur 20 Jahren in das noch größere Verhängnis des Zweiten Weltkrieges führte, ließ schon sehr bald die große Nostalgie nach den Jahren der Fülle, des scheinbar unaufhaltsamen Fortschritts, des Optimismus aufkommen. Letztlich umfasst das 19. Jahrhundert, jene golden erscheinende Welt, die erst tastend, dann begeistert und schließlich fast kopflos den Weg in die Moderne ging, einen etwas weiteren Zeitraum als jenen, den der Kalender dafür vorsieht. Historiker sprechen daher vom „langen 19. Jahrhundert“, das 1789 mit dem Sturm der Revolutionäre auf die Pariser Bastille begann und im August 1914 endete, als der britische Außenminister Edward Grey resigniert sagte: „In ganz Europa gehen die Lichter aus.“ Das 19. Jahrhundert, ob nun lang oder kurz, ist uns viel näher und verwandter, als wir glauben. Es ähnelt dem 20. Jahrhundert mehr als all der Zeit zuvor, es ist der Beginn der modernen Zeiten, die Charlie Chaplin so tiefsinnig verulkt hat. Nie zuvor hatte sich die Welt so rasch gewandelt wie in jener Epoche nach 1789. Je weiter sie voranschritt, desto geschwinder vollzogen sich diese Entwicklungen. Heute sagt man, eine Firma aus der IT-Branche, die ihren zehnten Geburtstag feiert, gehöre bereits zu den Veteranen, ein Jahrzehnt ist in der Ära des World Wide Web eine lange Zeit. Aber das war vor 100 oder 150 Jahren genauso, nur dass es damals nicht das Zeitalter des Virtuellen war, sondern des Handfesten: der Maschinen, der Mechanik, der lärmenden Fabriken. Bei Lichte besehen begann damals die Uhr schneller und schneller zu laufen, Jahr für Jahr gab es neue, umwälzende Erfindungen, und immer mehr Menschen­kamen nicht mehr mit, materiell nicht und geistig erst recht nicht. „Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt / Läuft die Zeit; wir laufen mit. / Prosit Neujahr – / Ob gut, ob schlecht, wird später klar“, dichtete Wilhelm Busch seinerzeit in seinem kleinen Meisterwerk über das Leben des Spießbürgers Knopp, der von alledem möglichst wenig mitzubekommen trachtet. Wenn dieses 19. Jahrhundert zugleich die Maler und Dichter der Romantik hervorgebracht hat, dann waren auch sie bereits eine Gegenbewegung zu etwas Neuem, Unbekannten, Unheimlichen: der kühlen Rationalität der Moderne, die mit voller Wucht über die Welt hereinbrach. Jahrtausendelang war der technische Fortschritt eine Schnecke gewesen. Jetzt war plötzlich machbar, was einst Fantasie gewesen war – was für eine spektakuläre Parallele zum 20. Jahrhundert. Die Erfindung der Dampfmaschine zerstörte ganze Arbeitswelten – wie die digitale Revolution unserer Tage. Reisen war nicht mehr das Privileg der Begüterten und weniger Abenteurer, die, wie der Bursche bei den Gebrüdern Grimm, auszogen, das Fürchten zu lernen: Eisenbahnen und schraubengetriebene Schiffe ließen die Welt zusammenwachsen. Gepflasterte Straßen ersetzten erstmals

unbarmherzigen Takt zu beugen. Preußens König Friedrich Wilhelm III. mochte poltern: „Alles soll Karriere gehen, doch die Ruhe und Gemütlichkeit leiden darunter.“ Es half nichts. Mitunter war der Verlust alles Herkömmlichen so rasant, dass es selbst den leidenschaftlichsten Befürwortern der Modernisierung den Atem verschlug – wie heute im Zeitalter der Chips und des Cloud Computing. Im Juli 1861 kam es vor der Mündung des James River an der Ostküste der USA zur seltsamsten Seeschlacht, welche die Welt je gesehen hatte. Ein neu entwickeltes, nunmehr stählernes Panzerschiff der Südstaaten, die Virginia, versenkte innerhalb von wenigen Minuten zwei stolze hölzerne Segelschiffe der US Navy und beschädigte ein weiteres schwer. Und das, obwohl eines der Opfer, die todgeweihte Cumberland, mit ihren Dutzenden Kanonen genau 98 schwere Treffer auf dem stählernen Ungeheuer erzielt hatte. Jedes herkömmliche Schiff aus Holz wäre ein Trümmerhaufen gewesen. Der Virginia konnte das wenig anhaben, und nur dem einzigen Panzerschiff des Nordens, der Monitor, gelang es schließlich, sie zu verscheuchen. Vor dem James River hatte die neue Zeit gegen die alte gekämpft, ein Geschehen, das noch H. G. Wells bei seinem Roman Der Krieg der Welten – fast unbesiegbare Kampfmaschinen der


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Die Liberalen, die den Staat bis dahin verteufelt hatten, verloren im „Gründerkrach“ von 1873 fast drei Viertel ihrer Wähler – klingt nicht auch das vertraut?


Nick van Woert, der New Yorker Künstler aus Reno / Nevada, interessiert sich für Historisches, das er mit festem ­Zugriff mit der Gegenwart verbindet. Relikte wie Büsten werden literweise überschüttet mit farbigem Polyurethan-Kleber und verwandeln sich in ganz neue seltsam-monströse Gebilde. ­„Piraterie der Kunstgeschichte“ nennt er das. Dieser Kleber, auch Gorilla Glue genannt, ist eines der Materialien, das in fast

allem zu finden ist, was uns ­umgibt. „Ich mag den Gedanken“, sagt Nick van Woert, „dass die Eingeweide der Skulptur wie der Spiegel unserer zeitgenössischen Umgebung funktionieren. Sie wurden einstmals aus Marmor oder Bronze hergestellt. Jetzt sind sie nur noch die Fassaden dessen, was wir einmal waren. Sie beziehen sich auf die Vergangenheit, bestehen aber aus Fiberglas.“

Joachim Käppner Essay

Marsmenschen erobern England – inspiriert hat. Aber zunächst konstatierte die Times, immerhin die wichtigste Zeitung Großbritanniens, der größten Seemacht und des Pioniers der Industrialisierung, voll Entsetzen:­ „Standen uns bisher 149 erstklassige Kriegsschiffe zum sofortigen Einsatz zur Verfügung, so sind es jetzt nur noch zwei.“ Zwei stählerne Prototypen der britischen Flotte nämlich, die über Nacht aus Auslaufmustern bestand. Für die meisten Menschen jedoch war die jähe Verwandlung der eigenen Umwelt noch weit eindrucksvoller als Nachrichten von fernen Kriegen. In Paris verschwand fast ganz das bisherige Gesicht der Stadt, die immerhin als geistiges und kulturelles Zentrum Europas galt; das alte, verschachtelte Paris wich den schwindelerregenden Neuschöpfungen des Barons Haussmann, die noch heute das Gesicht der Metropole prägen. Die Städte wuchsen, sprengten ihre Mauern und Festungswälle; Mietskasernen, Fabriken, Eisenbahnen, Straßen, Dampfhämmer, Schlote breiteten sich mit der Gewalt einer Flutwelle dort aus, wo zuvor ein paar adelige Landschlösschen, verstreute Höfe und vom Kirchturm überragte Dörfer das Glacis der Städte gebildet hatten. In den Mietskasernen der Städte, ohne jede Rücksicht auf das Stadtbild hochgezogen, hauste eine neue Schicht, das Proletariat. Die Welt also veränderte sich im Inneren wie im Äußeren geschwinder als je zuvor. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sprach der greise Kaiser von ÖsterreichUngarn, Franz Joseph I., eine Grußbotschaft an die Untertanen auf eine Schallplatte auf, und in der Stimme des betagten Regenten ist die ganze Verwunderung eines Mannes zu hören, der weder „diesen Apparat“ noch die Welt mehr versteht, die ihn hervorgebracht hat. Und wie heute fand die neue Zeit ihre Ideologen, die predigten, man müsse nur den Staat heraushalten und die Kräfte der Wirtschaft, des Marktes, der Banken walten lassen, so werde sich schon alles zum Besten fügen. 1856 schrieb die liberale National-Zeitung aus Berlin: „Was die ideal­istischen Bestrebungen vergebens versuchten, ist dem Material­ismus gelungen: die Umgestaltung der gesamten Lebens­verhältnisse.“ Das war als Lob gemeint und wieder­holte sich als Grundsatzkritik am Kapitalismus in den Lehren von Marx und Engels, den Doktrinen, die erst nach 1918 jenes ideologische Ungeheuer gebaren, welches der Traum der Vernunft hervorbringt – aber das hat damals niemand geahnt.

Die Parallelen gehen noch weiter. Was heute die Finanzkrise ist, ausgelöst durch die Immobilienblase in den USA, war 1873 der „Gründerkrach“ mit dem Kollaps der Wiener Börse. In der Folge griffen die Staaten, ganz wie heute, wieder massiv ins Wirtschaftsleben ein, etwa durch die Schutzzollpolitik des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Und die Liberalen – klingt auch das nicht vertraut? –, die den Staat verteufelt hatten, verloren fast drei Viertel ihrer Wähler. Frankreich, England, die USA – die großen Mächte des Westens verbanden den technischen Fortschritt mit der Fortentwicklung der Demokratie, so mühsam dieser Weg im Einzelnen auch war. Das freie Spiel der Marktkräfte setzte gesellschaftliche Freiheit voraus, und die Unternehmer, die Bürger, sogar die Arbeiter setzten eine Beteiligung an der Macht durch. Deutschland aber ging seinen eigenen, das Verhängnis anbahnenden Weg. Technisch, industriell, ökonomisch erreichte es die Weltspitze. Politisch und geistig blieb es in den Nebeln des Gestrigen, mehr noch: Seine Führungsschichten fürchteten und verachteten eben diesen Fortschritt – und wussten ihn dennoch zu nutzen: zur Aufrüstung mit modernen Waffen, einer Hochseeflotte, eines Millionenheers. Bis heute wird oft verkannt, wo die Quelle dieses deutschen Übels lag: nämlich mitten in diesem 19. Jahrhundert, in der gescheiterten Revolution von 1848. Ihr Misslingen, schrieb der große Münchner Historiker Thomas Nipperdey, „erfüllt uns noch immer mit der Trauer um eine verlorene Möglichkeit“. Aber es war mehr als das, weit mehr. Es war nicht eine verlorene Möglichkeit, sondern die einzige. Hier, 1848, stand Deutschland am Kreuzweg. Mehr als drei Jahrzehnte lang, seit dem Sieg der Alliierten über Napoleon 1815, hatte im Land, dem Vielländerstaat des Deutschen Bundes, eine politische Friedhofsruhe geherrscht, vielmehr herrschen sollen nach dem Willen der Fürstenhäuser.­ Dann, 1848, war der Deckel nicht mehr auf dem Topf zu halten. Ein Land, das den Weg in die technische Moderne bereits beschritt, war politisch gesehen nicht mehr mit dem System absolutistischer Menschenverachtung zu führen. Dabei hätte diese Revolution so vieles sein können: der Sturz der Fürstenthrone, die Geburtsstunde der bürgerlichen Freiheit, Deutschlands 1776 oder auch 1789, das Jahr eins einer freien Nation, die nicht allein die technischen Fesseln der Vergangenheit sprengte, sondern auch die geistigen. Der Revolution aber fehlte es an allem: an fähigen Politikern – wo hätten sie, nach einer Ära, in der bloß die Gedanken frei waren, auch herkommen sollen? An Einigkeit – wie hätte diese im Deutschland des Deutschen Bundes, einem bizarren Gebilde vieler Staaten, auch entstehen können? Vor allem aber fehlte ihr der Wille, die Macht der alten Ordnung wenn nötig mit Gewalt und so schnell wie möglich zu brechen. Deutschlands Freiheitshelden von 1848 ­waren tapfere Männer und Frauen, sie behaupteten Barrikaden gegen die Bajonette des Militärs und riskierten ihr


Mit der Revolution von 1848 stand Deutschland am Kreuzweg. Bis heute wird oft verkannt, dass hierin die Quelle für das Scheitern der deutschen Demokratie lag.

„Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß! Gott aber weiß, wie lang er geht, bis daß die Freiheit aufersteht, und wo Dein Vater liegt, mein Schatz, da hat noch mancher Preuße Platz!“

Ende

Leben. Aber im Herzen waren sie doch wohlgesinnte Bürger,­ die als gute Deutsche glaubten, auf dem geordneten Rechtsweg in die Demokratie zu gelangen, über die verfassungsgebende Versammlung in der Frankfurter Paulskirche. In ihrer Mehrheit waren sie außerstande, das Ausmaß der Niedertracht zu erkennen, welche die alten, gewarnten Mächte zur Rettung ihrer Herrschaft entwickelten – die den Willen hierzu ihrerseits in überreichem Maße besaßen. Die Liberalen und Gemäßigten fürchteten das Feuer der radikalen Fraktion mehr als den Staat, den sie erneuern, aber nicht zerstören wollten. Sie boten Preußens König Friedrich Wilhelm IV. sogar die Kaiserkrone an, doch der lehnte hohnlächelnd ab, weil er in der versöhnlichen Geste nur die Schwäche der Demokraten sah: Der „Ludergeruch der Revolution“ hafte an diesem „imaginären Reif aus Dreck“. Friedrich Wilhelm IV. sah sich als König von Gottes, nicht als Kaiser von Volkes Gnaden. Als die Beherzteren dann 1849 noch einmal zu den Waffen griffen, war es zu spät. In Frankreich, Holland oder England würden Franz Sigel, Friedrich Hecker oder Carl Schurz als Nationalhelden verehrt oder wenigstens als Wegbereiter der freien Nation hoch geachtet; in Deutschland kennt sie bis heute kaum ein Mensch. Sie gehörten zu den Anführern jener tapferen badischen Republik, die 1849 der geballten Macht Preußens die Stirn bot, bis zu ihrer unausweichlichen Niederlage, die mit dem Fall der Bundesfestung Rastatt besiegelt war. Sie alle kämpften ihren Kampf ein zweites Mal: im Exil, in den Reihen der Nordstaatenarmee, die im Amerikanischen Bürgerkrieg die Sklavenhalter des Südens schlug, eine welthistorische Entscheidung, die daheim ausgeblieben war. Deutschlands beste politische Köpfe hatten, zu Zehntausenden, 1849 das Land verlassen oder waren in jene Schockstarre verfallen, die man fast ein Jahrhundert später, als der lange deutsche Sonderweg in die Apokalypse des Naziterrors geführt hatte, die „innere Emigration“ nannte. Für die Verlierer von 1848/49 aber dichtete Ludwig Pfau sein Badisches Wiegenlied:

Deutschland wurde dann im 19. Jahrhundert doch noch geeint, wie es die Revolutionäre gehofft hatten. Aber nicht durch freie Bürger, sondern während des Sieges über Frankreich 1871, von Bismarcks und Preußens Gnaden und zu dessen Bedingungen. Deutschland war eine Nation, nicht errungen von unten, sondern aus Stahl geschmiedet von oben. Es hatte nun einen gemeinsamen Kaiser, aber immer noch kein freies Volk. Und je mehr das Volk nach Freiheit verlangte, je selbstbewusster die rasch wachsende Industriearbeiterschaft nach Mitsprache verlangte, je mehr der Reichstag an seinen zahlreichen Fesseln rüttelte, desto rückständiger und radikaler wurde die herrschende politische Rechte. Otto von Bismarck war noch ein kluger Mann, der Härte und Vorsicht auf genialische Weise abzuwechseln wusste. Als Kaiser Wilhelm II. den greisen Eisernen Kanzler und Übervater des Reichs aus dem Amt drängte, zeichnete der Londoner Punch seine legendäre Karikatur von Bismarck, der ein Schlachtschiff verlässt: „Der Lotse geht von Bord.“ Und ohne den Lotsen nahm das Schiff dann einen irrlichternden Kurs auf Weltmachtträume, verprellte damit seine Freunde – England, Russland – und schuf sich eine Welt von Feinden, der es 1914 bis 1918 knapp, dann aber gründlich unterlag. Und dann, am Ende des „langen Jahrhunderts“, gelang den – welch ein Begriff – kaiserlichen Eliten, die das Schiff in den Untergang gesteuert hatten, ihr letzter großer Coup: All ihr eigenes Versagen, den verlorenen Krieg, all die Toten, den Versailler „Zwangsfrieden“ von 1919, lasteten sie der jungen Weimarer Demokratie und dem „Dolchstoß“, in Wahrheit dem verzweifelten Aufstand der Arbeiter und Soldaten vom November 1918, an. Auch dieser zweiten deutschen Revolution fehlte es nicht an Mut und Idealen, sondern an Kraft und Konsequenz. Dasselbe gilt für die Weimarer Republik, die ihr folgte. Anders als jene von 1918 erschien die Demokratie gar als Siegerin: Erstmals war Deutschland eine Volksherrschaft, kein autokratisches Land mit demokratischen Anteilen mehr. Aber diese Demokratie hatte – oder gab – den Kampf schon verloren, bevor er recht begann. Doch dies ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der die Welt, die man gekannt hatte, in Feuer und Grauen unterging. Deutschland beschritt erst im 19. Jahrhundert einen Sonderweg, dann aber gründlich. Es wurde eine politisch mächtige, technisch höchst entwickelte, demokratisch gesehen aber rückständige Nation. Und als die Demokratie dann 1933 endgültig verlor, begann das Verhängnis. Wilhelm Busch hat einmal ein Stoßgebet aufgeschrieben angesichts seines bewegten Jahrhunderts, das sich „im Sauseschritt“ befand: „Ach, Herr, mach alles wieder recht, / Dämpf die Pfaffen und Kriegersknecht. / Gib Frieden, dazu viel edlen Wein, / Auf daß wir allesamt lustig sein.“ Es wurde, wie wir wissen, nicht erhört. Joachim Käppner ist Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Mehr über ihn auf S. 8.



Diana, Medea & Olympia


Diana Damrau wird in Les Contes d’Hoffmann alle vier Frauenrollen singen. Autorin Eva Gesine Baur hat mit der umjubelten Sopranistin über Frauenbilder aus dem 19. Jahrhundert gesprochen. Ein Gipfeltreffen außergewöhnlicher Frauen in der Neuen Pinakothek.

Diese Seite: Anselm Feuerbach, Abschied der Medea, 1870 Neue Pinakothek, München

Premiere Les Contes d’Hoffmann


Text Eva Gesine Baur

Wir blicken gemeinsam auf Medea, das Monster. Die mythiTochter des Stahlmagnaten, im Brautkleid, kurz vor einer sche Magierin, die aus Eifersucht auf Jason dessen Braut bei Vernunftheirat, mit der sie dem Vater und dem goldenen lebendigem Leib verbrennen ließ und aus Rache die gemeinKäfig entfliehen wollte. Das ebenmäßige Gesicht der Damsamen Kinder ermordete. Gerade hat Diana Damrau ihren rau verrät keine Regung, als ihr Blick über das Bild gleitet, Alexander bei seiner Großmutter abgegeben, ein blondes über die passiv ineinander gelegten Hände hinauf zum Kopf Marzipankind, ein Jahr alt; weil er hohes Fieber hatte, wurder Dargestellten, die in ungewisse Ferne schaut. Gekleidet de der Interviewtermin dreimal vertagt. ist Margaret als teure Puppe wie Offenbachs Olympia, nett, Feuerbach hat Medea gemalt, Cherubini hat ihr Draadrett, gewohnt zu tun, was der Vater erwartet. Diana Damma kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts vertont, danach rau weiß nichts davon, dass Margaret sich radikal frei geMayr und Mercadante. Sie ist nur eine der vielen brisanten schlagen, im Chemielabor gearbeitet, Mathematik studiert, Frauen, denen sich die Künstler, vor allem die komponiesich von ihrem Mann getrennt hat, als Mäzenin und Bauherrenden, von 1800 bis in die 1920er Jahre hinein mit Hingabe rin zur Avantgarde gehörte. gewidmet haben. Frauen, die sich ihr Recht auf Liebe und „Dieser Kopf passt nicht zur Pose“, sagt sie einfach. Zerstörung, sogar Selbstzerstörung, auf sexuelle und geisti„Der setzt sich durch.“ Intuition gilt als ein schwammiger ge Freiheit nehmen, ob sie Mythos, Fiktion, Geschichte oder Begriff, mit jedem Satz der Diana Damrau gewinnt er KonGegenwart waren, ob sie Norma oder Carmen heißen, Salotur. Die Sopranistin aus Günzburg hat nicht nur ihrer Stimme oder Turandot. Kann sich Diana Damrau in die mördeme und ihrer Technik wegen Weltkarriere gemacht, sondern rische Medea hineinversetzen? „Wenn ich sie singen würde, auch wegen ihrer darstellerischen Qualitäten. Sucht und finmüsste ich es, und wenn ich es müsste, könnte ich es“, sagt det sie sich in den Charakteren, die sie verkörpert? Ist sie so sie, und nur die Brauen zucken kurz. kompliziert wie die vierfache Frau des Jacques Offenbach? Wer Diana Damrau von der Bühne kennt, erkennt sie Sie lacht, den Kopf im Nacken. „Ich habe auf der Bühne geim Alltag nicht sofort wieder. Da steht eine mittelgroße nug Theater, das brauche ich nicht auch noch privat.“ Frau, so gut wie ungeschminkt, in schlichtem schwarzem Empfindet sie denn für eine der vier ErscheinungsKleid, schwarzen Stiefeln, das lange Haar ohne Umstände formen von Offenbachs Heldin Sympathie? „Nein, aber ich hochgesteckt; bevor die Fotografin kommt, will sie sich nur verstehe sie.“ Sie zählt an den Fingern ab. „Olympia kann kurz auf der Toilette die Liebesbezeugungen ihres Kindes nicht lieben, weil sie seelenlos ist. Giulietta will nicht lieben, von Hals, Händen und Wangen waschen. sondern die Männer manipulieren und beherrschen, weil sie Sie soll mit mir vor Frauenbildern über Frauen reherzlos ist.“ Sie wird ernst. „… das ist noch schlimmer als den, die sich aus dem Korsett einer Rolle befreiten, in das böse.“ Der dritte Finger. „Antonia hätte Seele und den die Gesellschaft sie gezwängt hatte. „Schön, dass ich nur in Wunsch nach häuslichem Glück, aber die wird sterben, und meinen Terminplan eingesperrt bin und es in unserem JahrStella macht den entscheidenden Schritt zu spät. Da hat die hundert im Sopranfach keine Männerkonkurrenz mehr Muse Hoffmann schon zu der Einsicht verholfen, dass er gibt“, erklärt sie vergnügt. In München wird sie Stella, nicht imstande ist, eine treue, einfache Liebe zu leben.“ Sie Olympia, Antonia und Giulietta in Offenbachs Les Contes verzieht den Mund. „Und ich glaube, er ist froh darüber, d’Hoffmann verkörpern, in Barcelona probt sie für ihr Roldenn er will das ja eigentlich nicht. Er will in erster Linie lendebüt in Donizettis Linda di Chamounix. Sie aber ersich selbst erfahren – ein großes Thema der Romantik und zählt nicht von Stella, Olympia, Antonia oder Linda, sonheute noch immer. Er hat einen Drang zum Ungewissen und dern zuerst von der Nanny. „Unsere französische Nanny hat Angst vor allem, was bieder sein könnte.“ Diana Damrau sich mit einem Feuerwehrmann davongemacht. Darf sie. dreht an ihrem Ehering. Nach französischem Recht hat sie nur zwei Wochen KündiKennt sie diese Angst? „Nein, die kenne ich nicht“, gungsfrist. Und mein Mann singt in Amsterleuchtet sie. „Ich habe immer den Wunsch gedam und probt in Marseille. Katastrophe!“ Sie hegt, eine Familie zu gründen, weil das zu meiatmet kurz durch. „Aber das schaffen wir ner Vorstellung von Glück gehört. Ich wollte auch“, strahlt sie und zieht ihr Kleid zurecht. nie verbittert auf eine Karriere zurückblicken, Eine zufriedene Ehefrau, die ihren Alltag im die mir viel Verzicht abverlangt hat, und eingeGriff hat. Ist das dieselbe, die von der Met bis stehen: Das Eigentliche habe ich drüber verzur Scala als Meisterin der Verwandlung brilsäumt.“ 2004 ist sie dem französischen Bassbaliert, die als Königin der Nacht erschrecken, riton Nicolas Testé zum ersten Mal begegnet, als Zerbinetta verführen, als Frau Fluth amüals sie gemeinsam unter Viotti L’apocalypse sieren, als Lucia verstören kann? Nun wird sie selon Saint Jean von Françaix einstudierten. die vier Frauenrollen in Hoffmanns Erzählun„Er hat den Erlöser gesungen.“ Sie lächelt in gen übernehmen, wie Offenbach es ausdrücksich hinein. Fünf Jahre später das Wiederselich wünschte, weil es letztlich um vier Frauen hen in Genf bei Mozarts Don Giovanni, sie als in einer geht. „Jede Frau ist viele“, wusste er Donna Anna, er als Masetto. „Eine Konstellativor Erfindung der Psychoanalyse. Als Freud on, die Mozart nicht in Betracht gezogen hat, sie in Wien praktizierte, porträtierte Klimt in aber vielleicht die einzige, die funktionieren Wien Margaret Wittgenstein, die 23-jährige würde.“ Kurzes Schweigen. „Ich habe nicht Gustav Klimt, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 1905 Neue Pinakothek, München


Fotografie Tanja Kernweiß und Julian Baumann Ende

mehr damit gerechnet, dass mir das passiert. Aber da war alles auf einmal nur noch ein Ja.“ Sie singt beinahe: „Ja. Ja. Ja.“ Nichts sagte Nein. Schwieg auch der künstlerische Ehrgeiz? In den Contes d’Hoffmann bekämpft die Muse Hoffmanns Geliebte Stella, weil sie sicher ist: Wenn die ihn erobert, geht er ihr und der Kunst verloren. Stella durchdenkt ebenso, was eine feste Beziehung für ihr Künstlertum bedeuten würde. War das bei Diana Damrau und Nicolas Testé ähnlich? „Natürlich. Aus der erlebten Vergangenheit heraus setzt der Verstand bei einem sämtliche Alarmlampen in Gang. Aber das Gefühl kannte keine Bedenken und sagte sofort Ja zur gemeinsamen Zukunft und einem Kind.“ Was sagt nun die Erfahrung? „Dass es ein mühsames Gebastel ist, zwei Karrieren und zwei Terminkalender aufeinander abzustellen und trotzdem das private Dreierteam in die Mitte zu stellen. Vor allem aber, dass sich vieles von selbst erledigt, wenn man sein Kind im Arm hält. Es war für mich überraschend und heilsam, zu erleben, wie schnell ich mich umstellen konnte. Ich habe keine Zeit mehr dafür, jedem Körpersignal nachzulauschen, die Zeit braucht Alexander.“ „Sieht Glück so aus?“, frage ich sie vor Waldmüllers Bild der jungen Bäuerin mit ihren Kindern. Sie zögert. „Der Rat Krespel in den Contes d’Hoffmann würde seine Tochter Antonia sicher lieber so sehen, im Halbschatten stehend, in Frieden lebend, aber sie will den kampflosen Weg nicht gehen, obwohl sie krank ist. Die Musik, die Kunst ist ein Teil von ihr, den sie leben muss.“ Dominante Väter sind in vielen Opern unheilvoll, von Aidas Vater Amonasro über Brünnhildes Vater Wotan bis zu eben jenem Vater der Olympia und der Antonia. Ist das eine Erfahrung, die Diana Damrau kennt? Für ihren Vater, schwäbischer Kaufmann in der Kleinstadt, kann die Berufswahl der Tochter nicht einfach gewesen sein. „Er war mir als Kind Liebe, Schutz, Hilfe und der Größte und Beste. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Beide Eltern wie auch die Günzburger haben jeden ihrer Schritte auf dem harten Weg nach ganz oben nachvollziehen können, neidlos. „Weil sie alles verfolgt und miterlebt hatten, von der Musikschule bis zur Met, und … ich den Kragen ned g’stellt hab“, sagt sie auf Schwäbisch, reckt den Hals, das Kinn und senkt blasiert die Lider. Sie werden die Damrau auch verstehen, wenn sie gesteht, im nächsten Leben wäre sie lieber ein Bassbariton, weil es für den viele böse Partien gibt. „Das Böse gut zu spielen, fordert enorm, denn es muss immer überraschend bleiben. So wie Scarpia in der Tosca – ein teuflischer Spieler, der noch über den Tod hinaus einen Trumpf in der Hand behält.“ Sie hat als Königin der Nacht nicht nur ihr gesangliches Können gezeigt, sie hat auch die Unberechenbarkeit dunkler Gelüste spürbar gemacht wie selten eine Sängerin in dieser Partie. Doch keiner fragte sich, woher die herzige Frau weiß, wie das geht. Eine erste Antwort gibt sie selbst damit, wie sie Porträts erlebt: durchlässig und aufnahmebereit für alles, was von den Dargestellten ausgeht. Diana Damrau kennt nicht jenen Solipsismus, mit dem viele Stars ihre Seelenoberfläche versiegeln. „Schauspielerei und Singen sind für mich eine Einheit. Ich will nicht unbedingt gefallen,

sondern die Geschichte eines Menschen erzählen. Dazu muss ich in den Charakter, den ich verkörpere, hineingehen. Nur dann kann ich für jeden eine eigene Körperlichkeit, eine eigene Stimme finden. Das heißt, ich muss weggehen von mir selber.“ Sie atmet tief durch. „Das hat mir oft geholfen, die eigenen Probleme zu vergessen. Trotzdem kann es einem einen Stich geben, etwas zu spielen, was man gerade selbst erlebt oder durchleidet.“ Doch wie erkundet sie einen Charakter, wie kommt sie ihm auf die Spur? „Indem ich mich in seine Zeit und Welt versetze, die Zeit, in der das Werk entstand, die Welt, in der die Rolle spielt. Der Rest steht in den Noten“, erklärt sie knapp. Dass manche Regisseure mit drastischen Einfällen die Aktualität eines Werkes sichtbar zu machen versuchen, hält sie für interessant, aber oft nicht unbedingt nötig. „Jeder, der richtig hinhört, spürt, wie modern große Musik ist. Da gehen sofort Assoziationen los. Hoffmanns Olympia erinnert mich irgendwie an Paris Hilton, Antonia an Amy Winehouse, Giulietta an Dita von Teese. Zeigen muss man das nicht. Ich will vor allem eins vermitteln: Jede Frau kann Olympia, Antonia, Giulietta sein, wenn sie in eine Olympia-, Antonia-, Giulietta-Situation gerät.“ Die Spitzentöne der Damrau sind berühmt, ihre Koloraturen berüchtigt, aber die Kritik feiert vor allem, dass sie trotzdem ihre „weibliche seelenvolle Mittellage“ bewahrt. Aus der stabilen Mitte heraus kann Diana Damrau es riskieren, jedes Extrem zu erklettern. Sie selbst redet nicht vom Wahren der Mitte, sie sagt nur: „Ich brauche einen Anker in der Wirklichkeit: meine Familie und die Natur.“ Wie es ausgeht, wenn die Verankerung fehlt, erlebt sie in Offenbachs Hoffmann: „Der muss scheitern, weil ihm Zutrauen und Vertrauen fehlen. Und das ist das Wichtigste.“ Gerade in einer Verbindung zwischen zwei Künstlern. „Die ist immer delikat, weil Bewunderung für beide zum Beruf gehört, und wenn sie anfangen, ihr Bewundertwerden zu vergleichen, dann wird es eng.“ Wie beugt das Ehepaar der Gefahr vor? „Wir teilen möglichst alles, unsere Proben, unsere Auftritte und das Bewusstsein, dass wir auf die Erfolge nicht aufbauen können, sondern uns immer neu beweisen müssen. Und wir beantworten die Herzensfragen des anderen, bevor er sie stellen muss.“ Es ist eben nicht nur Intuition, von der Diana Damrau sich bei ihren Entscheidungen und bei der Deutung ihrer Rollen leiten lässt. Genauso wichtig ist diese extreme Aufmerksamkeit, ja Wachsamkeit. Eifersucht, Triebkraft der meisten Opern, ist für sie keineswegs eine Regung, die es zu vermeiden gilt. „Gesunde Eifersucht macht hell für die genaue Wahrnehmung des anderen und empfindsam für jedes Detail.“ Mit dieser gesteigerten Präsenz entdeckt sie in den Charakteren, die sie verkörpert, verborgene Seiten. „Oft das Dämonische in seiner zerstörerischen Energie. Das fasziniert mich. Das ist wirklich groß.“ Wer sieht, wie dabei ihre Augen funkeln und etwas ihr Gesicht verdunkelt, was dort vorher nicht zu vermuten war, ahnt, dass es ein Irrtum ist, Diana Damrau für herrlich harmlos zu halten. Und erkennt auf einmal, dass diese freundliche, glückliche Mutter, die sich „Talent zum Zufriedensein“ attestiert, als Medea glaubwürdig wäre. Schrecklich glaubwürdig. Die Autorin hat 2011 den Roman „Der Opernheld“ veröffentlicht.






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