MAX JOSEPH

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Max Joseph unfrei frei

Bayerische staatsoper

Vesselina Kasarova & alexander Kluge über I Capuleti e i Montecchi

BallettFestwoche: sidi Larbi cherkaoui kommt

La fedeltà premiata – haydn neu entdeckt

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MA RT I N T hE Ac Ry lI c

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Rebellen ?

c A N vA s – 3 5 x 2 5 c M 2010

„rebellen“ heißt das dritte thema unserer Beschäftigung mit dem Komplex „unfrei frei“, der diese Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper und damit auch Max JoSEph prägt. Folgt nach „privatvergnügen“ und „Kinderseele“ nun also die große politik? Ein Blick in die Nachrichten scheint die Brisanz zu bestätigen: in tunesien, Ägypten oder im Jemen geht die Bevölkerung massenweise auf die Straße und will Veränderung. doch sind das ähnlich geprägte politische revolten, wie wir sie von 1789, 1848 oder 1918 kennen? Werden rebellen heute im internet – in Blogs und sozialen Netzwerken – gemacht? ist der Motor ihres Kampfes eher der Wunsch nach persönlichem Glück und Wohlstand als eine ideologie? ist es Freiheit? Vielmehr als politische rebellen, die seit Jahrhunderten einen bedeutenden platz auf der opernbühne haben, treffen wir in den kommenden premieren, Gastspielen und Konzerten Querdenker, deren Kampf mit gesellschaftlichen Normen, göttlichen plänen oder ästhetischen Kategorien mit anderen Mitteln als der großen Geste stattfindet. romeo will seine Julia lieben, darf es aber nicht, die Figuren in haydns La fedeltà premiata müssen ihre liebe vor einem Seeungeheuer verbergen, um nicht dem brutalen Zorn der Göttin diana zum opfer zu fallen. der heilige Franziskus rebelliert gegen seine eigenen Ä N G S t E und Grenzen, um die überindividuelle Erfahrung Gottes zu machen – heutige pilger tun es ihm nach und widersetzen sich der Geschwindigkeit unseres alltags. in der BallettFestwoche stehen zwei rebellen unterschiedlicher Generationen im Mittelpunkt: John Neumeiers Gegenentwurf zum klassischen Ballett ist längst klassisch geworden, Sidi larbi Cherkaoui experimentiert mit verschiedenen stilistischen und ästhetischen ansätzen und traditionen und überwindet so bestehende G r E N Z E N im zeitgenössischen tanz. auf paradox anmutende Weise rebellieren zeitgenössische japanische Komponisten, die im 6. akademiekonzert zu hören sind, indem sie sich auf die musikalische tradition ihres landes besinnen und damit die vorherrschende westliche Klangsprache in Frage stellen. die rebellen dieses heftes zeigen individuelle hoffnungen und Wünsche. Vielleicht eine heutige perspektive auf rebellion.

Nikolaus Bachler

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INHALT

MAX

42 Alexander Kluge über I Capuleti e i Montecchi und die Freiheit in der Liebe

68 PORTFOLIO Olaf Breunings Masken, hinter denen sich das Nichts verbirgt

Premiere

P–R–E–M–I–E–R–E

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24 HIMMELSMACHT VS. FAMILIENMACHT Barbara Vinken schreibt die Geschichte der Liebe

Fotografie: Olaf Breuning

Fotografie: Alexandra Croitoru from ROM Series, 2004 –2006 Courtesy of the artist and Plan B Gallery

20 „REBELLISCH UND KÄMPFERISCH SEIN“ Vesselina Kasarova über I Capuleti e i Montecchi und wie man sich auf der Opernbühne durchsetzt

J OS EP H

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WIDER DIE ZUMUTUNGEN UNSERER ZEIT: Saint FranÇois d’Assise oder warum wir wieder pilgern

P–R–E–M–I–E–R–E

50 OPERN‒COMIC Madama Butterfly, gezeichnet von Andy Rementer

P‒R‒E‒M I‒E‒R

10 MÜNCHNER FREIHEIT Ingvild Goetz über eine Installation von Andro Wekua

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36 „DIESES BALLETT GEHÖRT NACH MÜNCHEN“

Fotografie: Holger Badekow

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LOB DER NÜCHTERNEN REBELLEN Essay von Mathias Greffrath

John Neumeier über sein Ballett Illusionen – wie Schwanensee, das die BallettFestwoche eröffnet

a d n ge

86 K‒U‒L‒T‒U‒R‒T‒I‒P‒P‒S aus der Oper 89 MEINUNGSAUSTAUSCH Briefe an den Intendanten

60 REVOLUTION DER KLEINEN SCHRITTE Der belgische Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui

90 SPIELPLAN

Gastspiel

95 KURZPORTRÄT: Meike Zopf, die das Plakat für I Capuleti e i Montecchi gestaltet

64 MONUMENTE IN GROSSER FERNE Das geheimnisvolle japanische Blasinstrument Shō, das beim 6. Akademiekonzert zu erleben ist

VO 96

RS

P–R–E–M–I–E–R–E

A 85

AU

09 ILLUSTRATION von Misaki Kawai

28 IM DIENSTE SEINER DURCHLAUCHT Ein Besuch im Hause Esterházy, dem Arbeitgeber von Joseph Haydn

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GEGEN DEN STRICH Modeschöpfer Christian Lacroix, der die Kostüme für I Capuleti e i Montecchi entwarf, über Mode, Liebe und Zorn

Fotografie: Koen Broos

08 IN DIESER AUSGABE Autoren und Künstler, die dieses Heft gestaltet haben

Illustration: Andy Rementer

03 EDITORIAL Rebellen? Von Nikolaus Bachler

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CH

Fotografie: Tatiana Lecomte

Stil-Rebellin: Die rumänische Fotokünstlerin Alexandra Croitoru, von der das Titelmotiv stammt, lehnt sich in ihren Bildern gegen Konventionen über Mode und Aussehen auf und kombiniert Sturmhaube zum Bikini.


bilder

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LOB DER NĂœCHTERNEN REBELLEN Ein Essay von Mathias Gref frath


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g r eff r a t h

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Mathi as

Der Rebell von heute setzt nicht mehr Paläste in Brand, sondern Parlamente instand. Mit der Verfassung in der Hand kämpft er als „Wutbürger“ um die Vollendung der Demokratie in Deutschland. „Empört Euch!“ Der Aufruf des 93-jährigen ehemaligen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel ist nur 33 Seiten stark, aber in ein paar Wochen hat er sich mehr als eine Million Mal verkauft, weit über Frankreich hinaus. Der Mitverfasser der UN-Menschenrechtserklärung ruft Europas Bürger, vor allem die Jungen, zum Widerstand auf: gegen die Diktatur der Finanzmärkte, den Raub der Regierungen am Volkseigentum, den Konsumterror, den Wachstumswahn, die Naturzerstörung. Alles konsensfähig, schreiben die nüchternen Kommentatoren, warum also die Aufregung im Feuilleton? Aber zwischen den Zeilen steht: Welche rührende Naivität angesichts der Systemzwänge. Geht doch alles nicht. In Stuttgart gingen Hunderttausende auf die Straße – gegen eine politische Elite, die nicht nur die Verwandlung ihres Bahnhofs in ein weiteres Saturn-H&M-StarbucksParadies für „alternativlos“ erklärt, sondern generell alle „Modernisierungsmaßnahmen“. Und weiteres Wachstum wie gewöhnlich sowieso. Die Kluft zwischen dem Bürgerwillen und dem Handeln der Eliten wächst von Jahr zu Jahr. Eine Zügelung des Finanzkapitals, eine Besteuerung obszöner Einkommen, eine Bildungsexplosion, ein soziales Gesundheitssystem – für all das gibt es in Deutschland verfassungsändernde Mehrheiten. In der Demoskopie. Nicht im Parlament. Stehen wir also dicht vor einer Rebellion? Die erste Antwort lautet: Keine Spur davon. Krise hin, Klima her: In den entwickelten Konsumdemokratien verebben die Revolten im Schlick der Medien und der Gewohnheiten. Wir nicken freundlich zustimmend, wenn Ex-Fußball-Star Eric Cantona uns aufruft, millionenfach am 7. Dezember unsere Konten leerzuräumen, um das teufliche Finanzsystem endlich zum Kollaps zu bringen, aber natürlich bleibt es beim verbalen Happening. Wo Rebellentum den Herrschenden wirklich weh tut, wie im Fall Wikileaks, schlagen die Blamierten hart mit Polizei und Technik zurück, und die Öffentlichkeit nimmt eher am Internet-Superman Julian Assange Anteil als an den skandalösen Untergründen von Banking und Politik. An die gewöhnen wir uns gerade schleichend, mangels alternativer Mächte.

greffrath

Futtergetreide für die Schweine Europas wächst; wo Despoten auf Öl oder Uran sitzen und sich auf Kosten der Völker bereichern; wo die kapitalistische Modernisierung nachgeholt wird, mit all ihren Opfern, wie in China. In Tunesien, wo eine gebildete Mittelschicht die Diktatur eines Clans abschüttelt, der Zorn sich effektiv über Twitter und Facebook organisiert und in den Halbdespotien Arabiens einen Flächenbrand auslöst. In Ägypten steht das Volk auf und blamiert die westlichen Wirtschafsregierungen, die jahrzehntelang Diktatoren umschmeichelten. Aber unsere spontane Euphorie ist überschattet. Erfahrene Zeitungsleser wissen: Revolutionen sind nur noch siegreich, wenn die Börsen und die Supermächte sie zulassen. Rebellionen finden statt, weil Rebellen keine andere Wahl mehr haben. Sie sind Befreiungsschläge, wenn alle Einsprüche, alle Eingaben, alle Argumente nicht geholfen, ja nicht einmal eine öffentliche Stimme gefunden haben. Etwas, das stärker ist als alle strategische Vernunft, treibt sie an: der Hunger die schlesischen Weber 1844, die Haitianer 2008; das verletzte Rechtsgefühl die Bauernkrieger zur Lutherzeit und die Landlosen in Brasilien heute. Der Freiheitsdurst die Barrikadenkämpfer von 1848, die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die Jugend Ägyptens. Die Rebellen in den Geschichtsbüchern sind Verlierer: Revolutionäre, die nicht genug Bataillone auf ihrer Seite hatten, um eine neue Rechtsordnung zu gründen. „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus“, rief Thomas Müntzers Haufen. Aber auch wenn sie zerschlagen und in Blut erstickt werden, Rebellionen wirken untergründig weiter – als Ikonen eines unzerstörbaren naturrechtlichen Glaubens, der da sagt: Kein Mensch soll hungern und keiner soll getreten werden. So werden sie tradiert durch Hollywood: Spartacus, Robin Hood, Garibaldi, Zapata, Solidarność. Und die fiktiven und gerechten Supermänner aller Zeiten bevölkern die Comic-Tagtraumwelten unserer Kinder.

Unter der milden und geregelten Herrschaft von Kapital, Konsum und Partei-Eliten sind Rebellionen, groß und heroisch geschrieben, kaum noch denkbar. Seit wir im „Prozess der Zivilisation“ immer mehr Verantwortung in die Hände von Großunternehmern, Bürokratien, Regierungen mit Gewaltmonopol gelegt haben – und damit Sicherheit und Wohlstand gemehrt –, wird der politische Rebell zum Irrläufer. Und wird als solcher behandelt. In Diktaturen verschwindet der Dissident, wenn nicht im Folterkeller, dann in der Psychiatrie. In Gesellschaften, in denen Ausbeutung und Massenhedonismus eine geregelte Liaison mit demokratischen Verfahrensregeln und medialer Programmierung eingegangen sind, versickert der rebellische Impuls. Wenn keine starken Handlungen möglich sind und Rebellionen, Revolutionen gar brechen heutzutage allen- 1 6 die kulturindustriellen Sedativa versagen, versteigt sich der falls dort aus, wo die Bauern hungern, weil auf ihrem Land 1 6 Zorn in mörderische Abstraktionen, explodiert in Amok-

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MathiaS

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läufen, oder – das ist die regel – führt als versteinerte Wut zu Vandalismus, hyperaktivität oder depression und wird dann ambulant von der pharmaindustrie versorgt. die Wohlstandsrebellionen der Jugend reagieren zwar seismographisch auf globale Miseren – fernes Elend, sinnlose arbeit, Unrecht, Unfreiheit und Naturzerstörung – aber erschöpfen sich schnell im weiteren lebenslauf. ihre ästhetischen ausdrucksformen – ob Woodstock, punk oder Naturromantik – werden dankbar von textil-, Fahrzeug- und Vergnügungsindustrie weiterverarbeitet. aber je starrer die flexiblen Verhältnisse werden, desto stärker die Sehnsucht nach Menschen, die den Gang der dinge nachhaltig unterbrechen. oder das zumindest fordern. oder schreiben. oder singen. auf platz 1 und 2 bei Google stehen unter „rebellion“, noch vor der Begriffsklärung: eine power-Metal-Band und ein hersteller von Gewaltspielen. Und in einem Chat dieser tage kann man lesen: „a: Keine meiner Freunde sind rebellen. darf ich mit dir über rebellentollfinden quatschen? B: ich habe hautnah Kontakt zu einem rebellen! ich habe schon erfahren, dass er öfters weint und gerade dabei ist, einen text über Quantenphysik zu verfassen. C: Einer meiner Freunde ist ein wahrer rebell. Er liebt opern.“ Wer es hierzulande, in Europa, noch ernst meint mit der rebellion, sollte abschied nehmen von opernhaften Bildern. Nur politische romantiker sehen in der seelischen Not der Vorstädte, in arbeitslosen Subkulturen, Vandalismen, Krawallen oder plünderungen den rohstoff für revolten. Etwa die autoren des Manifests Der kommende Aufstand, eines weiteren Bestsellers der intellektuellen Unbehagens-industrie. „die Gegenwart ist aussichtslos“, lautet das resümee ihrer mehr an heideggers Bauernund handwerkerwelten als an Marx geschulter Zivilisationskritik. das mag dem lebensgefühl zukunftsloser Jugendlicher, verzweifelter Ökologen und den Sinnkrisen angestellter Kulturträger poetischen ausdruck verleihen. aber das schöne pamphlet ruft nicht zur rebellion auf, sondern zum ausstieg aus der Gesellschaft, in kleinen Gruppen, die partisanenmäßig Sand ins Getriebe der Krisenwelt streuen und sich mit Stromdiebstahl, hausbesetzungen und Sozialtransvers über Wasser halten, bis zur Zeit nach dem „Crash“. oder das heil wird – bei einigen amerikanischen Fundamentalökologen – in der Sabotage von produktionsanlagen und infrastrukturen, pipelines, Versorgungsnetzen, Verkehrswegen, Medien gesehen. Je schneller Schluss ist mit all dem, desto eher kann das unausdenklich Neue anbrechen. Man möchte sich nicht ernsthaft vorstellen, wie ein Staat reagieren würde, in dem techno-rebellen solchen anregungen folgen. der letzte Sieg der Freiheit wird trocken sein, schrieb der republikaner Gottfried Keller im 19. Jahrhundert, und die rebellen unserer tage finden wir nicht mit den phantom- 1 8 bildern von damals. Sie wohnen nebenan und nirgendwo. 1 8

Zum Beispiel als „désobeisseur“, als Gehorsamsverweigerer. Mehr als dreitausend französische lehrer haben sich so geweigert, eine dumme und diskriminierende Schulreform umzusetzen. Sie wurden mit herabstufung und Gehaltskürzungen bestraft. diese Bewegung des „ethischen Ungehorsams“ scheint um sich zu greifen: angestellte der Elektrizitätswerke stellen zahlungsunfähigen Kunden den Strom wieder an, ihre Kollegen in den arbeitsämtern solidarisieren sich mit ihren Klienten, polizisten lehnen es ab, asylantenfamilien zum Flugzeug zu bringen. Nicht, dass sie es tun, sondern dass sie es öffentlich tun ist neu. Und es zeigt: der Virus der rebellion ist nicht ganz auszumerzen.

FÜNF HÖFE

Noch einmal: Mexiko, China, Guinea, die arabische Welt haben andere probleme – auch wenn sie von unserer art zu leben und zu wirtschaften verursacht werden –, und deshalb sehen rebellionen dort gelegentlich immer noch wie früher aus. aber die revolte unter den Bedingungen der medialen Konsumdemokratie: das wäre die massive und massenhafte inbesitznahme unserer Bürgerrechte, die wir den gescheiterten rebellionen und gelungenen revolutionen der Vergangenheit verdanken. „Wutbürger“ – das könnte ein anfang sein. aber nur die lange Wut verändert die Welt. der westeuropäische rebell, will er wirklich wirksam sein, rennt nicht länger als Volksheld gegen die Bollwerke gieriger und gewalttätiger Eliten an, sondern kämpft als Staatsbürger gegen die Enteignung dessen, was seine Vorfahren errungen und wofür sie teuer bezahlt haben – ob er die Namen und Werke von Bebel und rathenau, von Büchner und Brecht oder den Fidelio nun kennt oder nicht. Und weil partisanen am besten in heimischem Gelände kämpfen, geschieht das am aussichtsreichsten in ihrer region, ihrer Stadt: um ihr Wasserwerk, ihre Schulen, ihre arbeitsplätze. oder ihren Bahnhof. der rebell 2011 setzt nicht paläste in Brand, sondern parlamente instand. Fordert nicht mit dem degen, sondern mit der Verfassung in der hand die Vollendung der demokratie in deutschland. „Wir sind das Volk“, das war noch feudal: „Bitte bitte, liebe obrigkeit, hör uns an, setz dich mit uns an den runden tisch!“ die kommende rebellion ruft: „Wir sind der Staat!“ der letzte Sieg der Freiheit wird trocken sein – das ist nur halbwahr. denn möglich wird er nur durch die kleingemünzte Energie starker Gefühle: von Mitgefühl und Zorn, liebe und Verachtung, heimatliebe und Freiheitstrieb. Ganz große Emotionen für ganz kleine Schritte. der weise Jacob Burckhardt schrieb in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen: „Um relativ nur Weniges zu erreichen … braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen lärm.“ Sie braucht den rebellen. heute mehr als kürzlich noch: it’s a hard rain’s gonna fall …

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I NT ERV I EW

Die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova feierte mit Partien von Mozart und Rossini auf den größten Bühnen der Welt Erfolge und gilt als Spezialistin für „Hosenrollen“ – wie den Romeo in Vincenzo Bellinis I Capuleti e i Montecchi, mit dem sie in München gastiert. Eine Künstlerin, die „Musik als das Ehrlichste, was es gibt“ begreift und auch über den „Affenzirkus Oper“ kein Blatt vor den Mund nimmt.

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I NT ERV I EW C H R I S T I AN BER Z I NS F OT O G RAF I E ANNE MOR G ENS T ER N

M A X J O S E P H Frau Kasarova, ich habe vor kurzem mit dem ehemaligen Zürcher Opernhausdirektor Christoph Groszer gefrühstückt … V E S S E L I N A K A S A R O V A … Oh, er lebt noch! M J Sehr vergnügt sogar. Er wohnt mit Tochter und Enkel auf einem wunderschönen Landgut in Apulien und erzählte, wie er 1988 nach Bulgarien kam, Sie bei einem Galakonzert hörte und auf der Stelle in Zürich unter Vertrag nahm. Für ihn war es ein Coup. Was war es für Sie – eine Flucht in den Westen? V K Nein, und dahinter stand auch kein lang gehegter Wunsch, ich hatte vielmehr große Bedenken. Meine Mutter fragte mich damals sorgenvoll: „Vesselina, weißt Du, was Du machst?“ M J Kein Gang von der Unfreiheit in die Freiheit? V K So habe ich nie gedacht, obwohl wir in Unfreiheit I lebten und meine Familie indirekt gelitten hat. Bulgarien habe ich eine tolle musikalische Ausbildung zu C verdanken. Zürich war eine Chance für meinen Beruf, A für meine Persönlichkeit. P M J Sie wären dafür auch nach Moskau gegangen? U V K Ja, wahrscheinlich, denn ich wollte singen. Viele BulL garen sind nach Moskau gegangen, auch Nikolai Ghiaurov E oder Ghena Dimitrova. T M J Kaum in Zürich richtig angekommen, waren I Sie auch schon wieder weg. Über Salzburg und Wien ging’s in die große Opernwelt. Nicht alle können mit E dem schnellen Erfolg umgehen. Wie haben Sie das gemacht? I V K Ich habe dieses Leben genossen, aber längst nicht alles mitgemacht. Mir war bewusst, was mit M mir passierte. Ich wollte kein Produkt werden, nicht O zu sehr im Mittelpunkt stehen. Der Druck, schnell N und auf Risiko zu arbeiten, war groß. Viele Sänger T leiden darunter, viele können dem vorgegaukelten E Niveau gar nicht entsprechen. Ich war stolz und ideC alistisch, wollte etwas erreichen, weil ich wusste: Ich C kann etwas. H M J Haben Sie damals abends vor dem Zubettgehen dem I Schicksal gedankt? V K Oft, denn von irgendwo hat man ja dieses Talent, diese Stimme. Aber ich hatte auch Antennen, die mir den richtigen Weg wiesen. Ich begegnete Nikolaus Harnoncourt und Edita Gruberova, zwei einzigartig starken Persönlichkeiten, die jahrelang für ihre Kunst gekämpft haben. Ich spürte bei der Arbeit mit Edita Gruberova, dass ich meine Persönlichkeit entwickeln muss und sagte mir: „Sei individuell, kopiere nicht!“. Durch meinen Beruf habe ich gelernt, dass Leute nur von mir berührt sind, wenn ich ehrlich bin. Auch das Lächeln beim Applaus ist so ein Ding: Es gibt Sänger, die lächeln auf Knopfdruck. Für mich muss Kunst ernst sein. M J Sie bewundern diese zwei Kämpfernaturen. Wurden Sie selbst zu einer Kämpferin, ja zu einer Rebellin? V K Ich habe immer gekämpft, aber auf eine gute 2 1 Weise. Ich habe vor kurzem in Basel mit jungen Sän2 1


VE SSE liNa

K a S a r o Va

gern gearbeitet und sagte ihnen: „lasst keine bösen Gedanken gegen Konkurrenten zu. diese negative Energie zerstört euch!“ Erfolg macht unruhig. Manchmal kommen junge Sänger zu mir, die schon bei dieser und jenem waren. die sind völlig durcheinander – eine Qual. dann frage ich sie: „Warum haben Sie zu singen begonnen?“ M J Und wenn Sie diese Frage für sich selbst beantworten, was ist ihre antwort? V K ich wollte etwas ausdrücken. M J Sie kämpften auch gegen den Betrieb, indem sie immer wieder rollen ablehnten. V K Ja, in dieser hinsicht musste ich rebellisch sein, obwohl es mit viel risiko verbunden war. ich habe immer wieder gedacht: Was passiert, wenn du das nicht annimmst? ich debütiere nächste Saison als Eboli, hätte die rolle aber schon 1989 singen sollen i – vor 22 Jahren! M J Wie konnten Sie den Wünschen der intendanten und C dirigenten widerstehen? a V K Mit tricks, mit diplomatie, mit viel hin und her. p Wie oft sagte ich: „Eine wunderbare idee, aber ich bin U noch nicht bereit.“ Brangäne, Venus, amneris – alles wurl de mir schon angeboten. E M J Kommt es auch vor, dass Sie gegen regisseure t rebellieren? i V K ich bin offen für vieles, es ist egal, ob ich ein modernes oder ein traditionelles Kostüm trage. aber es E ist nicht egal, mit wem ich spiele, denn manchmal stecke ich in einem Korsett: ich könnte spielerisch i viel mehr machen, aber die regisseure und Kollegen wollen das nicht. M M J Geben Sie sich also manchmal zu früh geschlagen? o V K Was soll ich tun? Mache ich zuviel, störe ich. ich habe N schnell verstanden, dass ich mich anpassen muss. ich will t mir mein leben nicht mehr so schwer machen. auf der E Bühne bin ich das produkt eines regisseurs. C M J der aber vielleicht manchmal weniger weiß C als Sie? h V K ich habe auch respekt vor denen, die im Moi ment noch nicht so viel wissen. Was bringt es, wenn ich sage „das ist Quatsch!“ und die produktion verlasse? ich gewinne, wenn ich weitermache. Bleiben und kämpfen – ein Kampf mit sich selbst. Wir Sänger müssen rebellisch und kämpferisch sein, aber im positiven Sinn. Mit diesem denken bin ich in den letzten Jahren ruhiger geworden, akzeptiere, was da kommt. Es bringt nichts, mit dem regisseur zu streiten, auch wenn einige keine ahnung von oper haben. Manchmal müssen wir Sänger lachen. Es kommt vor, dass eine neue produktion nur wenig Substanz hat (schaut sehr ernst). Finden Sie das nicht auch? M J doch, ich habe es ja eben wieder bei der Saisoneröffnung der Scala in der Walküre gesehen: die Sänger waren völlig auf sich allein gestellt, Waltraud Meier hat sich 2 2 dann in der lokalpresse heftig darüber beklagt. 2 2

i Nt ErV i EW

V K Sehen Sie! ich bin auch ehrlich, aber wer über das Geschehen hinter der Bühne die Wahrheit sagt, gilt sehr schnell als schwierig und kompliziert. M J Sie sagten mal, dass die oper ein affenzirkus sei. Wer sind die affen? V K Wir alle, die Künstler: regisseure, dirigenten, Sänger. Was hinter der Bühne manchmal läuft, ist ein Zirkus. M J Eine Show? V K Wir Sänger wechseln von einem Baum zum anderen, von einer produktion zur nächsten, anstatt nach einer premiere zur ruhe zu kommen. oft geschieht es auch, dass wir einen Monat lang ohne ein Konzept proben. M J das muss frustrierend sein. V K Ja, deswegen spreche ich vom affenzirkus. Wir Sänger stehen oft blöd da und wissen nicht, war-

„Musik ist das Ehrlichste, was es gibt. Wenn die Vorstellung beginnt, überstrahlt sie alles, egal, welchen Blödsinn man auch immer auf der Bühne tut!“ um. Man darf uns nicht unterschätzen. Wir bringen manchmal eine inszenierung, die nichts darstellte, auf ein gewisses Niveau. M J Sie haben in einem interview mit der Zeit … V K immer wieder dieses interview! Was stand dort? M J Sie sagten, wie fürchterlich ihr Beruf sei. V K das ist er manchmal – neben allen positiven dingen. allen geht es so. M J Warum malen dann alle ihre Welt schön? V K Eigentlich wollen alle – regisseur, Sänger, dirigenten – etwas Gutes machen. aber manchmal sind wir opfer: Kann man proben, wenn man in einem großen leeren raum singen muss? das originaldekor sehen wir erst zehn tage vor der premiere, man kann sich dann nicht mehr wehren, wenn etwas nicht passt. dann kommt plötzlich noch ein lautes orchester hinzu. Was passiert? Es wird geklagt, die Sänger seien zu leise. M J Was ist denn das Schönste an ihrem Beruf? V K (begeistert) das Singen! Musik ist für mich das Ehrlichste, was es gibt. durch die Musik verstehe ich die Welt. Beginnt die Vorstellung, ist die Musik über allem, egal, wie die inszenierung aussieht, welchen Blödsinn man auch immer auf der Bühne tut. Mozart ist so stark, dass man ihn mit keiner regie zerstören kann. M J Und die tägliche arbeit an der Stimme? V K auch das ist sehr schön. aber je unsicherer ein Mensch ist, je egozentrischer, desto mehr leidet er in diesem Beruf. irgendwann stürzt man ab. Wenn man etwas erreicht hat,

M J Sind Sie im Unterschied zu romeo und Julia einmal der liebe ausgewichen? V K Nein, so weit ging ich dann doch nicht. ich kann mir diese Situation nicht vorstellen, da ich so gute Eltern hatte: ich habe auf sie, und sie haben auf mich gehört. M J Folgen Sie allgemein eher dem Kopf als dem Bauch? V K Ja, aber ich handle auch mit dem Kopf intuitiv, intuition hat nämlich viel mit intelligenz zu tun.

i C a p U l E t i E

darf man nicht immer gleich mehr wollen. Es gibt keine Stimme, die alles kann. Erfolge soll man genießen, aber i dabei versuchen, die Qualität zu halten. Je länger ich dabei bin, desto kritischer werde ich. M M J Sind Sie dennoch eine glückliche opernsängerin? o V K Was ist Glück? Momente, Sekunden? Beim N Singen stimmt in kurzen Momenten alles. durch t die Musik habe ich viel von den Menschen erfahren, E aber das größte Glück ist meine Familie. C M J Könnten Sie morgen aufhören zu singen? C V K ich wäre dazu in der lage, weiß aber nicht, wie weh mir h das täte. ich hoffe, dass ich noch lange werde singen können. i M J als nächstes steht Bellinis I Capuleti e i Montecchi an der Staatsoper in München an – Bellinis Vertonung des Stoffes Romeo und Julia. Mögen Sie diese Geschichte? V K Nicht so sehr (lacht erstaunlich laut)! M J Mögen Sie Julia? V K ich weiß es nicht, ich bin schon ein romantischer typ, aber diese liebe? Naja. ich mag die tragik am Ende. M J hätte romeo dieser unseligen liebe ausweichen sollen? V K das wäre schade, dann würde uns das Finale verloren gehen (lacht) – meine große arie. M J alleine wegen der Musik sollen romeo und Julia unvernünftig sein? V K Ja! Ganz im Gegensatz zu mir: ich bin ein sehr rationaler Mensch. ich gehe kein risiko ein und experimentiere 2 3 nicht mit meinem leben. 2 3

Der Zürcher Journalist Christian Berzins ist Kulturredakteur der Aargauer Zeitung und schreibt auch für das Schweizer Kulturmagazin DU und die Weltwoche. Vesselina Kasarova wurde 1965 in Stara Zagora (Bulgarien) geboren. 1989 schloss sie ihr Gesangsstudium ab und kam ans Opernhaus Zürich. 1991 debütierte sie bereits bei den Salzburger Festspielen und wurde kurze Zeit später Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper. Bald sang sie an den größten Häusern und nahm zahlreiche CDs auf. Kasarova ist verheiratet, hat einen zwölfjährigen Sohn und lebt bei Zürich. CDs (Auswahl): Belle Nuit. Arien und Ouvertüren von Jacques Offenbach. RCA/Sony BMG 2008. Sento Brillar. Arien von Händel. RCA/Sony BMG 2008. Bulgarian Soul. RCA/Sony BMG 2003. I Capuleti e i Montecchi Tragedia lirica in zwei Akten von Vincenzo Bellini Premiere am Sonntag, 27. März 2011, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 90.


NE UME I E R

»dIeses balleTT geHöRT naCH MünCHen«

Foto: David Maupilé

JO H N

John Neumeier kehrt nach München zurück. im „ludwig-Jahr“ tanzt das Bayerische Staatsballett zur Eröffnung der BallettFestwoche die von der tragödie des Bayernkönigs inspirierte tschaikowsky-adaption des hamburger tanzfürsten Illusionen – wie Schwanensee interview: Klaus Witzeling

M A X J O S E P H Fünf ihrer Ballette sind seit 1973 vom Bayerischen Staatsballett aufgeführt und ins repertoire übernommen worden, nur nicht Illusionen – Von der revolution zum Klassiker: John Neumeier hat in wie Schwanensee. Warum hat es seit dem erfolgreiseiner Version von peter tschaikowskys Schwanensee Elechen Gastspiel 1978 so lange gedauert, bis das Ballett mente des tanzes und theaters innovativ verbunden. 1976 endlich in München angekommen ist? in hamburg uraufgeführt und nun selbst ein Klassiker im J O H N N E U M E I E R Woran das genau lag, kann enormen Œuvre des Choreografen und Ballett-intendanten, ich nicht sagen. Eine Ursache mögen die wechselnden steht Illusionen – wie Schwanensee exemplarisch für seine Ballettdirektoren gewesen sein. ich versuche ja nicht, dramaturgie der Erinnerung und des traums in szenischen, meine Ballette direkt zu verkaufen. ich warte auf eine filmartig geschnittenen rückblenden. in der durch die traEinladung oder einen einleuchtenden Grund, warum gödie des Bayernkönigs ludwig ii. inspirierten adaption die Einstudierung einer meiner Choreografien gewandelt sich das romantische Märchenballett zur darstellewünscht wird. als mich ivan liška vor zwei Jahren risch wie stilistisch facettenreich getanzten Seelenstudie eidarum gebeten hat, konnte ich nur sagen: Selbstvernes innerlich zerrissenen Künstlers auf dem thron, in der ständlich, dieses Ballett gehört nach München. sich Fantasie und Wirklichkeit durchdringen. die inszenieM J Könnte das Zögern nicht auch an ihrer für die Siebzirung in der opulenten ausstattung von Jürgen rose ist pagerjahre unkonventionellen Sicht des Königs gelegen haradigmatisch für das von Geschichte, literatur, psycholoben, den Sie als Künstlertypus und rebellen in politischer gie und regietheater animierte und belebte Ballettdrama wie erotischer hinsicht zeichnen? Neumeiers. J N Nein, das glaube ich nicht. Weil ich Ballett nicht als ein realistisches Medium sehe. Mein Ballett ist keine historiKapitel einer einzigartigen sche dokumentation. die inspiration zu meiner KönigsfiBallett-Geschichte: gur, die ich bewusst nicht ludwig ii. nenne, habe ich zwar John Neumeier 1967 im Kostüm von Jeu de cartes eindeutig durch den Bayernkönig. aber wichtig sind auch von John Cranko. parallelen zwischen ihm, dem prinzen Siegfried im Ballett Foto: Klaus Mocha und dessen Komponisten peter tschaikowsky. ich wollte meiner zerrissenen Königsfigur etwas allgemeingültiges geben und nicht behaupten: das ist wirklich ludwig ii., und die historische Geschichte war tatsächlich so. Es gab beispielsweise keine prinzessin Natalie aus polen. Man hätte sagen können: Ja, herr Neumeier haben Sie denn nie ein Buch über ludwig ii. gelesen? außerdem: das Kunstmedium tanz verlangt eine besondere dramaturgische Struktur. 3 6 Und ich versuchte, meine mit dem ursprünglichen Konzept 3 6 von reisinger* und tschaikowsky und vor allem natürlich

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JO H N

NE UME I E R

John Neumeier als Hortensio bei der Premiere von Der Widerspenstigen Zähmung von John Cranko im März 1969. Foto: Jorge Fatauros

INTERVIEW Neuschwanstein an der Elbe: Alexandre Riabko als der von König Ludwig II. inspirierte „König“ im Jahr 2010 in der Hamburger Wiederaufnahme von Illusionen – wie Schwanensee. Foto: Holger Badekow

dahin stellte man die Frage nicht beim Ballett: hier der ivanow-Fassung* für den zweiten „weißen akt“ abzuwar man im theater und das orchester spielte. gleichen und diese einzubeziehen, so gut es möglich war. M J Geht es ihnen um einen gedanklichen oder emotionaM J Zur Zeit der Uraufführung hat Illusionen Furore len Wendepunkt, an dem ein Sänger zu singen, ein tänzer gemacht, erntete Begeisterung und harsche Kritik. zu tanzen beginnt? J N Mein Nussknacker war noch davor und wirkte J N Genau. Meyerbeer – Schumann, Daphnis und Chloé und schon revolutionär, weil er nicht zu Weihnachten auch die Illusionen beginnen mit einem prolog in der Stille. spielt. aber Schwanensee war eine noch heiligere Kuh Zwei Wachleute bringen den König in ein Gebäude, das ihm – ich wollte sagen: ein noch heiligerer Vogel. Mats Ek fremd, dem Zuschauer fremd ist. Erst als er das Schwanenhat mir Jahre später gesagt, wie beeindruckt er von emblem auf seinem Kostüm zufällig berührt, es bewusst aufmeiner produktion war, dass sie ihm den Mut für seinimmt, überwältigen ihn Erinnerungen, und wir hören ne gegeben hat. Es mag schon revolutionär gewirkt die Musik seiner Emotion, seiner Erinnerung. das Ballett haben, war aber nie mein Wunsch, absichtlich etwas Schwanensee beginnt … revolutionäres zu machen. ich war nur davon überM J … in dem bei ihrer interpretation auch homosezeugt, dass ich Schwanensee nicht anders hätte inszexualität ein zentrales Motiv ist. Wir werden heute nieren können. von schwulen Bürgermeistern regiert, aber 1976 war M J der Ballettkritiker horst Koegler spricht in seinem das noch undenkbar. hatten Sie in irgendeiner Form Buch über Sie im Zusammenhang mit den drei tschaiSchwierigkeiten damit? kowsky-Klassikern Nussknacker, Schwanensee und DornJ N Wenn ich zurückdenke, war es auch damals kein röschen von einer hamburgischen dramaturgie des Balproblem für mich. in meinen ersten Vorstellungen letts. Können Sie das Konzept skizzieren? vom Ballett sah ich einen prinzen am rand eines SeeJ N Schön, dass herr Koegler das so sieht. Mir ging es ufers gehen und hinter ihm einen schönen Mann in bereits 1974 beim Meyerbeer – Schumann-abend einfach um Schwarz. ich habe nicht gefragt: darf ich das machen? meinen Versuch, die tatsache, dass ein Ballett ein Ballett ich bin zwar nicht jemand, der auf dem Christopher ist, aufzubrechen und mir zu sagen: Ein Ballett ist auch Street day mitgeht, aber das Männer-duo habe ich nie eine Form von theater. das war vielleicht eine revolutioin Frage gestellt. allerdings habe ich offen gelassen, ob näre ausgangsidee. der Mann im Schatten einen doppelgänger oder einen M J Was war denn das Neue an ihrem Meyerbeer – todesengel verkörpert, also den Wunsch nach einem Schumann-Ballett? liebhaber, die Schuldgefühle des Königs oder dessen J N der Vorhang ging auf. im dunkeln hörte man todessehnsucht. ich will der Figur ihre Vielseitigkeit eine alte originalaufnahme von Enrico Caruso, der erhalten, sie nicht erklären und ihr die Magie nehmen. eine arie aus Meyerbeers L’Africaine sang, wähdas hat mit derselben idee zu tun, warum ludwig rend Will Quadflieg Briefe von Schumann und Boy schlicht „der König“ heißt. Gobert Briefe von Meyerbeer zitierten. dann, als M J Gab es für Sie bei der inszenierungskonzeption Einflüsdas licht langsam kam, sah man zwei tänzer in se oder Vorbilder von theaterregisseuren? trainingskleidern, die an der Stange ihr Exercise J N als Jürgen rose und ich mit der großen Ballett-literamachten. auf der Bühne lagen Kleidungsstücke hetur des 19. Jahrhunderts experimentierten, waren wir stark rum. Neugierig nahmen die tänzer sie auf, probiervon peter Stein geprägt. die Kostüme sollten bis ins letzte ten, zogen sie an, schlüpften ins Kostüm – und dadetail stimmen. Wir fragten uns, wie wir die magische reamit in die Figuren, standen als Meyerbeer und lität seiner Schauspiel-inszenierungen auf die Ballettbühne Schumann da. das regietheater in der oper stellt die Frage: Warum singt einer? Warum höre ich Mu- 3 8 übertragen könnten, um Ähnliches zu erreichen wie Stein in sik? ich stellte die Frage: Warum tanzen wir? Bis 3 8 seinem Peer Gynt. auch der französische regisseur patrice

M J haben Sie jemals davon geträumt, in einem Chéreau war mit seinem körperlich-sinnlichen inszenieSchloss zu wohnen? rungsstil sehr wichtig für mich. Er hat mich darauf gebracht, J N Ja, immer (lacht lauthals). tatsächlich träume dass man einem klassischen Werk trauen und versuchen ich immer wieder, dass ich in Schlössern wohne. Ein muss, dessen Wahrheit so intensiv zu begreifen, dass es in interessanter traum, weil ich weiß, es gibt räume in seiner eigenen Stimme neu klingt – auch im traditionsbeladiesem haus, die ich noch nicht gesehen habe. das ist denen Ballett. ein ganz aufregendes Gefühl. M J Beide regisseure revolutionierten zu ihrer Zeit M J Sie haben sich doch ihr Schloss gebaut, oder nicht? ähnlich wie peter Brook die internationale und deutJ N Nur ein ganz kleines, bescheidenes. Seit ich aus meinem sche theaterszene. Welche rebellen waren in der Zuhause in amerika wegging, hatte ich nicht in einem haus tanzkunst für Sie richtungsweisend? gelebt. ich bin gewarnt worden: Warum wollen Sie in einem J N Vaslav Nijinsky natürlich. Seine Kreativität und haus wohnen, normalerweise bewohnen die leute doch imden Mut, dinge zu verlangen, die so außergewöhnlich mer nur gewisse räume? ich mache das nicht. Seit drei Jahund innovativ waren für die Menschen, mit denen er ren wohne ich wirklich in meinem ganzen haus. Je nachdem, gearbeitet hat, empfinde ich als revolutionär. Man was ich mache, benutze ich verschiedene räume. ich bewohne konnte damals doch noch keinen Vergleich zu arbeiten dieses haus in seiner Fülle. ich sage das, auch wenn ich in einer Martha Graham oder eines Merce Cunningham Verdacht geraten sollte, größenwahnsinnig zu sein. ziehen. Unter den amerikanischen zeitgenössischen M J Mit dem Ballettzentrum – horst Koegler nennt es Choreografen ist Jérome robbins ein Vorbild, vor alin seinem Buch ein Ballettimperium – haben Sie sich lem die Konzepte für seine weniger bekannten Ballette doch auch ein eigenes reich geschaffen? The Guests oder auch The Age of Anxiety, die auf seiJ N das sehe ich anders. das Ballettzentrum ist aus ner Beschäftigung mit der psychoanalyse basieren, einem Kern entstanden. als ich nach hamburg gekombeeindruckten mich sehr, obwohl ich sie nicht gesehen men bin, wo ich übrigens anfangs nicht gewollt war, hatte. Er war insofern rebellisch, als er eine seiner weil man nicht wusste, was dieser junge revolutionäre wichtigen Schaffensphasen unterbrochen hat, sich für typ da anstellen würde, fing ich in einem kleinen Büro zwei Jahre in ein Studio zurückzog, um wie in einem an, das ich mit meinem Ballettmeister teilte, weil es labor die choreografischen arbeitsmethoden auf die der einzige raum mit dusche war. als man den Erfolg Entwicklung von neuen theaterformen anzuwenden. bemerkte, musste man diesen Erfolg sichern, und es M J in welchen arbeitsschritten entwickelt sich die Neubedurfte auch der Vergrößerung, weil die anforderuneinstudierung von Illusionen? gen mit mehr Vorstellungen, Gastspielen und der BalJ N Gebe ich ein größeres Werk an eine andere Compagnie, lettschule gestiegen sind. das Zentrum ist da, weil die ist meine erste Frage: passt es zu ihr oder nicht? Was werarbeit solche dimensionen angenommen hat. aber ich den wir beide, die Compagnie und ich als Choreograf, voneihabe nie gesagt, ich komme nur nach hamburg, wenn nander lernen? Über die antwort entscheide ich eher intuiich ein Ballettzentrum erhalte. tiv, aber sie hängt auch von der Kapazität und Qualität des M J Sie sind als revolutionärer typ gekommen und stehen betreffenden Ensembles ab, welches das Werk einstudiert. jetzt als etablierter Ballettintendant auf der anderen Seite. im zweiten Schritt überprüfe ich die Besetzungen, mit deWie kommen Sie mit diesem Wechsel zurecht? nen meine assistenten zuerst Szenen und Schritte erarbeiJ N ich empfinde das nicht so, ich habe mich nicht völlig ten. in der anfangsphase vermittle ich auch inspirationen verändert. Jedes Mal, wenn ich vor einem neuen Ballett stezu den Charakteren und Situationen. in den letzten zwei he, frage ich mich: Kann ich das überhaupt oder schaffe ich oder drei Wochen bin ich wieder dabei, überprüfe die Bühneneinrichtung und lasse mich auch zu Änderungen durch 3 9 es? das Entscheidende ist noch immer die Kreativität. die die neue Besetzung inspirieren. 3 9 potenz von Kreativität ist es, die den Garten wachsen lässt.


JO H N

NE UME I E R

Weiße Akte, heilige Kuh? Mit Illusionen – wie Schwanensee revolutionierte John Neumeier den Klassiker des Handlungsballetts. Foto: Holger Badekow

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wenn ich auf junge Choreografen treffe, begegnen sie Wenn das nicht mehr da ist ... ich glaube nicht, dass ich ein mir mit großem respekt, mehr, als ich eigentlich eradministrativer Ballettdirektor sein könnte, selbst wenn ich warte. Was sie von einzelnen Werken halten, kann ich zwei Zentren hätte. nicht sagen, das ist ihre eigene Meinung. aber ich fühle M J Wollen Sie neben ihrem Werk auch mit ihrer mich gut in der auseinandersetzung mit den neuen reSammlung etwas Bleibendes schaffen? bellen dieser Zeit. J N Nicht jede privatsammlung beginnt mit dem GeM J Sie haben sich mit dem Gewicht des Ehrenbürgers auch danken, sie weiterzugeben. der anfang waren Neuin die debatten um die Kultur in hamburg eingemischt und gier und Wissensdurst. ich habe mit Büchern begoneine Form von Widerstand artikuliert. Macht sich der Unannen, lange bevor ich einen Stich, eine radierung oder gepasste in ihnen so auch im reifen Künstler bemerkbar? ein Kunstobjekt gekauft habe. ich war zunächst an J N Natürlich ergreife ich partei für die Kunst. aber vor Büchern interessiert, weil ich informationen gesamallem dadurch, dass ich an ihr arbeite und mich ihr widme. melt habe, um mein Wissen zu vergrößern. als ich ich bin hauptsächlich damit beschäftigt, an unseren nächsden Nijinsky-Kopf ersteigert hatte, kam die Freude ten Ballettabend zu denken und ihn möglichst gut über die an Kunstwerken dazu und das Gefühl, unbewusste Bühne zu bringen. ich denke an die Werke, die in dieser aspekte über diesen Künstler zu erfahren. langsam Spielzeit herauskommen: Sylvia in amsterdam, Die kleine kommen die Gedanken: diese wunderbare Sammlung Meerjungfrau in Moskau oder nun in München Illusionen – kann nicht nur für mich sein. wie Schwanensee und vor allem die premiere der Zehnten M J Verliert der rebell in der Vitrine nicht und wird zum Sinfonie von Gustav Mahler hier in hamburg. dafür muss denkmal? ich präsent sein, um sie mit meinen heutigen augen auf den J N ich lebe mit meiner Sammlung. Sie ist ein lebendiger gegenwärtigen Stand zu bringen. Schatz, der meine arbeit befruchtet. denn zur Freude und M J Werden Sie etwas an den Illusionen verändern? leidenschaft, sie auszuweiten, kommt später dann auch J N ich verspreche nichts. aber Veränderung ist der eine Verantwortung. Waren es anfangs die persönliche FasGrund, warum ich immer weiter arbeite. tanz ist Bezination und mein Bedürfnis, mehr zu wissen, kann ich jetzt wegung – alles ist möglich. die Neugier anderer Menschen wecken und ihnen die Möglichkeit bieten, diese Werke im Zusammenhang kennen zu lernen. darum habe ich auch die John Neumeier Stiftung * Die erste Choreografie zu Schwanensee stammte von einem Choreografen gegründet, um die Sammlung in ihrer Gesamtheit zu erhalnamens Julius Wenzel Reisinger und wurde zum Desaster. Erst 1894 wurde durch Marius Petipa (1. und 3. Akt) und Lew Iwanow (2. und 4. Akt) zu ten – nicht nur die Nijinsky-abteilung. Tschaikowskys Komposition eine ebenbürtige Choreografie erschaffen, die M J rebellion entzündet sich auch am Widerspruch sich bis heute behauptet. gegen die tradition und die ältere Generation. haben Sie rebellion gegen sich erfahren? J N Schwer zu beantworten. ich weiß natürlich nicht, was jüngere Choreografen über mich denken. ich weiß nur von mir: Während ich John Crankos Romeo in Stuttgart tanzte, habe ich meinen eigenen geplant und Klaus Witzeling ist Ballettkritiker des Hamburger Abendblattes die oberflächlichkeit kritisiert, mit der – wie ich „rebell“ meinte – er das Shakespeare-drama gesehen hat. Illusionen – wie Schwanensee Eröffnung der BallettFestwoche am ich war schon rebellisch und hatte meine kleine GrupDonnerstag, 21. April 2011, pe um mich, die mir wie Jünger folgte. Wenn junge Nationaltheater Choreografen meiner Compagnie so denken würden, 4 0 Weitere Termine im Spielplan hätte ich nichts dagegen und würde es verstehen. aber 4 0 ab S. 90

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