MAX JOSEPH Nr. 2 2012/13 "Wir sind das Volk"

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Max Joseph Vox populi

Calixto Bieito über Boris Godunow Zum Dinner mit Richard Jones – Hänsel und Gretel Noch Fragen? Markus Lüpertz und Jamie Oliver

Bayerische staatsoper

D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF

Wir sind das Volk


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Bayerische staatsoper

Max Joseph 2 2012 – 2013

Das Magazin der Bayerischen Staatsoper


Jon Han, Knot, 2009


Modest Mussorgsky macht in seiner Oper Boris Godunow einen ungewöhnlichen, einen manipulierbaren und einen potenziell sehr mächtigen Akteur zu einem seiner Protagonisten: das Volk. Wir erleben derzeit, wie das Volk ganz real zu einem sichtbaren Akteur geworden ist, auf dem Tahrir Platz in Ägypten, auf den Straßen der arabischen Länder, auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv, in den Occupy-Zeltstädten westlicher Großstädte. Seine Umrisse waren lange nicht mehr zu erkennen, der Begriff schien zu ruhen seit dem Zerfall der Sowjetunion 1989/90 und seitdem die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung ihm zu jener selbstbewussten Neuformulierung verholfen hatte: Wir sind das Volk. Hat das wieder erwachte Volk auch eine Stimme, eine vox populi? Janne Teller schreibt in ihrem Essay, vox populi sei lauter und vielgestaltiger denn je und doch übertöne sie nicht die mächtigste Stimme der Zeit: die des Geldes. Auch Regisseur Calixto Bieito, der Boris Godunow für die Bayerische Staatsoper neu inszeniert, hat wenig Hoffnung für die Durchschlagskraft der Stimme des Volkes, die Erfahrungen in seiner spanischen Heimat vor Augen. Begleitend zeigen wir einen Fotoessay von Till Janz, der mit modernsten Mitteln der Fotografie klassische und weniger klassische Herrscherporträts interpretiert. Mag vox populi auch nicht das Wort führen, so ist sie doch hörbar in den Geschichten und Märchen des Volkes. Die Bayerische Staatsoper zeigt Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel in der Inszenierung von Richard Jones. „Hunger ist der beste Koch“, heißt es bei Humperdinck, und so siedelt Jones die berühmte Hexenküche zwischen Mangel und Fantasie der Erfüllung aller kulinarischen Wünsche an. Für MAX JOSEPH traf die Journalistin Tina Mendelsohn den publikumsscheuen Regisseur – natürlich – zum Essen. Der Londoner Fotograf Jonnie Craig spielte für uns den Paparazzo und nahm die beiden auf, zwischen Würstchen und schweren Gedanken. Und natürlich ertönt vox populi auch in Form von Liedern. Hänsel und GretelDirigent Tomáš Hanus erzählt über den Reichtum der tschechischen Volkslieder, ihre wechselnde Bedeutung und ihre politische Kraft. In Russland gab es seit jeher eine starke Tradition, politischen Protest musikalisch auszudrücken, was sich mit den Aktionen der Punkband Pussy Riot fortzusetzen scheint. Auch die Geschichte von Sarah Khan ist eine Farbe davon, wie Lieder wirken können, wenn sie erzählt, wie ihr pakistanischer Vater mithilfe von Schlagern ein wunderbar blumiges Deutsch lernte. Wir können in Geschichten, Gesängen, ja in kulturellen Überlieferungen sehr wohl Volkes Stimme hören und erkennen, wenn der Zeitpunkt richtig ist. Wie lange wird dann eine politische vox populi wirkungslos bleiben, hat sie sich einmal als Akteurin erkannt?

Nikolaus Bachler, Staatsintendant

Editorial 5


Illustration Von Jon Han

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Editorial Von Nikolaus Bachler

Contributors / Impressum

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Playlist Gema-Chef Harald Heker über Musik, die ihn begleitet

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VOX POPULI: Hier spricht das Geld Essay von Janne Teller

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Calixto Bieito Gedanken des Regisseurs zu Boris Godunow, inszeniert in einem Fotoessay

Der Künstler als göttlicher Geselle Markus Lüpertz über die Legitimation von Kunst

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Dinner for Two Ein Abendessen mit Richard Jones, Regisseur der Hänsel und GretelNeuinterpretation. Von Tina Mendelsohn

Max JOseph 2

Foto Till Janz

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Foto Jonnie Craig

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Inhalt

Der Industriedesigner Dominique Béolet hat für das MAX JOSEPH-Cover in digitaler 3D-Rendering-Technik den Ernstfall modelliert: Aus unzähligen Megaphonen ertönt die Stimme des Volkes. Die Menschenmengen sind schemenhaft auf den spiegelnden Oberflächen zu erkennen.

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GruSS aus der Küche Jamie Oliver über das Essen seiner Kindheit und sein soziales Engagement

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WOHER KOMMT DAS SCHLARAFFENLAND? Ein historischer Blick auf Überernährung und Hunger. Von Christine Baumgarthuber


Comic Giuseppe Verdis Messa da requiem, gezeichnet von French

Foto das schmott

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Ein Schatz IN Mähren Hänsel und Gretel-Dirigent Tomáš Hanus über die Welt der tschechischen Volkslieder. Von Kilian Kirchgeßner

Spielzeit 2012– 2013

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Plötzlich VOX POPULI Regev Contes, einer der führenden Aktivisten der Sozialproteste in Tel Aviv im Sommer 2011, erzählt

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Portfolio „Ich mag Menschen, die Freude empfinden können“ – Der britische Künstler Jeremy Deller

Foto Jeremy Deller, Szene aus The Battle of Orgreave, 2004

Die dunkle Seite der Masse Franziska Augstein über das Phänomen der politisierten Masse

Illustration French

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Die Ahnen von Pussy Riot Über die Tradition des musikalischen Protests in Russland. Von Sergej Buntman

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Ein bisschen SpaSS muss sein Schlager brachten den ersten sogenannten Gastarbeitern die deutsche Sprache bei, erzählt Sarah Khan

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Spielplan

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O namenlose Freude Die Bayerische Staatsoper mit Fidelio zu Gast im Théâtre des Champs-Elysées in Paris

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Essen nach Herzenslust Kulinarische Tipps der Opernmitarbeiter

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Vorschau


Sehen Sie Sauerstoff. In einer Weltpremiere von Linde. Am Anfang stand eine Idee: unsichtbare Gase sichtbar zu machen. Wir haben einen faszinierenden, einzigartigen Ansatz entwickelt. Numerische Grafiken, errechnet aus den spezifischen Stoffeigenschaften der Gase. Mehr unter www.fascinating-gases.com. Wir unterst端tzen die Bayerische Staatsoper als Spielzeitpartner.



Impressum

Contributors

Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München T 089 – 21 85 10 20 / F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.) Redaktionsleitung Maria März Gesamtkoordination Christoph Koch Redaktion Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek, Olaf A. Schmitt, Andrea Schönhofer Bildredaktion Yvonne Gebauer Gestaltung Bureau Mirko Borsche Mirko Borsche, Johannes von Gross, Moritz Wiegand, Michael Taschinski Autoren Wolfgang Antesberger, Franziska Augstein, Christine Baumgarthuber, Regine Brandl, Sergej Buntman, Christian Carlstedt, Regev Contes, Benjamin David, Sarah Khan, Kilian Kirchgeßner, Tina Mendelsohn, Golda Schultz, Janne Teller Fotografen & Illustratoren Dominique Béolet, Dennis Busch, Regev Contes, Jonnie Craig, das schmott, Jeremy Deller, French, Gian Gisiger, Jon Han, Wilfried Hösl, Till Janz, Rinko Kawauchi, Judith Klausner, Linder (mit bestem Dank an die Modern Art Gallery, London), Dave Muller, Indigo O’Rourke, Dan Perjovschi, David Ter-Oganyan (mit bestem Dank an die prometeogallery di Ida Pisani, Mailand)

French Seite 49

Der britische Fotograf Jonnie Craig betrat im Jahr 2008, 20-jährig, die Bühne der visuellen Welt und wirkt dort seitdem als buchstäblicher shooting star. Seine Arbeiten waren in internationalen Magazinen, in Einzelausstellungen namhafter Galerien und in zwei Fotobänden zu sehen, zuletzt I’ll Kick You In The Head With My Energy Legs, 2012. Wer wissen will, worin der Funke dieses vielseitigen Fotografen besteht, der betrachte seine Bilder ab S. 30.

Als Janne Tellers Jugendbuch Nichts. Was im Leben wichtig ist 2000 in Dänemark erschien, wurde es zunächst an manchen Schulen verboten, dann aber zur Pflichtlektüre und zum internationalen Bestseller. Bis 1995 arbeitete die Dänin als Volkswirtin für die UNO und lebt heute als Schriftstellerin in New York. In Deutschland erschienen zuletzt ihre Romane Komm (2012) und Europa. Alles was dir fehlt (2011). Wie es um vox populi steht, ist zu lesen ab S. 12.

Giuseppe Verdis Messa da requiem gehörte bislang nicht zu den Sujets, die der britische Künstler und Illustrator French in Bilder übersetzte. Er zeichnet hauptsächlich für die Skateboard- und Heavy Metal-Szene, aber auch für die Mode- und Werbebranche, zeigt seine Arbeiten in Ausstellungen und betreibt einen Skateboard-Shop. Was aus der Paarung mit Verdi geworden ist: ein dunkler fantastischer Comic, zu sehen ab S. 49.

Sarah Khan Seite 86

das schmott Seite 60

Tina Mendelsohn Seite 30

Die Schriftstellerin Sarah Khan schreibt ihre Romane, Reportagen und Essays über Themen, die einem scheinbar bereits bekannt sind: über die TV-Serie ­ Dr. House (in cargo), Weihnachten auf St. Pauli (in der taz), über Geister von Berlin (bei Suhrkamp) und, für MAX JOSEPH, über deutsche Schlager. Nach der Lektüre weiß man: Man wusste nichts. 2012 erhielt die Autorin aus Berlin den Michael-Althen-Preis für Kritik. Ihr Text ist zu lesen ab S. 86.

Das Fotografenduo „das schmott“ hat die Frage nach dem gemeinsamen Namen auf die pragmatischste Art gelöst: die Verschmelzung der beiden Namen Schmitt und Ott. Ausgebildet an der Bauhaus-Universität Weimar, beschäftigt sich das Duo mit den blinden Flecken der älteren Fotografiegeschichte und experimentiert mit verloren gegangenen Materialien. Und so kann ein tschechisches Einkaufszentrum plötzlich hinter einem Märchenpark zurücktreten, zu sehen ab S. 60.

Über Tina Mendelsohn wurde einmal geschrieben, sie sei eine Spielerin, weil sie immer riskiere, ihr Gegenüber entweder zum Verbündeten oder zum Gegenspieler zu machen. Mit dieser Spannung fasziniert die Kulturjournalistin, die mit ihrer Familie in London lebt, ihre Leser und ihre Film- und Fernsehzuschauer – etwa bei der Sendung Kulturzeit auf 3sat, die sie seit 2001 moderiert. Über ihre Begegnung mit Regisseur Richard Jones lesen Sie ab S. 30.

Übersetzungen Florian Heurich, Jekatherina Lebedewa, Sabine Voss Marketing Maria Gaul T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33 marketing@staatsoper.de Schlussredaktion Andrea G. J. Hoffmann Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH, ein Unternehmen der GANSKE VERLAGSGRUPPE Harvestehuder Weg 42 / 20149 Hamburg T 040 – 44 18 84 57 / F 040 – 44 18 82 36 cp@hoca.de / www.hocacp.de Anzeigenleitung Bayerische Staatsoper: Imogen Lenhart T 089 – 21 85 10 06  imogen.lenhart@staatsoper.de Verlag: Doris Bielstein T 040 – 27 17 20 95 / doris.bielstein@jalag.de Vertrieb Zeitschriftenhandel Premium Sales Germany GmbH Poßmoorweg 2-6 / 22301 Hamburg T 040 - 27 17 23 43 Lithografie MXM Digital Service, München Druck Gotteswinter, München ISSN 1867-3260 Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Foto Tina Mendelsohn: Klaus Weddig

Janne Teller Seite 12

Foto Sarah Khan: Barbara Dietl

Jonnie Craig Seite 30

Foto Janne Teller: Anita Schiffer-Fuchs

Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph


München Residenzstrasse 6 089 238 88 50 00 Düsseldorf Kö-Center/ Martin-Luther-Platz 32 0211 135 40 92 Frankfurt Goethestrasse/ Grosse Bockenheimer-Str. 13 069 219 96 700 Hamburg Neuer Wall 39 040 430 94 90 Wien Am Kohlmarkt 4 01 535 30 53 Akris Boutique auf www.akris.ch

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playlist

CovEr-Gestaltung Dennis Busch

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Gema-chef Harald Heker

über Musik, die ihn zur Zeit begleitet.

1. PINK FLOYD – Time Mit Pink Floyd beginne ich eine persönliche Zeitreise, ­die mich in die 1980er-Jahre führt, meine Studienzeit in München. Bis heute ein zeitloses Werk mit einmaliger sphärischer Ausarbeitung – in der Live-Version von 1972 mit ­diesem grandiosen Gitarrensolo. Das ideale Stück, um den Arbeitstag ausklingen zu lassen. Eine Neufassung mit ­Orchester fände ich hier durchaus interessant ... 2. HANS WERNER HENZE – Elegie (aus Fünf Nachtstücke) Ein Stück von unglaublichem Ausdruck und mit einem Spannungsbogen, der einen mitreißt und hineinzieht. Eines der zeitgenössischen Stücke, die für mich unmittelbar zugänglich sind. 3. JOHANN SEBASTIAN BACH – Violinkonzert Nr. 2 E-Dur Ich bin kein Spezialist, aber hier ist einfach alles stimmig. Die noch junge Hilary Hahn spielt dieses Konzert meisterhaft – sehr präzise und absolut, in enger Zusammenarbeit mit dem Orchester und dabei doch sehr persönlich. Auf mich wirkt es inspirierend und zugleich entspannend. Für mich das perfekte Stück für einen leichten Sonntagmorgen.

4. HERBIE HANCOCK – Maiden Voyage Auch dieses Stück vom gleichnamigen Album nimmt mich mit auf eine weite Reise. Ein Stück, bei dem sich der Ort der Reise stets wandelt. Das schätze ich daran: Es drängt sich nicht auf, sondern lässt viel Raum für Gedanken, Emotionen, Impulse. Außerdem gefällt mir, ich muss es zugeben, die Form eines klassischen Konzeptalbums einfach sehr gut. 5. SERGE GAINSBOURG & BRIGITTE BARDOT – Bonnie and Clyde Das Lied hat etwas Verwegenes. Ein hypnotisierender Rhythmus umrahmt die Geschichte des amerikanischen Diebespaars, welche sich in seiner eigenen Art bei Gainsbourg und Bardot widerspiegelt – was für ein Paar. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Wirkung, die dieser Song auf mich hatte. Das war anders und auch progressiv, doch auf eine ganz neue Art: Der sich wiederholende Rhythmus, die stetigen Akkordfolgen und die Loops (hier mit einer Bandmaschine) verbinden sich zu einem Klangteppich, der durch die steigende Intensität das tragische Ende des Gangsterpaars vorahnen lässt. Das Kopfkino beginnt.

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Harald Heker ist Vorstandsvorsitzender der Gema (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte). Bis 2005 ­­war der promovierte Jurist 15 Jahre lang für ­den Börsenverein des Deutschen Buchhandels tätig, zuletzt als deren Hauptgeschäftsführer. Begonnen hat der gebürtige Essener seine Laufbahn als Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Instituts ­ für ­Urheber- und Medienrecht in München.

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VOX POPULI: Hier spricht das Geld

Essay Janne Teller Man kÜnnte annehmen, die Wirkung der vox populi sei mächtiger als je zuvor. Doch ihr Einfluss auf das System der freien Marktwirtschaft bleibt verschwindend gering. Denn die Macht der Stunde hat das Geld. 12


Ich spreche, du sprichst, er spricht, sie spricht, sie sprechen. Jeder spricht. Aber worüber sprechen wir? Mit wem sprechen wir? Hört irgendjemand zu? Und wenn wir glauben, wir richten das Wort an diejenigen, die an der Macht sind, unsere Politiker, unsere Regierungen, erreichen wir damit die Kräfte, die tatsächlich wirken? Oder ist nicht die wahre Macht der Stunde etwas ganz anderes als die Welt altmodischer Politiker? Und spricht diese reelle Macht mittlerweile nicht mit viel zwingenderer Stimme, mit ungleich mehr Wirkung, als noch die lauteste, am besten abgestimmte öffentliche Äußerung, die wir, die Bürger dieser Welt, jemals zustande bringen könnten? Ich spreche hier über das, was wirklich spricht: das Geld.

Die Stimme des Volkes Vox populi begegnet uns in zwei verschiedenen Formen: Es gibt die gemeinschaftliche Stimme der Vielen, wie wir sie derzeit etwa in zahlreichen Internet-Petitionen unterschiedlichster Zielrichtungen erleben – für die Freilassung von Liu Xiaobo, für die Anerkennung Palästinas, gegen Gasbohrungen – oder, stärker sichtbar, in den großen Demonstrationen gegen weitere Sparmaßnahmen in Spanien und Griechenland. Vox populi kann aber auch die einzelne Stimme aus einer Menge sein, wie die des Kindes, das in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider als Einziges die Wahrheit ausspricht – heutzutage der Whistleblower sozusagen.

Um wirken zu können, ist die Stimme sowohl der Vielen als auch des Einzelnen auf ihre Zuhörerschaft angewiesen. Was spielt es für eine Rolle, was wir sagen, wenn es niemand hört, oder wenn alle, die das Gesagte hören, nichts dazu unternehmen können oder wollen. Dann entsteht nur Schall, aber keine Welle. Folgenlos für jeden, mit Ausnahme des Moments, der die Stille verliert.

Mit all den Nachrichten, die heute ständig die Runde machen, wird deutlich, dass wir uns immer öfter an beiden Formen von vox populi beteiligen. Durch das Internet und die sozialen Netzwerke verschmelzen beide immer mehr zu einem großen Chor, wenn sich die akribischen Recherchen von Einzelnen wie ein Lauffeuer verbreiten – so geschehen etwa im März 2012 mit dem Video über den ugandischen Guerillaführer Joseph Kony und dessen Missbrauch von Kindern als Soldaten. Man würde also annehmen, dass die Wirkung der vox populi heute mächtiger ist als jemals zuvor. Und die Stimme der Vielen erringt wohl ihre Siege, in ganz unterschiedlichen Fällen: Als beispielsweise eine halbe Million Avaaz-Aktivisten im Internet im November 2011 erfolgreich den bolivianischen Präsidenten Morales unter Druck setzten, so dass er den Bau einer Autobahnstrecke stoppen musste, die den Amazonas durchschnitten hätte; oder als im Januar 2011 eine Kampagne gegen die Hilton Hotels erreichte, dass die Hotelkette, die in ihren Häusern beide Augen beim Menschenhandel mit Frauen und Kindern zu-

Zeichnungen Dan Perjovschi

drückte, für ihre Mitarbeiter ein rigoroses Training zur Erkennung und Verhinderung von sexueller Versklavung einführte. Und doch scheint es trotz all dieser Erfolge, dass vox populi dort immer weniger Wirkung zeigt, wo sie am relevantesten wäre: bei der Verbesserung der Gesamtstruktur und der treibenden Kräfte unserer Gesellschaften, um sie menschlicher und lebenswerter für uns alle zu machen. Die Macht des Hörens Ich spreche hier über die westliche Welt, über kapitalistisch strukturierte Demokratien. Ich rede nicht von autokratisch regierten Ländern, in denen die vox populi, wenn sie sich zu erheben wagt, eine durchaus erschütternde Wirkung hat, wie es zurzeit der revolutionäre Arabische Frühling zeigt. Ein Volk, das sich gegen seine Despoten auflehnt – indem die Stimme des Einzelnen die Wahrheit ausspricht und die Stimme der Vielen dann die notwendigen Veränderungen fordert –, hat genau dann Erfolg, wenn die Stimmen zahlreich genug sind, um eine Strömung zu erzeugen, der niemand, auch kein tyrannischer Herrscher, Widerstand leisten kann.

Wir in der westlichen Welt können oberflächlich gesehen alles sagen und tun, was wir wollen. Und die meisten von uns nutzen dieses demokratische Grundrecht durchaus: Wir alle spre-

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chen. Wir alle schreiben. Fast immer. Wenn nicht in der Presse, so doch in unseren sozialen Netzwerken, auf Facebook, Twitter usw. Die Technologie hat uns alle zu öffentlichen Rednern gemacht: Wer keinen Verlag für sein Buch findet, publiziert es selbst. Werden die eigenen Artikel nicht ge-

druckt, dann stellt man sie in das eigene Blog. Und wenn die Beiträge immer noch niemand liest, kann man sich mit jemandem verlinken, der mehr Aufmerksamkeit bekommt. Im Namen der Meinungsfreiheit wird sogar das Recht verteidigt, auch noch die hasserfülltesten Tiraden verbreiten zu dürfen. Man darf also beinahe alles sagen, was man will. Was aber niemand garantieren kann, ist, gehört zu werden. Die Demokratie hat keine Regeln für das Zuhören. Eher im Gegenteil. Jeder Polterer, der in einer Autokratie Vorschriften erlässt, muss per Anordnung gehört werden, genau wie jeder Dissident Gehör bekommen wird, damit er zum Schweigen gebracht werden kann. Aber wer hört zu in den modernen ­D emokratien des freien Massengesprächs?

Ja, natürlich zählen auch die ‚likes‘ und ‚zwei Daumen hoch‘ oder die mehr oder weniger seriösen Kommentare auf alles, was gesagt (= gepostet) wird. Von zuhause aus können wir bequem

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zustimmen oder dagegen sein, und nicht wenige hegen ziemlich barsche Ansichten, vor allem wenn man sie anonym äußern kann. Zusätzlich wählen und demonstrieren wir (zumindest haben wir Gelegenheit dazu) und veranstalten die verschiedensten gesellschaftlichen Aktionen. Politiker wollen ohne Frage Stimmungen und O-Töne mithilfe ihrer Fokusgruppen und endlosen Meinungsumfragen einfangen. Aber trotz der erstaunlichen Menge von Klagen und Kritik an der heutigen Gesellschaft und trotz des scheinbar guten, freilich aber populistischen und eigennützigen Willens der Politiker bleibt die Wirkung auf das System der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs, das ja diese Missstände erst verursacht, verschwindend gering.

Man könnte versucht sein, dies mit einer Inflation des Worts zu erklären: Weil mehr Worte und Meinungen als jemals zuvor öffentlich geäußert werden, sinkt, wie bei einer Inflation üblich, der Wert der betreffenden individuellen Einheit rapide. Ich bin aber überzeugt, dass die Ursache viel tiefer geht: dass nämlich die wahre Macht der Stunde nicht unsere demokratisch gewählten Regierungen sind, sondern das Geld an sich. Die Stimme des Geldes Vor zwei Jahrzehnten, 1992, begleitete ich meinen damaligen Chef, den Geschäftsführer der UNDP, William H. Draper III, auf einer Reise durch Nordeuropa, um Fördermittel für Projekte in Osteuropa und den Staaten der früheren Sowjetunion zu sammeln. Ich war die besondere Referentin, was so viel hieß wie Redenschreiberin, politische Beraterin und Verantwortliche für alles von Flugtickets bis hin zu den politischen Inhalten. Als Dänin wuss-

te ich, dass zu dieser Zeit das Letzte, was sich der amerikanische Chef einer gemeinnützigen Organisation in Skandinavien leisten konnte, eine Glorifizierung des Kapitalismus oder der Macht des Geldes war. Also hatte ich es ver-

mieden, Mr. Drapers liebste Redewendung, Money talks (Geld regiert die Welt), in den von mir geschriebenen Reden zu verwenden. Außerdem dachte ich, ich hätte diesem hartgesottenen Republikaner und Freund von Präsident George Bush Sen. verständlich gemacht, warum Geld in Skandinavien nicht so sprach, so wie er sich das dachte; ein Skandinavien – wahrscheinlich näher an einem realen Sozialismus, als irgendein Teil dieser Welt es jemals war –, das an die Gleichheit der Menschen und menschlichen Werte jenseits irgendeiner Währungseinheit glaubte. Dennoch, inmitten der sorgfältig formulierten Rede über die Nöte der früheren Ostblockstaaten und deren Bedarf an Hilfe beim Übergang der zerrütteten Planwirtschaften in stabile, nachhaltige, demokratische Marktwirtschaften wich Mr. Draper plötzlich vom Manuskript ab, vergaß, dass er im Namen einer Organisation sprach, die die ganze Welt vertritt und nicht nur die Vereinigten Staaten, und sagte zu meiner Bestürzung: „Es hat uns Milliarden gekostet, den Kommunismus zu stürzen, und dieses Geld wurde umsonst ausgegeben, wenn wir jetzt zögern, die paar Millionen zu investieren, die wir brauchen, um den Sieg der Demokratie, der Freiheit und des kapitalistischen Systems sicherzustellen.“ Dies konnte nur als ein Plädoyer für einen deregulierten freien Markt aufgefasst werden, vor allem als Mr. Draper seine Tirade mit dem Ausruf beendete „Money talks!“.


Die norwegischen Politiker und Technokraten waren sprachlos wie ich, auch wenn ich mir das nicht anmerken lassen durfte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob und welche diplomatischen Anstrengungen aufgebracht wurden, um den Besuch noch zu einem guten Abschluss zu bringen. Aber für lange Zeit versinnbildlichten diese Bemerkungen für mich den tiefen Graben zwischen der Weltsicht der amerikanischen Rechten und Europa. Dennoch musste ich in den letzten Jahren feststellen, wie recht Mr. Draper doch hatte. Nicht mit seinen Werten und Idealen, aber mit der grundlegenden Tatsache: Geld spricht wirklich. Ich könnte sogar noch weiter gehen und sagen, dass in der heutigen Welt der Satz gilt: Geld schreit.

Das fantastische Casino Die Stimme des Geldes ist laut, aber sie ist nicht grob oder unattraktiv, wie man vielleicht glauben könnte. Ist sie vor dir, ist sie von so bestechender Schönheit wie die Lockstimmen der Sirenen, die für Odysseus gesungen haben, so durchdringend und unwiderstehlich und zu immer noch mehr Wünschen verführend: die üppigen, seidenen, goldenen und samtweichen Träume von Luxus. Doch auf seiner Kehrseite liegt, wenn sich all die zauberhafte Versuchung auflöst, in dem düsteren Widerhall nur ein angsteinflößend nebliger Hohlraum, der von der sehr realen Bedrohung handelt, ohne Geld überleben zu müssen.

Essay Janne Teller

Der marktgetriebene Kapitalismus ist eine sehr effiziente Weise, Ressourcen zu verteilen und die basalen ökonomischen Transaktionen abzuwickeln. Aber dieser Kapitalismus hat kein Endziel, keinen Wert an sich, es sei denn, unersättliche Komparative zu erreichen: größer, weiter, mehr, schneller, höher, länger, reicher … Wenn man diese Wirtschaftsform also nicht aufmerksam überwacht, läuft sie irgendwann Amok oder wächst sich zu einem zerstörerischen Tornado aus. Als in den 1990er-Jahren der Finanzsektor dereguliert wurde, haben die Politiker unsere Wirtschaft fatalerweise aus der Hand gegeben. Indem man den Handel mit Finanzderivaten bis zu einem schwindelerregend hohen Grad trieb, wurden selbst seriöse Geldgeschäfte bald in diesem virtuellen Finanzcasino abgewickelt. Regierungen regulieren das Glücksspiel, weil sie wissen, dass es süchtig macht und gefährliche Folgen haben kann. Aber unsere Realwirtschaft haben sie in die Hände von Glücksspielern gegeben, die an jeder Transaktion verdienen, egal ob sie für den Kunden einen Gewinn oder einen Verlust bedeuten. Doch jeder Aufruf, diesen Wahnsinn zu stoppen, zielte bisher ins Leere. Der Grund dafür liegt sicher in unser aller Verstrickung in dieses Glücksspiel – durch Hausund Grundbesitz, Rentenbezüge, Ersparnisse und natürlich Kredite.

Wie immer beim Glücksspiel profitieren bei diesem weltweiten Kampf um immer mehr Geld einige Wenige auf Kosten der Massen. Vor zwanzig Jahren verdienten in den Vereinigten Staaten die 1% Spitzenverdiener noch

12%, heute schon 23% des Gesamteinkommens. Die mittleren Einkommen sind in den letzten 15 Jahren real überhaupt nicht gestiegen! In den Ländern Südeuropas wächst eine junge Generation heran, die seit dem Zweiten Weltkrieg die erste ist, die einer weniger

guten wirtschaftlichen Zukunft entgegensieht als die Generation ihrer Eltern. Gleichzeitig werden, aus kurzsichtiger Profitgier, natürliche Ressourcen aufgebraucht, der Amazonas und andere natürliche Lebensräume zerstört, Luft und Meere verschmutzt und die globale Erwärmung steigt weiter an. Alles und jeder ist käuflich: Man kann eine Gebärmutter gegen Bezahlung nutzen, um das Kind gebären zu lassen, das man selbst nicht austragen kann. Wenn jemand arm genug ist, kann man ihm eine Niere oder andere Körperteile abkaufen. Immer mehr junge Studentinnen haben die Gesetze des Marktes verstanden und finden über einschlägige Webseiten Männer, die ihnen als Gegenleistung für kleinere oder größere Intimitäten einen angenehmeren Lebensstil ermöglichen. Das ist das obere Ende einer Skala, auf der Körper gegen Vergnügungen und Gucci-Taschen gehandelt werden. Doch diese Skala reicht von Begleitservices bis zur Straßenprostitution und dem internationalen Menschenhandel mit Frauen und Kindern. Wenn man diejenigen einrechnet, die als Arbeits- und Haushaltssklaven missbraucht werden, so gibt es heute eine höhere Anzahl Sklaven als jemals in der Menschheitsgeschichte. Und dabei sind die Millionen noch nicht berücksichtigt, die weltweit für einen Lohn arbeiten, von dem sie sich und ihre Kinder nicht ernähren können.

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„VOX POPULI gegen das Geld ist wie David gegen Goliath,


nur ohne die Steinschleuder.“

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Wer trifft die Entscheidung, ob der Euro überleben soll oder nicht, wie hoch Fonds- und Aktienpreise steigen oder der Leitzins, der über das Schicksal von einzelnen Unternehmen und Ländern entscheidet? Wer entscheidet wirklich, ob es sich lohnt, weite Teile von unberührtem Urwald zu roden oder in die riskante Fördertechnologie des „Fracking“ zu investieren? Nicht die Politiker, sondern die Glücksspieler in diesem fantastischen Casino, harmlos und nett auch bezeichnet als „Finanzmarkt“. An wen sonst als an den Finanzmarkt soll vox populi sich dann wenden? Das Problem dabei: Es ist keine gleichberechtigte Kommunikation. Es ist wie mit David und Goliath, nur ohne die Steinschleuder. Wir Menschen können sprechen, als Individuen, als Gruppen oder als Organisationen mit wechselseitigen Interessen, die heutigen Lobbyisten. Aber werden wir gehört, wenn wir anspruchsvolle Ideen haben, ein unbestechliches Argument? Oder wenn unsere Worte womöglich größere ökonomische Auswirkungen haben – werden sie die Existenzgrundlage von Unternehmen bedrohen können oder das Verteilen oder Vorenthalten von Wahlspenden? Nur das Geld spricht! Aber was sollen wir tun? Was können wir tun? Wie können wir vox populi zurückgewinnen?

Die Stimme von morgen Ich glaube, es war Voltaire, der schrieb: „Mehr Sklaven haben Tyrannen geschaffen, als Tyrannen Sklaven.” In unserer freien Welt haben wir das Geld zu unserem Tyrannen gemacht. Wir sind süchtig nach unserem Tyrannen.

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Geld spricht nicht mit dem eigenen Mund. Es ist ein Bauchredner, der unsere Lippen und Hände benutzt. Wir sind nur die mehr oder weniger freiwilligen Handpuppen in diesem unheilvollen Wettkampf um immer mehr.

Aber es muss nicht so sein. Wie bei allen Abhängigkeiten gibt es auch hier einen Ausweg. Wir müssen klein anfangen, ein Schritt nach dem andern. Wir müssen tun, was Alkoholiker seit Jahrzehnten tun, um endlich nüchtern zu werden: Zuerst müssen wir akzeptieren, dass die Macht des Geldes stärker ist als wir. Dass wir machtlos sind ­gegenüber dem Geld und dass unser Leben zügellos geworden ist aufgrund unserer Abhängigkeit davon. Zweitens müssen wir erkennen, dass kein individueller Wille, sondern nur eine größere Kraft der Menschlichkeit unsere Geldsucht beenden und unsere geistige Gesundheit wiederherstellen kann. Drittens muss jeder von uns die Entscheidung treffen, sein Leben und ­seinen Willen nicht mehr dem Geld unterzuordnen, sondern sich auf diese allumfassende Kraft der Menschlichkeit zu konzentrieren. Viertens müssen wir uns unerschrocken auf die Suche in uns selbst machen, um herauszufinden, was wir in unserer Gier falsch gemacht haben, müssen dazu stehen und müssen Wiedergutmachung leisten gegenüber allen Menschen, Lebewesen und natürlichen Lebensräumen, denen wir geschadet haben. Fünftens müssen wir

uns weiterhin genau beobachten und wenn wir merken, wir fallen zurück in alte Muster, müssen wir die Kraft aufbringen, ‚Nein‘ zu sagen. Und sechstens sollen dieser Prozess und die Erkenntnis, die er uns gebracht hat, als Orientierung dienen für den Rest unseres Lebens, damit wir auch unseren Mitmenschen Orientierung geben können.

Geben ist das Gegenteil von Handeln. Geben ist ein Machtgewinn gegen die Stimme des Geldes. Geben ist Freiheit. Wenn man gibt ohne Erwartung von Gegenleistung, dann befreit man sich von der Abhängigkeit von Geld. Geben heißt auch Lieben. Und Liebe ist aus sich heraus eine größere Kraft der Menschlichkeit. Liebe ist eine Sprache. Es ist die Sprache des Geistes aller wahrhaftigen menschlichen Beziehungen, aller wahrhaftiger Religion, aller wahrhaftiger Kunst. Die Sprache der wirklichen Menschlichkeit. Stellen Sie sich vor, wir alle sprächen miteinander in der Sprache der Liebe statt mit der des Geldes, stellen Sie sich vor, dass nicht Geld, sondern Liebe die vox populi wäre. Stellen Sie sich dieses Morgen vor, Schritt für Schritt. Aus dem Englischen von Sabine Voss

Die Zeichnungen von Dan Perjovschi stammen aus dem Bildband Solo ­ ­für Dan Perjovschi: Daily, Weekly, Monthly, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2012. Mehr über die Autorin auf S. 8


www.roeckl.com



„Ich habe nicht ­ viel Hoffnung“ Calixto Bieito kehrt ­für die Neuinszenierung ­ von Modest Mussorgskys Boris Godunow an ­die Bayerische Staatsoper zurück. Gedanken des spanischen Regisseurs über künstlerischen Freiraum, das schlechte Gewissen der Mächtigen und die Krise in seinem Heimatland. Premiere Boris Godunow 21



Calixto Bieito

„Mussorgskys Boris Godunow zeichnet auf ­visionäre Art und Weise eine Gesellschaft, die der heutigen sehr ­ähnlich ist, in der die breite Masse nicht weiß, von wem, warum und wo die Entscheidungen getroffen werden.“

Inszenierung und Probe … sind für mich Momente der Freiheit, wie ich sie in keiner anderen Situation finde. Ein Raum, in dem ich meine Gedanken und Fantasien fließen lassen und teilen kann. Sich in einem Probenraum einzuschließen, ist immer noch etwas Utopisches und sehr Schönes. Es ist die Möglichkeit, eine fiktive Parallelwelt zu erschaffen, wo alles möglich ist und wo die Grenzen, die einem die Realität auferlegt, verschoben oder verändert werden können. Der Kern des Inszenierens … ist das Bedürfnis, etwas auszudrücken, das in dir steckt und das nach draußen kommen muss. Das ist wirklich ein starkes Bedürfnis. Inszenieren, manipulieren, kontrollieren – … dieser Dreiklang passt für mich nicht zusammen. Manipulation hat eine negative Bedeutung, die mich nicht wirklich überzeugt. Inszenieren heißt, ein Team zu einer Idee zu führen. Das bedeutet, dass der Regisseur vorangeht mit seinen genauen Vorstellungen, gleichzeitig muss er jedoch auch seine Emotionen und Ideen mit den anderen teilen. Motivieren ist hier das schönere Wort. Ein kreatives Miteinander mit einer Gruppe von Künstlern erreichen, damit sie das Beste aus sich herausholen. Mussorgskys Oper Boris Godunow … zeichnet, ich würde fast sagen auf visionäre Art und Weise, eine Gesellschaft, die der heutigen sehr ähnlich ist, in der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede zwischen einer Minderheit und einer Mehrheit immer größer werden. In der die breite Masse nicht weiß, von wem, warum und wo die Entscheidungen getroffen werden, die das tägliche Leben beeinflussen. Ein Volk, das fast in einer notorischen Ignoranz lebt. Das schlechte Gewissen … ist für mich das zentrale Thema der Boris-Figur, das ihn bis in die tiefsten ­Abgründe seines Denkens verfolgt. Und hier stelle ich mir eine entscheidende Frage: Können wir nach dem schrecklichen 20. Jahrhundert und nach all den Grausamkeiten, die Politiker, Militärs und generell die Mächtigen begangen haben, noch glauben, dass irgendjemand ein schlechtes Gewissen hat wegen seiner negativen Taten? Ich wage zu denken, dass der Mehrheit der Mächtigen ihre Verbrechen und ihr korruptes Handeln ziemlich egal sind. In meinem Land erlebe ich ständig, wie sich Politiker oder irgendein Mitglied des Königshauses für den Rest der Menschheit nicht die Bohne interessieren. Leben wir in einer Gesellschaft der gnadenlosen Raubtiere, wo es für Gutheit keinen Platz mehr gibt? Existiert noch irgendeine Form von Gewissen bei denjenigen, die uns regieren? Haben wir nicht letztlich doch Mitleid und guten Willen erlebt? Ja, es gibt viele Fälle von Solidarität zwischen Individuen, die mit Macht nichts zu tun haben. Aber gründet sich Macht nicht auf das Verbrechen, auf das Fehlen von Werten und Skrupeln, auf die fortwährende Zerstörung und auf die Bereicherung auf Kosten des Volkes? Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, korrumpiert die Macht normalerweise denjenigen, der sie besitzt. Das Volk in Boris Godunow … kann nicht rebellieren, weil es seit jeher, wie in Spanien, domestiziert ist. Es ist wie wir: passive Wesen, die Opfer der Manipulation durch die großen wirtschaftlichen Strukturen sind.

Fotoessay Till Janz 23




Die finanzielle Situation in Spanien … ist für die Kunst eine Katastrophe. Die Kultur in Spanien steht schon seit Jahrhunderten im Zeichen des Vergnügens, der Banalität und der Oberflächlichkeit. Regierung auf Regierung hat ihr Desinteresse für Kultur und Kunst unter Beweis gestellt. Sehr viele spanische Künstler mussten ihre Arbeit im Ausland ausüben, vor allem im 20. Jahrhundert. Aber das hat sich bis heute nicht geändert und die Wirtschaftskrise hat genau gepasst, um das Wenige, das in den letzten dreißig Jahren geschaffen wurde, wieder zu zerstören. Die Euro-Krise … hat in Spanien ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und der geistigen Blockade hervorgerufen, obendrein Ohnmacht und Traurigkeit. An Straßenprotesten … habe ich in Spanien bei der Bewegung 15. Mai im Jahr 2011 teilgenommen und in Buenos Aires zusammen mit den Madres de Plaza de Mayo, der Organisation von Müttern, deren Kinder in der Militärdiktatur verschwunden sind. Das war aber mehr ein Akt der Solidarität ohne viel Hoffnung. Einige meiner Inszenierungen haben wütend gegen die Schlechtigkeit des Wesens Mensch protestiert. „Das Leben ist ... eines Toren Fabel nur, voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar“, wie Macbeth sagt. Wofür ist es wert, auf die Straße zu gehen? Ich habe nicht viel Hoffnung. Es tut mir leid. Meine einzige Form des Protests … ist, zu versuchen, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen und meine Freiheit darin zu zeigen. Zu versuchen, konsequent mit mir selbst zu sein, auch wenn es vielleicht nichts bringt. Nein, ganz ehrlich, es bringt nichts. Ich bin bloß ein einfacher Regisseur.

„Meine einzige ­Form des Protests ist, zu versuchen, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen und konsequent mit mir selbst zu sein, auch wenn es vielleicht nichts bringt. ­Ich bin bloß ein einfacher Regisseur.“

Spanien heute … ist es nicht gelungen, nach der transición, der Übergangszeit zwischen der Diktatur Francos und der Demokratie eine richtige Aussöhnung zu erreichen, da es seine historischen Wunden nicht verkraften konnte. Der Text beruht auf Fragen von Andrea Schönhofer. Aus dem Spanischen von Florian Heurich Fotograf Till Janz verwendete für den Fotoessay mit Calixto Bieito die CGI-Technik (Computer-Generated Imagery), mit der die Porträts des Künstlers in bestehende Tableaus eingearbeitet wurden. Mit bestem Dank an die English National Opera, London, in ­deren Räumlichkeiten die Porträts von Calixto Bieito aufgenommen wurden.

Der Katalane Calixto Bieito ist ­einer der ­international gefragtesten Schauspiel- ­und Opernregisseure. Er war von 1999 bis 2011 künstlerischer Leiter des Teatre Romea ­ in Barcelona. Im deutschsprachigen Raum gab er sein Opernregiedebüt 2001 mit Don Giovanni an der Staatsoper Hannover. Er inszenierte unter anderem an der Komischen Oper Berlin (Die Entführung aus dem Serail, Gespräche der Karmelitinnen), in Frankfurt (Macbeth), Stuttgart (Parsifal), Basel (Aus ­einem Totenhaus) und bei der Ruhrtriennale Hosokawas Hanjo. Im Schauspiel realisierte er in Deutschland u.a. Lulu in Mannheim und Der Kirschgarten am Residenztheater München. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er 2010 Fidelio.

Boris Godunow Oper in vier Teilen (sieben Bilder) Von Modest Mussorgsky

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Premiere am Mittwoch, 13. Februar 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


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Markus Lüpertz ist bekannt für ein radikales Kunstverständnis. MAX JOSEPH fragte den bildenden Künstler nach der Legitimation von Kunst: Warum darf die Kunst das, was sie tut? Und welchen Platz hat der Künstler in der Gesellschaft? Thesen eines Provokateurs, (nur) im wahrsten Sinn des Wortes.

Herr Professor Lüpertz, ist der Künstler jemand Besonderes? Auf jeden Fall. Er ist ein göttlicher Geselle, er hat einen höheren Auftrag als die Allgemeinheit. Muss der Künstler Kontakt zur Gesellschaft halten? Ich glaube, das ist nicht die richtige Frage. Der Künstler ist die Gesellschaft, als ihr Kontrapunkt oder als Gegenspieler. Einen Künstler, der außerhalb der Gesellschaft steht, gibt es nicht. Selbst wenn er sich verweigert, wenn er verneint, ist er in seiner Verneinung auf die Gesellschaft angewiesen. Über die Künstler in ihrer Zeit definiert sich eine Gesellschaft, wenn sie zumindest eine Sehnsucht nach Intellektualität, Wissen und Kultur besitzt. Die Frage ist: ob die Menschen in der Lage sind, Künstler in ihrer Gesellschaft sichtbar zu machen. Darf die Kunst, ja muss sie sogar die Gesellschaft beeinflussen? Nein. Ich glaube, es ist wiederum umgekehrt. Was die Menschen denken und empfinden, ihre Sehnsüchte und Vorstellungen, das schlägt sich in der Kunst nieder. Man kann sich die Gesellschaft als Gruppe vorstellen und uns Künstler als Einzelne, als eine Boje im Meer, an der sich die Schiffe – nehmen wir an, sie wären der Intellekt – orientieren, die sie tangieren, sie umfahren. Diese Trennung ist wohlfeil, sie ist Bestandteil des Feuilletons. Aber sie ist im Ansatz nicht richtig. Denn das Verhältnis zwischen Künstler und Gesellschaft ist eine Symbiose. Die Kunst darf das, was die Menschen dürfen. Die Demokratie wird danach bemessen, was die Kunst leistet oder was die Gesellschaft ihr erlaubt – bei allen Ressentiments gegenüber den Worten Freiheit und Kunst. Das Wichtige an der Frage ist doch, dass Gesellschaft ein Zeitbegriff ist. Es gibt die aktuelle Gesellschaft, aber sie ist nur Träger. Die Entscheider darüber, was aktuell geschieht, leben zweihundert, dreihundert Jahre später. Zugleich sind wir die Entscheider über das, was vor zweihundert Jahren passiert ist.

Wer legitimiert Künstler dazu, Aussagen über die Gesellschaft zu treffen? Vor allem heutige Künstler sitzen dem Irrtum auf, sie müssten unbedingt etwas über die Gesellschaft loswerden. Wenn Kunst Qualität besitzt, ist sie automatisch in der Kritik, weil Kunst den kritischen Menschen verlangt, den sensiblen, den aufgeklärten, den begreifenden, den musischen Menschen. Ich glaube nicht, dass Kunst eine pädagogische Aufgabe hat. Leider ist die gesamte Kultur unserer Zeit ins Kritisieren abgerutscht. Wir erleben es gerade. Ein Schriftsteller (der chinesische Autor Mo Yan, d. Red.) erhält den Literaturnobelpreis. Und die selbsternannten Kritiker werfen ihm vor, er würde sich nicht genügend gegen das Regime stellen. So etwas Albernes habe ich noch nie in meinem Leben gehört. Man kann sich gegen ein Regime stellen, wenn man als Schriftsteller nicht viel drauf hat. Aber man sollte zuerst einmal an die Literatur denken. Wenn der Mann ein großer Literat ist, kann man von ihm nicht verlangen, dass er seine Kunst verrät, nur um eine aktuelle Situation zu beschreiben. Und dass sich Ai Weiwei über diesen Schriftsteller aufregt, finde ich vollkommen falsch. So einfach ist Kunst nicht, dass man nur gegen irgendetwas sein muss, und schon ist man ein großer Künstler. Das sieht man auch ganz klar am Werk von Ai Weiwei. Was braucht das Gemeinwohl, um überleben zu können? Essen, Geld – auch Geist? Man muss das Geistige vom Existenziellen trennen. Das Existenzielle ist eine Herausforderung, die sich jedem Menschen stellt – und der sich jeder Mensch auch stellen muss. Wir sind gehalten, uns zu ernähren, wie auch immer wir das bewerkstelligen. Ob wir das ertragen und darin überhaupt eine Notwendigkeit sehen, hängt andererseits davon ab, dass wir möglichst viele geistige Sehnsüchte und Träume haben. Jedes Gedicht kann so wichtig sein, damit ein Mensch morgens zur Arbeit geht. Alle Kultur, vor allem die bildende Kunst, ist Lebenssinn gebend. Wenn wir nur auf das Materielle orientiert wären, und das ist heute ja sehr oft der Fall, wären wir ziemlich arme Leute. In einer Zeit zu leben, in der großartige Kunstwerke entstehen, kann reich machen. Das ist Seele gebend, vermittelt Empfindungen. Nicht in dem Sinn, dass man das Kunstwerk besitzen soll, sondern dass es das Kunstwerk gibt. Und der Künstler ist in seiner Position natürlich privilegiert. Jeder, der diese Aufopferung vollbringt, die Menschen über das Materielle hinaus geistig zu unterhalten oder ihnen eine geistige Dimension aufzuzeigen, ist per se privilegiert. Es gibt keine andere Form. Politiker, Geldhaie sind nicht privilegiert.


Warum soll ein Staat Künstler fördern? Das ist eine schwierige Frage, zu der ich keine Antwort habe. Ich glaube nicht an eine staatliche Kunstförderung, weil das eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Der Staat in seiner Vermessenheit, sich in alles einzumischen, glaubt auch, er müsse Kultur fördern. Das ist dumm und albern. Denn eigentlich wird die Kunst von der Gesellschaft getragen. Die Preise einer Opernaufführung oder für ein Werk der bildenden Kunst richten sich nach dem, was das Volk bereit ist dafür zu zahlen. Der Staat muss die Gesellschaft fördern. Er muss Bildungsmöglichkeiten schaffen und begabte Lehrer aussuchen, damit das Volk gebildet wird, Kunst zu erkennen und zu genießen. Warum, glauben Sie, wird die Kunst gerne gegen soziale Einrichtungen ausgespielt? (In Bonn z.B. demonstrierten Sportvereine mit Transparenten: „Lieber in Kinder investieren, als die Opernlobby zu finanzieren.“) Nun, das ist eine Frage der Wertung. Das ist begreiflich aus der Sehnsucht nach Ausbildung heraus. Es wird ja oft behauptet, Oper wäre nur etwas für alte oder reiche Leute, oder man identifiziert mit dem Begriff Oper immer nur die bekannten Festivals. Aber das ist dummes Zeug. Die Oper ist sicherlich eine der großartigsten, wunderbarsten kulturellen Phänomene. Wenn die Gesellschaft das nicht mehr trägt, ist das ein Armutszeugnis für sie. Eine andere Frage ist, ob man etwas mit aller Gewalt erhalten will. Ich glaube, dass die Kunstförderung vom Staat mittlerweile etwas Erbärmliches ist. Denn genau die Menschen, für die die Kunst eigentlich gefördert wird, sind nicht mehr bereit, dafür zu zahlen. In der Unterhaltungsmusik hat die Gesellschaft keine Probleme, jeden verlangten Preis zu zahlen. Mit einer Leichtigkeit werden 150 Euro für ein Robbie-Williams-Konzert ausgegeben. Man kann der Meinung sein, wenn etwas nicht gefördert wird, dann geht es verloren. Aber manchmal wünsche ich mir sogar, dass Dinge abgeschafft werden. Denn ich glaube, wenn es etwas nicht mehr gibt, dann entwickelt sich die Sehnsucht, es wiederhaben zu wollen. Wie gehen Sie damit um, dass Ihre Kunst, besonders die im öffentlichen Raum, sehr kontrovers aufgenommen wird? (In Bamberg z.B. wurde eine Skulptur zerstört, in Augsburg hat man sich per Bürgerentscheid gegen Ihre Skulptur Aphrodite ausgesprochen.) Dass die Menschen mit dem, was ihnen kulturell geboten wird, zuweilen kontrovers umgehen, hat sicherlich damit zu tun, dass sie nicht die nötige Ausbildung haben, Dinge zu begreifen. Mir ist das im Grunde ziemlich gleich. Ich möchte nur nicht, dass irgendjemand denkt, ich provo-

ziere mit Absicht. Das weise ich weit, weit von mir! Ich bin ein Mann, der eben versucht, das Beste, was er kann, zu leisten. Das scheint schon provozierend genug zu sein. Aber Sie müssen die Zeit auch nicht danach beurteilen, wie sie reagiert, sondern dass sie reagiert. Im Guten wie im Schlechten. Denn die Reaktion bringt die Leute weiter. Selbst wenn sie versuchen würden, etwas zu vernichten oder zu zerstören, dann haben sie doch zumindest so viel Angst davor, dass sie es eines Tages vielleicht sogar wieder bewundern. Und die Vernichtung des Unverständlichen und Beunruhigenden liegt in der Natur des freien Denkens. Wo sehen Sie die Kunst: näher bei der vox populi oder eher bei der vox dei? Der Mensch selber hat einen großen Abstand zwischen sich und Gott geschaffen. Gott ist eine Schöpfung des Menschen. Alles, was der Mensch sich an Gutem und Positivem vorstellt, hat er in Gott hineingelegt. Dieser große Gedanke Gott ist also ein Segen über uns. Je mehr die positive Struktur von Gott in Vergessenheit gerät, abgeschafft wird, desto mehr entstehen Vakuen und diese sind für den Menschen unerträglich. Der Künstler ist vielleicht einer der letzten, die noch auf einer Zwischenstufe stehen im Abstand zu Gott und deshalb den Menschen zu etwas Göttlichem, Ungewöhnlichem führen können. Ob sie populär sind oder nicht, spielt in diesem Falle gar keine Rolle. Die Künstler sind den Engeln, den Boten Gottes, am nächsten. Wenn der Alltag keine Engel mehr zulässt, dann sind die Künstler umso mehr gefordert. Die Fragen stellte die MAX JOSEPH-Redaktion.

Markus Lüpertz gehört zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Von 1976 bis 1986 war er Professor an der Staatlichen Akademie der Künste in Karlsruhe, von 1988 bis 2009 Rektor der Kunstakademie Düsseldorf. ­­Er lebt und arbeitet in Berlin, Düsseldorf und Karlsruhe. Kunstwerke von Markus Lüpertz sind in öffentlichen Gebäuden und Räumen der Bundesrepublik sehr p ­ räsent (u.a. in Bonn, Frankfurt, Gelsenkirchen; ­für Salzburg schuf er die Hommage an Mozart). ­Ab Herbst 2013 wird eine Ausstellung in der Eremitage Sankt ­Petersburg zu sehen sein. Foto Uli Engers, Geuer&Breckner Düsseldorf, 2012


Dinner for Two


Ich ziehe gerade die Haustür zu, als mein kleiner Sohn noch wissen möchte, wohin ich gehe. Zum bösen Wolf, antworte ich allen Ernstes schon im Hausflur. „Wirklich?“, ruft er mir nach und ich höre Bewunderung in seiner Stimme. Nein, ich bin kein mutiges Rotkäppchen und treffe auch nicht den bösen Wolf im finsteren Wald, sondern in London Regisseur Richard Jones. Dessen Inszenierung der Märchenoper Hänsel und Gretel, hochgelobt an der Metropolitan Opera in New York, kommt im März an die Bayerische Staatsoper. Engelbert Humperdincks Vertonung des Märchens der Gebrüder Grimm handelt vom Überleben zweier Kinder, ­ von Familienleben, Hunger, Völlerei und vor allem, wie mir der britische Regisseur gleich sagen wird – von Kannibalismus. Bon appétit! Wir sind zum Essen verabredet, im Westend, dem Londoner Theaterdistrikt. Über Hänsel und Gretel zu reden, ist eine delikate Angelegenheit. Man weiß über Richard Jones, dass er sich gern bedeckt hält und nichts Persönliches rauslässt. In Jones’ Hänsel und Gretel-Inszenierung geht es aber um das Privateste, um Eltern, Familienleben und verlassen werden, sich verirren, verführt werden, überleben. Und über Essen zu sprechen, ist in Großbritannien nicht unverfänglich. Als ich vor vielen Jahren die Sekretärin Margaret Thatchers im Restaurant des Londoner Oberhauses traf, erklärte sie mir mit der hochtoupierten Frisur ihrer Chefin und viel Witz, was man bei einem Abendessen in guter englischer Gesellschaft auf keinen Fall ansprechen sollte: Sex, Geld und

Premiere Hänsel und Gretel

Fotografie Jonnie Craig

Die Hexenküche aus Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel ­und Gretel wird in der Interpretation von Richard Jones in neuem Licht erscheinen. MAX JOSEPH-Autorin ­ ­Tina ­Mendelsohn traf den britischen Regisseur i­n London zum Abend­essen.

Essen. Warum nicht Essen? Weil der Gastgeber womöglich gar nicht selber gekocht hat, sondern die Hausangestellte. Kurz, es könnte schnell um das gehen, was man in England „class“ nennt. Merkwürdig ist, dass heute im multikulturellen Großbritannien dauernd über Essen gesprochen wird. Köche und Weinkritiker sind Stars, Kochshows auf allen Kanälen. Zeitungen bringen mehr Seiten mit englischen Kochrezepten als über Innenpolitik oder die Kulturkürzungen. Vielleicht ist es bei Hänsel und Gretel genauso wie im rezessionsgeplagten England: Von Essen zu träumen lenkt ab, es schafft Gemeinsamkeit und Essen tröstet über Existenzängste hinweg. Wer die englische Küche googelt, findet eine unglaubliche Vielzahl von Büchern und Filmen über altertümliche Rezepte, landestypische Kräuter, traditionelle Wurstzubereitung oder wunderbar illustrierte Abhandlungen, wie früher Brot gebacken wurde. Gleichzeitig gibt es in London außerhalb der Riesensupermärkte keine Fleischer und keine Bäckereien mehr. Um 19.30 Uhr sind wir verabredet. Rushhour für Londoner Theaterbesucher, die mit mir in der Dunkelheit die legendäre Theatermeile Strand hochlaufen. Von der U-BahnStation Charing Cross bis zu unserem Restaurant, dem Delaunay, sind es gute 15 Minuten zu Fuß. Auf dem breiten Strand mit seinen Palästen und alten Kulturtempeln fühlt man sich wie in einem Mahlstrom, der einen in lange vergangene Zeiten katapultiert. Wie in einem Roman von Charles

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Text Tina Mendelsohn

Dickens sieht es hier immer noch aus: schmutzig da und hoch-herrschaftlich hier, und heute sehr bunt. Arme und Reiche stoßen im Gedränge teilnahmslos aneinander. Rechts auf der anderen Straßenseite das Savoy Theater. Hier stand schon vor über 130 Jahren die viktorianische Gesellschaft Schlange, um die populären Opern von Gilbert und Sullivan zu sehen. Elegant-witzige Produktionen, wie Pirates of Penzance oder wenig später die damals unerhört exotische Oper Mikado. Richard Jones erscheint im Delaunay. Das österreichische Restaurant im Stil eines großen Kaffeehauses mit Strudeln und Würsten hat er ausgesucht, vor allem wegen des Nachtischs und weil das Restaurant günstig auf seinem Nachhauseweg vom Young Vic liegt, der Studiobühne des legendären Old Vic Theaters, wo Jones gerade das IbsenDrama Der Volksfeind probt. Er sieht viel jünger als 59 Jahre aus, in seiner coolen Cordjacke über dem groben Leinenhemd und mit der großen Nerdbrille. Er hat fünf Olivier Awards gewonnen, zwei Evening Standard Awards, die wichtigen Theaterpreise Großbritanniens, er inszeniert überall auf der Welt mit großen Budgets. Er lächelt freundlich. „Hi, nice to meet you.“ Sein Blick schweift kurz zum Nebentisch, wo ein junger, auffallend hübscher Mann sitzt, und erzählt dann von den Musicals um die Ecke, die er als kleiner Junge mit seiner Mutter besuchte. Er empfiehlt den Film Topsy-Turvy des britischen Regisseurs Mike Leigh, der dem viktorianischen Opernhype in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein filmisches Denkmal gesetzt hat. In dieser Musik zelebriert sich das Empire, und Bilder vom gloriosen Großbritannien lieben die Engländer noch heute. Übrigens verdankt Richard Jones dem Topsy-TurvyRegisseur Mike Leigh den Anstoß für seine große Karriere. Leigh saß vor mehr als 30 Jahren in jener Kunst-Kommission, mit der die Labour-Regierung die Klassengesellschaft aufbrechen wollte und die dem Arbeiterkind Richard Jones ein zweijähriges Stipendium zusprach. Zuvor hatte Jones allerhand ausprobiert, Musik, Psychologie, er spielte an der Uni Theater, tourte dann mit linken Theater-Projekten durch die Provinz. Als er die hochangesehene staatliche Förderung bekam, öffneten sich für ihn die Türen der etablierten Theater- und Opernhäuser. Erst als Erwachsener las er die griechischen Tragödien, Shakespeare, Wagner, um sie dann alle ein paar Jahre später auf die Bühne zu bringen. Mitte der 1990er-Jahre inszenierte er an der Welsh National Opera schon einmal Humperdincks Hänsel und Gretel. In Cardiff waren die Eltern der verirrten Kinder noch Proletarier, in der neuen New Yorker und Münchner Fassung erscheinen sie im Outfit überforderter berufstätiger Eltern, Anzug und beigefarbenem Businessdress. Überhaupt stellt der kinderlose Regisseur die Not der gestressten Eltern sehr realistisch dar. Die Mutter stopft gegen den Schrecken, die Kinder in den Wald gejagt zu haben, Essen in sich hinein. Der Vater trinkt. Woher hat er diese intime Einsicht in die Nöte moderner Elternschaft, witzele ich. Aus

Humperdincks Urtext, lacht Jones und singt mir die Stelle vor. Heute, sagt Jones, nachdem er sich einen Campari und einen Weißwein bestellt hat, wäre eine Karriere wie seine gar nicht mehr möglich. „Die Klassengesellschaft ist wieder zugeschnappt.“ Ob in seiner Familie Musik und Kunst eine Rolle gespielt haben? Jones verschränkt seine Arme vor dem Bauch und sagt: „Ich komme nicht aus so einer Klasse.“ Seine Mutter habe, wer weiß woher, Geld zusammengekratzt, um ihn mitzunehmen, hierher zum Strand, um Musicals anzusehen. „Wir sind vorher essen gegangen. Hier gleich um die Ecke, in einen dieser fettigen Fish ’n’ Chips-Läden, und dazu gab’s eine Tasse Tee.“ Das war Glückseligkeit. Seine Mutter hat ihn zu den Künsten gebracht, nicht zur Hochkultur, aber hierher, zur Quelle. Wie sie spürte wohl auch er instinktiv, das hier war seine Welt, nicht mehr ihre. Seit er 14 Jahre alt war, kam er dann alleine hierher und ging ins Theater, so lange sein Taschengeld reichte. Bis heute macht er das dreibis viermal die Woche. Er deutet an, als Jugendlicher nicht einfach gewesen zu sein für seine Eltern. Er zeigte ihnen, dass er nicht wie sie sein wollte. Nichts war ihm zuhause gut genug. Er bestellt Pinot Noir und Leber, weil er Kraft brauche. Er arbeitet gerade viel, zählt eine schwindelerregende Anzahl von Theater- und Opernprojekten auf. „Leber gibt doch Energie, oder?“ Dazu gibt es Rosenkohl mit Kastaniensoße und Pommes frites. Und dann, darauf freut er sich, Torte. Er fragt unvermittelt: „Sind die Wagners eigentlich euer Königshaus?“ Ich überlege kurz und sage nein. „Die sind Celebrities, immer schon gewesen. Sie repräsentieren

Ist die Oper nicht sehr exklusiv? Richard Jones’ Antwort: „Exklusiv heißt ja auch, dass man dabei ist. Dieser Augenblick, den du erlebt hast, der gehört dir.“


Hänsel und Gretel handelt vom Überleben zweier Kinder, von Familienleben, Hunger, Völlerei und vor allem, wie der britische Regisseur gleich sagen wird – von Kannibalismus. Bon appétit! uns ja nicht. Und eure Queen“, frage ich, „repräsentiert sie euch?“ Er kaut. „Ja, das tut sie, und ich bin kein Monarchist.“ Während der Olympischen Spiele habe die Kamera ein sehr unglückliches Bild von ihr eingefangen. „Sie war fertig. Sie zitterte wie ein Tier. Sie, die immer so konzentriert ist. Das war ein fürchterlicher Moment. Da war sie eine alte Frau, eine Mutter Courage.“ Er freue sich, im Frühjahr werde er an der Hamburgischen Staatsoper, in Koproduktion mit der hiesigen Royal Opera, Benjamin Brittens Oper Gloriana inszenieren. Brittens einziger Misserfolg. Vor 60 Jahren, kurz nach der Krönung der Queen, feierte Gloriana im Royal Opera House Premiere im Beisein der jungen Elizabeth II. Es geht in der Oper um ihre Vorgängerin, die erste Elizabeth. Aber nicht um ihr öffentliches Bild, die jungfräuliche Königin, sondern auch um die „private“ Tudor-Regentin, zerrissen zwischen Image und Wirklichkeit. 1953 fiel die Oper durch. Die neue Queen war not amused. Das Stück wurde in England nie wieder inszeniert. Bis jetzt. Mit seiner Gloriana will er zeigen, wie sich England seit der Erstaufführung verändert hat. „Rasse und Klasse – damals in den 1950er-Jahren und heute. Da liegen Welten dazwischen.“ Benjamin Britten war schwul und Homosexualität damals strafbar. Sein Lebensgefährte aber saß bei der Premiere ganz öffentlich in der ersten Reihe – ein Skandal. „Diese Entwicklung ist interessant.“ Richard Jones ist kein Gourmet. Er stochert und pickt in seinem Essen und nennt sich erklärend einen Nerd. Er sei einer, der nie abschalte, immerzu Eindrücke sammle, Geschichten aufsauge. Sein Bühnenbildner Ultz erzählt laut Richard Jones oft, wie sie beide für die letztjährige Uraufführung von Mark-Anthony Turnages Anna Nicole am Royal Opera House durch Litauen reisten, auf der Suche nach Inspirationen. Jones ging auf eine Restauranttoilette und kam ganz aufgeregt zurück. „Du musst dir die Fliesen ansehen. Die passen genau für das Schlafzimmer!“ Das Muster haben sie dann für ihre Oper abgemalt. Kocht er? „Ja.“ „Oft?“ Manchmal, er habe ja kaum Zeit für gute Freunde, die er lange kennt. Was er denn koche? Er zögert. Er verschränkt die Arme vor dem Bauch. „Reichhaltiges.“ Er trinkt einen

Schluck. „Sunday Roast zum Beispiel.“ Das klassische englische Mittelklasse-Mittagessen an Sonntagen: Rinderbraten, Kartoffeln, mit ein wenig Soße, Karotten, Erbsen, Gemüse. „Hast du Kinder?“, will er von mir wissen. „Ja, vier.“ „Vier! Das ist ja toll“, ruft er begeistert. „Kochst du dann jeden Tag?“ Ich gehe folgsam durch unsere Menüs. Ihm gefällt mein Plädoyer für das Huhn, aus dem ich drei Mahlzeiten kochen kann. Dann murmelt er etwas, das ich nicht gleich verstehe. Ich beuge mich näher zu ihm. Er wäre ein guter Vater geworden. Er klappt die Speisekarte auf und studiert die Nachtische. „Weißt du was, wir müssen zwei doppelte Portionen Schwarzwälder Kirschtorte bestellen. Eine essen wir auf und eine nimmst du mit für deine Kinder. Das machen wir!“ Was er denn von der gescheiterten Essensrevolution des britischen Fernsehkochs Jamie Oliver hält? Schulessen sollte mit wenig Aufwand schmackhafter, gesünder und vor allem vitaminreicher werden. Jamie Oliver reiste unermüdlich durch das Land, von Schule zu Schule, immer begleitet von Fernsehkameras. Er überzeugte sogar die Politiker, Geld rauszurücken. (Das sie vor ein paar Monaten, wegen der Finanzkrise, wieder abgezogen haben.) Dann kam die Gegenrevolution. Die Mütter aus den Sozialwohnungen in der Nähe der Schulen wollten das gesunde Essen nicht, keine Körner, frisches Obst und Gemüse. Schließlich waren sie selber jahrzehntelang ausschließlich mit Fertigessen und Süßigkeiten großgeworden – und hatte es ihnen geschadet? Ihnen taten ihre Kinder sogar leid. Vor den internationalen Kameras reichten sie ihren Kindern die Chips-Tüten über den Schulzaun. „Ist das nicht schlimm?“, frage ich Richard Jones. Er blickt mich spöttisch an. Seine Solidarität gehört ganz offenbar den widerständigen Müttern. Gerade rollte wieder eine Entrüstungswelle durch Großbritannien. Das Bildungssystem wird reformiert und in den letzten Schuljahren soll es keine Künste mehr als Wahlfach geben. Der Schauspieler Jude Law und die frischgekürte Trägerin des Turner-Preises für zeitgenössische Kunst Elizabeth Price schimpften über „kulturelle Barbarei“. Richard Jones blickt mich wieder kühl an. „In meiner Schule gab es auch keinen Drama- oder Kunstunterricht“, sagt er. Natürlich schadet es nicht, wenn Kinder Parsifal oder Tschechow kennenlernen. Man müsse aber seine eigene Nase entwickeln, seinen Weg gehen und Krisen meistern. „Kinder überleben alles. Um sie muss man sich keine Sorgen machen. Die Alten sind viel empfindlicher.“ Die Zuschauer freuen sich, als am Ende die Kinder die böse Hexe überlisten und sie im Ofen sitzt. Nur sitzt die Hexe da sehr lange hinter der gläsernen Ofentür, neben einem deutschen Plakat über Erstickungsgefahr. Und dann, oh Schreck, verpasst die ausgelassene Gretel ihrem Bruder auch noch einen braunen Schokoladenkleks auf die Oberlippe: ein veritables Hitlerbärtchen! Richard Jones freut sich über seine Ungezogenheit. An der Metropolitan Opera in New York sei er dann gebeten worden, den verstörenden

Richard Jones

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Was ist für Richard Jones Völlerei? „Zu viel Musik des 19. Jahrhunderts“. Und Hunger? „Zu wenig Musik des 19. Jahrhunderts“, lacht er und schaut plötzlich ernst. „Nein, Hunger ist, wenn ich die Menschen, die ich liebe, die ich sehr lange kenne, nicht sehen kann.“ Bart zu entfernen. Der hätte manche Zuschauer irritiert. Und hat er ihn entfernt? Jones druckst rum und sagt statt einer Antwort: Die Amerikaner hätten eben keine richtige Opernkultur. Ein Engländer dürfe so einen frechen Witz machen. „Ist ja nur Schokolade.“ Bleibt das Bärtchen in München? „Es bleibt.“ Und am Schluss wird die sichtlich verkohlte Hexe verspeist – Hänsel und Gretel, ein kannibalistisches Gelage. Essen ist hier kein unschuldiges Vergnügen. Deutschland fasziniert ihn. Der Zweite Weltkrieg, Dresden, das Feuer. „So eine Zerstörung gab es bei uns gar nicht“, überlegt er. „Coventry vielleicht. Aber das ist dann nicht mehr so schön wieder aufgebaut worden.“ Er hat viel Wagner inszeniert, unter anderem ja den Lohengrin an der Bayerischen Staatsoper, er liebt die Musik, die Emotionalität. Für Künstler sei Deutschland ein Schlaraffenland. Die Politiker pflegten, anders als in Großbritannien, die Künste. Aber all diese Zuwendung habe einen Preis. Die große Nähe der Politik zur Kunst. „Die Politiker brauchen die Kunst, um Deutschland zu rehabilitieren.“ Wenn er sich entscheiden müsste, in welchem Land er arbeiten wollte: eines, das die Künste so stark subventioniert, oder ein Land, in dem es kein Geld gebe für die Kunst? „Ganz klar, die nicht geförderte Kunst. Man ist freier. Man hat das selber geschafft.“ Ist er ein politischer Regisseur? Eine schwierige Frage, antwortet er. „Ich mache keinen Brecht und ich bin auch kein linker Howard Barker. Ich zeige, was ist.“ Er erzählt, das kulturelle Establishment, die Royal Opera, das National Theatre, hätten vor vielen Jahren jene alternativen TheaterProjekte, bei denen er mitmachte, kolonialisiert. Früher machte die Royal Opera steife, langweilige Stücke für die Upperclass. „Wir, die freie Szene, waren neu, wir improvisierten und experimentierten.“ Projekte wie die People Show oder das Halfmoon Theatre, bei dem er mitgemacht hat, hätten viel in der englischen Gesellschaft aufgebrochen. „Über diesen Moment in der Kunst müssen wir mehr reden.“ Ich frage: „Ist die Oper nicht sehr exklusiv?“ Seine

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Antwort: „Exklusiv heißt ja auch, dass man dabei ist. Dieser Augenblick, den du erlebt hast, den kann dir keiner mehr nehmen. Der gehört dir. Das ist auch Exklusivität.“ Am Schluss kommt er wieder auf seine Mutter zu sprechen. Als er schon ein großer Regisseur war, wollte er ihr seine Molière-Inszenierung am Young Vic zeigen, Der Bürger als Edelmann. Er war den ganzen Nachmittag über aufgeregt. Er hatte ihre Karte hinterlegt, den Sitzplatz vorher ausprobiert. Und sie kam auch. Wie hat sie es gefunden? Er lächelt. „Sie hatte den besten Abend ihres Lebens. Vor dem Eingang des Theaters war sie gefallen und hatte sich den Daumen gebrochen.“ Mit den Schwestern im nahegelegenen Krankenhaus sei es dann doch noch sehr nett gewesen. „Danach ist sie nie wieder gekommen.“ Richard Jones und ich essen unsere Schwarzwälder Kirschtorte auf. Jeder eine Hälfte. Danach lassen wir den Rest für meine Kinder in einen kleinen Karton einpacken. Ich frage ihn noch, was für ihn Völlerei ist. „Zu viel Musik des 19. Jahrhunderts“, antwortet er. Und was bedeutet Hunger? „Zu wenig Musik des 19. Jahrhunderts“, lacht er und schaut plötzlich ernst. „Nein, Hunger ist, wenn ich die Menschen, die ich liebe, die ich sehr lange kenne, nicht sehen kann.“ Er müsse jetzt gehen. Ich bleibe noch an unserem Tisch sitzen, das kleine Nachtischpaket vor mir. An der Garderobe stellt er fest, dass seine und meine Jacke unter seiner Nummer aufgehängt sind. Er kommt zum Tisch zurück, sagt noch einmal höflich „goodbye“ und ist im nächsten Augenblick durch die Tür des Delaunay verschwunden, den Strand hinunter. Mehr über die Autorin und den Fotografen auf S. 8

Richard Jones begann seine Karriere als Re­ gisseur mit zahlreichen Schauspiel- und Musical-Inszenierungen u. a. am Londoner ­Old ­Vic und am New Yorker Broadway. ­­Seit 1984 inszeniert der gebürtige Londoner auch Opern an renommierten Häusern wie der English National Opera und der New ­Yorker Metropolitan Opera sowie beim Glyndebourne Festival und den Bregenzer F ­ estspielen. Sein Ring des Nibelungen ­am ­Royal Opera House, Covent Garden ­von 1994/95 erhielt den ­Outstanding Artistic Achievement Award des Evening Standard. An der Bayerischen Staatsoper gab er ­­1994 sein Regiedebüt mit Händels Giulio ­Cesare in Egitto. Es folg­ ten The Midsummer Marriage, Pelléas et Mélisande, Lohengrin, ­­Les Contes d’Hoffmann – und Hänsel und Gretel.

Hänsel und Gretel Märchenoper in drei Bildern Von Engelbert Humperdinck Premiere am Sonntag, 24. März 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


The Culture of Total Beauty

Exklusive Haarpflege und Kosmetik. In ausgesuchten Friseur – Salons und auf www.labiosthetique.de


Linder, Salad, 1977, collage on paper 30x29.5 cm, Courtesy of Stuart Shave / Modern Art, London, © the artist

GruSS aus der Küche

Gesunde, frische Küche fürs ganze Volk?­ Ein paar Fragen an den Koch Jamie Oliver, ­bekannt geworden als Naked Chef. 38


MAX JOSEPH Mr. Oliver, mit welcher Art von Küche sind Sie aufgewachsen? JAMIE OLIVER Bei uns gab es früher fabelhaftes Essen, weil meine beiden Eltern großartig kochen und ein Pub / Restaurant in Essex haben. Es gab alle möglichen Gerichte, aber meistens doch traditionelle britische Küche wie Braten und Torten. All die Gerüche, die aus der Küche kamen, waren unglaublich gut. MJ Haben Sie als Kind mit Essen gespielt? Oder kennen Sie den Wunsch, lustvoll mit Essen zu spielen? JO O nein, ich war viel zu beschäftigt damit, es aufzuessen! MJ Was bekommen Ihre Kinder am liebsten von Ihnen gekocht? JO Ihnen schmeckt ganz vieles – sie lieben Pasta, selbstgemachte Pizza, Braten, Berge an Gemüse. Sie sind nicht heikel beim Essen. MJ Seien Sie ehrlich – Ihre Kinder sind doch sicher auch Fast Food-Fans, oder? JO Nein, sind sie tatsächlich nicht. Sie gehen doch nicht in Fast Food-Läden, wenn sie zuhause etwas Besseres kriegen … MJ Sie engagieren sich sehr für wohltätige Zwecke, vor allem für besseres Essen in den Schulen. Was hat sich seit Ihrer Feed me better-Kampagne im Jahr 2005 in englischen Schulkantinen verändert? JO Die Lebensmittelvorschriften wurden einmal ordentlich aufgewirbelt, wobei die jetzige Regierung versucht, die Neuerungen der letzten Regierung wieder rückgängig zu machen – wir leben also in einer schwierigen Zeit, was Schulessen angeht. Es wird sich in den kommenden Jahren entscheiden, ob unser Land die Ernährung unserer Kinder ernst nimmt oder nicht. MJ Wo begegnen Ihnen bei Ihrem Engagement die größten Probleme und der stärkste Widerstand? JO Es gibt sehr viele Hürden, aber ganz oft sind es vor allem die Leute in Regierungspositionen, die nicht über die nächste Wahl hinaus denken können, die ja nie mehr als ein paar Jahre entfernt ist. Die großen Probleme, denen wir in allen entwickelten Ländern gegenüberstehen, brauchen große Lösungen, langfristige Lösungen, aber es ist selten, einen Politiker zu finden, der langfristig denkt. MJ Wenn Sie etwas am Politikbetrieb ändern könnten, was würden Sie sich wünschen? JO Mehr Politiker, die nach vorne denken. Mehr Menschen in der Politik, die verstehen, was das heißt – eine ganz normale Person zu sein, mit einem normalen Einkommen. MJ Das Herzstück der neuen authentischen Küche sind frische und qualitativ hochwertige Produkte. Ist das nicht auch elitär? JO Nein, gar nicht. Frisches Essen muss nicht teuer sein. In unserem neuen Buch Jamies 15-Minuten-Küche hat mein Team für alle Rezepte die Kosten ausgerechnet und kam bei jedem auf ein paar Euro pro Kopf.

Haben Sie als Kind mit Essen gespielt? – Max Joseph O nein, ich ­war viel zu beschäftigt damit, es aufzuessen! – Jamie Oliver

Die Fragen stellte die MAX JOSEPH-Redaktion.

Jamie Oliver ist ein britischer Fernsehkoch, dessen Popularität alle bisherigen Marken gesprengt hat. Berühmt wurde er 1999 ­ ­mit der BBC-Sendung The Naked Chef, in Anspielung auf seine Rezepte aus frischen, einfachen Zutaten. Mittlerweile werden ­ seine verschiedenen eigenen Kochshows in mehr als 100 Ländern ausgestrahlt, ­ seine Kochbücher in über 30 Sprachen übersetzt (auf Deutsch bei Dorling Kindersley erschienen), er hat Hollywoodstars bekocht und ist Mitglied des British Empire. Foto David Loftus

Jamie Oliver

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Judith Klausner, Toast Embroidery #3: Mold 1, 2010 Die Künstlerin Judith Klausner hat Brot als ­B asis für ihre Stickerei genommen.

Woher kommt das Schlaraffenland?

Das Ziel, sich ausgewogen zu ernähren, ist heute fast Allgemeingut. Dabei war die Geschichte der Ernährung in Europa bis in das 20. Jahrhundert vor allem eine der Mangelernährung. Über Balance in mageren und fetten Zeiten. 40


Text Christine Baumgarthuber

Empfohlen werden drei Portionen Joghurt, Käse oder Milch, viermal täglich Getreide und eine Portion nicht zu fettes Fleisch, besser noch Bohnen. Fünf- oder mehrmals täglich sollten Obst und Gemüse gegessen werden (zweimal Obst, dreimal Gemüse). Eine Mahlzeit sollte aus tierischen, eine aus pflanzlichen Fetten bestehen. Und, wenn es denn sein muss, einmal am Tag etwas Süßes und ein Glas Alkohol. Insgesamt sollten Männer täglich 2.400 Kalorien und Frauen 1.900 Kalorien nicht überschreiten. So empfiehlt es der deutsche aid-Infodienst für Ernährung. Seit Mitte der 1970er-Jahre versuchen Ernährungswissenschaftler auf der ganzen Welt, die richtige Ernährungsweise zu schematisieren, mal sachlich, mal optisch fantasievoll: mit einem etwas verwirrenden dreidimensionalen Dreieck (Deutschland), einem schlichten mehrfarbigen Teller (Großbritannien), mit einer steilen, flexibel variablen Treppe (Frankreich) oder einem heiteren Pagodenhaus (China). Und doch repräsentieren sie alle eine durchaus einheitliche Vorstellung von ausgewogener Ernährung. Ob Mann, Frau oder Kind – niemand sollte zu wenig oder zu viel von jeweils acht bis neun verschiedenen Nahrungsmittelgruppen essen. Dieses Ideal klingt verführerisch einfach und lässt kaum seine komplexe historische Entwicklung erahnen. Die Ernährungspyramiden der reichen Staaten gehen beispielsweise davon aus, dass so gut wie jeder Zugang zu Obst, Gemüse, Milchprodukten, Fleisch und Getreide hat – geschichtlich gesehen eine sehr junge Errungenschaft. Die Regel war vielmehr, dass es dem durchschnittlichen Menschen an Ausgewogenheit in der Ernährung stets mangelte. Ein Kilogramm Brot, Wasser, ein paar Zwiebeln, vielleicht noch ein oder zwei Äpfel, das war alles, was der durchschnittliche Europäer vor dem 20. Jahrhundert täglich ­erwarten konnte, vor der Entwicklung der modernen Landwirtschaft und verlässlicher Verkehrswege. Und diese Liste beschreibt die typischen verfügbaren Lebensmittel noch großzügig. Bauern ernährten sich in vielen Regionen von einfachem Gebäck, von Roggenbrei, Buchweizenschleim, von Dinkelbrot und Reis. In manchen Gegenden Spaniens bestand die Ernährung zu nahezu 80% aus Getreide. Man sagt, der durchschnittliche Arbeiter im Paris des 18. Jahrhunderts aß täglich ein Kilogramm Brot. Sein Cousin in der Gascogne ernährte sich fast ausschließlich von Hirsebrei. Seit Sammler und Jäger zu sesshaften Bauern wurden, also seit ca. 12.000 Jahren, dominiert Getreide in jeglicher Form die Ernährung in Europa. Schon eine der ersten literarischen Beschreibungen des Kochens zeigt die zentrale Rolle des Getreides. Verfasst im ersten vorchristlichen Jahrhundert, beschreibt das lateinische Gedicht Moretum (Mörsergedicht) einen „Ackerbesteller“ bei der morgendlichen Zubereitung seiner Mahlzeit. Dazu entfacht er ein kleines Herdfeuer, bevor er hinausgeht und „in die Erde drängt die Pflugschar“. Er pustet „mit häufigem Hauch“, bis die schwache Flamme wieder aufleuchtet. Dann füllt er in seiner Speisekammer von einem

„dürftigen Haufen“ Korn sein Getreidemaß, mahlt es zu grobem Mehl, mischt es mit Wasser und knetet daraus einen glatten Teig. Er besprenkelt den Teig mit Salz, klopft ihn zu festen Kuchen und „umhäuft sie mit Gluten“. Während seine Kuchen backen, kümmert er sich um die Beilagen. Mit einem Mörser zerstößt er Käse, Essig, Olivenöl, Knoblauch, Petersilie und Koriandersamen zu einer Paste, wobei die drei letztgenannten Zutaten aus seinem kleinen Gärtchen stammen. Das gesamte Nahrungsangebot des vorneuzeitlichen europäischen Bauernstandes kam ausschließlich aus dem eigenen Küchengarten, in dem man zur Bereicherung der ansonsten einseitigen Getreidekost Steckrüben, Rettich, Zwiebeln, Lauch, Karotten, Pastinaken, Kohl, Spinat und Kresse finden konnte. Vom Ödland jenseits der Felder holten sich die Bauern Nesseln, Disteln und anderes scharfes Grün. Sie kamen dort auch zu ihrer Extraportion Protein, falls ihnen ein Kaninchen oder ein Fasan in die Falle gegangen waren. Solche unverhofften Fleischportionen waren aber selten und so blieb Getreide das Hauptnahrungsmittel der Landbevölkerung. So voll und ganz verließ man sich auf diese Nahrungsgrundlage, dass die wogenden Weizen-, Roggen-, Gersten- und Haferfelder, in denen die Bauern schufteten, Kaufleute und Regierungsbeamte bis in den Schlaf verfolgten. Denn schlechtes Wetter, bescheidene Transportmöglichkeiten und magerer Boden bedrohten die Ernte. Und nach größeren Missernten brach auch die öffentliche Ordnung zusammen. 1585 zwang eine Hungersnot die Florentiner, sich von pane di castagne zu ernähren, einem groben Brot aus Kastanien und Hülsenfrüchten. Als ihre Geduld mit diesem Lebensmittel zu sehr strapaziert wurde, gingen sie auf die Straße und forderten vom örtlichen Getreidehändler, einem gewissen Giovanni Vicenzo Storaci, seine Lagerhallen zu öffnen. Doch der Getreidehändler liebäugelte mit anderen Plänen, weil er in der Hungersnot enorme Profitmöglichkeiten witterte. Dem Verlangen des Volkes begegnete er provozierend: „Esst Steine!“, befahl er ihnen vor seinem Getreidespeicher stehend. Dieser herablassende Spott verwandelte die Menge der hungernden, aufgebrachten Florentiner in einen mörderischen Mob. Sie töteten Storaci, zerrten seine Leiche durch die Straßen und zerstückelten sie. Obwohl es also mit dem Brot ein ernstes Geschäft war, kam es zu Momenten von Frivolität. Um die Monotonie des täglichen Broterwerbs zu fliehen, schuf die Einbildungskraft fantastische Reiche von Vielfalt und Überfluss. Eines dieser Reiche ist bekannt als das Schlaraffenland. Dort sind die Straßen mit Wurst gepflastert und Lebkuchenhäuser werden gestützt von Planken aus Kabeljau. Die Bäume biegen sich unter der Last von Koteletts, die wie Tannenzapfen an den Ästen wachsen. Schweine trotten vorüber, das Messer im Bauch, bereit, ein Stück aus sich herauszuschneiden, um jedweden hungrigen Wanderer satt zu machen. Die Le-

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Judith Klausner, Toast Embroidery #1: Egg on Toast, 2010

gende vom Schlaraffenland wirkte beachtlich auf die allgemeine Vorstellungskraft und hält sich seit gut dreihundert Jahren im kollektiven Bewusstsein. Eine Variation dieser Legende findet man im Märchen von Hänsel und Gretel. So sehr ähneln sich die Schlaraffenland-Legende und dieses Märchen, dass Geisteswissenschaftler den Ursprung beider Erzählungen in den wiederkehrenden Hungersnöten des Mittelalters sehen. Während die meisten jedoch vom Schlaraffenland nur träumen konnten, schafften es ein paar Glückliche, tatsächlich dort zu leben. Reiche und Arme erhielten ihr tägliches Brot, aber nur den Reichen wurde es zusammen mit Milch, Eiern, Honig, Früchten, Fleisch und Zucker gereicht. Nichts, was man mit Geld kaufen konnte, lag außerhalb der Reichweite der Wohlhabenden. Der römische Kaiser Maximinus I. zum Beispiel trank historischen Berichten zufolge jede Nacht eine Amphore (fast neunzehn Liter) Wein und aß mehr als 27 Kilo Fleisch. Katharina von Medici stopfte sich voll mit gebratenem Huhn, bis sie chronische Verdauungsstörungen bekam. Bei seinem Hochzeitsfest überfraß sich Louis XIV. dermaßen, dass er vom Stuhl fiel – zweifellos sehr zum Missfallen seiner Braut. Auch solcher Überfluss war, natürlich, eine Form von unausgewogener Ernährung. Mahlzeiten waren immer schon ein Spiegelbild der Marotten und Begierden des Essers. Wie der Tisch des Armen, nur mit Brot und Wasser gedeckt, seine Not darstellte, sym-

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bolisierte die Tafel des reichen Mannes, ächzend unter der Last von Gebratenem, Früchten, Gemüse und üppigen Desserts, Macht und Einfluss. „In ihren Details“, so schreibt der Historiker Fernand Braudel, „zeigt sich das wahre Gesicht einer Gesellschaft.“ Und Nahrung ist eines ihrer vielsagendsten Details. Eine unausgewogene Ernährung, ob Ausdruck von Mangel oder Überfluss, verrät Missverhältnisse andernorts. Nahrungsmangel brachte in den vergangenen Jahrhunderten mit sich, dass die meisten sich zwangsläufig sehr einfach ernährten. Belgische Schokolade, spanische Tomaten, Neuseeland-Lamm, marokkanische Sardinen – angesichts der Nahrungsfülle, die uns der globale Handel heute beschert, kann Einfachheit heute durchaus gewollt sein, im Streben nach ernährungsphysiologischer, ökologischer oder ökonomischer Ausgewogenheit. Aus dem Englischen von Sabine Voss

Christine Baumgarthuber ist Autorin des Blogs The Austerity Kitchen, in dem ­­sie über die Geschichte von plebejischer Küche schreibt. Die Texte der Amerikanerin erschienen u.a. in den US-Magazinen Lapham's Quarterly und Bon Appétit.


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Die dunkle Seite der Masse

44 David Ter-Oganyan, Manifestation 1048, 2007, print on canvas, 150 x 230 cm


Wenn eine Masse politisch bewegt ist, wenn sie sich auf einmal als „Volk“ wahrnimmt, dann ist Gefahr im Verzug – für welche Seite auch immer. Über das Phänomen der politisierten Masse. Text Franziska Augstein

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Mit der Macht der Massen ist es wie mit einem großen Regen: Fällt er auf gut bestellte Felder, kann er segensreich sein. Auf schlecht bereitetem Boden wird er zu einer vernichtenden Kraft. Unvorstellbare physische Kraft entwickeln Menschenmassen, die in Panik geraten: Der Druck einer fliehenden Menschenmasse, oft eindringlich geschildert, kann Stahlbarrieren verbiegen oder Mauern niederreißen. Eine Ansammlung harmloser Mitmenschen kann zu einer zerstörerischen Naturgewalt werden. Der einzelne Mensch hat dann keine Chance mehr. Die Massenpanik in Duisburg anlässlich der Love Parade 2010 hat das schauerlich belegt: 27 Menschen starben, 541 wurden verletzt. Nicht nur in der Realität, auch in der Welt der Vorstellung gibt es das Phänomen: Wenn eine Masse politisch bewegt ist, wenn sie sich auf einmal als „Volk“ wahrnimmt, dann ist Gefahr im Verzug. Bis Napoleons Truppen in den deutschen Ländern einmarschierten, wurden die Deutschen als Volk nicht wahrgenommen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war ein Staatenbund, mehr nicht. Erst als 1806 der Preußenkönig vor Napoleons Truppen kapitulieren musste, womit – wie Friedrich Gentz schrieb – das Heilige Römische Reich „am Schlagfluss“ starb, wurde aus den bisherigen verschiedenen deutschen „Stämmen“ eine Nation. Aus Sicht der Herrschenden war bis dahin das Volk die Masse der Untertanen gewesen. Und bis zum Frühmärz und der ersten Demokratiebewegung in den deutschen Ländern wurde die Idee eines „deutschen Volks“ nur kulturell in Anschlag gebracht: Das beste Beispiel dafür sind die „Volksmärchen“ der Brüder Grimm. Die weitere deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert war verheerend: Während es zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem um „Volksmärchen“ und „Volkslieder“ ging, drehte sich im Zuge des zunehmenden europaweiten Nationalismus das Vokabular: Diese Entwicklung führte zur NS-Zeit dazu, dass nun das schon bekannte Reden von „Volksgesundheit“ und „Volksgemeinschaft“ konsequent-mörderisch umgesetzt wurde. Warum haben die Menschen die NS-Politik mitgemacht? Wenn das Volk zur Masse wird, kann es gefährlich werden. In dem grandiosen Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit hat der Österreicher Karl Kraus gezeigt, wie das funktioniert. Während des Ersten Weltkriegs lässt er eine Passantin mit Damenbart auftreten (I. Akt, 1. Szene). Folgender Dialog entspinnt sich: ( … ) Die Menge: Ah do schauts her! Das kennt ma schon, ein verkleideter Spion! Varhaften! Einspirn stantape! Ein Besonnener: Aber meine Herren — bedenken Sie — sie hätte sich doch rasieren lassen! Einer aus der Menge: Wer? Der Besonnene: Wenn sie ein Spion wäre. Ein Zweiter aus der Menge: Drauf hat er vergessen! So hat er sich gfangt! Rufe: Wer? — Er! — No sie! Ein Dritter: Das is eben die List von denen Spionen ! Ein Vierter: Damit mrs net mirkt, dass Spionen san, lassen s‘ ihnern Bart stehn! Ein Fünfter: Redts net so dalkert daher, das is ein weiblicher Spion und damit mrs net mirkt, hat s‘ an Bart aufpappt! Ein Sechster: Das is ein weiblicher Spion, was sich für ein Mannsbild ausgeben tut! Ein Siebenter: Nein, das is ein Mannsbild, was sich für ein weiblichen Spion ausgeben tut! Die Menge: Jedenfalls ein Vardächtiger, der auf die Wachstubn ghört! Packts eahm! Die Frau mit dem Damenbart wird abgeführt. Wer da denkt, da habe Karl Kraus sich eine bitterböse, überzeichnete Szene ausgedacht, der irrt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war die Massenhysterie so groß, dass es gar keinen Damenbart brauchte, um verfolgt zu werden. Wie Erich Mühsam in München erlebte, genügten Wimperntusche und Lippenstift. Am 3. August 1914 notierte er in seinem Tagebuch, wie er eine „übermäßig geschminkte“ Bekannte zu retten versucht habe: „Sie wurde für einen verkleideten Mann gehalten.“ Er sei hinzugekommen, habe die Dame legitimiert und versuchte, sie fortzubringen. Doch „kaum saß sie im Wagen und wollte abfahren, da stellten sich die Leute in den

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„Der nackten Masse erscheint alles als Bastille“, schrieb Canetti in Masse und Macht.


In den Medien werden d ­ ie Märkte ganz ähnlich dargestellt, wie Menschenmassen beschrieben wurden: Sie wollen immer wachsen, sie tun alle dasselbe.

Weg, und obwohl ich und die Kellner des Stefanie erklärten, die Frau zu kennen, wurden zwei Soldaten requiriert, die sie im Auto zur Kaserne begleiteten ...“ Die Massenaufwallung kann als etwas Schönes wahrgenommen werden. Der im vergangenen Jahr verstorbene große Historiker Eric Hobsbawm nahm als junger Mann im Januar­ 1933 in Berlin an der letzten legalen Demonstration der KPD teil, bevor die Partei von den Nationalsozialisten verboten wurde. In seinen Memoiren schrieb er: „Gleich nach dem Sex ist die Teilnahme an einer Massendemonstration die Aktivität, die physisches Erlebnis mit ­intensiven Empfindungen perfekt kombiniert.“ Ähnliches erlebte auch Elias Canetti: 1927 wurde er als ursprünglich unbeteiligter Passant bei einem Arbeiteraufstand in Wien von der Flut der demonstrierenden Masse mitgerissen. In seinen Erinnerungen Die Fackel im Ohr schrieb er: „Es sind 53 Jahre her, und die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ In der Erinnerung an seine eigenen Erlebnisse und nachdem die Epoche des italienischen Faschismus sowie des deutschen Nationalsozialismus ausgestanden war, schrieb ­Canetti sein wichtigstes Werk: Masse und Macht erschien 1960. „Die Haupteigenschaften der Masse“ definierte er so: „Die Masse will immer wachsen. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Die Masse liebt Dichte: es soll nichts und niemand dazwischenkommen. Die Masse braucht eine Richtung. Ohne ein Ziel gibt es nichts.“ Diese Beschreibung belegt, wie nahe das Erhebende, das Überwältigende und das Gefährliche von Massenbewegungen beieinanderliegen. Beide, der Faschismus und der Nationalsozialismus, lebten vom Gemeinschaftsgefühl der Massen. Sie überhöhten es zum politischen Programm und nutzten es zur Verfolgung aller, die sie zu ihren Gegnern erklärten. Wie sagt „der Optimist“ in den Letzten Tagen der Menschheit? „Das Bewusstsein, in einer Epoche zu leben, in der so gewaltige Dinge geschehen, wird auch den Geringsten über sich selbst erheben.“ Solch „gewaltige“ Dinge konnten ohne Gewalt nicht abgehen. So wurde Gewalt jeder Art im Namen der Gemeinschaft psychologisch legitimiert. Ja, die Kinder wurden dazu gedrillt. Der Politologe Ekkehart Krippendorff erinnert sich in seinen Memoiren, wie gern er Pimpf im NS-Jungvolk war. Die Uniform, die ihn uniform mit den anderen Kindern machte, gab ihm das Gefühl, als Glied in der Gruppe mehr wert zu sein denn für sich allein. Für die Väter der Pimpfe, die im Feld standen, galt natürlich das Gleiche: Die Masse der Soldaten wunderte sich nicht darüber, dass NS-Deutschland einen „Verteidigungskrieg“ vom Zaun brechen musste. Dass Massen sich zu Gewaltsamkeit hinreißen lassen, ist ein Phänomen so alt wie die Geschichte der Menschheit. Gemeinsam Mord und Totschlag zu verüben, ist identitätsstiftend. Ganz knapp und hocheindrucksvoll hat Canetti beschrieben, wie es dazu kommt: „Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, dass er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, da alle Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich verschlossen. Mit dem Abheben der Distanzlasten fühlt er sich frei, und seine Freiheit ist die Überschreitung dieser Grenzen. Was ihm geschieht, soll auch den anderen geschehen, er erwartet von ihnen dasselbe. An einem irdenen Topf reizt ihn, dass er nichts als Grenze ist. An einem Hause reizen ihn die verschlossenen Türen. Riten und Zeremonien, alles, was Distanzen hält, bedroht ihn und ist ihm unerträglich.“ Und: Die Masse „hasst ihre künftigen Gefängnisse, die ihr immer Gefängnisse waren. Der nackten Masse erscheint alles als Bastille.“ Der Sturm der Bastille: Das ist die historische Zäsur, die Canetti plausiblerweise in den Strömen von Blut ausmacht, die in allen Jahrhunderten geflossen sind. Vor der Französischen Revolution war Massengewalt fast immer theologisch legitimiert oder zumindest religiös unterfüttert. Man schlachtete im Namen Gottes, wie immer der hieß. Als anbrach, was wir die Moderne nennen, wurde es möglich, die Gewalt als Selbstzweck wahrzunehmen: „Vielleicht weil sich die Masse vom Gehalt der traditionellen Religionen so weitgehend freigemacht hat“, schrieb Canetti, „ist es uns seither leichter, diese nackt, man möchte sagen, biologisch zu sehen, ohne die transzendenten Sinngebungen und Ziele, die sie sich früher einimpfen ließ.“

Masse und Markt

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Was führte zu der besonderen Gewaltsamkeit der vergangenen 150 Jahre? In dem Maße, wie stehende Söldnerheere von Volksheeren abgelöst wurden, verlor der Krieg seinen „professionellen“ Anstrich. Der Feind war nun nicht mehr der gegnerische Soldat, von dem man nicht wusste, wo er zu Hause war. Der Feind: Das waren nun auch die Frauen und Kinder der Gegner. Außerdem hat die Globalisierung, die in der frühen Neuzeit anhob und sich schon im späten 18. Jahrhundert für die Zeitgenossen bemerkbar machte, es möglich gemacht, dass die Feinde, wer immer sie sein mochten, aus zunehmend entfernten Landstrichen kamen. Und je fremder der Feind war, desto eher wurde er als Masse wahrgenommen: So fürchtete man sich im Westen im 20. Jahrhundert zum Beispiel vor der „gelben Gefahr“ und vor „dem Iwan“, hinter dem sich so viele Millionen „Kommunisten“ verbargen, dass man sie pars pro toto lieber unter einem Vornamen zusammenfasste, um sie somit etwas kleiner zu machen. Glücklicherweise wurde der Fußball in jener Epoche zum internationalen Massensport und dient seither als Blitzableiter für das Bedürfnis, sich zusammenzurotten, das Denken auszuschalten und den Gegner plattzumachen. Wie es scheint, sind sehr viele Menschen nicht bloß dafür gemacht, in einer Masse aufzugehen, wie es scheint, brauchen sehr viele die Idee der „Masse“ so dringend, dass sie sich damit Teile der Welt erklären. Wer bedroht den Bestand der EU und den Euro? Das ist eine anonyme Masse. Sie heißt: die Märkte. In den Medien werden die Märkte ganz ähnlich dargestellt, wie Elias Canetti Menschenmassen beschrieb: Sie wollen immer wachsen; sie tun alle dasselbe; haben sie einmal eine Richtung eingeschlagen, halten sie nicht mehr inne. Wenn die Märkte darauf wetten, dass eine europäische Volkswirtschaft sich im Niedergang befindet, dann findet sich eine Rating-Agentur, die das bestätigt und damit den Märkten anzeigt, dass sie in die richtige Richtung laufen. Und spätestens dann haben Politiker, ­ ­Unternehmer und Bürger des betreffenden Landes wirklich Anlass, um die wirtschaftliche Stabilität zu fürchten. Verblüffend ist nicht, dass es so abläuft. Verblüffend ist, dass diese Form der Darstellung allenthalben akzeptiert und wiederholt wird. Wer sind denn die ominösen „Märkte“? Das sind mehr oder minder große Anleger, eine große Menge von Investoren. Je größer und folglich sowohl mächtiger als auch umsichtiger die Investoren sind, desto weniger kann man sie mit Menschen vergleichen, die in der Masse aufgehen. Im Gegenteil: Sie haben keine Gefühle, sie kalkulieren kühl und sind, jeder für sich, jederzeit in der Lage, die Marschrichtung zu ändern. Das Reden von den bedrohlichen „Märkten“ führt nur dazu, dass diese so gefürchtet werden, wie der französische Adel die besinnungslos-aufgebrachten Pariser fürchten lehrte, die die Bastille stürmten. Es führt nur dazu, dass Politiker ihre Politik daraufhin einrichten, „die Märkte“ zu befrieden. Und es führt dazu, dass die Bürger glauben, dass das offenbar nötig sei. Vernünftig wäre, wenn wir alle miteinander das dräuend-furchteinflößende Reden von „den Märkten“ fallenließen und uns stattdessen darauf besännen, dass diese Märkte eben eines nicht sind: eine Menschenmasse.

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Franziska Augstein ist Journalistin und arbeitet für die Süddeutsche Zeitung. Die Historikerin wurde am University College London promoviert. Sie ist Theodor-WolffPreisträgerin. 2008 publizierte sie die Biografie Von Treue und Verrat über den spanischen Schriftsteller Jorge Semprún.












Nach roM! Der laNDschaftsMaler JohaNN christiaN reiNhart

21.02.–26.05.2013 Neue PiNakothek kuNstareal MüNcheN

Gefördert durch die Ernst von Siemens Kunststiftung



Ein Schatz in Mähren Ein Gespräch mit Dirigent Tomáš Hanus über die ­Welt ­ der tschechischen Volksweisen.

Brüderchen, komm, tanz mit mir ­wird ­es heißen, wenn Tomáš Hanus die Premiere von Humperdincks

Hänsel und Gretel ­an der Bayerischen Staatsoper dirigiert. MAX JOSEPH-­ Autor Kilian Kirchgeßner hat mit dem

Premiere Hänsel und Gretel

tschechischen Dirigenten über den Zauber und die politische Kraft ­ von Volksweisen gesprochen. 61


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Text Kilian Kirchgeßner

Auf seine Welt hat Tomáš Hanus den besten Blick, wenn er am Esstisch sitzt, an dieser langen Tafel mit ihren zehn Plätzen. Die mährischen Hügel kommen durch die raumhohen Fenster in sein Speisezimmer; die Hügel, die sich entlang des Horizonts hintereinander schichten. Für diesen Blick ist Tomáš Hanus hierher gezogen, an den Rand der mährischen Hauptstadt Brünn, hat sich sein Klavier in den 13. Stock wuchten lassen, fast nach ganz oben in dem neuen Apartmenthaus, und wenn er hier sitzt, wo sich unten im Tal die Türme des St.-Peter-und-Paul-Doms abzeichnen und die Mauern der Burg Špilberk und wo man dort hinten weit im Süden die Grenze nach Österreich erahnt, dann ist er Teil dieses wundersamen mährischen Kosmos. Man kann, auf dem windumpfiffenen Balkon stehend, sogar die Smetana-Straße erahnen, dort hinten im Brünner Häusermeer. Für Tomáš Hanus ist sie der Mittelpunkt seiner mährischen Welt: Dort steht das Haus, in dem einst der Komponist Leoš Janáček gelebt hat. „Unsere Wohnung war nur ein paar Schritte entfernt vom Janáček-Haus, dort habe ich meine ganze Kindheit verbracht. Mein Vater war erster Oboist im Janáček-Theater, meine Mutter war Gesangsprofessorin am Konservatorium. Natürlich gab es bei uns zu Hause immer viel Musik. Wenn ich Taschengeld bekommen habe, bin ich losgelaufen und habe Schallplatten heimgebracht, der Verlag hieß schon im Kommunismus Supraphon. Janáček war eher meine eigene Entdeckung als die meiner Eltern. Die letzte Szene in seiner Oper Das schlaue Füchslein hat schon damals Tränen in mir geweckt, als ich noch ein Kind war. Und wissen Sie was? Janáček schafft das bis heute.“ Leoš Janáček: Auch er war ein Kind aus Mähren, auch er vergötterte die Musik dieser Region. Er studierte die Volkslieder, die man auf dem Land sang, die eine Generation von der anderen übernahm, in den abgeschiedenen Regionen am Karpatenbogen, wo Tschechien auf die Slowakei trifft und wo die Einflüsse aus Brünn, gar aus Prag, kaum ankommen. Diese Lieder, diese geronnene Tradition, griff Janáček in seinen Kompositionen auf. Es sind unter anderem diese Werke, inzwischen gut 100 Jahre alt, die Tomáš Hanus berühmt gemacht haben. Er führte sie und andere Werke mit den großen Orchestern in Paris, München, Basel oder Helsinki auf; eine lange künstlerische Reise, die ihn zu einem der gefragtesten jungen Dirigenten machte. „Kennen Sie die Zymbal-Musik? Das Zymbal ist ein Instrument von hier, eine Art Hackbrett, das man mit einem Klöppel spielt. Es gibt wunderbare Ensembles, die diese Musik perfektioniert haben. Für mich ist die Gruppe Hradištan ein Beispiel, wie es mit der Folklore-Tradition weitergehen kann. Zufällig stammen die Musiker aus der mährischen Stadt Uherské Hradiště – ganz in der Nähe liegt Velehrad, dieser mystische Ort, an dem einst die Slawenapostel Kyrill und Method gepredigt haben. Das ist sozusagen die Essenz des Slawischen. Diese Musiker spielen

traditionelle Lieder – und sie komponieren eigene Stücke, die ihrerseits wieder Volkslieder werden. Für mich ist ein Lied dann ein Volkslied, wenn es die Fähigkeit hat, in die Herzen der Menschen einzutreten. Oft sehe ich das bei mir in der Familie: Wenn ich auf Konzertreise bin, begleiten mich meistens meine Frau und unsere sechs Kinder. Wir hören unterwegs im Auto ein Lied, und die Kinder singen plötzlich mit, sie kennen die Strophen auswendig. Ist das nicht ein gutes Zeichen? In der Musik liegt ein Reichtum, der eine Nation begleitet und stärkt; es sind kulturelle Wurzeln.“ Wegen dieser Wurzeln lebt Tomáš Hanus in Brünn. Sein Mähren lässt ihn nicht los, obwohl er seine Engagements überall auf der Welt hat, oft schläft er monatelang in Hotels. Daheim in Tschechien tritt er fast nie auf. Exilkünstler nennt er sich manchmal, und obwohl er es mit einem feinen Lächeln sagt, wirkt es sarkastisch: So gefeiert er im Ausland ist, so sehr wird er in der Heimat ignoriert. Brutal regieren die tschechischen Kulturpolitiker derzeit ihre Museen, ihre Opern, Theater und Konzerthäuser nieder. An den Schlüsselstellen in Ministerien und Behörden sitzen bürokratische Sachwalter; als Direktoren von Opernhäusern und Museen werden Manager ernannt, die einzig und allein auf ausgeglichene Bilanzen zu achten haben. Natürlich fehlt es an Geld, aber vor allem fehlt es an der Liebe zur Sache und wohl auch am aufrichtigen Interesse. Dieses mangelnde Bewusstsein für die eigenen Juwelen ist zu einer Kontinuität geworden – wenn auch heute unter ganz anderen Vorzeichen als noch vor 30 Jahren, als Tomáš Hanus die Ignoranz als Schüler erlebte. „Es ist viel kaputt gegangen über die Jahre des Kommunismus. Nicht jede Familie schafft es, den Reichtum an Traditionen an die Kinder weiterzugeben. Nehmen wir ruhig das Beispiel der Musik: In den Schulen haben wir früher nur selten die alten Lieder gesungen. Stattdessen gab es diese ständigen Versuche, uns gründlich die Köpfe zu waschen. Wir haben sowjetische Lieder singen müssen, da ging es um Väterchen Lenin, um die große Oktoberrevolution und diese Sachen. Das waren typisch sowjetische Lieder. Für die eigene Volksmusik haben die Schulen nichts getan;

„Auf Konzertreisen begleiten mich meist meine Frau und unsere sechs Kinder. Wir hören ­im Auto ein Lied, und die Kinder singen plötzlich auswendig mit. In der Musik liegt ein Reichtum, der eine Nation begleitet, es sind kulturelle Wurzeln.“




Exilkünstler nennt sich Tomáš Hanus manchmal, mit einem feinen Lächeln: So gefeiert er im Ausland ist, so sehr wird er in d ­ er Heimat ignoriert.

Fotografie das schmott

sie haben lieber diese sowjetischen Pionier-Gesänge als wertvolles Gut präsentiert. Diese Wunden aus dem Kommunismus sind bis heute nicht verheilt.“ Aber so, wie die Kommunisten ihre Lieder pflegten, hatte auch der Widerstand seine Melodien. Tomáš Hanus richtet sich in seinem Sessel auf und singt. Ach Synku Synku, er singt nur die ersten Takte. Ein Kinderlied ist es mit simpler Melodie: „Ach Söhnchen, Söhnchen, bist du zu Hause, bist du zu Hause? / Das Väterchen fragt dich, hast du gepflügt, hast du gepflügt?“ Diese banale Komposition schaffte es, zu einer der Hymnen der Revolution zu werden. Im Mund der Demonstranten wurde der harmlose Text zu einer scharfen Waffe gegen das Regime. „Das war das Lieblingslied von Tomáš Garrigue Masaryk, dem Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik von 1918. Er war ein Mann, der viel von Ethik in der Politik gesprochen, der sich mit geistigen Idealen beschäftigt hat. Und dann singt man also dieses Lied in der kommunistischen Zeit und verwandelt es so in eine Botschaft. Wir haben es im Gedenken an die Freiheit aus der Zeit Masaryks gesungen, im Gedenken an seine Persönlichkeit und seine Verdienste. Ich stand 1989 auch auf den Straßen, damals als 19-Jähriger, weil ich so eine große Hoffnung mit den Entwicklungen verbunden habe. Verboten war Ach Synku Synku natürlich nicht, aber wenn man es auf bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten gesungen hat, konnte das schon ein Grund für ernsthafte Probleme sein.“ Es ist nicht die einzige Hymne des Widerstands in der früheren Tschechoslowakei. Auch neue Lieder gingen plötzlich von Mund zu Mund, wenn sie den Geist der Zeit trafen und wenn sich alle wiederfanden in der Melodie und im Text. Selbst die jungen Tschechen, die erst nach der Wende geboren wurden und jetzt allmählich ihr Abitur machen, kennen diese Lieder. Nicht immer verstehen sie den Zusammenhang, in dem sie entstanden, nicht immer erkennen sie die Anspielungen im Text; trotzdem sind die Lieder Allgemeingut geworden. Oder, wenn man so will: Volkslieder – selbst wenn sie mit Folklore im engeren Sinne überhaupt nichts zu tun haben. „Es gibt viele Liedermacher aus dieser Zeit, die nur mit Gitarrenbegleitung über Politik und Gesellschaft singen. Karel Kryl zum Beispiel. Er hat eines dieser Stücke geschrieben, die zum Volkslied geworden sind. Bratřičku, zavírej vrátka heißt es, entstanden nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts: „Brüderchen, schließe das Tor! / Es regnet

„Ich stand 1989 auch auf den Straßen, voller Hoffnung. Verboten war Ach Synku Synku natürlich nicht, aber wenn man es auf bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten gesungen hat, konnte das schon ein Grund für ernsthafte Probleme sein.“ und draußen ist es dunkel geworden. / Diese Nacht wird nicht kurz sein. / Der Wolf stürzt sich auf das Lamm. / Brüderchen, schließe das Tor! / Schließe das Tor!“ Solche Lieder waren für uns damals sehr, sehr wichtig. Viele Leute haben diese Lieder auswendig gekannt und gesungen.“ Tomáš Hanus steht auf und geht zu seinem Studierzimmer. Ein kleiner Raum ist es, auf der einen Seite steht sein Schreibtisch, überhäuft von Partituren, gegenüber das Klavier, ein altes Meisterwerk des tschechischen Herstellers Petrof. Er sei Künstler und kein Politiker, sagt Tomáš Hanus – aber natürlich sieht er, wie die Musik politisch werden kann. Das Kinderlied Ach Synku Synku ist plötzlich aufgeladen mit einer Bedeutung, die es eigentlich nicht hat, und der protestierende Karel Kryl ist Jahre nach seinem Tod und weit nach dem Ende des Kommunismus von der politischen Sphäre in den Bereich des Volkslieds eingegangen. Man kann aber in der tschechischen Geschichte noch viel weiter zurückgehen, wenn man die Wechselwirkungen von Musik und Politik beobachten will – zum Beispiel ins 18. und 19. Jahrhundert, als die Nationalbewegung in ihrer Blüte stand. Damals unter der Habsburger Herrschaft trugen viele Tschechen die Musik als Galionsfigur vor sich her; damals, als Deutsch in Prag die Amtssprache war und Tschechisch allgemein als Dienstbotenjargon belächelt wurde. Wie gut, dass es da einen Bedřich Smetana gab und einen Antonín Dvořák, zu denen eine ganze Nation aufschauen konnte! Ihnen hat die Bürgerschaft glänzende Säle gewidmet, um den Ruhm des Tschechischen zu mehren – das prunkvolle Prager Nationaltheater mit seiner goldenen Krone zeugt heute noch von dieser Zeit und auch das Repräsentationshaus mit seinen verschwenderischen Jugendstil-Ornamenten. Tomáš Hanus brummt, wenn er darüber spricht: Ein wenig zu plakativ, sagt er, seien Dvořák, Smetana und all die anderen präsentiert worden, ein wenig zu einseitig – und vor allem viel zu politisch. Aber dann gab es zu dieser Zeit noch jenen Pfarrer aus Mähren, den heute kaum mehr jemand kennt: František

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Sušil hieß er und hatte das eigentümliche Hobby, durch mährische Weiler zu ziehen und die Leute aus den Dörfern ihre Lieder singen zu lassen. Melodien und Text notierte er genau in seinen Büchlein und fasste sie schließlich zu einem Kompendium zusammen: Die Mährischen Nationallieder nannte er sein Werk, das schließlich unglaubliche 2.400 Lieder umfasste und als Beitrag zur Nationalbewegung gedacht war. Bewirkt hat František Sušil aber etwas ganz anderes: Er begeisterte einen mährischen Musikstudenten aus Brünn namens Leoš Janáček. Der verliebte sich in die urtümliche Kraft der Volkslieder, destillierte sie in ihre reinste Form und erhob sie zu den Motiven seiner Opern. Der Faszination der Volkslieder ist er sein Leben lang erlegen. Genauso wie auch Engelbert Humperdinck, der fast zur gleichen Zeit wie Janáček deutsche Volkslieder in der Oper verwendete – Hänsel und Gretel ist sein Werk. Tomáš Hanus indes steht auf seinem Balkon im 13. Stock und schaut hinunter auf die Türme von Brünn, wie sie aus den sanften mährischen Hügeln hinaufragen. Die Landschaft, die er sieht, klingt für ihn nach Leoš Janáček, nach Heimat. Fast hundert Jahre alt sind die Opern von Janáček, um ein Mehrfaches älter sogar die Melodien, die hier in den Tälern zwischen Tschechien, Österreich und der Slowakei von Generation zu Generation getragen worden sind. Wenn Tomáš Hanus sie mit seinen Kindern singen wird, vor dem Zubettgehen oder irgendwo in Europa auf einer Konzertreise, werden die uralten Melodien wieder jung sein. So zeitlos jung, wie nur Volkslieder sein können.

Kilian Kirchgeßner berichtet seit 2005 als Korrespondent von Prag aus für Zeitungen wie Die Zeit und den Tagesspiegel und zahlreiche ARD-Hörfunkprogramme. Seine Re­ portagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Die Fotografien stammen aus der Serie ­Recently in Hatě ­von ­Mathias Schmitt und Michael Ott, dem Fotografenduo ­­das schmott. Sie fotografierten die Einkaufs­stadt ­ atě ­Excalibur City ­am Grenzübergang H Chvalovice in Tschechien. Mehr über die Fotografen auf S. 8.

Der tschechische Dirigent Tomáš Hanus ist eng mit der Musik seines Landes verbunden, die er international aufführt. An der Bayerischen Staatsoper war er bereits bei Rusalka und Jenůfa zu erleben. Miroslav Srnkas Jakub Flügelbunt brachte er 2011 an ­der Semperoper Dresden zur Uraufführung und dessen Werk My Life Without Me wird er beim diesjährigen Prager Frühling ­dirigieren. An der Finnischen Nationaloper leitete er 2005 Katja ­Kabanova, an der Opéra national de Paris Die Sache Makropulos, an der Deutschen Oper Berlin und an der Opéra de Lyon Das schlaue Füchslein. Hanus studierte bei Jiří Bĕlohlávek an der Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Brünn, wo er ab 2007 für zwei Spielzeiten Musikalischer Direktor des ­Nationaltheaters war. Natürlich dirigiert er auch zahlreiche nicht-tschechische Werke wie 2012 die Uraufführung von Scartazzinis Der Sandmann am Theater Basel, die Neuproduktion Hänsel ­und Gretel und das 4. Akademiekonzert an der Bayerischen Staatsoper.

Hänsel und Gretel Märchenoper in drei Bildern Von Engelbert Humperdinck

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Premiere am Sonntag, 24. März 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


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Plötzlich Vox Populi

Regev Contes war einer der führenden Aktivisten der Protestbewegung im Tel Aviv des Sommers 2011. Hier erzählt er, wie er zu Anfang nur eine Wohnung mithilfe seiner Facebook-Freunde suchte und dann in einer ­kollektiven Schwingung seine politische Stimme fand. Die Familie Contes Es heißt, der Ursprung meines Familiennamens Contes reiche weit zurück ins mittelalterliche Spanien, noch vor die Zeit der Vertreibung der Juden aus Spanien. Aufgrund dieser Tatsache darf ich stolz einen Hauch von südländischer Exotik mein eigen nennen, was leider schon Thema bei zu vielen ersten (und letzten) Dates war. Obwohl nun meine österreichisch-ungarische, Sahnetorte essende Familie so gar nichts Exotisches an sich hat, konnte ich, als wir in der Schule die conversos durchnahmen (diejenigen, die ihr Judentum zwangsweise aufgeben mussten), einfach nicht anders, als mich mit dem Schicksal meiner Vorfahren tief verbunden zu fühlen. Sie wurden oft gefoltert, zur Konversion zum Christentum gezwungen und aus ihrer Heimat vertrieben. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich an Geschichten von Passahfesten, bei denen die Haggada versteckt lag, aus Angst vor der Spanischen Inquisition. Diese Furcht wurde offenbar an mich weitergegeben, denn als mein Vermieter mir im Frühsommer 2011 mitteilte, ich habe die Wohnung zu verlassen, in der ich acht Jahre gelebt hatte, dachte ich mir: Das leuchtet ein. Meine Vorfahren wurden von den spanischen Katholiken hinausgeworfen, meine Großeltern von den Nazis, und nachdem sie auf wundersame Weise überlebt hatten, kehrten sie zurück, nur um dann von den Kommunisten des Landes verwiesen zu werden. Mein Vater, der vor den Kommunisten nach Israel floh, wurde von den Sachbearbeitern seiner Kreditbank ebenso auf die Straße gesetzt. Und jetzt war eben ich dran. Der „wandernde Jude“, es sitzt doch in den Genen. Ich begann also, nach einer erschwinglichen Alternative zu suchen, aber vergeblich. Auch in Tel Aviv hatte bereits, wie in anderen Großstädten weltweit, die Gentrifizierung dafür gesorgt, dass sich die Mietpreise innerhalb von ein paar Jahren fast verdreifacht hatten. Als ich mich nun auf der Schwelle zur Deportation in irgendeine Wüstenstadt wiederfand, wandte ich mich an die Einzigen, die mir helfen konnten: meine Facebook-Freunde. Die Geburt des ‚Homo Status‘ Der PC und ich wurden gleichzeitig geboren, im Juni 1976. Er hatte einen vier KilobyteSpeicher und ich wog vier Kilo. Ich bekam ihn zu meinem Bar Mitzvah-Fest. Es war Liebe auf den ersten Blick. Jahrelang waren Packman und andere dumme Spiele meine einzigen Freunde. Deswegen war ich auch sehr gut in Facebook, einem ebenfalls dummen Videospiel: Schreib ein paar Worte und du bekommst Freunde. Poste ein komisches Foto und du bringst alle zum Lachen. Komm ein paar Level weiter und „adde“ neue Freunde. Es ist so leicht, sich hinter dem Monitor zu verstecken. Und wenn es zu chaotisch wird, dann „entfreundet“ man sich eben wieder. Doch ich hatte noch 5.000 Freunde übrig, die ich um Tipps für bezahlbare Wohnungen bitten konnte. Eine Freundin davon, Daphni Leef, schrieb mir, dass sie im gleichen Dilemma steckte. Und sie berichtete mir von einer Protestaktion, die sie plante. Statt zurück zu ihren Eltern zu gehen, wollte sie in ein Zelt auf dem Rothschild Boulevard ziehen, die teuerste Straße im ganzen Land. Sie fragte mich, ob ich mich ihrer Protestgruppe anschließen würde, die sich zum ersten mal fünf Tage vor der Aktion treffen wollte.

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„Nach zwei Wochen war das ­ and überzogen mit 130 ZeltL städten. ­In Galiläa wurde ­ sogar ein gemeinsames jüdischorthodoxes und ­arabisches Zeltlager errichtet.“

„Mir wurde klar, dass wir ­­­als erstes die Möglichkeit abschaffen mussten, virtuell an ­den Protesten teilzunehmen.“

Die „Zelt-Familie“ „Ihr müsst gewappnet sein!“, verkündete einer der Facebook-Freunde auf dem Treffen – der Einzige mit einschlägigen Erfahrungen. „Es wird so ablaufen: Der Einsatzleiter zeigt auf einen von euch, der dann von einem Polizisten in die Eier getreten und weggeschleppt wird und mit einem Kehlkopfbruch in der Notaufnahme landet. Das ist mir schon oft passiert.“ In die Eier treten? Kehlkopfbruch? Aber ich bin doch ein braver Junge, dem Mama immer eingebläut hat, dass eine Vorstrafe seine Zukunft zerstören würde. Aber als gefragt wurde, wer bereit wäre, sich für die gemeinsame Sache verhaften zu lassen, ging mein Arm fast wie von selbst in die Höhe. Ich sah mich unter meinen neuen Freunden um, die, genau wie ich, furchtsam, aber entschlossen waren, neidisch auf unsere ägyptischen Nachbarn auf dem Tahrir Platz, und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich eine echte Nähe zu anderen. Wir alle waren Hochschulabsolventen desselben Jahrzehnts, mit seiner Ernüchterung durch die gescheiterten Friedensverhandlungen, mit fehlenden Alternativen, Reality Shows und den Trivialitäten, von denen wir uns einlullen ließen, weil wir glaubten, dass es nichts mehr gab, was von Bedeutung war. Jedenfalls tauschten wir am Ende dieses Treffens Telefonnummern aus. Wir hielten uns nicht damit auf, unsere Nachnamen aufzuschreiben, und so habe ich bis heute diese Leute auf meinem Handy gespeichert unter „Daphni – Zelt“, „Yigal – Zelt“ oder „Stav – Zelt“. Da wusste ich noch nicht, dass mein Handy bald randvoll sein würde mit den Namen von Brüdern, Schwestern und Cousins meiner neuen „Zelt-Familie“. Jeder von uns bekam eine Aufgabe, wir hatten fünf Tage Zeit und wir machten uns ­sofort an die Arbeit. Eine Facebook-Kampagne gegen Facebook Man hat mittlerweile ja gesehen, dass die Antisemiten Recht hatten – die Juden verschworen sich, die Weltherrschaft zu übernehmen, und haben es nunmehr geschafft. Zumindest einer von ihnen. Mehr als eine Milliarde Menschen sprechen, atmen, lieben, hassen, heiraten, lassen sich scheiden oder kapseln sich ein auf Zuckerbergs Facebook. Israel ist auf diesem Gebiet führend. Mehr als eine Milliarde Minuten pro Monat wurden von ungefähr einer Million Israelis (bei einer Gesamtbevölkerung von sieben Millionen) am Vorabend der Proteste auf das Hochladen und das gegenseitige Zustimmen zu Fotos von leckeren Gerichten verwendet. Es wurden Links gepostet zu Seiten, die öffentliche Proteste simulierten und zugleich perfekte Lösungen anboten. Und das alles bequem vom klimatisierten Wohnzimmer aus, mit dem Gefühl, ein echter Aktivist zu sein. Mir wurde klar, dass wir als erstes die Möglichkeit abschaffen mussten, virtuell an den Protesten teilzunehmen. Die neuen Israelis Tausend Menschen erschienen in der ersten Nacht. Nach zwei Wochen war das Land überzogen mit 130 Zeltstädten von Jerusalem bis Eliat, von Tel Aviv bis Nazareth. In Galiläa wurde sogar ein gemeinsames jüdisch-orthodoxes und arabisches Zeltlager errichtet. Die Menschen überwanden ihre tiefgehenden Unterschiede, um gemeinsam zu protestieren. Sogar in Jenin, im Westjordanland, also auf palästinensischem Herrschaftsgebiet, errichteten Menschen ein Zeltlager der Solidarität. Ich will niemanden mit den formalen Einzelheiten über jenen Sommer langweilen, die ja jeder selbst googeln kann. Ich will nicht im Einzelnen auf die Kundgebungen eingehen, die hunderttausende von Protestierenden auf die Straße holten und von Woche zu Woche größer wurden, und auch nicht auf die Medienschlacht mit einer hysterischen Regierung, die sich dieser „Familien-Revolution“, die sich vor ihrer Nase ereignete, komplett entzog. Es war eine Revolution der Studenten, der Alten, der Mütter mit Kindern, die gewaltlos und engagiert skandierten „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!“. Es war auch eine Revolution der israelischen Araber, die zum ersten Mal seit Langem Seite an Seite mit uns an einem gemeinsamen sozialen Kampf teilnahmen und die kulturellen Gräben und Konflikte zwischen den beiden Völkern für einen Moment vergaßen. Wir waren die neuen Israelis. Wir hatten verstanden, dass wir, wenn wir uns an einem Ort zuhause fühlen wollten, dieses Zuhause auch selbst schaffen mussten, und wenn es auf der Straße war.

Text und Fotografie Regev Contes

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Bedenke, Mensch, Facebook bist du und zu Facebook musst du zurück „Und jetzt?“, wurden wir immer wieder gefragt, nachdem auf unserer letzten Kundgebung mehr als 300.000 Menschen den Rücktritt der Regierung gefordert hatten, nur um dann mit einem zynischen und machtlosen Untersuchungsausschuss der Regierung quittiert zu werden, der die Proteste betäuben sollte. In Wahrheit hatten wir keine Vorstellung, was als Nächstes passieren sollte. Wir waren lediglich zehn einzelne junge Leute, die hauptsächlich über den Computer kommunizierten und durch eine raue Re­alität verbunden waren, die uns auf die Straße trieb. Und dann, als unsere Eltern versuchten, uns zur Gründung einer eigenen Partei zu bewegen, veränderte sich plötzlich etwas. Ich erinnerte mich an meine High School-Lehrerin, die zur Bedeutung des Begriffs Politik einst erklärt hatte: „Politik ist der Kampf um die Macht. Verstanden?“ Zwanzig Jahre später verstand ich sie. Und als ich Freunden zusah, wie sie langsam die Verbindung mit unserer ursprünglichen solidarischen Bewegung zu verlieren schienen und stattdessen auf das Rampenlicht oder einen Sitz im Parlament schielten, hatte ich das vertraute Gefühl, wie mein etwas ramponiertes Ego wieder in Form kam. Der Protest ging mit voller Energie weiter und nur wenige hatten bemerkt, dass wir unsere Zelte schon lange verlassen hatten und nur noch für uns selbst im Verborgenen kämpften.

„Meine neuen Freunde waren, ­genau wie ich, furchtsam, aber entschlossen, neidisch auf ­unsere ägyptischen Nachbarn auf dem Tahrir Platz, und ­ zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich eine echte Nähe zu anderen.“

99% Der Sommer ist nun endgültig vorbei. Als der Premierminister unvermittelt entschied, den Soldaten Gilad Schalit aus der Gefangenschaft der Hamas zurückzuholen, hat man im Zuge eines Gefangenenaustauschs 1.200 palästinensische Häftlinge freigelassen. Die Leute waren begeistert und die Tatsache, dass auf keines der sozialen Probleme eingegangen wurde, hat man komplett übersehen. Und so kehrte das Parlament, anstatt wichtige Sozialgesetze zu erlassen, wie sie von 87% der Bevölkerung gefordert wurden, zu seiner Praxis des „teile und herrsche“ zurück. Es folgten Herbst und Winter und ich fand Trost bei Besuchen anderer sozialer Kampfzonen auf der ganzen Welt, wo die Bedingungen nicht besser waren: Occupy Münster, Occupy Berlin, Occupy Wall Street. Allmählich aber folgten diese globalen Initiativen dem SchneeballPrinzip und nahmen Fahrt auf, fanden Möglichkeiten, zurückzuschlagen. In Kanada strömten die Studenten auf die Straße und stürzten das Parlament, in Spanien erklärten sie dem Magnaten Sheldon Adelson den Krieg, sogar auf den Tahrir Platz kehrten seine Besetzer feurigen Blickes zurück und machten einen Beschluss des Präsidenten rückgängig, der ihm die absolute Macht garantieren sollte. Immer mehr Menschen verstehen mittlerweile, dass in einer Zeit, in der Konzerne, Tycoone und Marken das Machtgefüge eines jeden Landes unterwandern, für die übrigen 99% die einzige Option ist, sich zu verbünden. Ganz im Sinne der Worte eines 25-jährigen (freiwilligen) Obdachlosen, den ich bei Occupy Wall Street kennengelernt habe: „Schreib mich auf Facebook an“, rief er. „Du hast keine Wohnung, aber bist bei Facebook?“, fragte ich verdutzt, worauf er grinsend meinte: „Aber jeder ist doch bei Facebook. Wie sollten wir denn sonst kommunizieren?“ Revolutionen sterben nicht Der frühere Chef der israelischen Labour-Bewegung, Yitzhak Ben-Aharon, sagte einmal, dass Revolutionen nicht sterben, sondern von einer Gesellschaft absorbiert werden. Und heute, im Januar 2013, kurz vor den Wahlen, hoffe ich, dass er recht hat. Zwar hat der Protest nichts Handfestes hervorgebracht, keine neue Partei und auch kein neues eigenständiges Massenmedium (nur zwei unserer Freunde haben eine hohe Position innerhalb der alten Labour-Partei erhalten). Aber die Leute engagieren sich immer noch. Das Hauptproblem ist auf jeden Fall das Geld, und schließlich sind wir alle Träumer, „Word“-Menschen, die „Excel“ noch immer nicht kapieren. Aber was anders ist: Viele von uns rennen nun nicht mehr vor der Herausforderung weg ins nächste Pub. Wir wollen nicht Jahrzehnte auf Veränderungen warten, so wie Mao Tse-tung, der auf die Frage nach den Auswirkungen der Französischen Revolution geantwortet h ­ aben soll, dass es für ein Urteil darüber noch zu früh sei. Und abgesehen davon war mein Vermieter so überrascht, als er mich im Fernsehen sah, dass er mir unverhofft meine Wohnung zurückgab. In dieser Beziehung hatte ich also mehr Glück als der Rest meiner Familie.

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Aus dem Englischen von Sabine Voss

Regev Contes ist Dokumentar- und Werbefilmer aus Tel Aviv, zudem ­Kolumnist für die isralische Tageszeitung Haaretz und Lehrbeauftragter an der Shenkar Academy of ­Art and Design. Seine Arbeiten wurden unter ­anderem beim Filmfestival ­in Cannes gezeigt, sein jüngster Film Friends handelt von seinen Erfahrungen während der sozialen Proteste in Tel Aviv.


DIE

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w E lT k u lT u R u n D M I T T E l M E E R - n aT u R Rom/Italien Neapel/Italien

Lipari/Italien

Bari/Italien

Stromboli/ Italien

Palermo/Italien Trapani/ Italien

Tropea/ Italien

Korfu/ Griechenland Piräus/ Griechenland

Taormina/Italien

Licata/ Italien Valletta/ Malta

427 osterreise – VOn PIRäus nacH ROM 29.03.–11.04.2013

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Jeremy

Deller

„Ich mag Menschen, die Freude empfinden können.“ Der britische Künstler Jeremy Deller produziert keine Kunstwerke, die sich fein säuberlich ausstellen lassen. Er produziert Erlebnisse, Happenings und Interventionen. Reale Vorgänge, die kaum zu dokumentieren sind und außerhalb ihrer selbst keinen eigenen Wert darstellen. Wer nicht dabei war, kann nur darüber lesen.

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PORTFOLIO


Jeremy Deller, Joy in People, 2012; Retrospektive in der Hayward Gallery, London


Jeremy Deller, geboren 1966 in London, ist einer der einflussreichsten Künstler der letzten zwei Dekaden. 2004 gewann er den Turner-Preis, 2013 wird er den britischen Pavillon bei der Biennale in Venedig bespielen. Jeremy Deller ist weder Zeichner noch Maler oder Bildhauer. Er beherrscht überhaupt keine der Techniken, die man traditionell mit den Fertigkeiten eines Künstlers verbindet. Aber für sich selbst hat er festgestellt, „dass man auch ohne großartige technische Begabung kreativ sein kann. Handwerkliches Geschick gehört einfach nicht zu meinen Stärken. Ich bin kein logischer Mensch, aber ich kann denken.“ Jeremy Dellers Kunst findet außerhalb von Galerien statt, in den Suburbs, dort, wo die Hochkultur das Gesicht abwendet. Deller sucht in seiner künstlerischen Arbeit immer den direkten Dialog mit der Öffentlichkeit. Sein Motto ist nicht „Freude ist überall“, sondern eher „Kunst ist überall“. Seine Kunst sucht sich die abgelegensten und abseitigsten Orte und sie entfaltet sich nur dann, wenn all die Teil von ihr sind, die niemals sonst Teil der zeitgenössischen Kunstszene sind – arbeitslose Minenarbeiter, Nacht­­­­klub­ besitzer oder Fans von Depeche Mode. „Ironisch und leicht­füßig, hat Deller die große Gabe, unterschiedlichste Menschen und Gruppen zusammenzubringen und auf diese Weise überraschende Zusammenhänge herzustellen. Man könnte ihn einen Rattenfänger der Popkultur nennen“, sagt einer seiner Galeristen.

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It Is What It Is: Conversations About Iraq, 2009 Mit einer Mini-Prozession tourte Jeremy Deller von New York nach Kalifornien. Nachdem er in New York Journalisten, Flüchtlinge, Soldaten und Schüler eingeladen hatte, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, begann die Reise – zusammen mit einem US-Veteranen des Irak-Kriegs, einem irakischen Staatsbürger und den Überresten eines Autos, das von einer Bombe in Bagdad zerstört wurde, die 35 Menschen tötete. In den neun Monaten der Reise fanden an zehn öffentlichen Plätzen Diskussionen und Gespräche statt. „Zu Beginn des siebten Jahres unseres Kriegs mit Irak sind viele Amerikaner noch nie einem irakischen Bürger begegnet oder hatten Kontakt zu einem Soldaten, der im Irak gedient hat. It Is What It Is möchte diese Informationslücke schließen, wenngleich auf bescheidene Weise und in einem ungewöhnlichen Rahmen.“ Eines Tages wird es ein Museum geben, das sich ganz dem Krieg in Irak widmet. Bis dahin müssen wir uns eben vorstellen, was darin zu sehen sein wird. Portfolio 75



Sacrilege, 2012 Dellers jüngstes Großprojekt: eine lebensgroße aufblasbare Nachbildung des britischen Steinzeitmonuments Stonehenge. „Ein großer Teil meiner Arbeit befasst sich mit Geschichte, und Sacrilege tut genau das. Man kann ohne Schuhe losziehen und das alte Britannien ganz anders kennenlernen.“ Jeremy Deller

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Procession, 2009 „Was ist die Stadt wohl, als das Volk?“ (Shakespeare) – Dellers Procession ist eine Hommage an den Sozialrealismus, für den Manchester und der Norden Englands bekannt sind und der sich in Alltagsdramen wie A Taste of Honey von Shelag Delaney oder in Haltungen von Bands wie The Smiths ausdrückt. Bei Deller be­­­­kommt all dies eine Wendung ins Fantastische, er nennt es „Sozialsurrealismus”. Für das Manchester International Festival konzipierte er eine Prozession mit 20 verschiedenen Gruppen. Seinem Gefühl nach kannte er die Stadt ausreichend gut durch ihre Musikszene und wollte, dass der Zug diesen Aspekt der städtischen Identität reflektierte. Also sieht man eine Brassband, eine Steelband und viele Fans der Band Happy Mondays, die ein Transparent tragen mit der Aufschrift „You‘re rendering that scaffolding dangerous!“ (übersetzt etwa: Ihr bringt dieses Gerüst zum Einstürzen). Portfolio 79


The Battle of Orgreave, 2004 Diese Arbeit war eine spektakuläre filmische Nachstellung eines Streiks nordenglischer Minenarbeiter im Jahr 1984, mit mehr als 800 Beteiligten. Frühere Minenarbeiter und Ex-Polizisten ließen den erbitterten Kampf von damals, den sie selbst miterlebt hatten, wieder auferstehen. Andere Teilnehmer waren Mitglieder sogenannter ReenactmentGruppen aus ganz England, ­ die historische Ereignisse nachspielen. Der Film schneidet dramatisch aufgeladene Standbilder der Unruhen von 1984 zwischen Filmaufnahmen der 2001 nachgestellten Szenen und Aussagen von Augenzeugen.

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Jeremy Deller

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DIE AHNEN VON PUSSY RIOT Mit einigen medialen Paukenschl채gen wurde die russische Punkband Pussy Riot weltbekannt. Steht sie in der Tradition des musikalischen Protests in Russland? Ein Blick in seine Geschichte von Radiojournalist Sergej Buntman aus Moskau. 82


Rinko Kawauchi, Untitled, from the series of „Cui Cui“ 2005 © Rinko Kawauchi

In Russland wurde immer gesungen und oft zum Zeichen des Protests. Geheime Lieder, verbotene Lieder mit Anspielungen – es ist schwer zu sagen, wann genau es begann. Doch heute im 21. Jahrhundert ist das Ende der Liedkultur klar zu erkennen. Das Lied scheint aus dem Alltag verschwunden zu sein. Entweder beschränken wir uns auf das Hören oder wenn wir etwas singen, versuchen wir sofort ein Publikum zu finden, indem wir ein Amateurvideo in sozialen Netzwerken und im Internet verbreiten. Meistens jedoch feiern wir die Aufführung als politischen Akt, ohne seine musikalische Dimension zu begreifen. Das auffälligste und jüngste Beispiel war die Aktion der Punkgruppe Pussy Riot. Was war geschehen? Vielleicht hilft ein Blick in die stürmischen und widersprüchlichen Geschehnisse des vergangenen Jahrhunderts, um dies zu verstehen. Kaum eine andere Epoche in Russland ist mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vergleichbar, einer Zeit, in der Lieder, Musik und Worte direkte politische Aussagen enthielten. Jeder Zirkel, jede Gruppierung und politische Partei sang nicht nur die „eigenen“ besonderen Lieder und ließ sich von ihnen inspirieren, sondern man erkannte einander auch mit absoluter Sicherheit am Repertoire. Es wurde etwa die Internationale aus dem Französischen übersetzt, woraus dann die Arbeitermarseillaise entstand, die nur noch entfernt an das Original erinnerte – ein revolutionäres Ereignis mit eigener Symbolik. Zu einer besonderen Kultur wurde die Darbietung der „Lieder über Lieder“, insbesondere mit der Entwicklung der Tonbandaufzeichnung und der Schallplatte. Die revolutionäre Variante des Volksliedes Dubinuschka (Knüppelchen) brachte dem russischen Opernsänger Fjodor Schaljapin um die Jahrhundertwende sowohl Ruhm als auch gewisse politische Unannehmlichkeiten ein (1928 sollten dem inzwischen weltberühmten Opernstar dann der Titel als „Volkskünstler“ sowie die russische Staatsbürgerschaft aberkannt werden). Und der Bürgerkrieg nach der Revolution von 1917 brachte im Hinblick auf politische Kampflieder eine sehr interessante Erscheinung hervor: Die einander bekämpfenden Seiten sangen oft ein und dasselbe. Der Unterschied bestand nur in den Schlüsselworten. „Smelo my v boj pojdjom …“ („Wir ziehen mutig in den Kampf …“) etwa. Bei den Weißen, der Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten und Nationalisten, hieß es dann „für das Heilige Russland“, bei den kommunistischen Roten dagegen „für die Macht der Sowjets“. In den 1920er- und 30er-Jahren wurden die revolutionären Lieder zur offiziellen Staatskultur, während der musikalische Protest in den tiefsten Untergrund ging und ästhetizistische Formen annahm. In der Stalinzeit galt es als eine besondere (und nicht ungefährliche) Haltung, das Emigrantenrepertoire zu hören und zu singen, „dekadente“ Romanzen, die in überraschendem Kontrast zum optimistischen und munteren Ton der Epoche standen, welchen der Sowjetische Rundfunk vielfach verstärkte. Das Gefühl einer wilden Freiheit vermittelte hingegen der Gesang der sogenannten „Gaunerlieder“ oder „Ganovenlieder“ – Balladen über die anarchischen Helden aus der Welt des Verbrechens. Der Zweite Weltkrieg, so seltsam es auch klingen mag, erweiterte das offiziell erlaubte Repertoire. Erstens taugte im Kampf gegen die Nazis alles, was die Stimmung hebt, weshalb sowohl weltbekannte Schlager als auch nationale Gaunerlieder mit parodistisch veränderten Texten in Umlauf kamen. Intime Gefühle kehrten zurück mit solchen Meisterwerken wie Semljanka (Die Erdhütte) und Zhdi menja (Wart auf mich). Die Lieder der Verbündeten klangen wie die eigenen, ihre Texte wurden ins Russische übersetzt und die besten Interpreten sangen sie auf Schallplatten und im Radio. Und schließlich brachten die aus Europa zurückkehrenden Soldaten Tonaufzeichnungen, Noten und einfach vom Hören aufgeschnappte Melodien mit. Die heimgekehrten ehemaligen russischen Emigranten vermittelten das Gefühl eines anderen, erheblich freieren Lebens – wie beispielsweise der berühmte Alexander Nikolajewitsch Wertinski, der als Pierrot mit gepudertem Gesicht Arietten sang und damit in Paris, in den USA und im Nahen Osten aufgetreten war. Die sich gerade abzeichnende Freiheit brach wieder schnell ab: Der untergehende Stalinismus kämpfte gegen das „Ausländertum“, die „Anbiederung an den Westen“, den „Kosmopolitismus“, den „Formalismus“ und erinnerte in vielerlei Hinsicht, unter anderem auch auf ästhetischem Gebiet, an den unlängst besiegten Nationalsozialismus. Buchstäblich seit den ersten Monaten nach Stalins Tod drang das Streben nach Freiheit in das Bewusstsein der

Premiere Boris Godunow

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unterschiedlichsten sozialen Gruppen und setzte sich dort fest, auch wenn es sich nicht direkt an der Oberfläche des sowjetischen Lebens manifestierte. Für manche war die Freiheit der Jazz, für andere das wiederentdeckte französische Lied, die ästhetisch versierten Intellektuellen wandten sich der atonalen Musik zu, doch zur absoluten musikalisch-poetischen Massenkunst wurde das „Autorenlied“. Der politisch unschuldige, sehr kammertonartige Gesang von Versen zur Gitarre nahm zielstrebig einen neuen Klang an. Bulat Okudshawa, Juli Kim, Alexander Galitsch, Juri Wisbor und viele andere bauten auf sehr unterschiedliche Art, jeder auf seine Weise, eine parallele Welt auf. Diese Welt war frei, ehrlich, manchmal antisowjetisch, aber manchmal auch äußerst sowjetisch, doch immer „wahrhaftig“, ohne Heuchelei und Gewalt gegenüber dem Individuum. Bulat Okudshawas Lieder (oder „Liedchen“, wie der Autor selbst sie nannte) sangen beispielsweise sowohl Erwachsene als auch Kinder: Der Papiersoldat und sein selbstmörderischer Mut, und die Ameise, die ein Recht auf Gebete und persönliches Glück hatte, waren unsere Helden. Und wenn wir sangen, „Nehmt euch bei den Händen, Freunde“, schienen wir stolz auf eine Bruderschaft zu schwören, die sich keiner offiziellen Doktrin unterordnete. In den 1960er-Jahren erklangen die Lieder von Wladimir Wyssozki. Er arbeitete als Schauspieler am Taganka-Theater, seltener spielte er in Kinofilmen, doch vor allem als Verfasser und Interpret seiner Lieder erreichte er eine unglaubliche Popularität. Man kann sagen, seine Lieder berührten absolut alle – es waren lustige und bittere, einfache, teilweise grobe, parodistische und pathetische Lieder, aber ohne überflüssiges Pathos. Auch jetzt sind sie lebendig: als ganze Lieder und in einzelnen Zeilen als Zitate für alle Wechselfälle des Lebens. Das Leben Wyssozkis war schwierig, zerrissen, seine Liebe zu der französischen Schauspielerin Marina Vlady und der frühe Tod – all das verwandelte ihn in einen Mythos. Im Sommer 1980, einer reichlich dumpfen und beengenden Zeit, vor dem Hintergrund des internationalen Boykotts der Olympischen Spiele in Moskau, erwies sich die Regierung der UdSSR als zu schwach, um zu verhindern, dass die Beerdigung Wyssozkis zu einem gesellschaftlichen Ereignis wurde. Gleichzeitig entwickelte sich die russische Rockmusik. Diese wurde für die Jugend der 1970er- und 80er-Jahre zur Hauptform des musikalischen Selbstbewusstseins. In Leningrad, Moskau, Swerdlowsk traten Musiker und Dichter hervor, die genau wussten, was Freiheit ist und wie man über sie sprechen muss. Makarewitsch, Zoj, Grebentschikow, Naumenko, Butusow, Schewtschuk und deren Bands Maschina vremeni (Zeitmaschine), Kino, Aquarium, Nautilus Pompilius, DDT wurden zu Symbolen der gesellschaftlichen Veränderungen. Perestrojka, Glasnost, Freiheit, der Fall des Kommunismus und der Zerfall der UdSSR hoben die gesamte Protestkunst in den Himmel, doch dieser Umstand im Zusammenhang mit bestimmten Bedingungen spielte ihr übel mit. Schnell von der Freiheit übersättigt, dachten wir, jetzt wäre alles möglich und … am Ende wurde alles langweilig. Es entstand eine UdSSR-Nostalgie, eine Sehnsucht nach der „starken Hand“. Und als das 21. Jahrhundert anbrach und mit ihm die Regierungszeit Putins – eine Spielart jener „starken Hand“ – erwies sich kaum einer als vorbereitet auf eine solche Wende der Ereignisse.
 Und schließlich das letzte Jahr. Die Protestbewegung, eine neue politische Opposition. Und wo ist das Lied? Es existiert nicht. Wir hören nur die Stimme des standhaften Juri Schewtschuk, hin und wieder auch Andrej Makarewitsch, der mit einer freien Komposition auftritt oder einem frechen Brief an den Präsidenten Putin. Und schließlich tauchten die Mädchen der Punkgruppe Pussy Riot für einige Sekunden in der Christus-Erlöser-Kathedrale auf und schafften es, einen mikroskopischen Ausschnitt aufzuführen, das war alles. Nur die inadäquate ­Reaktion der weltlichen Macht und der russisch-orthodoxen Kirche, das absurde Gerichtsverfahren und die der Tat nicht angemessene Strafe machten die Namen dieser Frauen weltbekannt. Aber wer in Russland und der Welt kennt irgendetwas aus ihrem Schaffen außer der ­sakramentalen Phrase „Muttergottes, verjage Putin“?

Sergej Buntman ist Rundfunkjournalist und stellvertretender Chefredakteur des unabhängigen russischen Senders Echo Moskvy, dessen Mitbegründer er auch ist.

Aus dem Russischen von Jekatherina Lebedewa Boris Godunow Oper in vier Teilen (sieben Bilder) Von Modest Mussorgsky

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Premiere am Mittwoch, 13. Februar 2013, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


OSTERFESTSPIELE SALZBURG 2013 CHRISTIAN THIELEMANN SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE DRESDEN

Oper 23. März/1. April • 17.00 Uhr • Großes Festspielhaus

RICHARD WAGNER PARSIFAL Christian Thielemann Musikalische Leitung Michael Schulz Inszenierung Alexander Polzin Bühnenbild und Kostüme Urs Schönebaum Licht Annett Göhre Choreographie Pablo Assante Chöre Sophie Becker Dramaturgie Wolfgang Koch Amfortas Milcho Borovinov Titurel Stephen Milling Gurnemanz Johan Botha Parsifal Wolfgang Koch Klingsor Michaela Schuster Kundry Sächsische Staatskapelle Dresden Sächsischer Staatsopernchor Dresden Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor Neuinszenierung Koproduktion mit der Sächsischen Staatsoper Dresden, dem Beijing Music Festival und dem Teatro Real, Madrid

Orchester- und Chorkonzerte

Konzert für Salzburg

24./31. März • 19.00 Uhr • Großes Festspielhaus

28. März • 18.00 Uhr • Großes Festspielhaus

CARL MARIA VON WEBER

RICHARD WAGNER

Sächsische Staatskapelle Dresden Ouvertüre zu Der Freischütz

LUDWIG VAN BEETHOVEN

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 G-Dur op. 58

GUSTAV MAHLER

Symphonie Nr. 1 D-Dur

Evgeny Kissin Klavier Myung-Whun Chung Dirigent 25./29. März • 19.00 Uhr • Großes Festspielhaus

JOHANNES BRAHMS

Ein deutsches Requiem op. 45

Christiane Karg Sopran Michael Volle Bariton Chor des Bayerischen Rundfunks Christian Thielemann Dirigent

Sächsische Staatskapelle Dresden Ouvertüre zu Tannhäuser Elsas Traum aus Lohengrin Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Tristan und Isolde

GIUSEPPE VERDI

Vorspiel und Arie der Violetta „È strano“ aus La traviata Ballabili (Ballettmusik) aus Otello Ouvertüre zu La forza del destino

Rachel Willis-Sørensen Sopran (Wagner) Maria Agresta Sopran (Verdi) Christian Thielemann Dirigent (Wagner) Myung-Whun Chung Dirigent (Verdi) Das Konzert für Salzburg bildet ab 2013 einen neuen Programmpunkt der Osterfestspiele Salzburg außerhalb des Abonnements. Mit besonders günstigen Eintrittspreisen richtet es sich an die Salzburger Bevölkerung, mit dem besonderen Wunsch, auch einem jungen Publikum den Zugang zu den Osterfestspielen zu ermöglichen.

26./30. März • 19.00 Uhr • Großes Festspielhaus

LUDWIG VAN BEETHOVEN

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73

Nacht der Dresdner Kammermusik

JOHANNES BRAHMS

28. März • 21.00 Uhr • republic

Yefim Bronfman Klavier Christian Thielemann Dirigent

Serenade (Nacht-Musique) für zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Hörner und zwei Fagotte c-Moll KV 388

Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98

WOLFGANG AMADEUS MOZART CARL MARIA VON WEBER

Quintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello B-Dur op. 34

Kammerkonzert

HANS WERNER HENZE Sonata per otto ottoni

26. März/1. April • 11.00 Uhr • Stiftung Mozarteum Adagio und Allegro für Horn und Klavier op. 70

ROBERT SCHUMANN

Kinderkonzert Kapelle für Kids

HANS WERNER HENZE

23. März • 11.00 Uhr • Große Universitätsaula

JOHANNES BRAHMS

Klavierquintett f-Moll op. 34

Myung-Whun Chung Klavier Robert Langbein Horn Arabella Quartett Matthias Wollong Violine Jörg Faßmann Violine Sebastian Herberg Viola Isang Enders Violoncello

Alma trifft Siegfried

Wagneriana. Auszüge aus Dresdner Opern von Richard Wagner. Arrangement von Frank van Nooy

Kammermusikformationen der Sächsischen Staatskapelle Dresden

Unerschrocken macht sich die Puppe Alma auf, um die Welt von Siegfried, dem furchtlosen Helden der Nibelungensage, zu erkunden. Sie trifft dabei auf allerhand große und kleine Tiere und natürlich auf die großartige Musik von Richard Wagner. Für Klein und Groß ab 6 Jahren.

Es spielen Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Es moderieren Julius Rönnebeck und die Puppe Alma (mit Puppenspielerin Magdalene Schaefer). Stand Dezember 2012 Änderungen vorbehalten Subject to alteration

OSTERFESTSPIELE SALZBURG . Herbert-von-Karajan-Platz 9 . 5020 Salzburg . Austria Tel. +43/662/80 45-361, -362 . Fax DW -790 . karten@ofs-sbg.at . www.osterfestspiele-salzburg.at

Abbildung: © Forster

Streichquartett Nr. 3

RICHARD WAGNER


Ein bisschen Spaß ­muss sein

Melodien, Marktwirtschaft und Integration – der deutsche Schlager brachte den ersten sogenannten Gastarbeitern die deutsche Sprache bei, erzählt Sarah Khan, Tochter eines pakistanischen und viel singenden Einwanderers. 86


Zugegeben, es gab damals keine obligatorischen Sprachkurse und Integrationsbeauftragten, und der Umgang mit Ausländern war oft ausgrenzend und von Vorurteilen geprägt. Aber es gab zwei Faktoren, die dazu führten, dass diese herbeigerufenen Arbeiter, die in der Überzahl Männer waren, schnell Deutsch lernten und sich zügig in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben einfügten: Die deutschen Frauen und der deutsche Schlager kümmerten sich um sie und sie taten es gemeinsam. Zu dieser These komme ich als das erstgeborene Kind eines Pakistaners, der Ende der 1960er-Jahre nach WestDeutschland kam und zunächst als Schweißer für die Deutsche Werft arbeitete und sich später als Teppichhändler erfolgreich selbstständig machte. Er sprach mit seinen zwei Kindern, die er mit einer deutschen Ehefrau in kurzlebiger Ehe bekam, ausschließlich Deutsch. Es war kein perfektes, nicht mal gutes Deutsch, aber es war emotional, er konnte damit so streng wie sentimental sein. Er konnte gut Regeln aufstellen, eine lautete: Man darf keine Behinderten nachmachen! Ich liebte es, Behinderte nachzumachen. Ich tat, als hätte ich ein lahmes Bein, und schleppte mich zum Supermarkt, um ein Was­ sereis zu kaufen. Mir hing die Zunge raus, meine Hand schlackerte, der Oberkörper schief, mit Zuckungen im Gesicht und schielenden Augen taumelte ich glücklich zum Süßigkeitenkauf. Wehe, der Vater sah das! „Aber weißt du denn nicht, Gott kann dich sehen“, sagte er dann, „er straft dich, dann bekommst du wirklich ein lahmes Bein, dann bist du wirklich behindert, willst du das, Kind? Behinderte Menschen brauchen Mitgefühl.“

Bilder Dave Muller

Text Sarah Khan

Ein Gemeinplatz lautet, dass es nur Versäumnisse gab, als die ersten Einwanderer, die damals noch Gastarbeiter hießen, nach West-Deutschland kamen, dass jede Chance auf Einbeziehung und Neubeheimatung vertan wurde. Dem sei hiermit widersprochen.

Er sagte nicht: Sofort aufhören – und Backpfeife. Nein, er erläuterte seinen Standpunkt mit diesem allwissenden Gott und der auf dem Fuße folgenden, gerechten Strafe. Sein Deutsch gab das her, aber wieso nur? Heute glaube ich, weil es die große Zeit des deutschen Schlagers war. Der Schlager belebte die Sprache, machte Worte leicht für die Zunge und warm fürs Herz. „Ich spreche alle Sprachen dieser Welt, denn meine Sprache ist die Musik. /  Mein Reisepass ist immer dieses Lied und meine gute Laune ist mein Geld“, fasste 1978 die Sängerin Lena Valeitis die Methode gleichfalls in einem Schlager zusammen. Es war die Zeit, als der Kalte Krieg, die Unwirtlichkeit der Städte, die Wohnungsnot und die Studentenbewegung die Menschen stressten, aber die Schlagermusik sich wie ein Störgeräusch darüber legte. So hielt sich die Bevölkerung alle Schrecken fern; natürlich ohne den Schlager selbst als dialektischen Teil der Schrecklichkeit zu begreifen. Die Gastarbeiter konnten sich der psychoaktiven Situation nicht entziehen, ahnten zunächst aber nichts, als sie von den Arbeitgebern an den Bahnhöfen, Häfen und Flugplätzen mit Arbeitsverträgen begrüßt und zu den Fabriken und Arbeiterunterkünften transportiert wurden. Sie arbeiteten hart, aber sie waren einsam. Das bewirkte, dass sie Orte aufsuchten, an denen Musik gespielt wurde. Um die einheimischen Frauen anzusprechen, war ein wenig Schlagerdeutsch vorteilhaft. Das erste Ich-Du-Wir, es reimt sich auf Cola-statt-Bier, stellte kein Problem dar, denn die Frauen waren durch den Schlager auf den Kontakt mit den Fremden vorbereitet worden und träumten sich als Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe von Bill Ramsey: „Da staunt der Vordere Orient, / da staunt der Hintere Orient, / da staunt ein jeder, der sie kennt! / Und mancher Wüstensohn / hat sie schon / als Fata Morgana geseh'n.“ Ohne despektierlich sein zu wollen, aber es waren eher die Mauerblümchen, die mit den fremden Män-

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nern gingen, eher die dicklichen, schüchternen Mädchen, die sich schwer damit taten, einen abzukriegen. Gerade diese, die keine Mädchen nach Maß waren (so ein Titel von Chris Roberts), hatten Zuneigung und Zeit für die Männer aus den fernen Welten. Diese anfechtbare Tatsache stellte bei den Verwandten und Tanten in den Heimatländern übrigens ein beliebtes Gesprächsthema dar: die Verwunderung darüber, dass ihre schönsten wie stärksten Männer, die nach Germany aufgebrochen waren, Beziehungen mit Frauen eingingen, deren hervorstechendste Eigenschaft nicht die Schönheit war. Der Schlager half den fremden Männern aber nicht nur bei der Anbahnung, auch im Alltagsleben war es von Vorteil, eine Phrase gefühlvoll abzurollen. Mein Vater betrieb einige Jahre lang auf diversen Wochenmärkten einen Stand, wo er Tellerröcke, Indienblusen, Schmuck, Dekor-Elefanten und glitzernde Halstücher verkaufte. Der Hippie-Geschmack war in die Wohnzimmer der Bürger eingezogen, und auch die Hausfrauen, die mit ihren Hackenporsches über die Märkte streiften, zeigten Interesse an der unkomplizierten Baumwollkleidung. Da ich die Markttage am Wochenende stets mitmachte – nach der Trennung der Eltern wuchsen mein Bruder und ich bei unserem Vater auf – erinnere ich mich daran, wie die Frauen sich fragten, ob sie es wagen konnten, sich mit Kamelknochenketten und Messingarmreifen zu schmücken. Dass eine Elefantenparade im Wandschrank gut aussah, vorne ein großer Elefant, dahinter fünf kleine, das war ihnen schnell beizubringen – aber war dieses Material auch auf der Haut geeignet? „Achtung beim Messing, meine Dame“, antwortete der Karawanenführer dann melodiös, „man muss es regelmäßig polieren. Aber das schaffen wir gerne.“ Er nahm die Hausfrauenhand mit eleganter Geste, legte ihr einen Armreif an und polierte das gute Stück vorsichtig mit einem weichen Tuch. Er

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lachte und lobte, schmeichelte und lockte, verkaufte Sehnsüchte und Träume, denn er besaß die Worte dazu. In seinem VW-Bus, auf dem Weg zum Markttag, sang er gerne ein Lied von Wencke Myhre: „Eine Mark für Charlie, denn Charlie kann nicht zahlen, / wieder einmal Ebbe in seinem Portemonnaie.“ Nee, eigentlich sang er: „Wieder einmal Äpfel in seinem Portemonnaie.“ Wencke Myhre war ja selbst Ausländerin, Norwegerin, und da der Begriff „Ebbe“ nicht wirklich durchdrang, sang mein Vater von Äpfeln im Portemonnaie, als wäre das eine glasklare Metapher. Der deutsche Schlager kannte schließlich viele ausländische Interpreten: Roberto Blanco (Kubaner, geboren in Tunesien), Adamo (Belgier italienischer Herkunft), Costa Cordalis (Grieche), Vico Torriani (Schweizer), Ricky Shayne (libanesischer Franzose), Gitte Haenning (Dänin), Caterina Valente (Italienerin). Wenn deren Akzent als charmante Eigenheit durchgehen konnte, wieso nicht auch der seine? So zog er in den Verkaufsgesprächen eine starke Grenze zwischen Mann und Frau, und es war ausgemachte Sache, dass die Frauen sich für die Männer zu schmücken hatten, damit es nachts in den Schlafzimmern knisterte. In diesen Momenten, die ja auch der Schlager produzierte, sahen sich die Hausfrauen in einem neuen Licht und öffneten ihre Geldbörsen für experimentelle Kleidung und Geschmeide aus Pakistan. Aber der Schlager brachte ­ nicht nur Eingliederung, sondern auch Angst und Gefahr. „Griechischer Wein / ist so wie das Blut der Erde“, sang Udo Jürgens, doch trank mein Vater diesen Wein nicht, wenn er von deutschen Freunden eine Flasche erhielt. Ein vertrauter Ablauf, den ich entsetzt wahrnahm: Erst bedankte er sich für die schöne, interessant anzusehende Flasche, die von einem goldenen Fadennetz umspannt war oder ein Baströckchen trug. Er stellte die Flasche in die Küche, bewirtete seine Gäste üppig, mit Nüssen, Säften, war-

Der Schlager belebte die Sprache, machte Worte leicht für die Zunge und warm fürs Herz. men Speisen, Tee und Obst. Den Wein bot er nicht an. Kaum dass die Gäste gegangen waren, raste er in die Küche, öffnete die Flasche und kippte den Inhalt in den Ausguss. Wir Kinder standen daneben und hörten zu, wie der Vater seine Version vom griechischen Wein sang. Das ergab ganz andere Töne: „Alkohol macht kaputt, / das-ist-schlecht-Gott-mag-nicht, wenn man Alkohol trinkt, / Alkohol macht den Kopf kaputt. Überall auf den Straßen gehen die Besoffenen, die Deutschen saufen sich das Gehirn krank / Toba, toba astafa (Ausdruck auf Urdu für Reue und Buße). / Wie das stinkt. / Meine Güte, soll das etwa Wein sein? / Was ist das für ein Mist … “ Aber dann kicherte er, er wusste ja, dass er übertrieb, so wie Udo Jürgens übertrieb, wenn er den Gastar-

Wenn Gitte „Ich kämpf’ das aaaaaaaus!“ singt, dann denke ich an die Jugend dieses Elternpaares, die ich als Kind nicht erkennen konnte, und wie diese Sätze meinen Vater gemeint haben könnten.


beiter besang, der in der Taverne sitzt und mit Wein in der Kehle der Heimat nachheult. Es machte mich als Kind traurig, wenn er den Wein ins Abwasser gab, er hätte ihn zurückgeben sollen. „Danke für das nette Geschenk, aber Sie haben sicher mehr Freude daran, nehmen Sie ihn bitte wieder mit, in diesem Haushalt findet er keine Verwendung.“ Die Wahrheit ist, es gab eine Verwendung. So schlug er die Gelegenheit aus, eine essenzielle europäische Erfahrung zu machen und eines der wunderbarsten Kulturgüter zu schmecken, welches zu Recht als Gastgeschenk hoch angesehen ist und auch im Schlager eine exponierte Stellung besitzt. „Sieben Fässer Wein können uns nicht gefährlich sein! / Das wäre doch gelacht, wer steht gerne auf einem Bein? / Wir machen durch, kommt, Freunde, seid bereit. / Wie schön war doch die Junggesellenzeit.“ (Roland Kaiser) So verstärkte der Schlager noch die Überzeugung, dass Alkohol nichts anderes als Verderbtheit und Krankheit bewirkt. Wer wirtschaftlich aufsteigen wollte, musste diszipliniert sein, enthaltsam, gottesfürchtig. Weil Gott will, dass wir Arbeit schaffen. Als wäre Gott nicht nur ein glühender Vertreter sozialer Marktwirtschaft, sondern auch Anti-Alkoholiker. Sind die Schlager wirklich für die Männer aus den fremden Ländern gesungen worden? Stimmung, Gemütlichkeit, Verständigung, „und Erwin fasst der Heidi von hinten an die Schulter“. Meine Mutter verbrachte viel Zeit damit, Schlager zu hören, sie war fast krankhaft verträumt, sprach flüsternd mit sich selbst, in Gedanken immer woanders. Mein Vater nannte sie „Billie“, weil das auf Urdu „Kätzchen“ bedeutet, aber sie hieß nicht so, und auch nicht Elfriede, aber fast. „‚Elfriede, Elfriede!’, rief ich durch den Saal, / denn diese Zuckerpuppe / aus der Bauchtanztruppe / kannte ich aus Wuppertal. Aus Wuppertal!“ (nochmals Bill Ramsey) Die Entzauberung geschah. An der Seite eines pakistanischen Schweißers, Markt-

VOX POPULI

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händlers und späteren Importeurs von Orientteppichen konnte sie sich nicht in etwas Wunderbares verwandeln. Sie versuchte es, das sehe ich auf den Fotos aus den frühen 1970er-Jahren, da trägt sie sogenannte „Gewänder“ und probiert keusche Bedeckungen auf dem Kopf. Sie sitzt auf einer Parkbank und hält den Kopf leicht vor, als würde der zarte Schleier arg drücken, viele Kilo schwer. Orientalische Anmut sieht anders aus. „Deine Mutter wollte eine hundertfünfzigprozentige Mohammedanerin sein“, lautete in der deutschen Familie der achselzuckende Standardsatz über diese Phase in ihrem Leben. Ihr Verhalten als Ehefrau eines Pakistaners und ­Mutter zweier kleiner Kinder, die sie verließ, wurde nur ironisch kommentiert. „Freu dich bloß nicht zu früh, / spar dein Mitleid dir auf “ (Gitte Haenning) – „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst“ (Juliane Werding) – „So schön kann doch kein Mann sein, / dass ich ihm lange nachwein’“ (Gitte Haenning) Schlagertexter wie Michael Kunze und Gunter Gabriel gaben große Portionen Selbstbehauptung in ihre Liedertexte – und das berührte Frauen wie Männer. Wenn Gitte „Ich kämpf’ das aaaaaaus!“ singt, dann denke ich an die Jugend dieses Elternpaares, die ich als Kind nicht erkennen konnte. Ich sah immer nur den großen, strengen Bestimmer und die verträumte, unansprechbare Mutter. Mehr als dreißig Jahre später vollziehe ich nach, wie diese Sätze eigentlich ihn gemeint haben könnten, den Gehörnten, der sich nicht darauf verlassen konnte, dass die Frau treu blieb, während er auf Montage war. Es kam vor, dass die Mutter uns Kindern sagte, sie gehe nur kurz einkaufen, aber dann kam sie den ganzen Tag nicht wieder. „Tut mir leid – / dein Triumph ist viel kleiner, als du denkst, / ob du’s glaubst oder nicht: / Ich weiß es längst.“ Wunderbares Deutschland, du schaltest den Fernseher oder das Ra-

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dio an, und dann sagen dir diese Lieder, was Sache ist, und du wirst getröstet und aufgerichtet. Einige Jahre nach der Scheidung ging mein Vater eine arrangierte Ehe mit einer Frau aus Pakistan ein, der schönen wie stolzen Amroza, die sich liebevoll um uns verwilderte Kinder kümmerte. Ich brachte ihr ruck-zuck Deutsch bei. „Was ist dein Lieblingslied, Amroza? Sag schnell, was ist dein Lieblingslied in Deutschland?“ Ihre Antwort lautete: „Ein bisschen Frieden von Nicole.“ Ich schenkte ihr nach diesem sehr wichtigen Bekenntnis die Single. Immer wenn Nicole im Fernsehen auftrat, wenn auch nur das kleinste bisschen mit Nicole im Fernsehen veranstaltet wurde, riefen wir sie aufgeregt herbei. „Amroza, Amroza, komm schnell – Nicole!“ Dann musste sie den Herd abschalten, das Bügeleisen aufstellen, den Staubsauger fallen lassen und in den Pantoffeln hurtig in die Stube zum Fernsehgerät rennen. Wir beobachteten genau, wie sie sich freute, ob sie auch wirklich glühte. Erst dann freuten wir Kinder uns. Wir brauchten ihre Gefühle und Affekte, wir waren schon so erfroren, dass wir von ihr lernen mussten, wie man sich freuen kann. „Sing mit mir ein kleines Lied, dass die Welt im Frieden lebt.“ So erlebten wir mit der Nation und der europäischen Eurovision-Gemeinschaft das Glück von gewonnenem Grand Prix und neuem, trautem Familienleben. Wir, an unserem Empfangsgerät sitzend, brauchten dazu diese Frau aus Pakistan, die sich zielsicher einen Schlager herausgesucht hatte, der das Wichtigste und Wesentlichste thematisierte, ohne dabei Wein gegen Wasser aufzurechnen, den Kampf der Geschlechter zu begleiten oder Gekränkte anzufeuern. Ein bisschen Sonne, ein bisschen Träumen, ein bisschen Liebe, das brauchten wir. Die große Ära des deutschen Schlagers ging kurz darauf zu Ende. Die Charts wurden einerseits internatio-

naler und englischer, aber der Schlager volkstümlicher. Von der Zeit seiner Hegemonie wird seither schamvoll oder begeistert-nostalgisch gesprochen. Seine Bedeutung aber für die Lebensgeschichte der ersten Gastarbeiter ist kaum bekannt. Wir dürfen annehmen, dass diese Männer selbst nicht wissen, wie wichtig er für sie war. Störgeräusch und Lehrmeister zugleich, bleibt sein Vermächtnis bestehen: Man könnte zusammen, wenigstens einmal, davon singen. Mehr über die Autorin auf S. 8

Bilder Dave Muller: Seite 86: Ann’s Top Fourteen (I can’t count), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Justine and Mark Fluent, Studio City Seite 87: Matthew’s Top Ten (1979-1983), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Peter Michael, San Francisco Seite 89: Mike’s Top Ten (PINK), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Amy and Dean Valentine, Los Angeles Seite 89: Jeff ’s Top Ten (for the last month I was single), 2004, acrylic on paper, 86.5″ × 38.5″, collection of Niels Kantor, Beverly Hills


Bayerische staatsoper tV

erleben Sie ausgewählte Opernaufführungen live und kostenlos auf www.staatsoper.de/tv

09.03.2013 Janáček – Jenůfa 20.04.2013 Wagner – Der fliegende Holländer 11.05.2013 VerDi – Macbeth 01.06.2013 kOHLer –Helden Ballett Juli 2013 Live-Stream Festspiele

2012

2013


Photo © Wilfried Hösl

Richard Wagner Lohengrin

Chin Donizetti Alice in Wonderland Roberto Devereux

Dvořák Rusalka

Mozart Idomeneo

Mayr Medea in Corinto

Donizetti Lucrezia Borgia

Pfitzner Palestrina

Mussorgsky Khovanshchina

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Spielplan 13.02.13 02.05.13 bis

Soweit nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.

93

Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München tickets@staatsoper.de T 089 – 21 85 19 20 www.staatsoper.de


OPER

Leoš Janáček

Jenůfa

Modest Mussorgsky

Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Barbara Frey

Boris Godunow

Renate Behle, Stefan Margita, Pavel Cernoch, Gabriele Schnaut, Karita Mattila, Christian Rieger, Christoph Stephinger, Heike Grötzinger, Laura Tatulescu, Angela Brower, Silvia Hauer, Iulia Maria Dan, Golda Schultz, Andrea Borghini

Musikalische Leitung Kent Nagano Inszenierung Calixto Bieito

Mi Sa Di Sa

Alexander Tsymbalyuk, Yulia Sokolik, Eri Nakamura, Heike Grötzinger, Gerhard Siegel, Markus Eiche, Anatoli Kotscherga, Sergey Skorokhodov, Vladimir Matorin, Ulrich Reß, Okka von der Damerau, Kevin Conners, Goran Jurić, Dean Power, Tareq Nazmi, Christian Rieger Mi 13.02.13 So 17.03.13 Mi 20.02.13 Sa 23.02.13 Mi 27.02.13 Sa 02.03.13

19.00 Uhr Premiere 17.00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr 19:00 Uhr

06.03.13 09.03.13 12.03.13 16.03.13

19:00 Uhr 19:00 Uhr auch online auf www.staatsoper.de/tv 19:00 Uhr 19:00 Uhr

Richard Strauss

Ariadne auf Naxos

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Musikalische Leitung Lothar Koenigs Inszenierung Robert Carsen Johannes Klama, Eike Wilm Schulte, Daniela Sindram, Burkhard Fritz, Dean Power, Guy de Mey, Tim Kuypers, Christian Rieger, Jane Archibald, Adrianne Pieczonka, Markus Eiche, Ulrich Reß, Tareq Nazmi, Kevin Conners, Eri Nakamura, Okka von der Damerau, Laura Tatulescu

Gioachino Rossini

So 17.03.13 Mi 20.03.13 Sa 23.03.13 Mo 25.03.13

Il barbiere di Siviglia Musikalische Leitung Riccardo Frizza Inszenierung Ferruccio Soleri

20:00 19:00 18:00 19:00

Uhr Uhr Uhr Uhr

sponsored by

Javier Camarena, Tiziano Bracci, Angela Brower, Levente Molnár, Ildar Abdrazakov, Andrea Borghini, Tim Kuypers, Hanna-Elisabeth Müller, Kenneth Roberson Do 14.02.13 19:00 Uhr Sa 16.02.13 18:00 Uhr Engelbert Humperdinck

Vincenzo Bellini

Hänsel und Gretel

I Capuleti e i Montecchi

Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Richard Jones

Musikalische Leitung Yves Abel Inszenierung Vincent Boussard

Alejandro Marco-Buhrmester, Janina Baechle, Tara Erraught, Hanna-Elisabeth Müller, Rainer Trost, Golda Schultz

Joyce DiDonato, Ekaterina Siurina, Joseph Calleja, Goran Jurić, Andrea Borghini

So 24.03.13 Mi 27.03.13 Mo 01.04.13 Do 04.04.13 So 07.04.13

Mo 18.02.13 19:00 Uhr Do 21.02.13 19:30 Uhr So 24.02.13 18:00 Uhr

19:00 Uhr Premiere 19:30 Uhr 18:00 Uhr 19:00 Uhr 19:30 Uhr

sponsored by

Richard Wagner

Parsifal Richard Wagner

Musikalische Leitung Kent Nagano Inszenierung Peter Konwitschny

Tristan und Isolde Robert Dean Smith, Kwangchul Youn, Waltraud Meier, Markus Eiche, Francesco Petrozzi, Petra Lang, Kevin Conners, Christian Rieger, Ulrich Reß

Do 28.03.13 17:00 Uhr So 31.03.13 17:00 Uhr

So 03.03.13 16:00 Uhr Do 07.03.13 17:00 Uhr So 10.03.13 16:00 Uhr

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Musikalische Leitung Kent Nagano Inszenierung Peter Konwitschny

Michael Volle, Goran Jurić, John Tomlinson, Michael Weinius, John Wegner, Petra Lang, Kevin Conners, Tareq Nazmi, Dean Power, Kenneth Roberson, Anna Virovlansky, Laura Tatulescu, Tara Erraught, Eri Nakamura, Angela Brower, Okka von der Damerau, Tölzer Knabenchor


BALLETT

Giuseppe Verdi

Otello Musikalische Leitung Paolo Carignani Inszenierung Francesca Zambello Johan Botha, Claudio Sgura, Pavol Breslik, Francesco Petrozzi, Tareq Nazmi, Goran Jurić, Anja Harteros, Okka von der Damerau

Jiří Kylián Sa 06.04.13 19:00 Uhr Mi 10.04.13 19:00 Uhr Sa 13.04.13 19:00 Uhr

Zugvögel

Musik Dirk Haubrich, Maurice Ravel, Han Otten Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts

Wolfgang Amadeus Mozart Fr 15.02.13 ab 19.30 Uhr Fr 22.02.13 ab 19.30 Uhr Do 28.02.13 ab 19.30 Uhr

Die Entführung aus dem Serail Musikalische Leitung Patrick Lange Inszenierung Martin Duncan Maria Bengtsson, Sibylla Duffe, Rainer Trost, Kevin Conners, Peter Rose

Frederick Ashton / Kenneth MacMillan

Fr 12.04.13 19:00 Uhr Di 16.04.13 19:30 Uhr Fr 19.04.13 20:00 Uhr

Steps & Times Scènes de ballet / Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan / Frühlingsstimmen / Das Lied von der Erde Musik Igor Strawinsky, Johannes Brahms, Johann Strauß, Gustav Mahler

Richard Wagner Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Musikalische Leitung Myron Romanul 19.02. / Ryusuke Numajiri 28.04. Mezzosopran Okka von der Damerau Tenor Herbert Lippert

Der fliegende Holländer Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Peter Konwitschny

Di 19.02.13 19:30 Uhr So 28.04.13 19:30 Uhr

Rafal Siwek, Anja Kampe, Klaus Florian Vogt, Heike Grötzinger, Kevin Conners, Johan Reuter So 14.04.13 19:00 Uhr Mi 17.04.13 19:30 Uhr Sa 20.04.13 20:00 Uhr auch online auf www.staatsoper.de/tv

Patrice Bart / Marius Petipa

La Bayadère Musik Ludwig Minkus

Gaetano Donizetti Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Gast Polina Semionova (08. und 11.03.) Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff

L’elisir d’amore Musikalische Leitung Leo Hussain Inszenierung David Bösch

Di 05.03.13 19:30 Uhr Fr 08.03.13 19:30 Uhr Mo 11.03.13 19:30 Uhr

Eri Nakamura, Dimitri Pittas, Fabio Maria Capitanucci, Erwin Schrott, Tara Erraught Di 30.04.13 19:00 Uhr Do 02.05.13 19:00 Uhr

Jerome Robbins / Jiří Kylián

Goldberg-Variationen / Gods and Dogs

sponsored by

Musik Johann Sebastian Bach, Jiří Kylián, Dirk Haubrich, Ludwig van Beethoven Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Piano Elena Mednik

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Fr 15.03.13 19:30 Uhr Mo 18.03.13 19:30 Uhr


John Neumeier

Russell Maliphant / José Limón / Léonide Massine

Illusionen – wie Schwanensee

Forever Young

Musik Peter I. Tschaikowsky

Broken Fall / The Moor’s Pavane / Choreartium

Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff / Myron Romanul 25.04.

Musik Henry Purcell Arrangiert von Simon Sadoff, Johannes Brahms, Barry Adamson

Do 21.03.13 Fr 22.03.13 Di 26.03.13 Sa 30.03.13 Fr 05.04.13 Do 25.04.13

Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Musikalische Leitung Robertas Šervenikas

19:00 19:30 19:00 19:00 19:00 19:00

Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr

Mo 29.04.13 19:30 Uhr

KONZERTE

Ballett extra Proben zur Uraufführung Helden Fr 12.04.13 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7

Partner des Bayerischen Staatsorchesters PARTNER DES BAYERISCHEN STAATSORCHESTERS

Terence Kohler

Helden

Festkonzert zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi

Musik Lera Auerbach, Alfred Schnittke Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts Musikalische Leitung Myron Romanul

Giuseppe Verdi Messa da requiem

So 21.04.13 19:30 Uhr Uraufführung Sa 27.04.13 19:30 Uhr

Musikalische Leitung Zubin Mehta

Nacho Duato

Sopran Krassimira Stoyanova Mezzosopran Ekaterina Gubanova Tenor Joseph Calleja Bass Kwangchul Youn

Gastspiel Michailowsky Ballett St. Petersburg: Dornröschen

Mo 25.02.13 20:00 Uhr Di 26.02.13 20:00 Uhr

4. Kammerkonzert

Musik Peter I. Tschaikowsky Solisten und Ensemble des Michailowsky Balletts St. Petersburg

Benjamin Britten, Johannes Brahms Di 23.04.13 19:30 Uhr Mi 24.04.13 19:30 Uhr

Violine Johanna Beisinghoff, Michael Durner Viola Adrian Mustea Violoncello Anja Fabricius Klavier Julia Riem

Terpsichore-Gala XI

So 10.03.13 11:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche Di 12.03.13 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche

Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts, Internationale Gäste

Passionskonzert

Musikalische Leitung Myron Romanul Fr 26.04.13 19:30 Uhr

Sprecher Ev. Landesbischof Dr. Dr. Heinrich Bedford-Strohm Do 21.03.13 19:30 Uhr Allerheiligen Hofkirche

Matinee der Heinz-BoslStiftung / Junior Company

Der Vorverkauf erfolgt über die Freunde des Nationaltheaters e.V.: T 089 – 53 10 48 oder freunde-des-nationaltheaters@t-online.de

Hauptsponsor der Orchesterakademie

Junior Company des Bayerischen Staatsballetts und die Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München

So 28.04.13 11:00 Uhr

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Der Vorverkauf erfolgt über die Heinz-Bosl-Stiftung: T 089 – 33 77 63


4. Akademiekonzert

Erlebnistag

Wolfgang Amadeus Mozart, Gustav Mahler

So 07.04.13 10:00 Uhr

Musikalische Leitung Tomáš Hanus

2. Kammerkonzert der Orchesterakademie

Klavier Rudolf Buchbinder Mo 08.04.13 20:00 Uhr Di 09.04.13 20:00 Uhr

Mi 17.04.13 20:00 Uhr Schloss Fürstenried Fr 19.04.13 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche

5. Kammerkonzert

Hauptsponsor der Orchesterakademie

Joseph Haydn, Zoltán Kodály, Claude Debussy Violine Katharina Lindenbaum-Schwarz, Janis Olsson Viola Tilo Widenmeyer Violoncello Roswitha Timm

Spiel Oper: L’elisir d’amore

So 21.04.13 11:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche Di 23.04.13 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche

Sa 27.04.13 10:00 Uhr Probenräume, Nationaltheater Sa 28.04.13 11:00 Uhr Probenräume, Nationaltheater

CAMPUS

EXTRA

Sitzkissenkonzert: Momo, der kleine Zirkusjunge

Opernseminar: Boris Godunow

Pascal Dusapin Sa 02.03.13 14:30 Uhr Parkett, Garderobe Sa 09.03.13 14:30 Uhr Parkett, Garderobe

Sa 23.02.13 10:00 Uhr Capriccio-Saal So 24.02.13 10:00 Uhr Capriccio-Saal

Premiere

Premierenmatinee Boris Godunow

Spiel Oper: Hänsel und Gretel

So 03.02.13 11:00 Uhr

Sa 16.03.13 10:00 Uhr Probenräume, Nationaltheater Sa 17.03.13 11:00 Uhr Probenräume, Nationaltheater

Premierenmatinee Hänsel und Gretel So 17.03.13 11:00 Uhr

Andy Pape

Sigurd der Drachentöter

Die unmögliche Enzyklopädie 22: Straße

Inszenierung Sam Brown Golda Schultz, Dean Power, Christian Rieger, Christoph Stephinger

Mo 04.03.13 20:00 Uhr

Do 28.03.13 14:00 Uhr Rennert-Saal Sa 30.03.13 18:00 Uhr Rennert-Saal

Probenräume, Nationaltheater

Die unmögliche Enzyklopädie 23: Funkoper 97

Do 18.04.13 20:00 Uhr

Probenräume, Nationaltheater


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O namenlose Freude – Fidelio in Paris


Die Bayerische Staatsoper gastierte im Herbst 2012 mit Beethovens Fidelio im legendären Théâtre des Champs-Elysées in Paris. Als Solisten der konzertanten Aufführung sangen Waltraud Meier als Leonore und Jonas Kaufmann als Florestan, das Bayerische Staatsorchester spielte unter der Leitung von Adam Fischer. Ein Bilderbogen. 1

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„Cherche un billet“ – Karte gesucht

Das Théâtre des Champs-Elysées feiert in dieser Saison sein 100-jähriges Jubiläum. Hier feierte unter anderem Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps Uraufführung. 2

Stillleben mit Beethovens Partitur im 2.000 Zuschauer fassenden Auditorium. 3

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Der Moment, in dem die Spannung sich im Publikum entlädt: Blick über die Schultern der Musiker des Bayerischen Staatsorchesters in den ausverkauften Saal während des Schlussapplauses. 4

5 Leonore Waltraud Meier in der Garderobe kurz vor ihrem Auftritt.

Maestro Adam Fischer bei der Probe am Pult des Bayerischen Staatsorchesters: „Fidelio? DAS Stück für die Revolution, DAS Stück für die Befreiung.“ 6

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Florestan Jonas Kaufmann entspannt und gleichzeitig hochkonzentriert bei den Proben: Sein erster Auftritt im zweiten Akt startet mit einem der „unangenehmsten Töne der Opernliteratur – ‚Gott, welch Dunkel hier!‘“ (Kaufmann). 7

8 Das Bayerische Staatsorchester und der Chor der Bayerischen Staatsoper beim Schlussapplaus.

Fotografie Wilfried Hösl


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ESSEN NACH HERZENSLUST Wie die Mitarbeiter der Oper Leib und Seele ­zusammenhalten.

EIN MAGISCHES GEWÜRZ AUS BAKU Von Christian Carlstedt, Leiter des Casting-Büros

Baku, Aserbaidschan: In der östlichsten Stadt Europas gibt es zwar keine Operntradition, aber seit 1997 den BülbülWettbewerb für Operngesang. Hier lassen sich Sänger aus Aserbaidschan, Georgien, Iran oder der Ukraine entdecken, die den Weg nach Westeuropa scheuen. Das Land hat Öl, sehr viel Öl, von dem nur eine Minderheit profitiert. 24 Milliarden wurden allein 2012 in Baku verbaut. Doch hinter den glitzernden Büro- und Hotelhochhäusern kann man noch das alte Baku entdecken. Ein paar Straßen weiter in der Altstadt liegt in einem Hinterhof der alte Gemüsemarkt. Samstagnachmittags machen hier nur wenige, vorwiegend ältere Menschen ihre Besorgungen. Eine kleine Frau mit zerknittertem Gesicht unterm Kopftuch hält uns ein karminrotleuchtendes Gewürz unter die Nase. Das grobkörnige Granulat schmeckt säuerlich und leicht salzig. „Ein magisches Gewürz“, erklärt sie uns geheimnisvoll, „verbessert Fleisch, Fisch und Reis“. Nachdem ich das namenlose Gewürz durch den Zoll geschmuggelt habe, wird es zuhause gleich ausprobiert. Tatsächlich: Die Lammkoteletts mit Basmatireis haben einen wunderbaren Duft und den geheimnisvollen

Geschmack des Orients. Jetzt teste ich, was es noch alles verbessert. Und vielleicht bekomme ich irgendwann auch noch den Namen heraus … Hilfe naht: Sumak (vermutlich von aramäisch summaq für ‚dunkelrot‘) ist als säuerliches Gewürz vor allem in den Küchen des Orients beliebt.

DIE FOTO-KOCHBUCH-APP Von Wolfgang Antesberger, Mitglied des Bayerischen Staatsopernchores und Leiter der Münchner Hofkantorei Vor einem Jahr beschloss ich, über die Weihnachts- und Neujahrstage eine Radikalfastenkur zu machen, die dann immerhin 43 Tage andauerte. Eine alte muslimische Weisheit sagt ja: „Das Fasten ist der Frieden des Körpers.“ Ich fand aber, dass dies sich vor allem auf einen frischen Geist auswirkte. Nachdem ich den schwierigen Wiedereinstieg unter die Essenden wieder gut hinter mich gebracht hatte, galt es, mit erfrischten Geschmacksnerven nicht in alte Essgewohnheiten zurückzufallen. Und hier kam mir eine iPad-App zu Hilfe, die nicht nur ich, sondern meine Familie inzwischen lieben und die unseren Speiseplan um ein Vielfaches erweiterte. Sie hat den schlichten Namen Foto-Kochbuch und dies ist schon die treffendste Umschreibung. Denn in sehr ansprechender Art und Weise sind tolle Fotos kombiniert mit klaren und – auch nicht unwichtig – praktikablen Anweisungen. Italienische Leckereien sind plötzlich gleichermaßen leicht zuzubereiten wie seltene asiatische Speisen, leckere Desserts oder Vegetarisches. Die letzte Erweiterung hatte das Thema Backen. Das Lebkuchenrezept würde sich womöglich gut dafür eignen, zuhause ein eigenes Hänsel und Gretel-Lebkuchenhaus zu bauen. Aber einen Nachteil hat die App schon: Der Schritt, wieder einmal eine Fastenkur zu beginnen, wird mir in Zukunft deutlich schwerer fallen. Das Foto-Kochbuch – Schnell & einfach, App für iPhone und iPad, 3,95 €


Die Theaterferien verbringen wir seit Jahren an einem See in Frankreich beim Windsurfen. Jeden Tag Wind, Sonne und auf dem Wasser, eigentlich ist man so zufrieden, dass man den Hunger darüber ganz vergisst. Abends knurrt dann der Magen. Mit den anderen Surfern vor Ort, die auch jeden Sommer dort verbringen, haben sich abendliche Picknickrunden etabliert. Jeder bringt etwas zu essen mit, wir trinken kleine Flaschen Trente-Trois Bier und kühlen Rosé aus Plastikbechern, dazu grillen wir Chipolatas aux herbes de Provence. Zum ersten spontanen Picknick dieser Art haben wir aus den vorhandenen Lebensmitteln in unserer Küche einen Salat erfunden, der seitdem regen Anklang bei den Franzosen findet und den sie Salade de quatre vents getauft haben. Die Zutaten stammen vom Markt: grüner Salat jeglicher Art, was man gerade da hat; Gurke, in kleine Stücke geschnitten; fein gehobelte Scheiben von knackigen Radieschen; Zwiebelröhrchen, in dünne Ringe geschnitten; frische Kräuter (z.B. Basilikum, Petersilie, Schnittlauch); drüber kommen dünne Scheiben vom gestrigen Baguette, die man vorher mit einem Tropfen guten Olivenöls und geriebenem Parmesankäse im Ofen goldgelb gebacken hat. Für die Vinaigrette 6 EL Weißweinessig, 2 TL Senf, 1 EL Lavendelhonig, Salz und Pfeffer verrühren. 6 EL Olivenöl darunterschlagen. Den Salat damit anmachen, die Croûtons ganz zum Schluss darauf anrichten. Bon Appétit!

Kulturtipps / kulinarisch

SALADE DE QUATRE VENTS Von Regine Brandl, Produktionsleiterin in der Kostümabteilung

Salade de quatre vents – gibt es nicht zu kaufen, sondern nur nachzumachen …

Ein Gang in die Aroma Kaffeebar Von Benjamin David, Spielleiter

Aroma Kaffeebar, Pestalozzistraße 24, 80469 München, T 089 26 94 92 49, Mo – Fr: 7:00 – 20:00 Uhr, Sa, So, Feiertag: 9:00 – 20:00 Uhr, www.aromakaffeebar.com

TEA TIME Von Golda Schultz, Sopranistin des Opernstudios Schon als kleines Mädchen war ich fasziniert von der Idee der Tea Time. Gemütlich in großen Lounge-Sesseln zu sitzen und dabei an einem Earl Grey zu nippen, das hatte immer eine besondere Anziehung für mich. Und es ist, als ich älter wurde, zu einem festen Ritual für mich geworden, mich mit meinen Freunden zur Tea Time zu treffen. Glücklicherweise gibt es auch hier in München Orte, wo man Tea Time wirklich ernst nimmt. Man muss bei der Auswahl immer sehr genau auf die „Dreifaltigkeit“ achten – natürlich nicht die Heilige Dreifaltigkeit, wohl aber die Dreifaltigkeit der Tea Time: Atmosphäre, Kuchen, Tee. Und danach fällt meine erste Wahl eindeutig auf das Victorian House am Viktualienmarkt. Die Kellner empfehlen einem genau, welche Teesorte nun speziell zu diesem oder jenem leckeren Kuchen passen würde – die Kombination aus Kuchen und Tee ist etwas, für dessen Entdeckung jeder Mensch dankbar sein sollte. Der Raum des Victorian House ist ruhigelegant und doch gemütlich. Aber am meisten liebe ich das ganze Erlebnis des „High Tea“: Man sitzt an Tischen mit Etageren voller Scones und Sandwiches, während man sich stundenlang mit seinen Freunden über alle Dinge der Welt unterhalten kann. Wobei – wenn ich ganz ehrlich sein soll: So sehr ich das Ausgehen mag, so sehr liebe ich doch meine eigene Tea Time, wenn ich nach einem langen Tag nach Hause komme, aus meiner Lieblingsteetasse trinke und das Ganze mit einem herrlichen Stück Käsekuchen (dem englischen, der mit sehr viel Quark!) verspeise. The Victorian House am Viktualienmarkt, Frauenstr. 14, 80469 München, T 089 25 54 69 47, Mo – Sa: 9:30 – 22:30 Uhr, Sonn- & Feiertag 9:30 – 19:00 Uhr; vier weitere Standorte in München siehe www.victorianhouse.de

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Wie so oft an einem Feiertag öffne ich meine Augen erst, nachdem ich zehn Mal die Snooze-Taste meines Weckers gedrückt habe. Ich versuche aufzustehen, aber die wohlige Wärme unter der Decke ist so viel angenehmer als das kalte Wetter draußen. Also quäle ich mich mit Hilfe der Bettdecke auf meiner Schulter aus dem Bett und gehe zum Kühlschrank, um meinen kleinen Bauch zu beruhigen. Aber ich habe keine Milch, kein Müsli, kein Brot mehr … heute fehlt sogar Kaffee. Natürlich geschieht das immer am Feiertag. Ich bedanke mich bei Herrn Murphy für sein Gesetz! Also habe ich keine Wahl – und das ist nicht das Schlechteste, um meine schwierige Laune zu behandeln: Ich muss zu meinem Lieblings-Café gehen, der Aroma Kaffeebar. Dieser Ort ist einfach zauberhaft. Man kann sicher sein, dass auch jede noch so schlechte Laune dort besser wird. Ich öffne die Tür und sofort fühle ich die kuschelige Wärme auf meinem Gesicht, die mich an meine Bettdecke erinnert, es schlägt mir ein Geruch voller Aroma und eine sehr freundliche Stimmung entgegen. Und das Wichtigste: Ich sehe das tolle Essensangebot durch den Glasschrank und logischerweise verwandelt sich mein Gähnen sofort in ein kleines Lächeln. Aber ein Problem gibt es doch: die (Aus-) Wahl zwi-

schen warmem Salat, Müsli, Joghurt mit Früchten, LachsBagels, Eiern oder Pain au chocolat. Und zudem muss man unbedingt eine Atomic Bomb trinken. Das ist ein rotes Getränk, gemixt aus vielen frischen Früchten, das mir so viel Energie verleiht wie drei Kaffees – nur ohne das böse Koffein. Ich könnte drei Berge hintereinander besteigen! Aber ­eigentlich ist das Wichtigste nicht das Essen und Trinken, sondern dass jetzt mein Tag doch noch gut angefangen hat. Viel Spaß und guten Brunch!

Illustration Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche


Max Joseph Vorschau 3 Indigo O‘Rourke, Walking, 2012

WE ARE FAMILY Premiere Elegie für junge Liebende – Opernstudio der Bayerischen Staatsoper Premiere Simon Boccanegra – Regisseur Dmitri Tcherniakov Spielfeld Familie? Sibylle Berg • Thomas Jonigk

Max Joseph 3 2012-2013 erscheint am 22.04.2013.


ManchMal ist das leben eine sinfonie.

Zeit für Musik.

br-klassik.de

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