A M Joseph X
Wolle die Wandlung Das Magazin der Bayerischen Staatsoper
DER NEUE DERZBACHHOF WOHNEN AUF MÜNCHENS ÄLTESTEM HOF FORSTENRIEDER ALLEE 179 MÜNCHEN-FORSTENRIED
DERZBACHHOF.EUROBODEN.DE
EDITORIAL „Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, / den sie staunend durchgehn“, notiert Rainer Maria Rilke im Februar 1922 in seinen berühmten Sonetten an Orpheus. Er hatte sich in den alten Schlossturm Muzot bei Sierre im schweizerischen Wallis zurückgezogen, der sich mitten aus Weinbergen und Obstgärten erhebt, und rätselte über die Kunst und ihre Bedingungen. Hermann Hesse formuliert diesen Gedanken in seinem Stufen-Gedicht von 1941 ähnlich – abgetrotzt der historisch grausamen Gegenwart: „Wir sollen heiter Raum und Raum durchschreiten, / an keinem wie an einer Heimat hängen“. Denn: „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, / Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“ Staunendes, heiteres Wandeln also, durch glückliche Räume. Wie schön das klingt – und wie utopisch. Denn das Wandeln und damit der Wandel kommen nicht ohne Reibung aus, ohne innere und äußere Konflikte. Gerade wandelt sich die ganze Welt im Hier und Jetzt, unsere Wahrnehmung von Zwischenmenschlichkeit, wegen eines Virus, das wir noch immer nicht verstehen. Welche Ausmaße dieser Wandel hat, wird sich, wie so häufig, erst in der Rückschau zeigen, in der Erzählung. Ob die Welt die Kunst verändert oder umgekehrt oder beides. „Der wendende Punkt“ – so lautet der Titel dieser Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper. Eine Wortwendung aus Rilkes Gedicht Wolle die Wandlung aus den Sonetten, wie auch der eingangs zitierte Vers. Und wenn es ein Moment
darin zu betonen gibt, dann unbedingt das hoffnungsvolle: In dem Versprechen vom Wendepunkt, der gewollten Wandlung, ist nämlich ein Moment des Glücks eingeschlossen, ein Stück fühlbare Freiheit, so wie es auch die Autorin Ulrike Draesner in ihrem Essay für diese Ausgabe von Max Joseph bemerkt. Nichts bleibt, wie es war. Und das ist vor allem eine Chance. Zeitlichkeit, Veränderung und Abschied als notwendige Bestandteile des Lebens anzuerkennen und zu bejahen – das liest auch der Germanist Manfred Engel in seiner Analyse von Rilkes Versen heraus. In ihnen stecke das Potenzial, eine andere Lebenshaltung als möglich vorzuführen, einzuüben, ja mindestens für sie zu werben. Anschaulich zeigt sich das beispielsweise in den beiden Figuren Ratefreund und Hoffegut aus Walter Braunfels' Oper Die Vögel, die sich in neue Sphären aufschwingen wollen, so wie es auch Braunfels in seiner Komposition von 1920 tat. Welche Grenzgänge der Dirigent Ingo Metzmacher für diese Premiere am Pult (und im umgebauten Orchestergraben) erlebt, erzählt er im Interview. „Was sich ins Bleiben verschließt, / schon ists das Erstarrte“, heißt es bei Rilke weiter. Deshalb hat die Bayerische Staatsoper gerade in diesem schwierigen Jahr der Pandemie alles daran gesetzt, auch durch künstlerischen Wandel neue Impulse zu setzen, gegen das Harte, das da aus der Ferne warnt. In der Hoffnung, dass unser Haus immer ein glück licher Raum des Wandels für Sie bleiben möge.
Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper
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© Pierre Mendell Design GmbH
täglich außer Montag 10–17, Do u. Fr 10–20, Barer Str. 40, München, www.die-neue-sammlung.de
Die Neue Sammlung Design in der Pinakothek der Moderne, München Eine Ausstellung in Kooperation mit der Bayerischen Staatsoper anläßlich der Münchner Opern-Festspiele 2006
21.6.–3.9.’06
IN MEMORIAM SIR PETER JONAS
Staatsintendant der Bayerischen Staatsoper von 1993 bis 2006 * 14. Oktober 1946 in London, 22. April 2020 in München
Pierre Mendell. Plakate für die Oper
SOUL OF GERONTIUS I went to sleep; and now I am refreshed. A strange refreshment; for I feel in me An inexpressive lightness, and a sense Of freedom, as I were at length myself, And ne’er had been before. How still it is! I hear no more the busy beat of time, No, nor my fluttering breath, nor struggling pulse; Nor does one moment differ from the next. This silence pours a solitariness Into the very essence of my soul; And the deep rest, so soothing and so sweet, Hath something too of sternness and of pain. Another marvel: someone has me fast Within his ample palm;… …A uniform And gentle pressure tells me I am not Self-moving, but borne forward on my way. And hark! I hear a singing: yet in sooth I cannot of that music rightly say Whether I hear, or touch, or taste the tones. Oh, what a heart-subduing melody!
SEELE DES GERONTIUS Ich sank in Schlaf; gestärkt erwacht’ ich nun. Welch fremd’ Erwachen: wie fühl ich mich So unaussprechlich leicht und frei, So wie ich’s nie gefühlt, als wär ich jetzt erst eigen selbst, Und früher nicht gewesen. Wie still es ist! Nicht hör’ ich mehr der Zeit geschäft’gen Schlag. Still meines Atems Zug, mein Herze schweigt, Und jeder Augenblick dem andern gleicht. Und friedlich senkt sich holde Einsamkeit In meiner Seele tiefsten Grund hinab; Himmelsruhe, so schmeichelnd und so süß, Und doch so ernst wie stummen Schmerzens Blick. Ein neues Wunder: fremde Hand umschließt mich Mit sanftem Druck; ... … Sie trägt Mich schwebend weiter, in Bewegung bin ich, Doch nicht selber beschritt ich dieses Weges Bahn. Und horch! Ich hör’ ein Singen; lieblich tönt’s, Doch wüsst’ ich nicht zu sagen, wie ich’s hör’; Ist es mir doch, als fühlt’ ich nur den Sang. O welch ein herzbezwingend Himmelslied!
Sir Peter Jonas’ Ära an der Bayerischen Staatsoper war visuell eng mit den Arbeiten des Grafikdesigners Pierre Mendell verknüpft. Überdies waren die beiden Freunde. 2006 eröffnete Jonas eine Ausstellung in der Neuen Sammlung in der Münchner Pinakothek der Moderne, die Mendells Plakaten für die Oper gewidmet waren. Darunter auch das Motiv auf der linken Seite. In der Spielzeit 2001 / 02 kam bei einem Akademiekonzert Edward Elgars The Dream of Gerontius, op 38, zur Aufführung. Im zweiten Teil des Oratoriums spricht die Seele des Gerontius die oben stehenden Worte, nach einem Text von John Henry Newman (deutsche Übersetzung von Julius Buths).
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INHALT S. 3
DITORIAL E Von Nikolaus Bachler
S. 4
IN MEMORIAM SIR PETER JONAS
S. 8
CONTRIBUTORS / IMPRESSUM
S. 10 LYRISCHE
S. 36 „ZUFALL,
DASS ICH DAS BIN“ ⁂
Susanne Bruse verwaltet den Nachlass ihres Großvaters Walter Braunfels. Ein Archivbesuch im Reich der Vögel Von Gabriela Herpell S. 42 PERSPEKTIVWECHSEL
Was kommt nach dem Tanz? Wie es ist, als Ballettsolistin seine Bühnenkarriere zu beenden Von Ivy Amista
MOMENTE
Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper stellen Gedichte vor, die ihnen viel bedeuten
S. 44 FALSTAFF ODER AM NABEL DER KOMÖDIENWELT ⁂ S. 14 DER
in Held von Weltformat: Wie die Figur des Sir John E Falstaff die Grenzen der Genres sprengt Von Tanja Schwan
ANSTOSS
Ein Essay über die Annäherung an den überraschenden Moment zwischen Stillstand und Bewegung Von Ulrike Draesner
S. 50 DIE S. 20
SUCHE NACH DER GROSSEN LIEBE
ie kommt man an eine wertvolle alte Geige? Und tut W es eine neue auch? Von Norbert Hornig
WOLLE DIE WANDLUNG
Die Poetik der Figur: Was uns Rainer Maria Rilke mit seinen Versen aus den Sonetten an Orpheus erzählt Von Manfred Engel
S. 54 ZWISCHENFALL
AM WANNSEE
Eine Kurzgeschichte Von Maxim Biller
S. 26 „ICH
MAG MUSIK, DIE HELL IST“ ⁂ Ingo Metzmacher dirigiert Die Vögel. Im Interview spricht er über musikalische Grenzgänge Von Max Nyffeler
AGENDA S. 32 DAS
GRAUEN IST ANWESEND ⁂
eister des Unheimlichen: die Bühnenwelten von M Aleksandar Denić Von Jakob Hayner
S. 64
SPIELPLAN
S. 70 DER
SCHWUNG DER FIGUR
Künstlerinnen und Künstler interpretieren Rainer Maria Rilkes geheimnisvollen „Schwung der Figur“ Von Phyllida Barlow
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Premieren
Lina ballerina clip Weißgold und Diamanten.
Haute Joaillerie, place Vendôme seit 1906
MÜNCHEN - Maximilianstraße 10 www.vancleefarpels.com - +49 89 2030 3251
S. 1 Adam Whyte „Lucid“ beschreibt im Englischen den Zustand völliger Klarheit. Vor allem zwischen den Phasen von Verwirrung und Wahn. Die gleichnamige Bilderserie des New Yorker Fotografen Adam Whyte, aus der auch das Covermotiv stammt, zeigt surreale Szenen, die eine seltsame Ordnung inmitten des Chaos herstellen. Es sind abstrakte Welten, die eine bizarre Schönheit bergen. Whyte studierte Philosophie, Kritische Theorie und Medienkunst.
Max Joseph Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de
S. 14 Ulrike Draesner Die Werke von Ulrike Draesner fassen Sehnsüchte, Abgründe und Traumata in Sprache. Sie spürt neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen nach oder erkundet die Natur. Für ihren Essay, der diese Ausgabe eröffnet, setzt sie sich mit Wendepunkten auseinander. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Zuletzt erhielt sie den Deutschen Preis für Nature Writing und ihr Roman Schwitters (Penguin) erschien.
Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert
Redaktion Serge Honegger, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Lukas Leipfinger, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer, Sabine Voß
Schlussredaktion Katja Strube Gestaltung Bureau Borsche Autorinnen und Autoren Maxim Biller, Ulrike Draesner, Manfred Engel, Jakob Hayner, Gabriela Herpell, Norbert Hornig, Max Nyffeler, Tanja Schwan Bildkünstlerinnen und -künstler Phyllida Barlow, Julian Baumann, Sigrid Reinichs, Nicholas Stevenson, Hannah Whitaker, Adam Whyte Marketing Eva Bergmann, T 089 – 21 85 10 27, besucher@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch, T 089 – 21 85 10 39, karla.hirsch@staatsoper.de
S. 50 Nicholas Stevenson Dicke Pinselstriche, üppige Texturen, kräftige Farben. Dazu diese magischen Welten, irgendwo zwischen Mystik, Natur und Schatten, in denen Menschen (oder Tiere) auf ihr nicht selten albernes Selbst treffen. Die Zeichnungen von Nicholas Stevenson, die u. a. in der Washington Post und den New York Times erscheinen, machen vor allem eines: Spaß. Dafür wurde der Illustrator aus dem englischen Herefordshire vielfach ausgezeichnet.
Lithografie MXM Digital Service, München
S. 54 Maxim Biller Maxim Biller bekam für den Text, den er für diese Ausgabe von Max Joseph geschrieben hat, nur ein Schlagwort: Wendepunkt. Herausgekommen ist eine beeindruckende Kurzgeschichte. 1960 in Prag geboren, lebt der Autor seit 1970 in Deutschland. Für Die Zeit schreibt er die Kolumne Über den Linden und zuletzt erschienen von ihm Sieben Versuche zu lieben (KiWi) sowie Wer nichts glaubt, schreibt (Reclam).
Das Inhaltspapier von Max Joseph ist zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial. E s ist FSC®-zertifiziert und erfüllt sowohl die Kriterien des Blauen Engels als auch des EU Ecolabels. Zudem wird das Heft mit mineralölfreien Farben gedruckt.
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Foto Matthew Porter
Bildredaktion Katrin Dillkofer
Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Max Joseph wird auf Bio Top Naturpapier g edruckt.
Foto Nicholas Stevenson
S. 36 Gabriela Herpell Gabriela Herpell wurde in Brüssel geboren und liebt, obwohl sie nur sechs Jahre in Belgien gelebt hat, belgisches Bier, Jacques Brel und koffie verkeerd. Zum Journalismus fand sie als Plattenkritikerin der Szene Hamburg und in der Nachrichtenredaktion des Stern. In den nächsten 30 Jahren arbeitete sie als freie Journalistin, dazwischen immer wieder als Redakteurin: bei Tempo, Glamour und Emotion, heute beim SZ-Magazin.
Chef vom Dienst Christoph Koch
Foto Lottermann and Fuentes
S. 14 Hannah Whitaker Ein Schattengesicht blickt aus einer ausgeschnittenen Blase auf ein Meer voller Punkte. Sehen Sie das auch? Hannah Whitakers Arbeiten, in denen leuchtende Farben gegen klare Formen antreten, fordern den Betrachter heraus. Die amerikanische Künstlerin, die ihr Studio im New Yorker Stadtteil Brooklyn hat, testet die Grenzen der Fotografie spielerisch aus. Zu sehen ist das in Galerien von New York über Los Angeles bis Paris.
Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.)
Foto Ryan Molnar
IMPRESSUM
Foto Gerald Zörner
CONTRIBUTORS
LYRISCHE MOMENTE Der Titel der neuen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper ist diesmal einem Sonett entlehnt. Poesie inspiriert, kann trösten und unterhalten. Deshalb bitten wir in jeder Ausgabe von Max Joseph an dieser Stelle Künstler innen und Künstler, Gedichte vorzustellen, die ihnen viel bedeuten.
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WEHMUT Von Johann Wolfgang von Goethe, 1775 Ihr verblühet, süße Rosen, Meine Liebe trug euch nicht; Blühet, ach, dem Hoffnungslosen, Dem der Gram die Seele bricht! Jener Tage denk‘ ich trauernd, Als ich, Engel, an dir hing, Auf das erste Knöspchen lauernd Früh zu meinem Garten ging. Alle Blüten, alle Früchte Noch zu deinen Füßen trug, Und vor deinem Angesichte Hoffnung in dem Herzen schlug. Ihr verblühet, süße Rosen, Meine Liebe trug euch nicht; Blühet, ach, dem Hoffnungslosen, Dem der Gram die Seele bricht!
Edvard Grieg vertonte das Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe in seinem Liederzyklus Sechs Lieder, op. 48, den er 1889 vollendete. Dort trägt es den Titel Zur Rosenzeit. Goethes Gedicht stammt aus seinem Libretto zum Singspiel Erwin und Elmire von 1775. Beim Blick auf welkende Rosen wird Erwin an seine verlorene Liebe Elmire erinnert, und er betrauert das einsame Leben, das vor ihm liegt. Doch trotz der Traurigkeit drücken sich im Gedicht auch Hoffnung und Zärtlichkeit aus, die sich wiederum in Griegs wunderbarer Musik spiegeln. Dieses Lied begleitet mich seit meinen frühesten Schultagen, und es bedeutet mir immer noch sehr viel. Ich bin wie Grieg in der norwegischen Stadt Bergen geboren, nur einen Steinwurf von seinem Haus entfernt, und er war für meine musikalische Entwicklung äußerst wichtig. Caroline Wettergreen, Sopran
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AUCH ICH Von Langston Hughes, 1926 Auch ich besinge Amerika. Ich bin der dunklere Bruder. Man schickt mich zum Essen in die Küche Wenn Gäste kommen, Aber ich lache Und esse mich satt Und werde stark. Morgen, Werde ich am Tisch sitzen Wenn die Gäste kommen. Niemand wird wagen Mir zu befehlen: „Iss in der Küche“, Dann. Außerdem Wird man merken, wie schön ich bin Und man wird sich schämen – Auch ich bin Amerika. (Aus dem Englischen von Ruth Klüger)
Meine Liebe zur Lyrik entstand zusammen mit meiner Passion für den Gesang. Dichter und Komponisten berühren meine Vorstellungskraft gleich stark. Langston Hughes unterschied sich als schwarzer Dichter von den meisten seiner Vorgänger darin, dass er sich an alle Menschen wandte, besonders natürlich an Farbige. Sein Gedicht antwortet auf Walt Whitmans I Hear America Singing mit der Mahnung, dass die Ausgeschlossenen, die nicht Sichtbaren, besonders die Afroamerikaner*innen, „auch“ Amerika sind. Ich mag die Aufrichtigkeit, die Entschlossenheit, den Stolz. Viele internationale Komponisten haben das Gedicht bereits vertont. Innerhalb der Musikwelt weiß man, wie wichtig es ist, Ausgrenzung und Unterdrückung, die Hughes hier mit solch kraftvoller Stimme vorbringt, zu benennen. Neben Whitman ist er für mich der Dichter, der in mir den Glauben an die ursprünglichen amerikanischen Ideale, an den in ihnen ausgedrückten religionsübergreifenden Humanismus wachhält. Thomas Hampson, Bariton
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EINLADUNG Von Mary Oliver, 2008 O, hast du Zeit zu verweilen nur einen Augenblick in deinem emsigen und sehr wichtigen Tag der Stieglitze wegen die sich versammelt haben in einem Feld voll Disteln zu einem Sängerstreit, um zu hören, wer die höchste, wer die tiefste Note singen kann, wer die Freude am stärksten, wer sie am zartesten ausdrückt? Ihre starken stumpfen Schnäbel trinken die Luft während sie sich bemühen auf klangvolle Art nicht für dich und nicht für mich und nicht um zu gewinnen nur aus reiner Freude und Dankbarkeit – glaubt uns, sagen sie, es ist bedeutsam einfach am Leben zu sein an diesem neuen Morgen in der heillosen Welt. Ich bitte dich, geh nicht vorbei ohne innezuhalten und teilzuhaben an diesem harmlosen Spiel. Es könnte etwas bedeuten. Es könnte alles bedeuten. Es könnte sein, was Rilke meinte, als er schrieb: Du musst dein Leben ändern. (Aus dem Englischen von Sabine Voß)
Vor ein paar Monaten stieß ich auf dieses Gedicht und finde, dass es gerade in dieser Zeit, in der so vieles in Auflösung begriffen ist, eine besondere Bedeutung bekommt. Es fragt: „Oh do you have time / to linger / for just a little while / out of your busy / and very important day / “. Dabei muss ich unweigerlich an den Gegensatz denken zwischen der Zeit, die wir nun zu Hause verbringen, und unserem Alltag sonst, der randvoll ist mit Proben, Kostümproben, mit Üben und Einstudieren, oft ohne Pausen. Ich habe in den vergangenen Monaten auch viel Zeit in der Natur verbracht und den allgegenwärtigen musical battle um mich herum wahrgenommen. Im Gedicht wird ein Gleichgewicht zwischen der Natur und unserem hektischen Leben beschworen. Auch ich will in Zukunft öfter innehalten und mir aus meinem randvollen Tag ein paar Augenblicke stehlen, damit ich nicht vergesse, wie wichtig es ist, sich am Gesang der Vögel zu erfreuen und daran, einfach am Leben zu sein. Margaret Whyte, Tänzerin, Corps de ballet
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DER ANSTOSS
Text Ulrike Draesner Bilder Hannah Whitaker 14
Hold, 2019
Wendepunkte gibt es viele im Leben. Und jeder einzelne birgt Ăœberraschungen. Eine Annäherung an ein Moment zwischen Stillstand und Bewegung.
Rainer Maria Rilke, aus den Sonetten an Orpheus
Achte Klasse, acht Uhr morgens. Frau A., schiefe Hüften, graubrauner Rock, mäuschenhaft, doch das täuscht. Frau A. tritt an die große grüne, morgensaubere Tafel und setzt einen weißen Kreidepunkt in ihre Mitte. Sie fragt uns, wie groß das ist, was wir sehen. Wenn Mathelehrerinnen einfache Fragen stellen, wird es gefährlich. Die Welt geht über den Augenschein hinaus, sprich: Die Wunder beginnen. Frau A. zeigt uns: Ein Punkt ist ein Punkt ist kein Punkt. Bei genauer Betrachtung zerfällt er und wird zu etwas, das sich niemals zu Ende messen lässt. Und doch möchten wir von Wendepunkten sprechen? In Texten, Filmen, Theaterstücken und Opern sind sie uns wichtig. Und, entscheidender: Bestimmen sie nicht immer wieder auch unser Leben? Entscheidungen. Unfälle. Glücksgeschenke. Den Punkt gibt es sehr wohl, aber wir fassen ihn nicht. Umso mehr scheinen wir ihn zu brauchen. Der Mensch ist das Tier, das nach Anfängen und Enden verlangt und Wege zwischen ihnen erfindet. Es macht uns Freude, in Ursache und Folge, Davor und Danach zu denken, bereitet es uns doch die Welt auf. Sie ist flüchtig, wir wissen es, nichts bleibt, was es war, aber in unseren Geschichten erklären wir uns dieses ständige Bewegtsein von Wendung zu Wendung. Das deutsche Wort „Wendepunkt“ enthält ebenfalls etwas von diesem Widerspruch. Ein kleiner, statischer Punkt – und auf oder in ihm soll sich die Wendung vollziehen? Stillstand und Bewegung muss er sein, der Moment der Umkehr. Selbst fast ein Nichts, dessen Charakter und Wesen sich allein der (langen) Zeit, die vor ihm lag, sowie der Strecke des Handelns und Erlebens, die ihm folgt, verdankt. Eine Stille, erkennbar nur aus dem Fluss der Entwicklung. Nicht immer erkennen wir die Wendung bereits, während wir sie erleben. Erst im Nachhinein, im Erzählen, legen wir sie uns dann aus und zurecht. Sprechend geben wir ihr Bedeutung. Der Wendepunkt ist ein Konstrukt. Wandlung endet nicht. Sie findet zeitlich statt, doch wie lange dauert sie? Wann wird eine Wendung sichtbar? Und für wen? Wird sie nicht oft auch nur herbeigeredet? Oder: Kann man sie leugnen? Sieht man genauer hin, erkennt man, dass das wendende Ereignis oft kein festes Ziel hat, und mitunter nicht einmal eine eindeutige Richtung, außer wir geben sie ihr. Denn an diesen Punkten vermischen wir uns mit dem, was von außen kommt: Es stößt uns zu – stößt uns in etwas hinein. Und wäre doch nichts ohne uns. Der englische Dichter Gerard Manley Hopkins, Priester im Brotberuf, fest davon überzeugt, dass Gott sich nie wiederholt, versuchte, das Spezifische einer Landschaft mit allen Sinnen zu erfassen. Er nannte es ihre „inscape“. Während das
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englische Verb „escape“ entfliehen bedeutet, bezeichnet „inscape“ jenen Anteil des von uns Wahrgenommenen, dem wir erlauben, in uns einzudringen. Was uns, so Hopkins, im Gegenzug die Möglichkeit eröffnet, die Besonderheit unseres Gegenübers wahrzunehmen. Wird eine derartige Wahrnehmung in Worte umgesetzt, erfährt man „instress“: Das in seinem Kern Getroffene fügt sich uns als starker Ein-Druck hinzu. An unser Gedächtnis und unsere Fantasie dockt es an. Rilke und Hopkins lassen sich gemeinsam lesen. Sei begeistert dafür, schreibt Rilke, wo „sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt“. „In dem Schwung der Figur“, der ein Schwung des Gedankens wie des entwerfenden Stiftes ist, liebt jener, der auf den Eigenschwung der Figur zielt, „nichts wie den wendenden Punkt“. „Instress“ bezeichnet eine Bewegung des Wahrnehmenden hinein in die Eigendrehung einer Sache oder anderen Figur. Damit gewinnt auch unsere Vorstellung vom Wendepunkt. Er bezeichnet nicht nur Aspekte der Handlungsentwicklung, sondern wesentlich die Begegnung zwischen Erzählung und Rezipient. Doppeltes geschieht: Während eine Figur einen Stoß erfährt, stößt auch der Rezipient auf etwas ihm Fremdes. Die Eigentümlichkeit eines Dinges, einer Landschaft, anderer Menschen färbt auf ihn ab. Sie wird ihn seinerseits berühren. Ein Wendepunkt bezeichnet einen Anstoß, der befremdliche Begegnung eröffnet und damit zum Ausgangspunkt eines Raumes wird, in dem tatsächlich Neues, Unerhörtes stattfinden kann. Einer der deutschen Erzählmeister des Wendepunktes ist Heinrich von Kleist. In seinem Drama Das Käthchen von Heilbronn springt die Titelfigur aus dem Fenster, um dem unbekannten Edelmann hinterherzueilen, der soeben vorbeiritt. Dreißig Fuß über der Straße liegt das Fenster, das sind über neun Meter. Käthchen bricht sich die Lenden. Als sie nach Wochen starken Fieberns wieder laufen kann, verkleidet sie sich als Mann und setzt die ursprüngliche Absicht in die Tat um. Ein Wendepunkt in ihrem Leben? Gewiss. Doch was genau wandte das Geschehen? Der Umstand, dass der Graf vorbeiritt? Dass sie sprang? Dass sie nicht aufgab? Äußeres und inneres Geschehen stoßen mehrfach zusammen. Die Wendung findet nicht mit einem einzigen Akt statt, sondern zerstreut sich. Wieder und wieder muss sie bestätigt werden. Erst durch Handeln entwickelt sich ihre Richtung. Wohin das Blatt sich wenden wird, wie es im Deutschen so schön heißt, ahnt Käthchen nicht. Abenteuerlich wird es, komisch und tragisch, mehrfach schwindelt einem der Kopf. Rilkes Rede vom „wendenden Punkt“ ist raffiniert. Sie löst das Wendepunkt-Paradox von (innerer) Statik und äußerem Impuls auf, indem der Punkt selbst in Bewegung versetzt wird. Mehr noch: Er wird aktiv. Wir schreiben „Wendungen“ gern äußeren Umständen zu. Doch was ist unser Anteil daran? Werden sie nicht erst zu Wendungen, weil sie uns zu einem „wendenden Punkt“ machen – weil wir ihnen erlauben, uns zu berühren?
Flex, 2016
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
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arbeit eingesetzt und dadurch wertlos. Erneut treibt Kleist mit dieser Novelle das Konzept des Wendepunktes voran. Der äußere Anstoß ist vergleichsweise geringfügig. Der Körper des Protagonisten selbst ist, anders als bei der Marquise von O..., nicht betroffen. Das gesamte weitere Geschehen der Novelle, das zu Überfällen, Bränden, Toten, Gerichtsverfahren und Kohlhaas‘ Hinrichtung führt, ergibt sich allein daraus, wie der Protagonist auf den einmal gesetzten Impuls reagiert. Die Erzählung zeigt, dass Wendepunkte nicht Gegebenheiten, sondern Konstruktionen, wenn nicht Erfindungen sind. Wir haben eine Wahl. Der Wendepunkt selbst wird zu einem Zeichen, das wir erzeugen, um zu werden, wer wir sein wollen oder müssen. Ein Letztes. Denken Sie an die Serien, die Sie kennen. Wendepunkte? Unbedingt und immer wieder. Ein Wendepunkt kommt niemals allein. Seine Struktur selbst scheint auf Wiederholung zu drängen. Warum wollen wir dieses Wenden immer wieder erleben? Weil etwas sich entzieht? Weil wir etwas (im eigenen Leben) nicht verstehen? Mag sein. Doch das wahre Versprechen des Wendepunktes reicht tiefer. Ein Moment des Glücks ist in ihn eingeschlossen, ein Stück fühlbare Freiheit: Ich bin in der Luft und komme vielleicht ganz anders auf als gedacht. Wendepunkte sind Überraschungen. Sie verschränken Zukunft und Vergangenheit. Und etwas Drittes tritt hinzu. Rilke impliziert es, indem er Orpheus, dem Sänger, die Worte vom Punkt zuspricht. In Wortwelten haben wir uns bewegt. Der „wendende Punkt“ findet doppelt statt: als Geschehen und dessen Besprechung. Wandlung wird, was sie ist nur, indem sie erzählt (und geteilt) wird. Sie ist Kommunikation. Käthchens Sprung aus dem Fenster könnte ein Unfall sein. An sich bedeutet er nichts. Bedeutung entsteht, indem Gründe und Folgen erzählt werden. Veränderung, erkennbar nur im Vergleich von Davor und Danach, ist hybrid, ein in sich tanzender Geist, der beides kennt, Körper und Kopf, Fremdes und Eigenes, Innen- und Außenwelt. Wendepunkte existieren allein in jener Drehung, in der sie sich selbst auflösen. Das Punktparadox von Frau A., hier kehrt es wieder: Ex post wird der Wendepunkt sichtbar als der letzte Augenblick eines Davor. Er ist der Ort, in dem die alte Stabilität endgültig bricht. Das Wort „Wendepunkt“ suggeriert etwas Flaches, doch erst in dreidimensionalem Denken wird man Wendepunkten gerecht. Bühne und Aufführung geben die Möglichkeit, den Punkt und sein Wenden, seine Konstruktion und seine Besprechung zu zeigen. Mit dieser Doppelung tritt man in den Raum der Kunst, die immer beides ist: Erleben und Beobachtung dieses Erlebens. Als Beobachter wird das Publikum seinerseits zum wendenden Punkt der Aufführung: Blick und Anstoß von außen, zum einen, und zugleich selbst jener Text, Stimme und Musik verflechtende Innenraum, in dem allein sich die Wendung vollziehen kann. Mehr über die Autorin und die Bildkünstlerin auf S. 8
Dangle 1, 2017
Mit dem Konzept des „Wendepunktes“ träumen wir von Veränderbarkeit und Handlungsmacht. Man will ein Ende setzen, ein Geschick wenden, etwas Neues beginnen lassen. Dieser Traum ist so mächtig, dass er Romane, Filme, Dramen, Libretti und Gedichte bestimmt. Wir träumen von Entwicklung. Um sie uns vorstellen zu können, müssen wir die Möglichkeit einer Umkehr einkalkulieren und Zerstörung in Kauf nehmen. Wie menschenhaft dieses Denken ist. In seiner Novelle Die Marquise von O... genügt Kleist ein Gedankenstrich, um den Wendepunkt der Handlung, diesen Einbruch von Geschehen in die feste Einheit „Ich“ zu markieren. Die Marquise, eine junge Witwe, lebt mit ihren beiden Kindern wieder im Haus ihres Vaters, des Stadtkommandanten von M. Als die Stadt von russischen Truppen erobert wird, wird die fliehende Marquise von Soldaten gestellt. Man erwartet eine Vergewaltigung, da tritt in Gestalt eines russischen Grafen ein Retter auf den Plan. Kurz darauf hält der Graf um die Hand der Marquise an. Man will warten; er muss in die Schlacht, man erfährt, er sei gefallen. Und steht doch, Wochen später, leibhaftig wieder im Vorzimmer der neuen Kommandantenwohnung. Inzwischen hat die Marquise Veränderungen an sich bemerkt, ohne sich erklären zu können, wie es auch nur zur Möglichkeit dieser ihr bekannten Körpersensationen gekommen sein mag. Der Arzt wird beschimpft, die Hebamme aber weiß, was sie fühlt – „der muntere Korsar, der zur Nachtzeit gelandet“ werde sich schon finden. Für Momente waren der Graf und die Marquise in der Brandszene allein geblieben. Kleist setzte – einen Gedankenstrich. Dieser Wendepunkt, im ersten Lesen nicht erkannt, im zweiten und dritten beginnt man, den Strich mit Zweifeln zu betrachten. Die Marquise selbst scheint von nichts zu wissen. Lügt sie? Hat sie verdrängt? Welch infame Zeichensetzung und welch genaues Denken und Erkennen. Kleist zeigt uns den Wendepunkt als Augenblick einer Grenzüberschreitung, die sich körperlich vollzieht und das gesamte soziale Gefüge der Textwelt auf den Kopf stellt. Wendepunkte enthalten die Vorstellung von Fehlern. Fehler enden hie und da tödlich, im Vergleich sind Wendepunkte reiner Luxus. Einen Fehler machen, es erneut versuchen: umdrehen, sich wandeln. Sie erlauben uns, plötzliche Veränderungen zu verstehen. Wir sprechen von „Punkten“; haben es aber mit Strecken und Ausdehnungen zu tun. Das Punktuelle selbst, der Tod eines (nahen) Menschen, ein Unfall, in den man verwickelt wird, lassen sich kaum fassen. Der Punkt selbst, die Wandlung – drückt sich erst aus in dem, was folgt. Auch deswegen müssen wir uns uns selbst erzählen, um uns zu verstehen. Dem Rosshändler Michael Kohlhaas – um bei Kleist zu bleiben (aber Sie können auch Hamlet einsetzen, Maria Stuart, Becketts Estragon und Wladimir u. v. a. m.) – wird etwas zugefügt, was andere vor ihm ebenfalls erlitten. Zu Unrecht verlangt man ihm einen Passierschein ab. Die beiden als Pfand zurückgelassenen Pferde des Rosshändlers werden zur Feld-
Wolle die Wandlung. O sei fĂźr die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Text Manfred Engel 20
Die Poetik der Figur: Was uns Rainer Maria Rilke mit seinen Versen aus den Sonetten an Orpheus erzählt.
Die Jahre zwischen 1912 und 1922 standen für Rainer Maria Rilke ganz im Zeichen der Duineser Elegien. Er hatte diesen großen Gedichtzyklus Anfang 1912 hoffnungsvoll in Italien auf dem Schloss Duino bei Triest begonnen, wo er eine Zeit lang als Gast der befreundeten Fürstin Marie von Thurn und Taxis lebte. Entstanden waren dort die ersten beiden Elegien, in wenigen Tagen niedergeschrieben, zusammen mit einer Reihe von Fragmenten für weitere Texte. Dann aber stockte der Schaffensprozess – was mehrere Gründe hatte: zunächst eine persönliche Lebenskrise, dann der Epocheneinschnitt des Ersten Weltkrieges, mit dem der offene alteuropäische Kulturraum, den Rilke immer wieder durchreist und bedichtet hatte, sich nicht nur für ihn persönlich verschloss, sondern überhaupt vom Untergang bedroht schien. Erst im Februar 1922 und im selbstgewählten Schweizer Exil in dem alten Schlossturm Muzot bei Sierre im Wallis gelingt Rilke in nur acht Tagen die Vollendung des Zyklus. Unmittelbar vorher und nachher entstehen die zwei Teile der Sonette an Orpheus, ebenfalls niedergeschrieben in nur wenigen Tagen und fast sofort in endgültiger Form und Reihenfolge. Lange stand dieser zweite Zyklus – auch für den Autor selbst – im Schatten der Duineser Elegien. Heute erkennen wir aber, dass er diese in seiner poetischen Radikalität weit übertrifft und damit die letzte Werkphase des Dichters einleitet, die mit dessen frühem Tod an Leukämie am 29. Dezember 1926 endet. Zwei Anregungen haben die für Rilke selbst so unerwartete Entstehung der Sonette präludiert: Über seinem Schreibtisch in Muzot hatte seine Freundin Baladine Klossowska den Druck einer Federzeichnung des venezianischen Künstlers Giovanni Battista Cima da Conegliano (ca. 1459–1518) aufgehängt, der die im ersten Sonett aufgegriffene wohlbekannte Szene aus dem Orpheus-Mythos zeigt (wie sie etwa Ovid in seinen Metamorphosen überliefert hat): In dieser Urszene von Kultur singt und musiziert Orpheus für Tiere, Bäume und Steine – und kultiviert so die Natur. Aber Orpheus ist nicht nur das abendländische Urbild des Sängers und Dichters, sondern auch der archetypische Überschreiter von Grenzen, vor allem der Grenze zwischen Leben und Tod. Als er (nach dem endgültigen Tod seiner Frau Eurydike bei ihrer missglückten Rückführung aus dem Hades) von Mänaden, trunkenen Anhängerinnen des Gottes Dionysos, zerrissen worden ist, tönt sein Gesang immer noch aus der Natur. Die zweite Anregung für die Entstehung der Sonette an Orpheus war ein brieflicher Bericht der Münchner Freundin Gertrud Ouckama Knoop über Krankheit und Tod ihrer 19-jäh-
rigen Tochter Wera. Das Schicksal des hochbegabten Mädchens, das sich erfolgreich in Tanz, Musik und Malerei versucht und die Leiden von schmerzhafter Krankheit und drohendem Tod tapfer ertragen hatte, erschien Rilke wie ein Beweis der fortdauernden Möglichkeit einer orphischen Lebenshaltung. In einem Brief vom 4. Januar 1922 rühmt er Wera: „dieses einige Einssein ihres, allem erschlossenen Herzens mit dieser Einheit der seienden und währenden Welt, diese Zusage ans Leben, dieses freudige, dieses gerührte, dieses bis ins Letzte fähige Hineingehören [...] ins Ganze, in ein viel mehr als Hiesiges.“ Daher tragen die Sonette an Orpheus den Untertitel Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop. Was aber soll nun modern sein an einer Dichtung, die einen uralten Mythos wiederzubeleben sucht? Hatten nicht schon die Aufklärer Mythen als finsteren Aberglauben entlarvt, als Inthronisierung unhinterfragbarer Autoritäten, als Leugnung geschichtlicher Veränderungen und menschlicher Freiheit? Die Romantiker freilich hatten auch das Positive am Mythos erkannt. Friedrich Schlegel rühmt in seinem Gespräch über die Poesie (1800) an der Mythologie deren „großen Vorzug“: „Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten.“ Und er folgert: „Wir haben keine Mythologie. Aber [...] es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ Ähnlich klagt Rilke am Ende der Zweiten Duineser Elegie: „das eigene Herz übersteigt uns / noch immer wie jene [die Menschen der Antike]. Und wir können ihm nicht mehr / nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in / göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt.“ Dabei geht es weder Schlegel noch Rilke um eine Wiederherstellung der alten Mythen, die dem modernen Denken für immer fremd bleiben müssen, sondern um die Schaffung einer „Neuen Mythologie“. Für Rilke steht diese ganz im Zeichen einer Poetik der „Figur“. Gemeint ist damit natürlich zunächst einmal der alte rhetorische Begriff der Figur als poetischer Tropus, also als uneigentliches Sprechen etwa in Vergleichen, Metaphern oder Symbolen. Somit ist die Figur, zweitens, auch Sinnfigur, die Verwandlung eines bestimmten Objektes oder Geschehens in ein Zeichen, das einen umfassenden Sinnzusammenhang in anschaulicher Form kondensiert. Die dritte Bedeutung des Begriffes aber ist die für Rilke wichtigste und charakteristischste: die Figur als Bewegungsablauf – und damit als Veränderung in der Zeit. Diese Figurenpoetik hatte Rilke bereits in seinen in zwei Teilen 1907 und 1908 erschienenen Neuen Gedichten entwickelt, angeregt von zeitgenössischen Werken der bildenden Kunst – den Plastiken Auguste Rodins
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und den Bildern Paul Cézannes –, die am Anfang des Übergangs von einer abbildenden zu einer abstrakten Kunst stehen. In den Neuen Gedichten werden diese Figuren aus genau beobachteten Dingen, Tieren, Personen oder Ereignissen abstrahiert, die Rilke quasi mit einem geometrischen Blick betrachtet. Statische „Ding-Gedichte“ (wie man in Arbeiten über die Neuen Gedichte oft lesen kann) entstehen so freilich nicht, sondern eben Figuren-Gedichte, in denen es um dynamische Abläufe geht. Die Figur ist ein zeitlicher Veränderungsprozess, in deren Zentrum ein „wendender Punkt“ steht, ein Umschlag der Bewegungsrichtung, der zugleich einer des emotionalen Wertes ist. Häufig sind etwa Gestaltungen einer Kreisfigur, bei der eine aufsteigende, traditionell positiv konnotierte Bewegung in eine fallende umschlägt, die dann aber entweder neues Geschehen in Gang setzt oder zu erneutem Aufstieg führt. So mündet etwa die Flugbahn des zuerst steigenden und dann fallenden Balls in die Neuanordnung der Spieler, „sie ordnend wie zu einer Tanzfigur“ (Der Ball, siehe rechts); die Brunnenfontäne führt ihr fallendes Wasser in ein Becken, das ihm „Himmel hinter Grün und Dunkel zeigt“ (Römischer Brunnen). Damit kehrt die Kreisfigur die gängige abendländische Wertpolarität zwischen Steigen (Transzendieren) und Fallen (hinein ins Irdische und letztlich Todverfallene) um und verbindet beide Bewegungsrichtungen zu einer Einheit aus komplementären Größen. Eine andere häufige Figur ist die der Begegnung, eines momentanen Kontaktes zwischen Ich und Außenwelt oder zwischen zwei Personen, der auch als vergänglicher Augenblick intensives Glück vermitteln kann. Geradezu gefeiert wird ein solch lang erwarteter, dann anscheinend zeitenthobener, aber doch sofort wieder vergehender Augenblick im impressionistischen Gedicht Begegnung in der Kastanien-Allee (siehe rechts). Die Figurenpoetik der Sonette an Orpheus ist deutlich abstrakter als die der Neuen Gedichte. Hier gehen die Texte nicht mehr von einem genau beobachteten Ding oder Ereignis aus, sondern von allgemeinen Grunderfahrungen des menschlichen Lebens, wie etwa dem Atem (Atmen, du unsichtbares Gedicht!, II.1, siehe ganz rechts), dem Tanz (Tänzerin: o du Verlegung / alles Vergehens in Gang, II.18), dem Frühling (Frühling ist wiedergekommen, I.21) oder dem Genuss von Früchten (Voller Apfel, Birne und Banane, / Stachelbeere, I.12). Und auch die sprachliche Gestaltung ist viel abstrakter, weit entfernt von der nachvollziehbaren Mimesis eines anschaulichen Geschehens: Bildfelder aus ganz unterschiedlichen Bereichen überlagern einander, Konkretes changiert mit Abstraktem. Aber der Sinn dieser Figurenpoetik, nunmehr begriffen als orphische Verwandlung des menschlichen Seins, ist der gleiche geblieben. In einem Brief an die Gräfin Sizzo vom 12. April 1923 schreibt Rilke, er sei „nur noch von dem Bestreben geführt [...], überall unsere alten Verdrängungen zu korrigieren, die uns die Geheimnisse entrückt und nach und nach entfremdet haben, aus denen wir unendlich aus dem Vollen leben könnten. [...]
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DER BALL
Du Runder, der das Warme aus zwei Händen im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie sein Eigenes; was in den Gegenständen nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie, zu wenig Ding und doch noch Ding genug, um nicht aus allem draußen Aufgereihten unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten: das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug noch Unentschlossener: der, wenn er steigt, als hätte er ihn mit hinaufgehoben, den Wurf entführt und freiläßt –, und sich neigt und einhält und den Spielenden von oben auf einmal eine neue Stelle zeigt, sie ordnend wie zu einer Tanzfigur, um dann, erwartet und erwünscht von allen, rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur, dem Becher hoher Hände zuzufallen.
BEGEGNUNG IN DER KASTANIEN-ALLEE
Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit kühl wie ein Seidenmantel urngegeben den er noch nahm und ordnete: als eben am andern transparenten Ende, weit, aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben, weiß eine einzelne Gestalt aufleuchtete, um lange fern zu bleiben und schließlich, von dem Lichterniedertreiben bei jedem Schritte überwallt, ein helles Wechseln auf sich herzutragen, das scheu im Blond nach hinten lief. Aber auf einmal war der Schatten tief, und nahe Augen lagen aufgeschlagen in einem neuen deutlichen Gesicht, das wie in einem Bildnis verweilte in dem Moment, da man sich wieder teilte: erst war es immer, und dann war es nicht.
SONETTE AN ORPHEUS, II.1
Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne. Einzige Welle, deren allmähliches Meer ich bin; sparsamstes du von allen möglichen Meeren, – Raumgewinn. Wieviele von diesen Stellen der Raume waren schon innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? Du, einmal glatte Rinde, Rundung und Blatt meiner Worte.
SONETTE AN ORPHEUS, I.11
Steh den Himmel. Heißt kein Sternbild ›Reiter‹? Denn dies ist uns seltsam eingeprägt: dieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter, der ihn treibt und hält und den er tragt. Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt, diese sehnige Natur des Seins? Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt. Neue Weite. Und die zwei sind eins. Aber sind sie's? Oder meinen beide nicht den Weg, den sie zusammen tun? Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide. Auch die sternische Verbindung trügt. Doch uns freue eine Weile nun der Figur zu glauben. Das genügt.
Das Leben selbst – und wir kennen nichts außer ihm – ist es nicht furchtbar? Aber sowie wir seine Furchtbarkeit zugeben (nicht als Widersacher, denn wie vermöchten wir ihr gewachsen zu sein?), sondern irgendwie in einem Vertrauen, daß eben diese Furchtbarkeit ein ganz Unsriges sei, nur ein, vor der Hand, für unsere lernenden Herzen noch zu Großes, zu Weites, zu Unumfaßliches ..., sowie wir, meine ich, seine schrecklichste Furchtbarkeit bejahen, auf die Gefahr hin, an ihr (d.h. an unserem Zuviel!) zu Grunde zu gehen –, erschließt sich uns eine Ahnung des Seligsten, das um diesen Preis unser ist.“ „Verdrängt“ ist im Weltbild der Moderne alles, was sich nicht verstehen und kontrollieren lässt: die übergroßen, unbeherrschbaren Gefühle und Triebe, die Erfahrungen von Krankheit, Leid und Tod, vor allem aber das stete Vergehen der Zeit, das jeden bleibenden Besitz aufhebt. In den Duineser Elegien findet sich etwa die folgende Klage über die Auswirkung der unaufhebbaren Macht der Zeit auf die Lebenshaltung des modernen Menschen: Wer hat uns also umgedreht, daß wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –, so leben wir und nehmen immer Abschied. (Achte Elegie) Darauf antworten die Sonette an Orpheus mit den Imperativen „Sei allem Abschied voran“ (II.13) und „Geh in der Verwandlung aus und ein“ (II.29). Sie fordern dazu auf, Vergehen und Bestehen als komplementäre Größen zu begreifen: Und wenn dich das Irdische vergaß, zu der stillen Erde sag: Ich rinne. Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin. (II.29) Vergänglich sind in den Sonetten sogar die Sinnfiguren, die Rilke der menschlichen Existenz abzugewinnen sucht – auch sie gelten nur für den Augenblick. In den Sonetten an Orpheus wird so etwa die Sinnfigur des (von Rilke erfundenen) Sternbildes Reiter, in dem sich Mensch und Pferd – und damit, nach alter Bildtradition, Mensch und Natur oder auch Geist und Körper, Bewusstes und Unbewusstes – zu einer harmonischen Verbindung vereinen, vom Dichter selbst gleich wieder dekonstruiert, ohne dass dadurch die Trostwirkung des Bildes als neu geschaffenes Mythologem aufgehoben wäre: Auch die sternische Verbindung trügt. Doch uns freue eine Weile nun der Figur zu glauben. Das genügt. (I.11; siehe links) Der Sinn der orphischen Verwandlung der Welt, die die Sonette vorführen, ist es, im Sprachraum der Gedichte eine andere Lebenshaltung als möglich vorzuführen und sie quasi einzuüben, mindestens für sie zu werben – eine Lebenshaltung, die Zeitlichkeit, Veränderung und Abschied als notwendige Bestandteile unseres Lebens anerkennt und bejaht. Dies geschieht in Texten, die Orpheus und Wera gewidmet sind, in der figurativen Gestaltung menschlicher Grunderfahrungen, aber auch in Gedichten, die den angestrebten
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Veränderungsprozess direkt thematisieren – wie etwa Wolle die Wandlung (siehe rechts). In seiner schon fast didaktischen Direktheit ist es – anders als manch andere der Sonette – ein leicht zugängliches Gedicht. Im letzten Satz wird auf die Geschichte Daphnes angespielt, wie sie etwa Ovid in seinen Metamorphosen überliefert hat: Vom in Liebe entflammten Gott Apollo bedrängt, flieht die Nymphe Daphne vor ihm; als der Verfolger immer näher kommt, bittet sie ihren Vater, den Flussgott Penëus, sie zu verwandeln – und wird zu einem Lorbeerbaum. Ansonsten bietet das Gedicht kaum Verstehensprobleme. Man mag sich fragen, wer angeredet ist – und wird antworten müssen: sowohl der Leser als auch das lyrische Ich selbst, denn die Appelle der Sonette sind immer auch Selbstappelle. Umgekehrt meint der „entwerfende Geist“ in Vers 3 nicht nur den Dichter, sondern auch den Leser, denn das Entwerfen von Sinnfiguren ist ja Teil von unser aller Alltagsleben. Aufgebaut ist das Sonett in durchaus traditionell rhetorischer Form: Es reiht Imperative, Aufforderungen, Warnungen und Allgemeinsätze – und belegt sie durch Beispiele, die seine allgemeinen Aussagen unterstützen sollen. Und doch verdankt es den Erfolg seiner Überredungskunst gewiss nicht der Logik seiner Argumente. Das Gedicht gewinnt seine Evidenz vor allem aus der sprachlichen Magie seiner dichten klanglichen Fügungen. Und es wirkt auf uns durch seine Bild- und Begriffskombinationen, in denen sich konventionelle Wertoppositionen auflösen, bis sie dann ins komplementäre Bild des Gedichtschlusses münden, in die ersehnte Begegnung von statischem Baum und dynamischem Wind. Das Verbrennen in einer Flamme etwa denken wir traditionell als einfache Vernichtung; die „prunkenden“ „Verwandlungen“ in Vers 2 erinnern uns aber an die Faszination, mit der wir alle schon auf das Verwandlungsspiel zuckender Flammen geblickt haben. Ähnlich werden „Kind oder Enkel“ – die Generationenkette als Inbegriff menschlicher Kontinuität – und „Trennung“ (Vers 12) als radikale Durchbrechung von Kontinuität in einer bildlichen Fügung enggeführt. Und ebenso paradox ist die Verbindung der für uns nur als vereindeutigende Fixierung durch ein Subjekt denkbaren „Erkennung“ mit der sich verströmenden Ichauflösung der Quelle (Vers 9), in der das Erkennen sich vom rationalen Akt löst und mit der alten biblischen Bedeutung von Erkennen als körperlicher Vereinigung zusammenfällt. In der Rhetorik bezeichnet man solche Verbindungen logisch inkompatibler Größen als Oxymora – und es sind eben diese paradoxen, in unserer Mentalität tief verankerte Oppositionen auflösenden Bildkomplexe, mit denen das Sonett uns nicht nur zur Wandlung auffordert, sondern diese auch in seinem Sprachraum selbst poetisch vollzieht. Der Germanist Manfred Engel lehrte als Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Als Mitherausgeber veröffentlichte er u. a. Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe (1996), die Zeitschrift KulturPoetik, das Rilke-Handbuch (2004) und Theorizing the Dream (2018).
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SONETTE AN ORPHEUS, II.12
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt. Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's? Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe –: abwesender Hammer holt aus! Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne, das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt. Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind.
© Anish Kapoor. DACS/VG Bild-Kunst, Bonn 2020
„ICH MAG MUSIK, DIE HELL IST“ Zwischen neuer Ordnung und alten Mächten: Ingo Metzmacher dirigiert Walter Braunfels’ Oper Die Vögel. Ein Gespräch über musikalische Grenzgänge – im 20. Jahrhundert und im umgebauten Orchestergraben.
Interview Max Nyffeler Fotos Sigrid Reinichs Premiere Die Vögel 26
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MAX JOSEPH Wolle die Wandlung heißt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, aus dem auch das Spielzeitthema der Bayerischen Staatsoper, Der wendende Punkt, abgeleitet wurde. Passt ein weltanschaulich eher konservativer Walter Braunfels mit seiner Oper Die Vögel da überhaupt hinein? INGO METZMACHER Naja, die beiden Figuren Ratefreund und Hoffegut wollen ja die Wandlung. Zumindest der eine, Ratefreund, der die Vögel überredet, etwas Neues zu machen. MJ
Was dann schiefläuft. IM Braunfels hat wohl auf die damalige politische Situation angespielt und im zweiten Akt Aristophanes verändert. Wenn diese „Himmelsburg“, was man sich auch immer darunter vorzustellen hat … MJ
… das Wolkenkuckucksheim des Aristophanes …
IM … wenn die zerstört wird, ist das musikalisch schon sehr
eindrucksvoll. Man ahnt natürlich, dass die Utopie, die da im ersten Akt aufgebaut wird, nicht lange halten wird. Aber die Gewalt der Zerstörung, die wie ein Gewitter hereinbricht, schockiert dann doch. Die gesamte Ordnung bricht in sich zusammen, die Stadt wird zerstört. Und die Protagonisten tun so, als wäre nichts passiert. Alle fliegen weg. Das ist bemerkenswert. MJ Die
Oper entsteht in einer chaotischen Zeit. Braunfels beginnt mit der Arbeit 1913, im Jahr des Wiener „Watschenkonzerts“ und des Skandals von Igor Strawinskys Sacre du printemps in Paris. Dann kommt die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, er steht an der Front und wird verwundet. 1919 beendet er das Werk. IM Und im April 1919 gibt es die Münchner Räterepublik, die nach vier Wochen brutal niedergeschlagen wird. Die Parallele zur Vogelrepublik ist erstaunlich. Braunfels rekurriert meiner Ansicht nach zwar nicht direkt auf München, aber ganz sicher auf die allgemeine politische Instabilität, auf das, was um ihn herum passiert: Man erhofft sich eine neue Gesellschaft, eine neue Ordnung, und dann kommen die alten Kräfte, in unserem Fall die Götter, die einfach alles brutal zerstören. MJ Seine
revolutionäre Begeisterung hielt sich aber wohl in engen Grenzen. 1917 konvertierte er zum Katholizismus, nach der Uraufführung der Vögel 1920 komponierte er ein Te Deum und später ausnehmend viel geistliche Musik. Vor diesem Hintergrund könnte man das Stück auch als Konflikt zwischen religiösem und säkularem Denken und den Triumph der Götterwelt als Restaurierung einer religiös fundierten Ordnung in einer gottlos gewordenen Welt deuten. Der zeitgeschicht liche Hintergrund ist dennoch nicht wegzudenken. IM Auch nicht in musikalischer Hinsicht. Braunfels gehört
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zu den Komponisten, die bis an die Grenze gegangen sind, aber nie darüber hinaus. Der einzige, der dann auch die Tonalität endgültig verlassen hat, war Arnold Schönberg. MJ So weit wie Richard Strauss in der Elektra ist Braunfels
aber nicht gegangen. stimmt. Ähnlich wie Franz Schreker. Strauss, Braunfels und Schreker waren die drei, die damals am meisten gespielt wurden. Sie haben sich der roten Linie genähert, ohne sie zu überschreiten. Für mich ist das immer noch der spannendste Moment in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts: Die völlige Offenheit der Entwicklung, verbunden mit dem Bewusstsein, dass der Grund, auf dem man steht, nicht mehr sicher ist.
IM Das
MJ Was
war Ihr erster Eindruck von der Partitur? IM Ich hatte das Stück vor 16 Jahren in Genf schon einmal gehört und fühlte mich davon sehr angesprochen. Deshalb war ich innerlich auf die neue Aufgabe vorbereitet. Besonders interessant finde ich den Anfang des zweiten Aktes mit der Nachtigall. Die langsame Entwicklung, der üppige, weiche Klang der geteilten Streicher, der zauberhafte Gesang und cis-Moll, eine tolle Tonart. Das hat mich als Bild am meisten angesprochen. Faszinierend finde ich auch den Beginn mit den Geigen und ihrem eröffnenden Oktavsprung. Es ist ungewöhnlich, dass ein Stück so anfängt. Wegen der Corona-Pandemie werden wir leider nur eine kleine Streicherbesetzung haben. MJ Vom
Vogelgesang fühlte sich Braunfels offenbar inspiriert. IM Olivier Messiaen, der Ornithologe unter den Komponisten im 20. Jahrhundert, sagte einmal sinngemäß: Den Gesang, auf den sich die Menschen so viel einbilden, haben die Vögel schon vor Millionen Jahren erfunden. Vögel sind ein dankbares Thema für einen Komponisten, sie singen ja den ganzen Tag. Ich denke, das hat Braunfels herausgefordert, auch wenn er ganz anders als Messiaen mit den Vogelstimmen umgeht. Und Braunfels machte den Vogel, der am allerschönsten singt, die Nachtigall, gleich zu einer Hauptrolle. Vor ein paar Jahren habe ich in Berlin, mitten in der Stadt nachts um zwei Uhr, eine Nachtigall gehört. Das ist eines der größten Erlebnisse, das man als Musiker haben kann: dieser unglaublich schöne Gesang in der Stille der Nacht. Man kann ihn gar nicht beschreiben, so sehnsuchtsvoll ist er. Mit der Nachtigall kommt eine ganz andere Ebene in das Stück hinein. MJ Die romantische Ferne. Und die Nachtigall singt ja auch
explizit von der Sehnsucht. IM Aber nicht von der irdischen Liebe. Sie singt von etwas anderem, und das versteht der Träumer Hoffegut nicht.
MJ Sie
verkörpert eine poetische Gegenwelt zum Denken der beiden Menschen. IM Das ist der Unterschied zu Aristophanes. Dieser schuf ein satirisches Theaterstück mit realistischen Bezügen zum politischen Geschehen in Athen. Braunfels hebt die Geschichte in eine idealistische Sphäre. Da öffnet sich der musikalische Raum. Das geschieht an ganz entscheidenden Stellen mit der Figur der Nachtigall. Die Oper beginnt mit ihrem Auftritt im Vorspiel, der zweite Akt beginnt ebenfalls mit ihr, und am Schluss hat sie das letzte Wort. Das hat sich Braunfels sehr gut überlegt. MJ Die
Tessitura der Nachtigall ist ungewöhnlich.
IM Die Partie hat einen gewaltigen Umfang, über zwei Okta-
ven, und bewegt sich in zwei Ausdrucksbereichen. Einerseits gibt es das Lyrische, sehnsuchtsvoll Romantische, andererseits die Koloraturen. Eine schwere Partie.
freude im zweiten Akt. Wie geht Braunfels hier und im ersten Akt mit dieser ganzen Vogelschar um? IM Die Vögel sind zu großen Chorszenen zusammengefasst, und einige treten solistisch hervor. Neben der Nachtigall sind das in kleineren Rollen vor allem der Wiedhopf als ihr Anführer, der Zaunschlüpfer als Türsteher und der Adler. MJ Der
Wiedhopf ist eine merkwürdig ambivalente Figur. war einmal ein Mensch und steht jetzt zwischen Vogel- und Menschenwelt. Er ist ein kleiner Opportunist. Das zeigt sich auch musikalisch: Während die Vögel als Naturwesen häufig in klaren Durtonarten singen, wird sein Auftritt im ersten Akt mit einer diffusen, mehrdeutigen Harmonik versehen. Später, wenn er singt, fällt diese musikalische Ambivalenz dann weniger auf.
IM Er
MJ Unter MJ Die IM
zweite wichtige Rolle ist die des Prometheus. Das ist eine herausragende Figur. Ich habe Herrn Bachler gleich gefragt: Wer singt den Prometheus? Der war mir fast wichtiger als die Nachtigall. Für mich ist es ein Lieblingsmoment, wenn er auftritt. Er wird durch
den Vögeln ist er der erste, der sich auf die Seite der menschlichen Eindringlinge schlägt. IM Der einzige Unerschütterliche ist der Adler. Er gilt als König der Vögel, und man wundert sich, dass nicht er der Chef ist. Er warnt die Vögel vor den Menschen und macht das mit majestätischen breiten Notenwerten
„Vor ein paar Jahren habe ich in Berlin eine Nachtigall gehört. Das ist eines der größten Erlebnisse, das man als Musiker haben kann.“ übermäßige Akkorde charakterisiert, die das Dur-MollSystem sprengen. Und er sprengt bei seinem Erscheinen ja auch die feiernde Gesellschaft. Zuerst soll er nur ganz leise singen, aber die Stimme muss von Anfang etwas Geheimnisvolles ausdrücken. Auch etwas Ungemütliches. Man merkt sofort: Da stimmt etwas nicht. MJ Eine numinose Erscheinung. Ich habe eine hartnäckige
Assoziation mit dem Auftritt des Komturs am Schluss des Don Giovanni. Beide kommen von außen und stören das sinnenfrohe Vergnügen der anderen, die sich zuerst gar nicht mit ihnen befassen wollen. Auch das Anfangsmotiv mit dem Quart-Oktavsprung ist dasselbe. IM Sein Auftritt ist zweifellos der große Einschnitt im Stück. Das Übernatürliche bricht in die Wirklichkeit ein. Braunfels hat das dramaturgisch genau geplant: Wann kommt er? Wie gestalte ich die Szene davor, um eine möglichst starke Wirkung zu erzielen? Es braucht ein Vakuum davor, wie in einer Bach-Fuge, wo dem Einsatz des Basses ein lockeres Zwischenspiel vorangeht. Hier gibt es davor diese witzige Taubenhochzeit. MJ Die
Taubenhochzeit, im Grunde eine traditionelle Balletteinlage samt Polonaise, ist der Höhepunkt der Fest-
und einem weit gespannten Melodiebogen. Diese aufwärtsstrebende Linie ist beeindruckend in ihrer Gestalt. Ein Aufstieg zum Licht, der durch die immer hellere Instrumentierung verdeutlicht wird. MJ In
der Mythologie wird der Adler Zeus zugeordnet. Im zweiten Akt erscheint er wieder im Zusammenhang mit dem Sturm, in dem die Stimme des Zeus ertönt. IM Das ist aufführungspraktisch eine problematische Stelle. Laut Partitur soll hier ein Teil des Chors im Orchestergraben und mit dem Rücken zum Publikum singen; das geht bei uns schon deswegen nicht, weil der Orchestergraben coronabedingt hochgefahren wird. Hier muss man sich überlegen, was mit der heutigen Technik machbar ist, damit ein veritabler Sturm entsteht. Die Gewalt, mit der Zeus dazwischenfährt, muss akustisch erfahrbar sein. Mit einer Windmaschine kommt man da nicht weit. MJ Da
wird dann wohl die Soundanlage der Staatsoper mit ihren immersiven Möglichkeiten in Gang gesetzt. Und die Chöre, wie sind sie gestaltet? IM Sie sind schnell, laut, dramatisch und sehr wirkungsvoll komponiert. Der vielstimmige Chorsatz ist nicht
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polyphon, sondern mehr blockhaft angelegt. Mit den ineinandergreifenden Achtelketten der Vogellaute ist er rhythmisch etwas heikel. MJ Braunfels
stellt den Vögeln kein gutes Zeugnis aus. In den zwei großen Chorszenen der beiden Akten erscheinen sie als schwankende, leicht beeinflussbare Masse. Im ersten Akt, wenn Ratefreund den Vögeln einredet, sie würden von den Menschen unterdrückt, versinken sie in Selbstmitleid und singen „O wie trifft mich dein Wort so schwer“. Dazu erklingen chromatisch absteigende Bässe, eine rhetorische Figur des Barock. Die Art des Zitierens erinnert an die Praxis des damals aufkommenden Neoklassizismus. IM Er scheint sich über die kleinmütigen Vögel lustig zu machen. er das kleinmütige Gejammere der Vögel mit einer barocken Schmerzensfigur kommentiert, wirkt das ironisch. IM Ob das Ironie ist, weiß ich nicht. Aber vielleicht merkt hier Braunfels, dass er nicht mehr so ungebrochen weiterkomponieren kann.
dene Abschnitte aufeinander folgen, als auch für die Großform. IM Für die formale Gliederung spielt die Harmonik zweifellos eine zentrale Rolle. Dass der 2. Akt in cis-Moll beginnt, ist kein Zufall, wo das ganze Stück in D anfängt und aufhört. Wenn er in diesem Kernstück der Oper eine so ungewöhnliche Tonart benutzt, entsteht sofort ein ganz anderer Ton, eine spezifische Atmosphäre. MJ Ein
Naturton, von dem sich Hoffegut angezogen fühlt. lyrischer Tenor hat er im Duett mit der Nachtigall sehr schöne Sachen zu singen.
IM Als
MJ Ratefreund
ist dagegen ein ziemlich fieser Kerl. Ein Demagoge, der die Vögel zu ihrem größenwahnsinnigen Projekt anstiftet. IM Er ist aber nur der Berater und nicht verantwortlich.
MJ Wenn
MJ Das
unvermittelte Zitieren eines barocken Versatzstücks verweist wohl auch auf die damals herrschende Unsicherheit: Man weiß noch nicht, wohin die Reise geht, alles ist möglich und wird ausprobiert. Braunfels scheint hier einen Moment lang selbst an seinem spätromantischen Ton zu zweifeln. IM Obwohl er ihn auch bedient und die Nachtigall mit ihren Auftritten das ganze Stück einrahmt. Und was man nicht übersehen sollte: Die Vögel stehen auch für eine Natursphäre, die über der Sphäre der Menschen schwebt. Der Weg, den Ratefreund und Hoffegut zu ihnen zurücklegen, geht nach oben. Sie müssen die Erdenschwere überwinden und zu ihnen hinaufsteigen. Die große alte Sehnsucht der Menschen zu fliegen, die sich vor hundert Jahren erfüllt hat, ist die Sehnsucht nach einer Leichtigkeit. Auch das gehört zur Vogelwelt. Der Einbruch der Götter am Schluss holt das alles wieder herunter. So entsteht ein Hell-Dunkel. In der Musik gibt es sowohl das Katastrophische als auch die lichte Helligkeit. Ich persönlich mag Musik, die hell ist. MJ Die
Vögel werden oft in reiner, nur wenig eingetrübter Tonalität dargestellt, in D-Dur, F-Dur, H-Dur. Die Menschenwelt ist dagegen harmonisch komplizierter. IM Vielleicht drückt sich in diesen tonalen Passagen auch die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit aus. MJ Klarheit
scheint mir ein wichtiges Stichwort zu sein für dieses Stück. Das gilt sowohl für die Detailstruktur, wo harmonisch deutlich voneinander unterschie-
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MJ Genau.
Wie es bei revolutionären Schwätzern eben so üblich ist. IM Als Berater ist er fein raus. Er wirkt aber nicht wie ein Revolutionär, er sagt bloß: Warum macht ihr eure Position nicht zu Geld? Wenn ihr hier eine Grenze einzieht, kann der Opferrauch nicht mehr nach oben ziehen, und die Götter müssen zahlen. Sozusagen eine Zollstation. MJ Das
ist die neue Sachlichkeit: Die Romantik ist passé, jetzt wird Neues gebaut und sogar das Jenseits profitabel verwertet. IM Aber die Rechnung wird ohne die Götter gemacht. Max Nyffeler war Musikredakteur beim Bayerischen Rundfunk und beim Schweizer Radio DRS, Leiter der Informationsabteilung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und Künstlerischer Leiter des Musikverlags Ricordi. Heute publiziert er als freier Journalist für Rundfunk und Presse.
INGO METZMACHER – Ingo Metzmacher begann seine Karriere in Frankfurt beim Ensemble Modern und an der dortigen Oper sowie am Théâtre Royal de La Monnaie in Brüssel mit einer Neuproduktion von Franz Schrekers Der ferne Klang. Von 1997 bis 2005 war er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, danach Chefdirigent an De Nederlandse Opera in Amsterdam und beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, wo er auch als künstlerischer Leiter fungierte; seit 2016 ist er Intendant der KunstFestSpiele Herrenhausen. In den vergangenen Jahren dirigierte er bei den Salzburger Festspielen sowie u. a. am Royal Opera House in Covent Garden, London, am Teatro alla Scala in Mailand und an der Wiener sowie der Berliner Staatsoper. Den Ring des Nibelungen brachte er am Grand Théâtre in Genf zur Aufführung. DIE VÖGEL
Ein lyrisch-phantastisches Spiel in zwei Aufzügen (1920) Premiere am Samstag, 31. Oktober 2020, Nationaltheater Live-Stream der Vorstellung am Sonntag, 8. November 2020 1 www.staatsoper.tv Weitere Termine im Spielplan ab S. 64
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DAS GRAUEN IST ANWESEND Meister des Unheimlichen: Die Bühnenwelten von Aleksandar Denić konfrontieren uns mit dem Abge spaltenen und Verdrängten.
Text Jakob Hayner Premiere Die Vögel 32
Aleksandar Denić, 3D-Rendering des Bühnenbilds für Die Vögel von Walter Braunfels
Es gibt ein Video auf YouTube, in dem der Aufbau eines Bühnenbildes von Aleksandar Denić für die Inszenierung von Faust zu sehen ist, im Zeitraffer. Auf einer Drehbühne ensteht ein ungeheures Gebilde. Bretterbuden türmen sich auf, ein Fahrzeug wird in die Mitte geschoben, Leinwände werden arrangiert, Plakate aufgehängt, zuletzt Lampen installiert. Ein anderes Video zeigt eine weitere Denić-Konstruktion für die Inszenierung Reise ans Ende der Nacht: ein Schloss mit zinnenbewehrten Türmen, opulentem Balkon und einem Portal zwischen Höllenschlund und Geisterbahn. Darüber prangt der Schriftzug „L‘enfer“ – die Hölle. Die Bühnen von Denić sind keine dekorativen Illustrationen, sie sind gebaute Welten. Das betrachtende Auge kann sie nahezu unendlich erkunden und sich in Details verlieren. Doch wie nun der Blick schweift und sich an der Fülle geradezu berauscht, stellt sich etwas Unheimliches ein, das sich alsbald zu einem Schock ausweitet. Nichts fügt sich harmonisch ineinander. Es treffen Dinge aufeinander, die nicht zu passen scheinen oder gar einander widerstreben. Weltregionen und Epochen, Wirklichkeit und Fiktion gehen durcheinander, verbunden in einer düsteren Atmosphäre. Kaum verwunderlich, dass die Bühnen des 1963 in Belgrad geborenen Denić oft als albtraumhaft beschrieben werden. Ein Zerlegen und Wiederzusammenfügen von Elementen, in dem sich – so ließe sich spekulieren – die Berufe der Eltern des Bühnenbildners auffinden lassen. Die Mutter von Denić arbeitete als Pathologin, der Vater als Architekt: sezieren und konstruieren. Gelernt, wie man künstliche Welten erschafft, hat Denić unter anderem beim Film. Das jugoslawische Kino war berühmt, nach dem Willen des einstigen Staatschefs Tito sollte eine Art Hollywood auf dem Balkan entstehen, eine sozialistische Traumfabrik, die es mit der kapitalistischen
aufnehmen sollte. Doch die Zeiten waren längst vergangen, als Denić nach seinem Studium in Belgrad bei Emir Kusturicas Underground, einer Komödie über das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, als Szenenbildner arbeitete. Für Denić folgten weitere Engagements beim Film und im Theater. Als er eines Tages in Belgrad den Theaterregisseur und damaligen Intendanten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Frank Castorf, kennenlernte, entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit. Sie begann 2012 mit Die Kameliendame am L‘Odéon in Paris und findet in Die Vögel an der Bayerischen Staatsoper ihren jüngsten Ausdruck. „Ich lese das Skript, den Roman oder das Libretto, ich höre die Musik und überlege: In welche Welt kann ich das einbetten?“, sagt Denić. „Besonders wenn ich mit Frank Castorf arbeite, habe ich diese Freiheit: Ich schaffe eine Welt, werfe ihn hinein, und er muss kämpfen, um zu überleben.“ Auch das erinnert an die Logik eines Albtraums. Doch was ist dieses Albtraumhafte? Auf der Bühne von Reise ans Ende der Nacht (Residenztheater München, 2013) stand ein Torbogen. Seine Form, der leichte Schwung paralleler Metallstreben mit Lettern dazwischen, dürfte weder zu verwechseln noch zu vergessen sein: Er markierte den Eintritt in das Vernichtungslager Auschwitz. Doch bei Denić war statt „Arbeit macht frei“ die Losung der französischen Revolution „Liberté – Egalité – Fraternité“ zu lesen. Ein Bild, das Unbehagen bereitete. Was sollte der absolute Schrecken mit dem Ruf nach Freiheit zu tun haben? Waren die Nazis nicht die Negation aller Ideale der bürgerlichen Revolution? Die Verbindung erschien abwegig, verkehrt, verdreht, also pervers im Wortsinne. Doch das Perverse ist nicht das Gegenteil des Normalen, es ist eine abgespaltene Erscheinungsweise desselben. Beides gehört zusammen. Was also wäre, wenn die Aufklärung zugleich das Gegenteil ihrer Ideale hervorbringt?
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Wenn der technische Fortschritt zu den Gaskammern und Verbrennungsöfen geführt hätte, nicht aber zu einem Verein freier Menschen? Im Albtraum kehren die verdrängten und abgewehrten Fantasien nicht in den Gewändern der Wunscherfüllung wieder, sondern es zeigt sich das Unbewusste in all seiner Kraft und Schrecklichkeit, ohne mildernde Entstellung. Daher die Angst, die den Schlaf unterbricht. Sie begleitet den Vorschein des Realen. Die Augen aber nicht abzuwenden oder zu schließen, sondern den Blick auszuhalten, dürfte ein Privileg der Kunst sein. Die Gefahr und die Gewalt erscheinen für einen Moment gebannt – wie im Spiegel, der den Blick der Medusa abfängt. Das Interesse für die Exzesse der Normalität verbindet Denić mit Castorf. In Baal (Residenztheater München, 2015) verlegten sie Brechts anarchischen Antibürger in den Vietnamkrieg, auf der Bühne ein Bell UH-1 – der ikonische Hubschrauber dieses Krieges, verewigt als todbringendes Geschwader zu den Klängen von Richard Wagners Walkürenritt in Francis Ford Coppolas Apocalypse Now von 1979. Die freie Welt zeigt ihr wahres Gesicht an ihren Rändern, wie es schon in der literarischen Vorlage Herz der Finsternis (1902) von Joseph Conrad im Dschungel des Kongo der Fall war. Eine Reise flussaufwärts, zu den Quellen, dem Ursprung, an dem sich Zivilisation und Barbarei als eng umschlungen zeigen. Das Grauen, es ist auf den Bühnen von Denić immer anwesend, als Unbehagen in einer Kultur, welche die eigene belastete Vergangenheit fortwährend mitschleppt. Der Kolonialismus wird in den Bühnen von Denić immer wieder verhandelt – prominent auch in Castorfs Faust-Inszenierung (Volksbühne Berlin, 2017), in der die Geschichte der freien Entfaltung des Universalgelehrten mit der Unterwerfung des Weiblichen und des Fremden einherging. Hier trafen vor dem Hintergrund des algerischen Befreiungskrieges das monströse „L‘Enfer“-Portal auf die Pariser Metrostation Stalingrad. Und ähnlich wie Castorf mit literarischen Versatzstücken von Heiner Müller über Frantz Fanon und Carl Schmitt bis Paul Celan arbeitete, verband Denić Bilder aus Alltags- und Popkultur mit historischen Referenzen. „Mich interessieren unmögliche Strukturen in einem Gewand des Realismus“, sagte er einmal. Eine andere Logik, die sich im Realitätsgerechten maskieren muss – wie im Traum. So entstehen spannungsgeladene dialektische Bilder, die Einheit des Gegensätzlichen. Die Logik der Sache gerinnt zum Bildhaften, nahezu Allegorischen. Denn nichts an den Neuarrangements ist zufällig oder beliebig, nichts würde lediglich eine Vorliebe fürs Absurde oder, schlimmer noch, Ironische bezeugen. Was in den Bühnen von Denić erscheint, ist eine andere Logik der Geschichte, die von ihren Exzessen und Katastrophen ausgeht – die Welt von ihrer unheimlichen Nachtseite her betrachtet. Denić hat einmal gesagt, mit Castorf verbinde ihn die postsozialistische Erfahrung. Wie bei einer Obsession mit einem Trauma wird immer wieder die Blockade von Geschichte und der Rückfall in Naturgeschichte ausgebreitet. Es ist ein permanentes Durcharbeiten, eine Konfrontation mit der Gewalt
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und der Sinnlosigkeit des historischen Prozesses, um darüber hinauszugelangen. Das unermüdliche Graben im Negativen bewahrt die Treue zur Idee, es ist ein Widerstand gegen das Einebnende. Die Bühnen von Denić widerstreben den glatten, cleanen Oberflächen, die allen banalen und narzisstischen Epochen eigen sind. Er sucht den Widerstand des Materiellen. Der Philosoph Walter Benjamin schrieb 1940 in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte, man müsse das Kontinuum der Geschichte sprengen. So würde das sentimentale Es-war-einmal vergehen und sich die Historie mit Jetztzeit erfüllen. Die Bühnen von Denić sind von diesem Geist erfüllt, sie sind niemals historistisch, sondern ordnen das geschichtliche Material auf einen neuen Aspekt hin. Sie selbst wirken wie Landschaften nach einer Sprengung, die verstreuten Elemente über die Drehbühne verteilt – so wie Castorf das literarische Material zertrümmert, um Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Als Castorf und Denić zusammen Wagners Ring (Festspielhaus Bayreuth, 2013) herausbrachten, war die Festspielgemeinde nicht nur irritiert, sondern teils aufgebracht. Denić setzte ihnen Marx, Lenin, Stalin und Mao in Form des MountRushmore-Monuments vor die Augen, verband die Ölfelder von Baku mit der Wall Street, zeigte die Weltzeituhr am Alexanderplatz sowie ein Hotel an der Route 66. „Wenn man dem Publikum geladene Revolver in die Hand gegeben hätte, dann hätten 30 Prozent auf uns geschossen. Das war purer Hass“, sagte er dazu. Das hört sich bei ihm keineswegs abschätzig oder eingeschüchtert an, eher stolz. Castorf, der sich einst für eine „Internationale des Hasses“ aussprach, schien die Buhrufe geradezu zu genießen – als Störung des Konsenses. Heiner Müller meinte einmal, eine Voraussetzung für lebendiges Theater sei ein gewisser Überschuss an krimineller Energie. Ohne die Lust, das Abgespaltene ans Licht zu zerren, wäre die Arbeit von Castorf und Denić undenkbar. Das Unheimliche ist nicht das schlechthin Unbekannte oder Fremde, es ist das heimlich Allzuvertraute, das zu erblicken mit einem Tabu belegt ist. Eine solche Wiederkehr des Verdrängten zeigt sich in den kunstvollen Werken von Aleksandar Denić. Sie sehen aus wie ein Albtraum oder die Hölle selbst – nur viel besser. Jakob Hayner, 1988 in Dresden geboren, arbeitet als Journalist. Er lebt in Berlin. Von 2016 bis Herbst 2020 war er Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. Im März ist bei Matthes & Seitz sein Buch Warum Theater. Krise und Erneuerung erschienen.
ALEKSANDAR DENIĆ – Aleksandar Denić studierte Bühnenbild und Set-Design an der Belgrader Universität der Künste. Er ist für Theater und Film gleichermaßen tätig. Dabei verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit mit Frank Castorf, bei zahlreichen Produktionen an der Berliner Volksbühne, an den Schauspielhäusern Hamburg und Zürich, an der Staatsoper Stuttgart, bei den Bayreuther Festspielen, wo er das Bühnenbild für dessen Inszenierung von Richard Wagners Ring des Nibelungen entwarf sowie an der Bayerischen Staatsoper mit Aus einem Totenhaus. Dafür wurde er u. a. von der Zeitschrift Opernwelt 2014 zum „Bühnenbildner des Jahres“ gewählt und erhielt den Theaterpreis „Der Faust“. Seit 2010 ist er Professor für Film, TV und Bühnenbild an der Megatrend-Universität in Belgrad.
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„ZUFALL, DASS ICH DAS BIN“ Zum hundertjährigen Jubiläum von Walter Braunfels’ Die Vögel wird die Oper wieder aufgeführt. Seine Enkelin Susanne Bruse verwaltet den Nachlass des Komponisten. Ein Archivbesuch zwischen Melodien und Manifesten.
Text Gabriela Herpell Fotos Julian Baumann Premiere Die Vögel 36
Kann viele Werke ihres Großvaters so ansummen, dass man sie erkennt: Susanne Bruse, Enkelin des Komponisten Walter Braunfels.
Sie bedauert es nicht, den berühmten Nachnamen abgelegt zu haben. Der Name, sagt Susanne Bruse, müsse verbunden sein mit etwas, das man selbst im Leben gemacht habe. „Ich erlebe oft, dass ich sage, ich bin die Enkelin von Walter Braunfels, dann sind die Leute ganz ehrfürchtig und mir ist das wahnsinnig peinlich. Denn es ist nur Zufall, dass ich das bin. Es ist nicht mein Werk.“ Nun ist es aber ihr Werk, das Erbe ihres zwischendurch sehr berühmten und zwischenzeitlich fast vergessenen Großvaters zu verwalten, eine Aufgabe, die sie wiederum von ihrem Vater übernommen hat, Michael Braunfels, Komponist und Pianist wie sein Vater. Susanne Bruse, 63 Jahre alt, sieht jung aus in ihrem blau gemusterten Sommerkleid, das Gesicht leicht gebräunt, eine Stupsnase wie ein Mädchen. Sie ist Juristin und mit einem Juristen verheiratet. In ihrem Wohnzimmer in MünchenSchwabing steht ein schwarz lackiertes Klavier von Steinway, darauf spielt ihr Mann, aber nur aus Spaß. Auf dem Esstisch liegen Ordner mit Briefen und Fotos, daneben Noten, Partituren, CDs, Büchlein. Susanne Bruse hat Anschauungsmaterial fürs Gespräch aus dem Walter-Braunfels-Archiv geholt, das sich in einer kleinen Wohnung unterm Dach befindet. Der Pianist und Komponist Walter Braunfels wurde in seiner Glanzzeit in Deutschland sehr verehrt. Die Vögel, 1920 in München uraufgeführt, dirigiert von Bruno Walter, ist seine bis heute bekannteste Oper. Weil sie damals so gut ankam, wurde sie fünfzig Mal in der Stadt gespielt, bevor sie in andere Städte weiterzog und sehr viel später auch in andere Länder. Susanne Bruse summt die ersten Takte der Vögel, bevor sie weiterspricht, „Da di, dadidadidamm, dada di da, weiter kann ich es nicht singen, dann kommt so eine flirrende Tonfolge“, sagt sie und lacht. Sie lacht gern. Und sie summt gern, sie kann viele der Werke ihres Großvaters so ansummen, dass man sie erkennt, die Johanna, das Streichquartett, das Te Deum. „Es sind sehr eingängige Melodien“, sagt sie, „Manifeste fast. Wie Zitate, die man immer wieder hört.“ Die Vögel also, nach einem Bühnenstück des griechischen Dichters und Schriftstellers Aristophanes, erstmals aufgeführt 414 vor Christus. Die zwei Lebemänner, die in Braunfels’ Libretto Ratefreund und Hoffegut heißen, gelüstet es nach einem besseren, freieren Leben. Im Reich der Vögel möchten sie es finden. Sie stacheln die Vögel dazu an, den Göttern ihre Macht streitig zu machen. Sie sollen eine eigene Stadt errichten: Wolkenkuckucksheim in den Lüften. Die Menschen sollen ihnen opfern, die Götter werden ausgehungert. Der Versuch endet in der Zerstörung von Wolkenkuckucksheim. Als Göttermusik lobten die Kritiker Die Vögel damals, alle großen Dirigenten rissen sich um den Komponisten. Bruno Walter bezeichnete die Oper in seinen Memoiren als „eine der interessantesten Novitäten meiner Münchener Amtsperiode. Wer Karl Erbs Gesang von der Sehnsucht des Menschen und die tröstende Stimme der Nachtigall aus der Baumkrone über ihm von der Ivogün gehört hat, wen die grotesken Szenen des Werkes erheitert und die romantischen gerührt haben, wird
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dieser poesie- und geistvollen Umwandlung der Komödie des Aristophanes zur Oper und ihrer Münchener Aufführung dankbar gedenken.“ Susanne Bruse freut sich, wenn die Oper jetzt, zum hundertjährigen Jubiläum der Uraufführung, wieder in München gespielt wird. „Mein Großvater konnte die Naturgewalten einfangen, die verschiedenen Ebenen des Rationalisten und des Fantasten, die sich irgendwohin flüchten. Das hat den Nerv der Zeit getroffen.“ Und es treffe den Nerv immer wieder. Braunfels hatte die Oper schon fast fertig, als er als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen musste. Nach dem Krieg konvertierte er vom Protestanten zum Katholiken. Susanne Bruse sagt, er sei, wie die meisten Konvertiten, sehr streng gläubig gewesen: „Ich finde, das hört man in den Vögeln. Das Werk ist choralhaft. Er hat ja überhaupt wunderschöne Melodien für Chöre geschrieben.“ Bruse blättert in den Ordnern und stößt auf ein Foto von Bertele Hildebrand und Wilhelm Furtwängler. Furtwängler führte Braunfels Anfang des 20. Jahrhunderts in München in das Haus Hildebrand ein, eine freigeistige, künstlerische Familie. Braunfels verliebte sich in Bertele, Tochter des Bildhauers Adolf Hildebrand. Eigentlich war sie mit Furtwängler verlobt, dennoch heiratete sie Braunfels, 1909. „Ich glaube, die Verlobung mit Furtwängler war ein Versprechen, das die beiden sich gegeben hatten, als sie ganz jung waren. Es hört sich nicht so an, als wäre ihm, Furtwängler, das Herz gebrochen. Sie sind alle drei befreundet geblieben“, erklärt Susanne Bruse. München, sagt Bruse, habe damals musisch und künstlerisch vibriert. Der junge Braunfels schrieb seiner Mutter: „Ganz München ist eben so mit Künstlertum durchtränkt, dass man schließlich selbst ganz in jenen Strudel hineingezogen wird, wo schließlich 3 / 4 des Lebensprinzips Lüge, Selbsttäuschung ist…“ Jeden Tag habe er ihr geschrieben, viele Jahre lang, auch Belangloses natürlich, sagt Susanne Bruse. „Liebes Mütterchen“, liest sie vor, „Sonntagmorgen ist es. Ich sitze hier in meiner gemütlichen Bude und freue mich der Sonne, die ihre warmen Strahlen durch das Fenster schickt, dass einem ganz wohlig zumute wird.“ Braunfels, 1882 geboren, stammte aus Frankfurt. Seine Mutter, Helene Spohr, war eine Großnichte des Komponisten Louis Spohr, die in jungen Jahren mit Franz Liszt musiziert hatte. Später heiratete sie den über 30 Jahre älteren Ludwig Braunfels, einen Humanisten, Juristen, Literaten, der seinerseits vom Judentum zum evangelischen Glauben übergetreten war. Ludwig Braunfels starb, als Walter Braunfels zwei Jahre alt war, der Sohn wuchs also fast vaterlos auf. Mit sieben schrieb er sein erstes Lied, mit zwölf wurde er am Konservatorium aufgenommen, 1901 ging er nach München, doch fand er selbst sein Leben dort zu unstet, woraufhin er sich für Jura und Nationalökonomie an der Universität Kiel einschrieb, es aber kein Jahr aushielt und nun ernsthaft Musiker werden wollte. Er schrieb: „Früher war ich mit wenigem zufrieden. Ich war Dilettant und als solcher ein hervorragender Spieler. Nun will ich Künstler werden, und als solcher kann ich nichts.“
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„Mein Großvater konnte die Naturgewalten einfangen. Das hat den Nerv der Zeit getroffen“, sagt Enkelin Susanne Bruse über den Komponisten Walter Braunfels.
Privileg und Glück: Susanne Bruse verwaltet das Archiv von Walter Braunfels in ihrem Wohnhaus in München-Schwabing.
Er studierte Klavier, Harmonielehre, Komposition, seine Lehrer waren Karl Nawratil, bei dem auch Arnold Schönberg lernte, Ludwig Thuille und vor allem Felix Mottl, der wohl den stärksten Einfluss auf Braunfels’ musikalisches Schaffen hatte, so sagt es seine Enkelin heute. Er sei immer romantisch geblieben, niemals in Richtung moderne Musik und Atonalität gegangen, habe aber durchaus wagemutig und einfallsreich komponiert. Seine Klavierabende seien dafür berühmt gewesen, dass man sich Lieder wünschen konnte, die er dann sehr frei improvisiert gespielt habe. Und so sei seine Musik immer geprägt gewesen von dieser Lust an virtuoser Improvisation. „Ich finde, dass man sein Werk dreiteilen kann“, sagt Susanne Bruse. „Das Jugendwerk; dann diese hoch- und spätromantischen Sachen wie Die Vögel oder Te Deum, die opulent besetzt sind; und dann die Zeit des Umbruchs. Er hat sich ausprobiert, auch die Atonalität, aber das war nicht sein Weg. Sein Weg ging durch eine immer größere Verknappung, immer mehr Extrakt, dadurch wird es fast schlicht, aber kompliziert. Das Spätwerk – Johanna, Verkündigung – hat manchmal etwas Sprödes, man ist in den Bann gezogen, aber man macht nicht das Radio an und findet es schön. Man muss sich reinhören.“ Sie versteht etwas von Musik, wie das oft so ist in Musikerdynastien. Für ihren Vater war klar, dass seine fünf Kinder Instrumente lernten. Die älteste Tochter Geige, Susanne als zweitälteste Bratsche, die beiden Söhne Cello und eine dritte Tochter dann wieder Geige. Jeden Tag wurde eine Stunde geübt, streng, da gab es nichts. Und sie musizierten gemeinsam, der Vater begleitete die Kinder auf dem Klavier. Sie spielten Mozart, Brahms, Schumann, alles, nur keinen Braunfels. Zu schwierig. „Ich habe mich mit meinem Quartett einmal an einem Streichquartett versucht“, erzählt Susanne Bruse, die bis heute fleißig und leidenschaftlich spielt. „Bis zum letzten Satz haben wir uns durchgequält. Es klingt toll und leicht, ist aber sehr kompliziert. Wenn man eine Variation hört, denkt man, klar, das ist das Grundstück, hier ist die Variation nach links und hier die nach rechts, hier eine in Moll. Aber dann kommt die Variation der Variation der Variation, immer weitere Abweichungen.“ Sie genießt es, mit ihrer Arbeit am großväterlichen Archiv so tief eintauchen zu können in sein Werk. „Am Anfang habe ich das eigentlich für meinen Vater gemacht“, sagt sie. „Dass mir das jetzt so viel Spaß macht und ich so langsam reinwachse und eine Welt aufgeht, das ist ein Privileg und ein Glück.“ Als ihr Vater noch lebte, wurde die Arbeit auch zu einer schönen Verbindung zwischen Vater und Tochter. Ihr Vater hatte immer wieder versucht, den in Vergessenheit geratenen Walter Braunfels in die Musikwelt zurückzuholen. Mit seinem besten Freund Frithjof Haas, einem ehemaligen Schüler von Walter Braunfels und späteren Dirigenten, der maßgebende Biographien von Felix Mottl, Hans von Bülow und Hermann Levi verfasst hat, verbrachte Michael Braunfels allein Jahre damit, aus dem Manuskript der Heiligen Johanna
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der Schlachthöfe eine Oper zusammenzusetzen. „Sie haben Noten und Handschriften verkauft, damit sie das finanzieren konnten. Ich könnte gar keine Opernpartitur mehr lesen, mein Vater konnte das noch“, sagt Susanne Bruse. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde es still um Walter Braunfels. Gerade als er obenauf war, nach dem Erfolg von Die Vögel in den 1920er Jahren, er war zudem Direktor der Musikhochschule in Köln geworden, wurde der junge Adolf Hitler auf ihn aufmerksam und beauftragte ihn, eine Hymne für seine Partei zu schreiben. Braunfels lehnte ab. Weil er den Nationalsozialisten als Halbjude galt, wurde seine Musik 1933 zur entarteten Kunst erklärt, er wurde aus allen Lexika gelöscht, „als Künstler war er sofort mausetot“, sagt Susanne Bruse. Er musste Köln verlassen und zog an den Bodensee. Sie sucht Fotos aus der Zeit heraus und findet zwei, darauf sieht man Walter Braunfels und seine Frau Bertele einsam im hohen Gras sitzen und auf den See schauen. „Dort wurde er von den Nazis tatsächlich in Ruhe gelassen“, sagt Susanne Bruse. Sie wird oft gefragt, wie das sein kann, die Nazis hätten doch jeden aufgespürt. „Bei einer Aufführung von Die Vögel in Amerika, in Charleston, South Carolina, habe ich eine Konzerteinführung gegeben. Da meldeten sich jüdische Anwesende, sie meinten, es könnte nicht sein, dass mein Großvater als Halbjude in dem Kaff überlebt habe, er müsse Kollaborateur gewesen sein. Das war völlig klar für sie. Aber es stimmt nicht.“ Viele seiner Freunde drangen damals in ihn, er müsse Deutschland verlassen. „Aber er konnte das irgendwie nicht“, sagt sie. Er überlebte. Vier Dinge, meint sie, hätten ihn über Wasser gehalten. Der deutschsprachige Kulturraum, den habe er gebraucht, um kreativ zu sein, zu komponieren. „Er hatte Angst, diese Schaffenskraft zu verlieren.“ Die Natur, „er baute sogar Kartoffeln an“. Die Religion, „er hätte den Zweiten Weltkrieg kaum so überlebt, wenn er nicht seinen festen Glauben gehabt hätte und sich darin so geborgen gefühlt hätte.“ Und schließlich sein einziger Klavierschüler, Frithjof Haas, der Freund seines Sohnes. „Mit ihm hat mein Großvater sich sehr gut verstanden“, sagt Susanne Bruse, „die beiden haben Klavierabende für zwei Personen gegeben, für Elle Haas, Frithjofs Mutter, und für Bertele Braunfels, meine Großmutter. Teilweise auf zwei Flügeln.“ Zum Schluss schlägt sie eine handschriftliche Partitur auf. Eng geschrieben, mit Füller, unendlich viele Stimmen und Noten. Sogar für gut ausgebildete Musiker sei es zu schwierig, das zu lesen und zu spielen, sagt sie. Als sie Ende der 1990er Jahre das Erbe ihres Großvaters übernahm, besann man sich in Deutschland gerade zum ersten Mal auf die Musik vor dem Zweiten Weltkrieg, die nicht atonal war. Auf Erich Wolfgang Korngold. Und auf Braunfels. Es gab eine CD-Reihe von Decca, Entartete Kunst, da ging es langsam los, Braunfels wurde wieder gespielt. Von den Einnahmen ließ sie neue Partituren erstellen, damit es weitergehen kann. Nun geht es weiter. Mehr über die Autorin auf S. 8
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„Wer die tröstende Stimme der Nachtigall gehört hat, wird dieser poesie- und geistvollen Umwandlung der Komödie des Aristophanes zur Oper dankbar gedenken“, schrieb Dirigent Bruno Walter über Walter Braunfels' Göttermusik zu Die Vögel.
DIE VÖGEL – Es ist sprichwörtlich geworden: das „Wolkenkuckucksheim“ der antiken Komödie Die Vögel von Aristophanes. In unübertrefflicher Hybris glauben die Vögel, sich mit den Göttern anlegen und einen eigenen mächtigen Staat aufbauen zu können. Was für ein Irrtum! Für den Komponisten Walter Braunfels war die Uraufführung in München 1920 der Durchbruch. Seine eigenwillige Adaption fügt dem Werk trotz Komödienhaftigkeit einen zutiefst romantischen Zug hinzu. Der antike Mythos ist gespiegelt an den traurigen Erfahrungen aus einer Welt von gestern. Die Trümmer des Ersten Weltkriegs sind für Braunfels überall sichtbare Zeichen des politischen wie geistlichen Zerfalls, seine Oper ist ein letztes emphatisches Aufbäumen gegen die Brüche seines Zeitalters. Nach hundert Jahren folgt nun die erste Neuproduktion am Ort der Uraufführung.
Ein lyrisch-phantastisches Spiel in zwei Aufzügen (1920) Premiere am Samstag, 31. Oktober 2020, Nationaltheater STAATSOPER.TV Live-Stream der Vorstellung am Sonntag, 8. November 2020 1 www.staatsoper.tv Weitere Termine im Spielplan ab S. 64
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Foto: Oliver Exner
PERSPEKTIVWECHSEL
Protokoll Serge Honegger 42
Über die Verwandlung auf der Bühne, den Kulturwandel im Ballettstudio und den Moment, wenn man als Tänzerin merkt, dass die Karriere als Solistin zu Ende ist: Ballettmeisterin Ivy Amista über ihre wendenden Punkte, in eigenen Worten.
Ich wusste, dass dieser Zeitpunkt kommen würde. Der Moment, um meine Bühnenkarriere zu beenden. Es ist kein einfacher Moment. Der Gedanken reifte bei mir schon seit Längerem. Es ist wichtig, dass man sich so früh wie möglich mental darauf vorbereitet. Ich wollte den Entschluss fassen, wenn ich mich sehr glücklich fühle. Ich kann mich erinnern, dass es nach einer Vorstellung von John Crankos Onegin war, in der ich die Rolle der Tatjana tanzte. Und das war so schön, dass ich nicht traurig sein musste, bei dem Gedanken bald nicht mehr auf der Bühne zu stehen. Das machte den Abschied leichter. Ich war mit mir im Reinen – und offen für etwas Neues. In meinem letzten Jahr als Tänzerin bin ich Mutter geworden. Als ich nach der Elternzeit in die Compagnie zurückkam, erhielt ich von Direktor Igor Zelensky die Gelegenheit, einige Proben zu leiten, um zu sehen, ob die Rolle der Ballettmeisterin etwas für mich sein könnte. Es war eine Chance. Und es ist eine Aufgabe, die mir gut gefällt. Die Erfahrung im Probesaal gab mir den Impuls zum Wechsel, auf dieser Grundlage fällte ich meinen Entschluss. Dass ich im Tanzbereich bleiben konnte, war wichtig für mich. So wusste ich immerhin, dass mir diese Welt nicht ganz verloren gehen würde. Es ist ein großer Unterschied, ob man als Solistin auf der Bühne steht oder im Ballettsaal eine Probe leitet. Ich musste viele neue Dinge lernen, muss mich um ganz andere Themen sorgen. Als Tänzerin ging es darum, in Form zu bleiben und die Aufgaben auszuführen, die von der Choreographie und den künstlerischen Teams gefordert werden. Jetzt bin ich nicht mehr nur für mich, sondern für alle verantwortlich. Das hat bei mir zu einem Perspektivwechsel geführt. Hinzu kommen psychologische Faktoren im Umgang mit den verschiedenen Tänzerpersönlichkeiten. Wir sind von emotionaler Natur und keine Maschinen. Das muss man in der Probenarbeit berücksichtigen. Ich muss mir gut überlegen, wie ich Inhalte vermittle, damit sie das richtige Echo finden. Jemandem beispielsweise einfach eine Anweisung an den Kopf zu werfen, führt eher zur Blockade. Ich versuche es lieber mit Überzeugungsarbeit, indem ich erkläre, warum wir
diese Formation oder jene Szene noch einmal proben müssen, um die richtige Wirkung auf der Bühne zu erzeugen. Hier spielt auch der Kulturwandel im Ballettstudio eine Rolle. Gerade die jüngere Generation von Tänzerinnen und Tänzern verlangt ein stärkeres Mitspracherecht. Sie möchte ihre individuellen Vorstellungen einbringen, Gehör finden und mit ihren Ideen ernst genommen werden. Das erfordert eine neue Art des Kommunizierens. Diesen Anspruch, nicht einfach nur ein Rädchen im Getriebe zu sein, sieht man ja nicht nur in der Ballettwelt. Heute wird der Status quo ganz allgemein kritischer hinterfragt. Vor diesem Hintergrund bin ich als Ansprechpartnerin auf Augenhöhe gefordert. Es geht um die richtige Balance, wie im Tanz auch. Die Basis für jeden Bühnenauftritt ist eine gute Technik. Ich möchte aber auch sehen, dass sich die Tänzer mit ihrem ganzen Selbst in die Figur begeben, die sie darstellen, auch wenn man nie ganz von seinem eigenen Körper und seinem eigenen Denken loskommt. Sie müssen mehr sein als einfach nur schön und korrekt. Erst dann entsteht eine intensive Präsenz, die auch das Publikum spürt. Ohne das findet keine Verwandlung statt, für niemanden. Ich vermisse es manchmal, superfit zu sein und hoffe, dass ich in Zukunft wieder mehr Zeit finde, um zu trainieren. Ich glaube, dass es für uns Tänzerinnen wichtig ist, auch nach dem Ende der Bühnenlaufbahn in Bewegung zu bleiben, da unsere Körper über Jahre hinweg auf einem hohen Level gearbeitet haben. Es ist nicht gut, von einem Tag auf den anderen gar nichts mehr zu tun. Ob einen die Bühne lehrt, wie man mit Veränderungen umgeht? Sagen wir so: Als junge Tänzerin war ich in den Proben eher zurückhaltend und schüchtern. Auf der Bühne hingegen verwandelte ich mich völlig. Hier fühlte ich mich wohl. Ich habe gelernt, diese Energie auch in der alltäglichen Probearbeit zu zeigen. Die Bühne gibt einem die Möglichkeit, sich unverstellt zu zeigen, obwohl man eine Rolle spielt. Darum ist es so wichtig, sich mit ganzer Kraft seiner Aufgabe zu widmen. Egal ob auf oder neben der Bühne. Serge Honegger ist Dramaturg beim Bayerischen Staatsballett.
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Federico Fellini, Satyricon (1969) / Alamy Stock Foto
FALSTAFF ODER AM NABEL DER KOMÖDIENWELT
Text Tanja Schwan Premiere Falstaff 44
Eine Kartographie des Bauches
Als gefräßiger Ritter scheint er nur um den eigenen Körper umfang besorgt zu sein. Als Typ sprengt Sir John Falstaff die Grenzen der Genres. Über einen Helden von Weltformat.
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Aus dem Plot der Shakespeare-Komödie The Merry Wives of Windsor, vermittelt über die französische Übersetzung François-Victor Hugos, gewann der Literat und Librettist Arrigo Boito die Textgrundlage für Verdis Falstaff. In die gestraffte, auf die Titelfigur zugespitzte Fabel montierte er neben Passagen aus der Doppelhistorie Henry IV auch Zitate ein, die Shakespeares Quellentexten aus der italienischen Novellistik entstammen. So weit, so bekannt der manifeste intertextuelle Bezugsrahmen. Tritt Falstaff schon bei Shakespeare in unterschiedlichen Theatergenres – zunächst im Königsdrama, später auch in der Komödie – auf und präsentiert er sich seither als eigenwillige Kreuzung aus Lebemann und Melancholiker, so wird die diskontinuierliche Formation „Falstaff“ ihrerseits formativ: Hinsichtlich seiner körperlichen Ausmaße ein Ritter von rundlicher Gestalt, generiert Falstaff neue Formate, die in ihrer intermedialen Spannbreite von der Oper über den Film bis zur Fernsehserie reichen. Seine Leibesfülle deutet die Stabilität und Gewichtigkeit der Figur ebenso an wie die Masse von Verkörperungen, die sie auf ihrem Parcours durch die Theaterund Mediengeschichte annimmt. Falstaff ist ein „Körper von Gewicht“, der sich in einer Aufeinanderfolge performativer Akte materialisiert und refiguriert – sei es als schlagkräftiger Haudrauf in den Spaghettiwestern
mit den modernen Maßstäben der Damenwelt von Windsor verliert er an Attraktivität. In ihren Augen gilt er nicht länger als Mann von ansehnlichem Format, sondern als aufgeblasener Anachronismus. Falstaff aber verkennt die Zeichen der Zeit und zeigt sich blind gegenüber den veränderten Wahrnehmungskonventionen, sodass das Geschehen an genau jenem kritischen Punkt innerhalb der Körpergeschichte seinen Lauf nehmen kann, da die Wertschätzung des Wohlstandsbauchs in ihr Gegenteil kippt. An Falstaffs beträcht lichem Leibesumfang scheiden sich die Geister. Er ist es, an dem ein Exempel statuiert werden soll. Aufseiten der künstlerischen Produktion könnte man, frei nach dem Philosophen Hans Blumenberg, von einer „Arbeit am Typus“ Falstaff sprechen, der sich von einer Adaption zur anderen tradiert und sich dabei jeweils um Variationen anreichert. Zugleich hat seine ausufernde, über die eigenen Körpergrenzen hinwegdrängende Dickleibigkeit auch Reminiszenzen an Vorbilder in sich aufgenommen. Falstaffs bloßes Erscheinungsbild bewahrt die Erinnerung an das OrgiastischDionysische der altrömischen Bacchanalien, dem Federico Fellini 1969 in seinem Film Satyricon mit dem Fress- und Zechgelage im Hause des feisten Trimalchio ein bildgesättigtes Leinwanddenkmal gesetzt hat. Wenn der verarmte Edelmann Sir John Falstaff sich durch die Shakespeare'sche
In dem Maße, wie Falstaff aus der Form geht und sich quasi autonom fortzeugt, birgt seine Gestalt in sich das Potenzial, die Geschlechtergrenzen aufzuweichen. Seine Physis ist ein stetes Werden. mit Bud Spencer oder als Mafiaboss mit Midlife-Crisis in der US-Serie The Sopranos, die den Charakter des psychisch angeschlagenen Clanchefs Tony Soprano auf der Therapeutencouch einführt. Dem kolumbianischen Maler und Bildhauer Fernando Botero, der so wohlproportionierte Figuren aus dem Kanon der Kunstgeschichte wie die Mona Lisa kugelrund konturiert und ins Groteske verzerrt überzeichnet, hätte Falstaff für seine Ästhetik überdimensionierter Körperproportionen Modell stehen können. Heute ließe sich Falstaff möglicherweise als Vorkämpfer der Body-Positivity-Bewegung reklamieren, für deren diskursive Strategie – die Behauptung der Schönheit jedweden Körpers, losgelöst vom Schlankheitsdiktat und vom Imperativ kontinuierlicher Selbstoptimierung – er das beste Beispiel abgibt: Dem mit seinen Pfunden geradezu Wuchernden, der sich ungeachtet seiner voluminösen Statur für unwiderstehlich hält und sich in seiner üppigen Pracht rundum gefällt, scheint der Claim „Big is beautiful“ wie auf den Leib geschrieben. Historisch gesehen vertraut Falstaff freilich noch ganz selbstverständlich auf das symbolische Kapital seiner stattlichen Konstitution und trägt die gut gepolsterten Rundungen mit Stolz als Ausweis seines chevaleresken Ranges und prosperierenden Lebensstils vor sich her. Erst in der Konfrontation
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Bühnenhandlung trickst und futtert, macht sein Hang zu Schmarotzertum und Schlemmerei ihn – stets eingedenk des Standesunterschiedes – Pulcinella vergleichbar, jenem gefräßigen, nimmersatten Diener aus dem Figurenrepertoire der Commedia dell’arte, dem man die Vorliebe für Pizza und Pasta, die kulinarischen Genüsse seiner neapolitanischen Heimat, auf den ersten Blick ansieht. Mit der ausladend herausgestülpten Wölbung seines Bauches wirkt Falstaff wie den grotesken Körperwelten eines François Rabelais entstiegen, weist jedoch nicht nur in materieller, sondern auch in metaphorischer Hinsicht gleichermaßen nach vorn über sich hinaus: Die sich ankündigenden Auswüchse seiner selbst – den Nachwuchs, mit dem er schwanger zu gehen scheint – besingt Verdis Opernheld in der dritten Person als tausendfache Stimmen, die sich aus den Tiefen seines Unterleibes vernehmen lassen. Falstaffs „Babybauch“ bildet den Resonanzboden, auf dem das ferne Echo seines Namens erschallt und aus der Zukunft widerhallt. Dank der Matrix seiner wohlbeleibten Figur gebiert Falstaff Ebenbilder von sich selbst aus sich selbst. Eines nach dem anderen nabelt sich von ihm ab, um ein Eigenleben zu beginnen. In dem Maße, wie Falstaff aus der Form geht und sich quasi autonom fortzeugt, birgt seine Gestalt in sich das
Potenzial, die Geschlechtergrenzen aufzuweichen. Seine Physis ist ein stetes Werden: Ihre Unabgeschlossenheit eröffnet Spielräume. Shakespeare schöpft darunter auch diejenigen Optionen aus, die das Gendercrossing bietet. Als er Sir John in die Verkleidung einer Matrone schlüpfen lässt, macht an ihm allein der Bart stutzig. Auf Rezeptionsseite fordern die kontinuierlichen Bearbeitungen des Stoffs dazu heraus, Falstaff in immer neue – mitunter unvermutete – kulturelle Kontexte zu stellen, imaginäre Landkarten zu entwerfen, auf denen er in seinem latenten Beziehungsgeflecht etwa zu verwandten Kult(ur)figuren wie Gargantua und Pantagruel, Faust, Tartuffe, Don Quijote, Don Juan oder Figaro verzeichnet werden kann. Wie Falstaff sich in diesem Sinne konfigurieren oder – gestützt auf eine Lektürepraxis der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen – „crossmappen“ ließe, sei im Folgenden skizziert. Eine lediglich motivgeschichtliche Betrachtung des Topos vom (dicken) alten Mann in der Krise, so ergiebig sie auch sein mag, griffe dabei zu kurz. Dies belegt eine Rezeptionslinie, die Sir John Falstaff mit Don Juan zusammenschließt. Beide können eine literarische Karriere vorweisen, die vom Prahlhans zum Hanswurst verläuft. Don Juan hat im späten 19. Jahrhundert seinen Zenit bereits überschritten und geistert nurmehr als alternder, abgehalfterter Möchtegern durch die Literatur- und Kulturgeschichte, bevorzugt in der Rolle eines wandelnden Symptoms krisengeplagter Männlichkeit. Schon im Don Giovanni, wo der notorische Schürzenjäger den Beweis seiner rhetorisch beschworenen Potenz schuldig bleibt und ihm nicht ein Verführungsakt glückt, lässt sich kaum mehr leugnen, wie unaufhaltsam Anspruch und Wirklichkeit auseinanderdriften – auch wenn die Musik Mozarts dem drohenden Absturz ins Bodenlose vorerst noch entgegenarbeitet. Aktuell schreiten die fellinesken Filmfiguren Paolo Sorrentinos mit Falstaff den Weg des beleibten und / oder betagten Playboys von der gewichtigen zur marginalisierten Männlichkeit ab. Wie aus der Zeit gefallene Relikte längst vergangenen Ruhms muten sie an, derart museal, dass nur noch ein schwacher Abglanz jener grande bellezza Roms sie streift, in deren Schatten sie als (selbst)gefällige Schwundstufen ihrer einstigen Größe ein opernhaftes Fortleben im Stil des dolce vita fristen. Vor der so spektakulären wie dekadenten Kulisse der Ruinenstadt, die per se ein einziges Museum darstellt, entfalten die wie zu Marmor erstarrten Monumente des Maskulinen ihren morbiden Charme als Mahnmale der vanitas – und gleichen darin dem umbilicus urbis Romae, einst Nabel der Welt, prominent platziert im Zentrum des Forum (und somit auch Imperium) Romanum, jetzt zur Geröllwüste am Rande eines gigantischen Ausstellungsgeländes geschrumpft. Dass das „ewige“ Rom, das auch auf seinen steinernen Denkmälern allenthalben Patina angesetzt hat, im Film noch in seinem Verfall monumental inszeniert wird, überdeckt so offensichtlich die Funktion der in die Krise geratenen Männercharaktere als Allegorien einer tiefer sitzenden Krise der
Repräsentation, dass erst recht ins Auge springt, was an ihnen abzulesen ist. Der Flut all der schön anzusehenden Bilder will (und soll) es nicht gelingen, eine existenzielle Leere zu übertünchen – und doch überwältigt sie. Die zur Legende verblasste Schönheit bleibt in sich selbst befangen und nimmt gefangen, verlangt nach immer mehr und verweigert dieses Mehr. So lüstern der altgediente Voyeur bei seinem ziellosen Flanieren entlang der altehrwürdigen Piazze und Palazzi einer Nonne unter den Rock gaffen mag, so wenig erfüllt sich für ihn zwischen ihren Beinen die Hoffnung auf Erlösung. Dem romantisch geläuterten Don Juan Tenorio aus der Feder José Zorillas war sie noch vergönnt. Spannend verspricht es demnach zu werden, sobald man sich rund um die Landmarke „Falstaff“ auf die Spur von Strukturanalogien begibt. Eine Fährte, die auf diese Metaebene zuführt, könnte ihren Ausgang von dem Fazit nehmen, mit dem Falstaff bei Verdi die Schlussfuge intoniert: „Tutto nel mondo è burla.“ (Alles ist Spaß auf Erden.) Nimmt man das Crossmapping wörtlich, so verweist das mit ihm konnotierte „anders Anordnen“, „Umstellen“ oder „Überkreuzen“ auf das Kompositionsprinzip der Komödie als solcher. In Falstaff – dem Stück, das den zitierten Schlüsselsatz im karnevalesken Leib Sir Johns Gestalt gewinnen lässt – wird es thematisch. Körper und Motto des Titelhelden von Verdis Oper können als Denkfiguren dazu anleiten, das Crossmapping selbst sowohl als Thema wie auch als Konstruktionsfundament der Gattung Komödie zu setzen, mit anderen Worten: aufzuzeigen, wie es sich im Komödiantischen präfiguriert und darbietet. Die im doppelten Sinne breit aufgestellte Figur Falstaffs, im Operntext als „immenso“ und „enorme“ qualifiziert, hat dabei das nötige Format, um sich beides – Motiv und Bauform – gleichzeitig einzuverleiben und den Fragehorizont in seiner Gänze zu umspannen. Als mise en abyme des Crossmappings als Lektüreverfahren könnten die allegorischen, manieristisch verrätselten Porträts und Umkehrbilder des Mailänder Renaissancemalers Giuseppe Arcimboldo gelten. Sie warten nicht nur ebenfalls mit überbordenden barocken Formen auf, sondern lassen die dargestellten Gesichter oft erst auf den zweiten Blick erkennen und hervortreten: mal unter einer opulenten Anhäufung von Essbarem wie Obst und Gemüse oder sonstigen Stilllebenelementen aus Fauna und Flora, mal indem das Bild einfach auf den Kopf gestellt und, wiederum wie im Karneval, das Unterste zuoberst gekehrt wird. Dieser Technik der Überblendung und des trompe-l’œil entspringen verblüffende Effekte und Überraschungsmomente. Arcimboldos ars combinatoria, die vermeintlich Unpassendes in ein und demselben Bild zusammenspannt und den Bildgegenstand auf diese Weise mit unerwarteten Bedeutungen auflädt, korrespondiert eine figurative Lektüre, die das kunstvolle Arrangement hinsichtlich seiner Komposition durchblickt und freilegt. Analog dazu lädt die Lektüretechnik des Crossmappings zu einem Lesen gegen den Strich ein, das historisch entlegene Artefakte – gegebenenfalls auch in achronologischer Leserichtung –
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simultan in den Blick nimmt, um das Zirkulieren langlebiger Plotstrukturen transparent zu machen. Für die Komödie zählt dazu etwa – beispielhaft durchgeführt in Mozart / Da Pontes Così fan tutte – das Verketten und Durchspielen von (Personen)Konstellationen, die willkürliche Kombination und Rekombination von Liebespaaren wie auch von textuellen und musikalischen Versatzstücken, die sich noch jenseits der Werkgrenzen, nach dem Fallen des Vorhangs, beliebig weitertreiben ließen. Das lieto fine wirkt aufgepfropft und setzt hier ebenso wie im Falstaff einen nur vorläufigen Schussakkord – bleibt die hastig anberaumte Versöhnung doch vordergründig und brüchig. Verdi zwingt das tutti gabbati, die scheinbar gelassen vorgetragene Erkenntnis der Täuschung aller durch alle, in die artifizielle, fast mathematisch ausgeklügelte Form der Fuge. Zusammen fügt sich dabei nichts. Vielmehr schlägt die Musik ganz andere Töne an als der Text, da Falstaff, der das Thema vorgibt, von seinen Gegenspieler(inne)n abgesetzt singt. Erst nach und nach stimmen sie in den Kanon ein. Unter der glatt gefugten Oberfläche des Schlusschors fliehen und verfehlen die Stimmen einander, strebt die Welt weiter aus den Fugen und klingen bereits neuerliche Disharmonien an, sodass die eigentliche Botschaft lauten müsste: (Galgen)Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Neben dem dezidierten Spielcharakter mit potenziell offenem Ausgang darf in keiner Komödie das Verstellen fehlen: von Gegenständen und Requisiten, die sich zu Handlungsträgern, wenn nicht Widersachern verselbstständigen (wie Wäschekorb und Wandschirm bei Verdi / Boito), aber auch des Blicks auf Figuren, die sich selten dort auffinden lassen, wo man sie sucht oder die im oft fliegenden Wechsel, noch ehe man sich versieht, die vakante Stelle von anderen eingenommen haben. Die Komödie exemplifiziert das Leseverfahren des Crossmappings, indem sie Figuren vorführt, die sich verlesen, Zeichen missdeuten und sich vor allem dadurch als unzuverlässig Lesende outen, dass ihnen noch das Aberwitzigste nicht etwa komisch vorkommt. Mittels ihrer verrückten Perspektive geben sie uns zu sehen und zu bedenken, dass man mit dem Beschreiten von Abwegen nicht zwangsläufig die falsche Fährte einschlägt – wie der um Alice balzende Falstaff, der sich ihr in einem Anflug von Nostalgie als federleichter Page nach Art eines Cherubino andient und damit auf dem Umweg über die Anklänge an Mozart auf die Genese und Formung seiner Figur aus einem miraggio vago anspielt, einer vagen Illusion, die seine Gestaltwerdung als donjuaneskes Schwergewicht noch nicht erahnen ließ. Falstaff wäre vor dieser Folie als ein Anti-Figaro lesbar, da er im Gegensatz zu diesem immerhin dem Anschein nach durchschaut, dass er selbst Teil des allgemeinen Verstellungsund Verblendungszusammenhanges ist. Sieht Figaro sich von Anfang an als Spielleiter gesetzt und lässt sich nur mühsam eines Besseren belehren, so erklärt sich Sir John erst ganz am Ende, nachdem er zweimal buchstäblich hereingefallen ist, explizit zu dem Strippenzieher, als der er insgeheim immer
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schon angetreten ist und als der er die Fäden in der Hand zu halten glaubt. Täuscht er sich also schlicht abermals? Was hingegen, wenn man sich für einen Moment auf Falstaffs grandiose (Fehl)Interpretation einließe, den Spieß einfach umdrehen und mit ihm behaupten würde, dass er jene, die ihm so übel mitgespielt haben, tatsächlich dazu verführt, ihn zur Lachnummer zu degradieren? Hätte er dann zu guter Letzt nicht doch recht behalten, wenn er sein Scheitern auf ganzer Linie in den Triumph des Absurden ummünzt und sich damit brüstet, der weltgrößte Verführer und „Theatermacher“ aller Zeiten zu sein? Wie der buffone Rigoletto hässlicher Hofnarr und hingebungsvoller Vater in einem sein konnte und den leidenschaftlichen Operngänger Stendhal allein die Opera buffa zum Weinen brachte, ist und bleibt Falstaff jener tumbe Tor, der sich von den lustigen Weibern von Windsor (in) einen Korb geben lässt, und der nobilitierte Narr Verdis, der sich als Witzfigur anbietet, um die Gewitztheit der anderen hervorzukitzeln, in Personalunion. Den Anstoß gibt sein Bauch, der die Handlung ins Rollen bringt und am Laufen hält. An ihm, der in der eitlen Nabelschau kosmische Ausdehnung erreicht, als Falstaff in der Litanei der Parkszene des dritten Akts refrainartig „addomine“ (Abdomen) auf „Domine“ (Herrgott) reimt, prallen alle Gegensätze ab. Die Paradoxien der Figur sind in den globalen Dimensionen aufgehoben, mit denen sie sich rings um das Theatrum Mundi erstreckt. Um Falstaffs Nabel kreist das Welttheater. Als vernarbte Einstülpung inmitten der abdominalen Ausbuchtung markiert er den wunden Punkt, in dem Lebensfreude und Memento mori konvergieren. Nicht nur deshalb ließe sich Verdis letzte Oper als Summa der musikalischen Komödie lesen. Tanja Schwan lehrt als promovierte Romanistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Leipzig. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Affektkulturen in den romanischen Literaturen, literarischen und medialen Praktiken der Körperinszenierung, Gender Studies sowie der Librettoliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts.
FALSTAFF – Sir John Falstaff ist überzeugt davon, dass ihm die Gravität seiner Gestalt die Liebe der Windsorer Damen Alice Ford und Meg Page sichern wird. Nebenher sollen sich so auch die Börsen der dazugehörigen Ehemänner für den klammen Ritter öffnen. Über die gleichlautenden Liebesbriefe, die er überbringen lässt, sind die beiden „Merry Wifes“ allerdings empört. Ihre Rache gerät zum Spektakel, befeuert durch Verwicklungen um Alices eifersüchtigen Ehemann, das doppelte Spiel von Falstaffs Dienern Bardolfo und Pistola und die Interessen des Liebespaars aus Fenton und Fords Tochter Nannetta, die sich auch noch gegen die geplante Hochzeit mit Dr. Cajus zu wehren hat. Der zweimal vorgeführte Falstaff macht am Ende gute Miene zum teils brutalen Spiel – ohnehin ist die ganze Welt Posse, wie Verdi in seiner berühmten Schlussfuge weit über die Bühnenhandlung hinausgehend bilanziert. Commedia lirica in drei Akten (1893) Premiere am Donnerstag, 26. November 2020, Nationaltheater STAATSOPER.TV Live-Stream der Vorstellung am Samstag, 5. Dezember 2020 1 www.staatsoper.tv Weitere Termine im Spielplan ab S. 64
OSTERFESTSPIELE SALZBURG 2021 CHRISTIAN THIELEMANN SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE DRESDEN
27. März — 5. April
GIACOMO PUCCINI
TURANDOT
Christian Thielemann Sächsische Staatskapelle Dresden Anna Netrebko • Yusif Eyvazov • Golda Schultz
Unter der Leitung von Sir Antonio Pappano • Christian Thielemann Sir András Schiff • Philippe Herreweghe Kartenbestellungen für Förderer sind ab sofort möglich: Tel. +43/662/80 45-361 • karten@ofs-sbg.at Der Einzelkartenverkauf beginnt im Dezember 2020.
osterfestspiele-salzburg.at
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KONZERTE
DIE SUCHE NACH DER GROSSEN LIEBE Die Preise für wertvolle alte Streichinstrumente steigen ins Unermessliche. Selbst erfolg reiche Solisten können sie kaum noch aus eigenen Mitteln finanzieren. Wie kommt man an so eine Geige? Und tut es eine neue auch?
Text Norbert Hornig Illustration Nicholas Stevenson 50
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Š Nicholas Stevenson, Folio Art
16 Millionen Dollar sind eine Menge Geld. Für diese Summe wurde 2012 eine Cremoneser Geige von Giuseppe Guarneri del Gesù aus dem Jahr 1741 verkauft. Es handelte sich um die legendäre „Vieuxtemps“, auf der einst der große belgische Virtuose Henri Vieuxtemps und später sein Schüler Eugène Ysaÿe spielten. Noch nie wurde für eine Geige ein so hoher Preis aufgerufen. Ein altes italienisches Instrument lässt sich kaum noch aus eigenen Mitteln finanzieren, selbst wenn man als international erfolgreicher Solist gut im Geschäft ist. Zum Glück verschwinden nicht alle kostbaren Stücke im Safe betuchter Sammler oder Spekulanten, um dort auf weitere Wertsteigerungen zu warten. Doch die Preisspirale für sie dreht sich unaufhaltsam nach oben, zum Leidwesen der Musikerinnen und Musiker. Weshalb beim Suchen und Finden des Objekts seiner oder ihrer Begierde Institutionen und Stiftungen eine wichtige Rolle spielen. Sie kaufen wertvolle Instrumente an oder verwalten sie treuhänderisch. Banken betrachten sie als lukratives Investment und verleihen sie dauerhaft. Und vereinzelt springen auch wohlhabende private Sammler und Mäzene ein. Von der 1974 gegründeten Nippon Music Foundation etwa haben prominente Geigerinnen wie Julia Fischer, Lisa Batiashvili, Viviane Hagner oder Veronika Eberle profitiert. Die japanische Stiftung stellte ihnen erstklassige Stradivaris zur Verfügung, zeitlich befristet und unter strengen Auflagen. Arabella Steinbacher spielt aktuell auf der „Booth“-Stradivari von 1716 aus ihrem Bestand. Auch Geigerin Midori darf sich glücklich schätzen: Die ebenfalls japanische Hayashibara Foundation vergab die „ex Huberman“-Guarneri von 1734 an sie, auf der sie nun ihr Leben lang spielen darf. Das Konzertinstrument von Daniel Hope, die „ex-Lipinski“-Guarneri del Gesù von 1742, ist die private Leihgabe einer deutschen Familie. Und Isabelle Faust konzertiert auf einer Stradivari von 1704, der „Dornröschen“, eine Leihgabe der L-Bank BadenWürttemberg. Eine Sammlung alter Streichinstrumente von Weltbedeutung ist im Besitz der Österreichischen Nationalbank, verbunden mit der Idee, sie an österreichische Künstler zu verleihen. Auch die von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker gespielten Stradivari-Violinen stammen aus diesem Fundus. Vadim Gluzman wiederum musiziert auf einem Exemplar von 1690, einer Dauerleihgabe der Stradivari Society in Chicago, das einmal dem Violinpädagogen Leopold Auer gehörte, der unter anderem Jascha Heifetz unterrichtete. „Ich spiele diese Geige jetzt mehr als 20 Jahre“, sagt der ukrainisch-israelische Musiker. „Zu wissen, wer darauf gespielt hat, wo sie gespielt wurde und wer sie gehört hat, ist faszinierend. Peter Tschaikowsky hörte diese Geige, sie inspirierte ihn zu seinem Violinkonzert. Jedes Solo, das Tschaikowsky für seine Ballette schrieb, wurde von dieser Geige inspiriert und erklang zum ersten Mal auf ihr.“ Auch Frank Peter Zimmermann ist von der besonderen Aura der „alten Italiener“ begeistert. Er hatte das Privileg,
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seit Beginn seiner Karriere auf ihnen spielen zu dürfen. Es begann mit einer Pietro Guarneri, gewiss ein guter Einstieg für einen Fünfzehnjährigen. Immer wieder standen Wechsel an. Zimmermann strich seinen Bogen auch über mehrere Stradivaris. Fast hätte er das ehemalige Konzertinstrument von Nathan Milstein erworben, die berühmte „Marie-Therèse“ von 1716, doch dieser Traum sollte sich nicht erfüllen. Dennoch fand Zimmermann „seine Stimme“. Die Suche nach der großen Geigenliebe führte ihn zur „Lady Inchiquin“, einer prachtvollen Stradivari aus dem Jahre 1711. Sie war lange im Besitz von Ethel Jane Foster, verheiratete Baronin Inchiquin. Später spielte sie ein Geiger der Berliner Philharmoniker, der sie an die Westdeutsche Landesbank verkaufte, die das Instrument Zimmermann lieh. 15 Jahre später dann der Schock: Das Geldhaus geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten, Zimmermann musste die Geige abgeben, ein Ankauf scheiterte an den Preisforderungen des Rechtsnachfolgers. Vorübergehend fand er Ersatz in der „Dupont“, die einmal Arthur Grumiaux gehört hatte. Dann die unerwartete Wende: Das Land Nordrhein-Westfalen beschloss, über die neu gegründete Stiftung Kunst im Landesbesitz die „Lady Inchiquin“ zu kaufen und sie wieder an Zimmermann zu geben. Die alte Liebe kehrte zurück. „Sie ist Teil meines Körpers“, sagt er. „Die Verlängerung meines Armes, sie ist mit mir verwachsen. Sie hat einen Klang, der ins Mark geht, eine Ausgeglichenheit und einen Schmelz, vergleichbar mit einem italienischen Tenor.“ Vor allem für aufstrebende Talente hat sich die Situation wegen der unaufhaltsam steigenden Preise immer weiter verschärft. Doch es gibt Hilfe. In Deutschland vor allem durch den 1993 gegründeten Deutschen Musikinstrumentenfonds unter dem Dach der Deutschen Stiftung Musikleben. In großem Umfang verleiht er hochwertige Streichinstrumente an besonders talentierte junge Musiker, um ihnen eine künstlerische Weiterentwicklung zu ermöglichen und bei Wettbewerben international konkurrenzfähig zu bleiben. Der Bund und die Stiftung bauten den Fonds kontinuierlich auf die aktuelle Zahl von rund 190 Geigen, Bratschen, Celli und Bässen aus. Zunehmend gelang es auch, wertvolle Instrumente aus Privatbesitz als treuhänderische Eingaben für den Fonds zu gewinnen. Der Sammlungsschwerpunkt liegt auf alten Instrumenten, vor allem der italienischen Geigenbauschulen des 17. und 18. sowie der französischen Schule des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um die größte deutsche Streichinstrumentensammlung für den hochbegabten Nachwuchs, ein nationales Förderprojekt, an dessen Erfolg ehrenamtlich tätige Fachleute und Privatpersonen teilhaben. Die Vergabe erfolgt auf der Basis eines jährlichen Wettbewerbs vor einer Fachjury. Wird einer Musikerin, einem Musiker ein Instrument zugesprochen, darf die Person dieses zunächst ein Jahr lang spielen und muss sich beim nächsten Wettbewerb erneut vorstellen. Möglicherweise erhält sie dann sogar ein noch besseres Instrument. Die Altersgrenze liegt beim 30. Lebensjahr. Danach ermöglicht der Fonds die Zusammenarbeit mit einer
„Die Geige ist Teil meines Körpers, die Verlängerung meines Armes. Sie hat einen Klang, der ins Mark geht, eine Ausgeglichenheit und einen Schmelz, vergleichbar mit einem italienischen Tenor.“ Frank Peter Zimmermann
deutschen Großbank, um den Musikern Zugang zu günstigen Krediten für die langfristige Finanzierung eines eigenen Instrumentes zu erleichtern. Auch die Landessammlung Streichinstrumente BadenWürttemberg ist ein gute Quelle. Ziel ist die Förderung hochbegabter Studierender sowie Absolventinnen und Absolventen der baden-württembergischen Musikhochschulen, aber auch die Frühförderung junger Talente. Heute umfasst die Sammlung 41 hochwertige Streichinstrumente, davon 23 Geigen, mit einem Versicherungswert von über zehn Millionen Euro. Verantwortlich für Auswahl und Einkauf der Instrumente, für die Entscheidung über die Vergabe sowie für die Beurteilung der Entwicklung der Talente ist eine Kommission von fünf Lehrenden der Musikhochschulen. Eine exklusive Adresse für hochtalentierte Streicherinnen und Streicher ist darüber hinaus seit Jahren die in München ansässige Anne-Sophie Mutter Stiftung. Zur individuellen Unterstützung der Stipendiaten gehört unter anderem das Bereitstellen von Instrumenten, die aus Stiftungsmitteln finanziert werden, wie bei Vilde Frang geschehen. Ihre 2004 von der Stiftung geliehene französische Violine von Jean-Baptiste Vuillaume hat die norwegische Geigerin inzwischen gekauft. Das Instrument von 1866 ist derzeit ihr Konzertinstrument und auf ihren Aufnahmen zu hören. Vor dem Hintergrund des Preiswahnsinns auf dem Markt greifen junge Streicherinnen und Streicher auch häufiger nach einem neuen Instrument – immer mehr aus Überzeugung, denn ein Neubau hat viele Vorteile, vor allem aber stehen Preis und Leistung in einem nachvollziehbaren Verhältnis. Alte Instrumente werden gehandelt wie Antiquitäten. Der Meister, der Erhaltungszustand, die Periode, aus der das Instrument stammt, und seine Geschichte sind wichtige preisbildende Faktoren – erst in zweiter Linie ist es der Klang. Dieser ist jedoch für Musiker das entscheidende Kriterium. Und längst nicht alle „alten Italiener“ klingen auch gut. Wohl von keinem zeitgenössischen Geigenbauer sind derzeit mehr Instrumente solistisch im Konzertsaal und auf Schallplatte zu hören als von Stefan-Peter Greiner, der sein
Atelier in London hat. Prominente Künstler wie Christian Tetzlaff, Kim Kashkashian oder Frans Helmerson spielen seine Instrumente. Und Antje Weithaas: „Die Geige ist sehr wandlungsfähig und bietet mir sämtliche Farben, die ich brauche. Dazu sehr viel Wärme und Seele im Klang, auch dynamische Extreme sind realisierbar.“ Sie habe allerdings ähnlich launische Eigenschaften wie ein altes Instrument und reagiere empfindlich auf Schwankungen bei Temperatur und Feuchtigkeit. „In den Köpfen dominieren immer noch die Namen Stradivari und Guarneri“, erzählt sie weiter. „Wenn dann plötzlich neue Instrumente ähnlich klingen, ist das Staunen groß.“ Doch gerade die sollten eine Chance bekommen, gespielt zu werden, denn ein neues Instrument müsse immer auch aufgeweckt werden: „Das Holz schwingt sich frei, der Spieler stellt sich auf das Instrument ein und da gibt es dann eine gemeinsame Entwicklung.“ Das sieht auch Ingolf Turban so, der als Solist und Hochschulprofessor in München gute Erfahrungen mit neuen Instrumenten gemacht hat. Er spielt unter anderem eine Violine von Martin Schleske, der in Landsberg am Lech sein Atelier hat. „Ein Wertewandel hat stattgefunden“, sagt er, „und all die Investments dahinter werden neu beleuchtet. Es gibt alte Geigen, die klingen, dass man sich schüttelt. Da ist der Erwerb einer neuen Geige wesentlich sinnvoller.“ Die Preise liegen hier in etwa zwischen 10.000 und 20.000 Euro. „Ich warne Eltern, sich für ein Instrument zu verschulden, das den hohen Preis klangbezogen möglicherweise in keiner Weise wert ist. Sich vorurteilsfrei bei Geigenbauern umzuschauen, wäre mein Rat, eine unbedingte Option für begabte Studenten. Weg vom Wahn. Für eine Geige darf man sich nicht opfern.“
Norbert Hornig ist Musikjournalist und Jurymitglied beim Preis der deutschen Schallplattenkritik. Er arbeitet für die Fachzeitschriften Fono Forum und STEREO, für die Musikabteilung des Deutschlandfunks, schrieb zahlreiche Programmeinführungen sowie CD-Booklets und gab das Standardwerk Große Geiger unseres Jahrhunderts von Albrecht Roeseler (Piper) neu heraus. Mehr über den Illustrator auf S. 8
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EINE KURZGESCHICHTE
1. Der fünfzehn- oder sechzehnjährige schwarze Junge mit den kurzen Dreadlocks, den großen weißen Kopfhörern und diesen riesigen weißen Turnschuhen an seinen riesigen Füßen war Czerkowski schon an der Bushaltestelle am S-Bahnhof Wannsee aufgefallen. Er stand neben dem Wartehäuschen, zwei, drei Meter entfernt, und obwohl es leicht regnete, stellte er sich nicht wie alle anderen unter oder spannte einen Regenschirm auf. Er stand einfach da und las in einem dünnen gelben Reclam-Heft, das er umgeklappt wie eine Zeitschrift in einer Hand hielt und mit der anderen Hand vor dem Regen schützte. In den Bus stieg er langsam und geistesabwesend ein, ohne von seinem Buch richtig aufzublicken. Er setzte sich gegenüber von Czerkowski auf den breiten Behindertensitz, und als sie nur ein paar Minuten später bei der Endhaltestelle ankamen – „Haus der WannseeKonferenz“, sagte die niemals alternde weibliche BVG-Stimme hart –, stolperte er vor Czerkowski lesend aus dem Bus wieder raus und blieb einfach auf dem Bürgersteig stehen, dicht an der Straße, während die anderen Fahrgäste langsam zur Heydrich-Villa gingen oder sich in den stillen Seitenwegen der Villenkolonie Alsen verloren. Czerkowski – Leo Czerkowski – war ein schon leicht müder, trauriger und sehr ehrgeiziger Mann Anfang dreißig, dessen erster Roman endlich im Herbst erscheinen sollte. Er mochte seinen altmodischen Vornamen nicht, den dann jeder auf dem Buchumschlag lesen würde, aber er hatte es bis heute nicht geschafft, sich einen anderen Vornamen für sich selbst zu überlegen. Sollte er Dieter, Ansgar oder Sascha heißen? Wenn er in den Spiegel schaute, sah er immer nur einen Leo, vielleicht mit ein bisschen Dieter oder Ansgar drin, aber es war nicht genug, damit er ganz einer werden konnte. Von Weitem wirkte Czerkowski mit seiner hohen schlanken Figur wie ein frühreifer, zu schnell gewachsener Jugendlicher, aus der Nähe ließ er jeden, der sich ein bisschen auskannte, an einen nicht mehr ganz jungen ungeduldigen Jeschiwa-Studenten mit rötlichem Mädchenhaar und neugierig aufgerissenen Augen denken. Und natürlich hatte er eine nicht ganz einfache – Ostberliner – Familiengeschichte: Sein Vater und sein Großvater Leo waren beide jüdische Kommunisten, Mimi, die Großmutter, war eine vergessene Malerin der Neuen Sachlichkeit, die sich während ihrer Internierung in Gurs äußerlich völlig gehen ließ und mit den Fingern in den ewigen französischen Schlamm die Gesichter ihrer polnischen Verwandten malte. Die andere Seite der Familie waren lauter stämmige, einfache, katholische Männer und Frauen aus dem Eichsfeld, von wo sie sich nach dem Krieg auf den Weg in die bessere Gesellschaft der neuen sozialistischen Republik aufmachten. Das alles wussten die anderen Kinder am Jüdischen Gymnasium in der Großen Hamburger nicht, auf das ihn sein Vater überraschend und gegen den Willen der Mutter gleich Anfang der 90er Jahre geschickt hatte. Aber trotzdem war er für die meisten von ihnen Luft – Mischlingsluft, wie er es nannte –, und dass er selbst mit den Mischlingen dort nichts zu tun haben wollte, machte ihn schon als Kind oft so traurig und müde. Genau davon handelte Halbjude, sein erster Roman, an dem er fast vier Jahre lang gearbeitet hatte, immer morgens und abends, wenn er nicht im Mendelssohn-Haus Dienst hatte und stundenlang auf einem kleinen harten Holzstuhl saß und die Museumsbesucher mit ihren gewöhnlichen Gesichtern, Gesprächen und Gerüchen so gut es ging ignorierte, statt darauf zu achten, ob sie sich gut benahmen und nicht zu laut waren. In der großen, herrschaftlichen Auffahrt zur Heydrich-Villa blieb Czerkowski kurz stehen und drehte sich um. Der Junge mit den weißen Kopfhörern und dem Reclam-Buch war verschwunden. Schade, dachte Czerkowski, ich hätte ihn gern gefragt, was er liest. Gleichzeitig lief eine junge Frau in einem überweiten grünen Parka vorbei – ein bisschen so wie die M-65, die er selbst anhatte –, neben ihr ging ernst und stolz ein großer hellgrauer Windhund mit irrsinnig dünnen Beinen und einem ausgemergelten Bauch, und Czerkowski zog schnell sein Telefon raus, machte heimlich ein Foto von dem Hund, lud es auf Twitter hoch und schrieb: „Windhundplage? Mein siebter diese Woche!“ Dann lief er weiter, zum Villeneingang, das Telefon in der Hand, die Kamera geöffnet. Er fotografierte die niedrigen Büsche und dürren, hohen, windschiefen Bäume, die den Weg säum-
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ten, er machte ein paar Bilder von den Schautafeln, die weiter vorn am Zaun hingen und die fünfzehn Teilnehmer der bekannten Nazi-Konferenz zeigten. Danach kamen die faksimilierten Seiten des Protokolls, das Heydrich und Himmler nach der Sitzung zusammen verfasst hatten, Czerkowskis Telefon klickte noch ein paarmal wie eine alte Kamera, aber dann steckte er es weg, ohne eins der Bilder – vielleicht sogar mit einem besonders sarkastischen Kommentar – zu posten, und ging in die Heydrich-Villa hinein. Auf einer alten Fotografie, die Czerkowski vor ein paar Jahren beim Ausräumen von Mimis Wohnung in der Lottumstraße in einem Album gefunden hatte, stand seine junge Großmutter – groß und kantig, helles, mit Sommersprossen übersätes RothaarigenGesicht – zwischen drei deutschen Soldaten und lachte. Die Soldaten lachten auch, aber nicht böse oder hinterhältig, sondern fast wie Befreier. Einer hielt einen Strauß weißer Tulpen. Es war nicht klar, ob er die Blumen Mimi geben wollte, ob er sie von ihr bekommen hatte, oder ob er gerade auf dem Weg zu seiner Geliebten war. Es war wahrscheinlich das merkwürdigste Kriegsfoto, das Czerkowski jemals gesehen hatte – auch wegen der kleinen fünf- oder sechsköpfigen Entenfamilie, die gleichzeitig durchs Bild lief. Jemand hatte Czerkowski einmal erzählt, dass er ein ähnliches Foto in der Ausstellung in der Wannsee-Villa gesehen hätte. Vielleicht, dachte Czerkowski seitdem oft, gab es ja tatsächlich ein zweites Foto, das der unbekannte Fotograf damals gemacht hatte, ein paar Sekunden später oder früher, und wenn er es sehen könnte, würde er verstehen, was in diesem Moment wirklich los war, und er hätte Stoff für eine neue Geschichte oder sogar einen ganzen Roman. Sein Vater hatte ihm, als er ihm beim Ausräumen von Mimis Wohnung das Album mit dem Foto gezeigt und ihn danach gefragt hatte, jedenfalls nur geantwortet: „Kümmer dich um deine eigenen Sachen.“ Ein wirklich vielversprechender Anfang! Jetzt also, fast drei Jahre später, ging Czerkowski im Haus der Wannsee-Konferenz von Raum zu Raum und suchte das zweite Mimi-Bild, das angeblich existierte. Er beugte sich über jede Vitrine, er las gewissenhaft jede Zeittafel und untersuchte jedes auch noch so kleine Foto, das in den großen Glaskästen oder an den Wänden zu sehen war, egal ob es einen berühmten Nationalsozialisten, Historiker oder Überlebenden zeigte. Er betrachtete lange das kleine, kindische Gesicht des nackten Engels, der auf dem Springbrunnen im Wintergarten der Villa thronte, aus der alle anderen alten Möbelstücke, Teppiche und Wandgobelins verschwunden waren und dem funktionalen Museumsmobiliar Platz gemacht hatten. Und er hörte sich sogar auf den viel zu niedrigen, olivgrünen Audio stationen alle historischen Tonaufnahmen von der ersten bis zur letzten Sekunde an – Eichmanns Verteidigungsrede in Jerusalem fand er am besten –, so als ob er auf diese Weise dem Foto von Mimi und den drei Soldaten auf die Spur kommen könnte. Nein, nichts, keine Mimi und keine Verehrer, dachte Czerkowski irgendwann, er war nur schon wieder so erschöpft und müde – und dann drehte er sich um und entdeckte hinter sich, im bläulich-schwarzen Museumszwielicht, den Jungen mit den kurzen Dreadlocks und den riesigen weißen Turnschuhen. Er hatte sein Reclam-Buch weggesteckt und sich die Kopfhörer in den Nacken geschoben und stand jetzt mit leicht geöffnetem Mund vor einem Bildschirm, auf dem eine große, unscharfe Fotografie flackerte. Zehn, zwanzig Mitglieder der Einsatzgruppen knieten oder standen auf einem Berg frisch ausgehobener Erde und zielten mit ihren Gewehren nach unten, in die Grube, in der vermutlich ein paar hundert Kinder, Frauen und Männer auf ihren Tod warteten, die man aber nicht sah. Die konzentrierten, ernsten Gesichter der Deutschen, ihre lässig sitzenden Feldmützen, die in der Sonne glänzenden Läufe ihrer Waffen – mehr musste man nicht sehen und wissen. Der Junge bewegte sich sekundenlang nicht. Dann schloss er langsam den Mund und machte einen Schritt zur Seite, aber im nächsten Moment stellte er sich wieder auf seinen alten Platz und schaute noch mal das Bild an. Warum macht er das, dachte Czerkowski, warum geht er nicht endlich weiter? Was hat das alles mit ihm zu tun? Sofort schämte er sich dafür, dass er das gedacht hatte, aber gleichzeitig überlegte er auch, ob er die Szene nicht vielleicht fotografieren und mit dem Kommentar „Schwarz allein reicht nicht?“ posten sollte. Doch auf einmal drehte sich der Junge um, er sah aus seinen weißen, strahlenden, leicht blutunterlaufenen Augen den jungen Schriftsteller kurz an und
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ging schnell weiter, zum Ausgang, vorbei an einer Gruppe von drei, vier hoch aufgeschossenen, stillen Japanern oder Koreanern mit großen weißen Baseballkappen. „Einen Moment“, sagte Czerkowski absichtlich so leise, dass der hinter der Gruppe längst verschwundene Junge ihn gar nicht hören konnte. Dann sah er sich selbst, vor zwölf, dreizehn Jahren, wie er in den Pausen meistens allein auf dem Schulhof vorn am Zaun stand, mit seinem iPod Musik hörte – damals fast immer die Barry Sisters oder Kruder & Dorfmeister – und so tat, als würde er lesen. Oft hatte er ein Philip-Roth-Buch dabei, das wusste er noch genau, in dem er manchmal sogar wirklich ein paar Absätze las. Aber viel lieber gab er vor den anderen mit Thomas Brasch an, dem alten und inzwischen vergessenen Helden seines Vaters. Der war zwar noch schwerer zu lesen, aber wie er selbst kein richtiger Jude. Doch, schon – nur dass ihm, dem Kommunisten- und Ministersohn, zu Hause auch niemand richtig beigebracht hatte, einer zu sein, was ihn bestimmt besonders verwirrte und wütend machte. Und genau darum, dachte Czerkowski plötzlich selbst überrascht, stellte er sich in dieser Zeit oft vor, wie es wäre, wenn er später auch Schriftsteller werden würde, denn er war ja auch sehr durcheinander. Und dann dachte er noch an Coleman Silk, den verwirrend weißhäutigen Schwarzen aus dem einzigen Philip-Roth-Roman, den er jemals zu Ende gelesen hatte, und fragte sich, ob der Junge mit den Kopfhörern und den weißen Turnschuhen das Buch kannte und ob er es mochte. Als Czerkowski die Heydrich-Villa verließ, hatte es schon lange aufgehört zu regnen. Gerade war es noch ein kalter, fast ein bisschen eisiger Maitag gewesen. Jetzt schien die Sonne, grell und fordernd, und als Czerkowski – der sich noch kurz gefragt hatte, ob es eigentlich Weiße gab, die wie Schwarze aussahen – in den eisblauen Himmel schaute, entdeckte er dort keine einzige Wolke. Sollte er gleich wieder in die Stadt zurückfahren, wo er ohnehin sonst immer war, in die staubigen und immerselben Straßen seines bisherigen Lebens? Oder sollte er sich noch kurz in Heydrichs herrlichem Garten umschauen? Vielleicht war ja irgendwo die Kippe einer Zigarette oder ein Streichholz liegen geblieben, die die Teilnehmer der Nazi-Konferenz damals in einer der Pausen weggeworfen hatten, dachte er. Oder es lagen hinter einem Baum ein paar vergessene russische Patronenhülsen. Czerkowski hatte schon sehr viel über diesen Garten gehört – auch von dem Mann, der angeblich in der Villa das andere Mimi-Foto gesehen hatte, einem stolzen, aber auch freundlichen älteren Schriftsteller –, und darum bog er nun von der Auffahrt nach links und sofort noch mal nach links ab, Richtung Wasser. Eine gute Entscheidung! Gleich hinter dem Haus gab es eine im Seewind leise rauschende Birkenallee, eine Rhododendronallee und eine kurze, vom blitzenden Sonnenlicht durchflutete Kastanienallee. Überall liefen zwischen dichten, dunklen Büschen kleine Treppen hinauf und hinunter, dahinter schimmerten große, geometrisch perfekte, grell duftende Beete mit roten und weißen Blumen, deren Namen Czerkowski natürlich nicht kannte. Hier saß eine kleine, dicke HermesStatue auf einem riesigen Naturstein; dort stand ein antikisierender Mauerbrunnen mit dem Gesicht irgendeines griechischen Gottes, aus dessen Mund leise ein dünnes Rinnsal lief – und die drei breiten, hellen Gartenterrassen, die sich sanft zum See senkten, strahlten ebenfalls so verführerisch in der blitzenden, frischen Maisonne, dass Czerkowski nicht anders konnte, als dem verschlungenen Seitenweg zu folgen, der ihn direkt zum Ufer führte. Dabei machte er wieder sehr viele Fotos, obwohl er gar nicht so genau wusste, was er mit ihnen später anfangen sollte. Natur, dachte Czerkowski plötzlich, es gab ja fast gar keine Natur in seinem Roman! Genau das hat damals auch der alte Schriftsteller zu ihm gesagt, nachdem er die ersten hundertzwanzig Seiten seines Manuskripts gelesen und ihn gleich danach morgens um halb acht angerufen hatte. Aber darüber wollte er dann gar nicht mehr mit ihm reden, als sie sich ein paar Tage später im Haliflor in der Schwedter Straße getroffen haben, und auch sonst verlor er über Leos Buch keine fünf Sätze. Sie saßen oben, spätnachts, auf diesen schrecklichen, zerrissenen Ledersesseln, es stank fürchterlich nach Zigaretten, und Melamed, der alte, eingebildete Kerl, nahm irgendwann seine kleine, durchsichtige Peter-Weiss-Brille ab, rieb sich mit der Hand beide Augen, so wie er es oft auf Fotos und
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in seiner Fernsehsendung machte, und sagte: „Lass dich endlich beschneiden, Leo Czerkowski! Dann bist du kein Halbjude mehr, kein Bastard, ganz einfach. Das ist meine wirkliche Meinung zu deinem Roman, den ich übrigens sehr gut finde, und wenn du ihn fertig schreibst, werde ich dir natürlich nicht helfen, einen Verleger zu finden.“ Er lachte undurchsichtig. „Und guck nicht immer wie zweitausend Jahre Vertreibung ...“ Er setzte die Brille wieder auf und sah gleich noch viel mehr wie ein alter Emigrant aus, was er ja auch war, mit seiner komplizierten Leningrad-Haifa-Miami-Berlin-Fluchtgeschichte, und Leo – der manchmal so gern Dieter oder Sascha geheißen hätte, aber wirklich nur manchmal – fing daraufhin sofort an, mit ihm zu streiten und ihn als Schtetljuden zu beschimpfen, der sich seine spießigen Halacharegeln sonstwohin stecken könne. Jetzt, am Wannsee, nickte der junge Schriftsteller aber leicht und müde, als er sich an Melameds jüdische Standpauke erinnerte, dann machte er die Twitter-App auf und guckte nach, wie vielen Leuten sein Windhundfoto gefallen hatte. Acht, dachte er, es waren dieselben acht wie immer, das musste nächstes Mal besser werden. 2. Der schwarze Junge saß gleich auf der ersten Bank auf der Uferpromenade und las wieder in seinem kleinen gelben Buch. Er hatte die Kopfhörer aufgesetzt und war so vertieft, dass er nicht merkte, wie Czerkowski langsam auf ihn zutrat und ganz aus der Nähe ein Foto von ihm machte. Dann machte er gleich noch ein zweites, das sehr viel besser war, weil man darauf im Hintergrund die Heydrich-Villa sehen konnte, er blieb stehen, probierte ein paar Filter aus, dachte, nein, Filter sind peinlich, und lud es dann so, wie es war, auf Twitter hoch. Dazu schrieb er: „Deutschlands Jugend bildet sich weiter.“ Und dahinter setzte er eine kleine deutsche Fahne und – weil es die ersten beiden afrikanischen Flaggen waren, auf die er im Netz stieß – die grün-weiße nigerianische und die lustige liberianische, die wie eine verstümmelte Version von Stars and Stripes aussah. Noch während Leo die App zumachte, sah er, dass unter dem Bild sofort etwas passierte, aber er steckte das Telefon trotzdem schnell weg und freute sich auf später, wenn er die vielen Kommentare und Likes alle auf einmal durchgehen würde. „Darf ich?“, sagte Czerkowski zu dem Jungen, der ihn erst nicht hörte. „Entschuldigung ... kann ich mich setzen?“, sagte er noch einmal lauter, und jetzt sah der Junge kurz zu ihm hoch – er hatte ein sehr großes, klares, trauriges Gesicht und eine dunkle, V-förmige Narbe am Kinn – und nickte gedankenverloren. Er las weiter, obwohl Czerkowski nicht aufhörte, ihn anzuschauen, und so vergingen ein paar endlose, friedliche Minuten, bis der Junge jäh sein Buch zuklappte, die Kopfhörer abnahm und mit seiner für einen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen viel zu tiefen Stimme nervös sagte: „Was ist? Was wollen Sie?“ „Wusstest du“, sagte Czerkowski, während er sich neben ihn setzte und auf das schwarze, ruhige Wasser und die riesige, alte, lang gezogene Badeanstalt auf dem gegenüberliegenden Ufer zeigte, „dass sich der erste Besitzer des Strandbads Wannsee 1934 umgebracht hat?“ Der Junge reagierte nicht. „Er hat es in seinem Büro gemacht. Nachdem ihm gesagt wurde, dass keine Juden mehr kommen dürfen.“ Diese Geschichte hatte Czerkowski auch von Robert Melamed gehört, dem alten Besserwisser und Wichtigtuer, aber plötzlich war er sich nicht sicher, ob sie überhaupt stimmte. Schließlich hatte es das Mimi-Foto ja auch nicht gegeben. „Das glaube ich nicht“, sagte der Junge. „War er auch Jude?“ „Und dort drüben irgendwo“ – Czerkowski deutete auf die große, dicht bewachsene Halbinsel links vom Strandbad Wannsee – „soll Goebbels gewohnt haben.“ „Kann ich jetzt weiterlesen?“, sagte der Junge. Er öffnete das kleine, schmale ReclamBuch, klappte wieder die vorderen Seiten etwas zu grob nach hinten und senkte den Blick. Er hatte vergessen, die Kopfhörer aufzusetzen, und Czerkowski wollte ihn erst daran erinnern, aber dann ließ er es sein und guckte stumm zum Strandbad herüber. Ein Segelboot fuhr in der Ferne lautlos daran vorbei, dann noch eins, in den gestreiften Strandkörben
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saßen hier und dort ein paar Leute, und Czerkowski entdeckte sogar zwei, drei Schwimmer, die sich ins kalte Wasser trauten. Das Problem war, dachte er jetzt, dass er sich nie selbst etwas ausdenken konnte. Sein Roman war leider gar kein Roman, alles war in seinem Leben genauso passiert, wie er es geschrieben hatte. Es gab wirklich dieses aufgeregte nächtliche Flüstern seiner Eltern im Schlafzimmer hinter der Wand seines Kinderzimmers, einmal, noch vor der Wende, als seine Mutter in fast jedem Satz das Wort „Jude“ sagte, bis sein Vater irgendwann böse lachte, dann hörte der kleine Leo das laute Klatschen einer Ohrfeige, und kurz darauf begannen sie laut zu stöhnen. Es gab auch den stillen, grauen Berliner Nachmittag, an dem er allein bei seinen deutschen Großeltern war – an der Jannowitzbrücke, im zehnten Stock ihres herrlichen, neuen Plattenbauturms –, wo er minutenlang am offenen Fenster stand und runterspringen wollte, weil er in ihrem Bücherregal, versteckt in der zweiten Reihe, das berühmte Hitler-Buch und einen Roman von Goebbels, die Protokolle der Weisen von Zion und eine NPD-Broschüre aus den 60er Jahren gefunden hatte. Und es gab den Moment, als er mal wieder in der Schule nach dem Sport beim Duschen seine Unterhose nicht ausziehen wollte, als einziger in der Klasse. Aber plötzlich stürzten sich alle Jungs auf ihn, nackt, glitschig, schreiend, er fiel auf den Boden, sie zogen ihm die Unterhose runter, und nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass er wirklich nicht beschnitten war, wie man es sich erzählte, schrien sie im Chor: „Leo ist ein Go-oj! Leo ist ein Go-oj! Leo ist ein Go-oj … “ Und jetzt?, dachte Czerkowski, während er auf der strahlend weißen Parkbank noch ein bisschen näher an den schwarzen Jungen heranrückte, um besser erkennen zu können, was er las. Was jetzt – um Himmels willen? Worüber sollte er eigentlich sein zweites Buch schreiben? Alles, was er wusste und kannte und erlebt hatte, steckte bereits im Halbjuden, ja, es war vorbei, aus, Ende, und er würde höchstwahrscheinlich für immer einer von diesen Typen bleiben, die in ihrem Leben nur ein Buch geschrieben haben. „Auch der größte Idiot hat zwei- bis dreihundert Seiten in sich“, hatte Melamed zu ihm gesagt, als sie fast zwei Jahre nach dem Haliflor bei einer Feuchtwanger-Lesung im Brechthaus völlig zufällig nebeneinander saßen und Czerkowski ihm erleichtert erzählte, dass er fertig war. „Jetzt erst beginnt deine Reise, armer Leo!“ Ja, der alte Angeber hatte recht, das wusste Czerkowski auch ohne ihn, und Mimis Geschichte – ihre wahre Geschichte, die ihm sein Vater beim Ausräumen ihrer Wohnung damals nicht erzählen wollte – war inzwischen seine einzige und letzte Hoffnung, dass er weitermachen konnte. Mit dem Foto in ihrem Album allein konnte er aber einfach nichts anfangen! Sie als fröhliche junge Frau, die drei aufgeregt lachenden Wehrmachtssoldaten, die weißen Tulpen, die vorbeilaufenden, niedlichen, zerzausten Enten – nein, dazu fiel ihm absolut nichts ein. War Mimi eine Prostituierte? War das in Polen oder in Frankreich? Hat sie sich und ihren Mann gerettet, weil sie immer wieder mit den Deutschen schlief? Oder kannten die drei Landser und Mimi sich von früher, aus Berlin, aus der Schule, und freuten sich über ihr zufälliges Treffen? Wollten sie ihr vielleicht sogar helfen? Waren sie es also, denen sie und Opa Leo ihr Überleben verdankten? Oder war das Bild nur eine Lüge, denn Bilder logen ja immer, ein zufälliger, tragikomischer Schnappschuss, auf dem man ein paar größenwahnsinnige Nazis und eine arme, zu Tode erschrockene Jüdin sah, die scheinbar miteinander Spaß hatten? Czerkowski hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er heute im „Haus der WannseeKonferenz“ kein anderes Foto von diesem merkwürdigen und für ihn völlig rätselhaften Augenblick gefunden hatte, das Foto, das ihm helfen sollte, zu verstehen, was damals passiert war, damit er daraus eine Geschichte machen konnte – und dass er deshalb wahrscheinlich nie wieder ein Buch schreiben würde, ein talentloser, deprimierter, eitler Idiot wie alle andern, der ab jetzt, wie alle anderen, sein talentloses Ich nur noch im Internet spazieren lassen würde. „Warum lässt du nicht alles so, wie es ist?“, hatte sein Vater am Ende zu ihm in der Lottumstraße gesagt – da standen sie schon unten vor dem Haus und warteten auf ihre Taxis –, aber er hatte nur beleidigt geschwiegen, weil er die Frage zu dramatisch und zu groß fand.
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„Was liest du da eigentlich?“, sagte Czerkowski plötzlich leicht gereizt und viel zu laut zu dem Jungen neben sich. „Lassen Sie das“, sagte der Junge, ohne aufzublicken, „ich bin nicht so einer.“ „Ich auch nicht.“ „Nein?“ „Nein – was glaubst du denn?“ „Na gut. Wenn Sie’s sagen.“ Der Junge hob stumm das Buch, er ließ Czerkowski lesen, was auf dem Umschlag stand – „Joseph Dan, Die Kabbala, Eine kleine Einführung“ –, dann senkte er das Buch wieder und sagte: „Zufrieden?“ „Ja ... also nein“, sagte Czerkowski, und er verstand selbst nicht, warum er jetzt nicht einfach den Mund hielt. „Nein, das verstehe ich wirklich nicht! Was interessiert einen wie dich daran?“ „Einen wie mich?“ „Wie alt bist du überhaupt?“ „Fast siebzehn.“ „Und bist du Jude?“ „Sind Sie einer?“ „Naja, so ähnlich.“ „Sind Sie beschnitten?“ „Nein“, sagte Czerkowski. „Das bin ich nicht, leider.“ „Ich schon. Mein Vater ist aus Nigeria, da ist das normal.“ „Bei uns waren alle Kommunisten.“ „Und haben Sie schon mal was über die Kabbala gelesen?“ „Nein, auch nicht“, sagte Czerkowski. Er grinste und dachte, die Welt ist voller Widersprüche. „Wir machen das gerade in Religion“, sagte der Junge gelangweilt. „Und den Holocaust habt ihr in Geschichte?“ „Ja, genau.“ „Unglaublich, diese Deutschen“, sagte Czerkowski leise, wie zu sich selbst. „Sie lassen nie ihre armen Kinder in Ruhe.“ „Wie bitte?“ „Und wo sind deine anderen Klassenkameraden?“, sagte Czerkowski jetzt wieder lauter. „Die waren schon gestern da. Die wollten mich nicht mitnehmen.“ Sie schwiegen kurz – der Junge, weil er offenbar keine Lust mehr hatte zu reden, Czerkowski, weil ihm peinlich war, was er am Anfang gesagt hatte –, und dann wurde innerhalb weniger Sekunden der Himmel über ihnen lila oder grau oder etwas in der Art, es fielen ein paar Tropfen, aber bald hörte es wieder auf zu regnen, und die Sonne kam noch schneller zurück als sie verschwunden war. Czerkowski schaute ganz nach oben. Am Himmel, genau über ihnen, zog schnell eine riesige, fast schwarze Wolke vorbei, und er dachte, vielleicht ist das im Leben auch so, meistens hell, aber nur manchmal wird es kurz dunkel. Und jetzt, dachte er weiter, war der dunkle Moment bereits wieder vorbei, und er konnte sich, wie schon seit Monaten, nun wieder darauf freuen, dass er Ende August sein erstes, echtes, richtiges Buch in den Händen halten würde. Bald würden dann auch die ersten Kritiken erscheinen, er würde mit etwas Glück ein oder zwei oder noch mehr Interviews geben, Zeitungen würden Fotos von ihm drucken, und er könnte vielleicht sogar eines Tages aufhören, im Museum zu arbeiten, Hauptsache, er schrieb doch weiter, irgendwie weiter. Das Cover von Halbjude war tiefschwarz – ohne Foto oder Zeichnung, nur mit Schrift, mit einer großen, weißen Schrift, die so ähnlich wie hebräische Schrift aussah, mit geschwungenen Enden und dickbäuchigen Bögen und Balken. Das war seine eigene Idee gewesen, und alle im Verlag waren sofort einverstanden. Die gleichen stilisierten Lettern hatte Melamed vor vielen Jahren für den ersten Teil seiner Autobiographie benutzt, die noch in Leningrad, Haifa und Miami spielte. Es war sein berühmtestes und erfolgreichstes Buch, vermutlich, weil es darin noch nicht gegen die Deutschen ging, sondern gegen
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die Russen, Juden und Amerikaner, und Czerkowski hatte es schon zweimal gelesen. Als es rauskam, war er sogar bei Melameds Lesung von Der jüdische Odysseus im Deutschen Theater gewesen. Er war damals ungefähr so alt wie der schwarze Junge mit den weißen Turnschuhen und dem Buch über die Kabbala heute, und seine Mutter hatte versucht, es ihm auszureden. Sie bot ihm sogar an, ihm stattdessen Karten für das HotChip-Konzert in der Columbiahalle zu kaufen, aber er ging trotzdem lieber ins DT, und hinterher stand er so lange bei dem kleinen barocken Tischchen im Foyer herum, an dem Melamed seine Bücher signierte, bis niemand mehr da war und Melamed ihn fragte, ob er auch eine Unterschrift wolle. Leo sagte, er könne es sich leider nicht leisten, ein Buch zu kaufen, darum schenkte ihm der Schriftsteller die schon leicht abgenutzte Ausgabe, aus der er an diesem Abend vorgelesen hatte, und schrieb für ihn rein: „Für Leo, als Warnung vor einem unnützen und sehr gefährlichen Beruf. Glaub mir, das ist nur etwas für die ganz Leichtsinnigen! Dein Robert Melamed.“ Darunter malte er einen Smiley mit zwei Davidsternen als Augen. „Was heißt, einer wie ich?“, sagte der schwarze Junge und starrte Czerkowski plötzlich aus seinen großen, weißen, leicht rot unterlaufenen Augen wütend an. „Sie haben immer noch nicht gesagt, was Sie damit meinen.“ Nein, darauf hatte Czerkowski jetzt wirklich keine Lust! Die pechschwarze Wolke war doch gerade erst vorbeigezogen, der Himmel seines Lebens war wieder hell und klar, und er würde sich bestimmt nicht von diesem frühreifen, depressiven Teenager die Stimmung verderben lassen. Warum also nicht lieber sofort an etwas anderes denken, dachte er, bevor er gleich wieder etwas Falsches sagen würde? Und schon fiel ihm ein, dass er das Foto von Mimi und den drei Soldaten, das er damals in der Lottumstraße noch schnell mit dem Telefon abfotografiert hatte, ins Internet stellen und die anderen Leute dort fragen könnte, ob ihnen daran etwas bekannt vorkam oder ob sie vielleicht schon mal ein ähnliches Bild gesehen haben. „Meine Großmutter Mimi und ihre drei Naziverehrer“, würde er dazuschreiben. Und: „Wo war dein Opa im Krieg? Unter ihrer Decke?“ Czerkowski lächelte – er merkte aber gar nicht, dass er lächelte – und freute sich schon darauf, wie wütend manche reagieren würden. Bestimmt, überlegte er weiter, würde es aber auch viele geben, die sich schämen und genau das darunterschreiben würden. Und vielleicht würde sich sogar wirklich jemand bei ihm melden, der sich daran erinnerte, wie sein Großvater früher immer von einer schönen, großen, rothaarigen Jüdin erzählte, die er in Polen oder Frankreich getroffen und nie vergessen hatte – und so weiter und so weiter –, und so würde Czerkowski endlich die ganze Mimi-im-Krieg-Geschichte erfahren und müsste sie nur noch schreiben. Czerkowski – gerade noch verzweifelt, jetzt wieder zuversichtlich und bestimmt bald wieder am Boden zerstört und müde von seinen ewigen Höhen und Tiefen – lächelte noch einmal und nickte zufrieden, aber auch irgendwie gestellt und traurig, und gleichzeitig rückte der schwarze Junge mit einem schnellen Ruck auf der Bank von ihm weg und sagte: „Ja, alles klar. Ihr Juden seid auch nicht anders. Wir haben drei Juden in der Klasse, alle aus Russland, und wenn die Lehrer nicht gucken, spucken sie mich von hinten an. Oder sie legen mir heimlich verfaulte Bananen in den Rucksack.“ „Das tut mir wirklich sehr leid“, sagte Czerkowski. „Das sind keine guten Jungs, und es werden auch keine guten Männer aus ihnen werden.“ Er presste die Lippen zusammen, schob die Stirn besorgt hoch, und überhaupt versuchte er, jetzt so ernst wie möglich zu schauen. Der Junge, der ihn gerade noch so wütend angeschaut und auch ziemlich laut und unregelmäßig geatmet hatte, beruhigte sich sofort wieder, er schnaufte nicht mehr, er schien sogar ein bisschen zu lächeln, aber dann füllten sich auf einmal seine weißen Kinderaugen mit Tränen. „Weißt du, wer Coleman Silk ist?“, sagte Czerkowski. „Wer?“ „Coleman Silk“, wiederholte Czerkowski besonders langsam den Namen der berühmten Philip-Roth-Figur, wobei er auch noch jede einzelne Silbe wie ein gutmütiger Englischlehrer dehnte.
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„Nein“, sagte der Junge und kratzte sich plötzlich ganz schnell und nervös an der Narbe auf seinem Kinn. „Wer soll das sein? Keine Ahnung.“ „Das ist ein Mann aus einem amerikanischen Roman. Er ist ein Schwarzer, der mit weißer Haut geboren wird, und als Erwachsener beschließt er, kein schwarzer Mann zu sein. Das geht natürlich daneben.“ „Na und?“ „Vielleicht bist du ja auch so eine Art Coleman Silk, nur andersrum, verstehst du?“ Czerkowski streckte die Hand aus. Er legte sie vorsichtig – als Zeichen seiner Friedlichkeit und Freundschaft – auf die Hand des Jungen, der sich immer noch wütend und selbstvergessen an seinem inzwischen glutroten Kinn kratzte, und sagte: „Vielleicht bist du ein Weißer, der mit schwarzer Haut geboren wurde. Wäre das nicht fantastisch?“ Kaum hatte er das gesagt, wusste er, dass es falsch war, aber jetzt war es schon zu spät. Der Junge schlug seine Hand weg, er sprang auf und rannte – ja, er rannte – einfach weg. Erst rannte er ein paar Meter nach links am Ufer entlang, bis er merkte, dass es dort nicht zum Ausgang ging, dann drehte er um und lief wieder zu Czerkowski zurück. Er blieb vor ihm stehen, wieder schwer und schnell atmend, er beugte sich zu ihm herunter und sagte mit brechender Teenagerstimme, die gar nichts Tiefes und Männliches mehr hatte: „Wissen Sie, was Zimzum ist?“ Und bevor Czerkowski Nein sagen konnte, sagte er: „Das ist irgend so ein Kabbala-Bullshit, alles klar? Das heißt so viel wie: dass Gott nicht überall ist, also schon gar nicht dort, wo Leute sind. Ja, vor allem Leute wie Sie! Ver-ste-hen-Sie?!“ Und dann holte er aus, Czerkowski krampfte sich am ganzen Körper zusammen, aber bevor er zuschlug, senkte der Junge den Arm, er drehte sich um und ging in die andere Richtung weg, und nach ein paar Metern verschwand seine große, dünne Gestalt in Heydrichs verwunschenem, dunklem Zaubergarten. Czerkowski saß noch lange allein auf der Bank und sah auf den See, aufs graublaue Wasser, auf den schönen, sich elegant wölbenden, dunkelgrünen Wald, hinter dem sich irgendwo das alte Goebbels-Anwesen versteckte. Er schaute zum alten Strandbad hinüber, das kurz darauf ebenfalls für ein paar Minuten von einem riesigen Schatten verdunkelt wurde, und als auch dort, auf dem gegenüberliegenden Ufer, die Sonne wiederkam, nahm er sein Telefon raus und suchte im Bilder-Ordner das Foto von Mimi und den Soldaten. Er fand es ziemlich schnell, obwohl es ganz hinten war, machte die Twitter-App auf und überlegte, ob er wirklich „Wo war dein Opa im Krieg?“ dazu schreiben sollte – und dann sah er plötzlich das Chaos und Drama, das sich unter dem letzten Foto, das er gepostet hatte, abspielte. Verdammt, das hatte er ja völlig vergessen! Unter dem Windhundfoto herrschte immer noch völlige Windstille, aber das Bild von dem Jungen mit dem Reclam-Buch vor der Heydrich-Villa hatten inzwischen mehr als dreitausend Leute kommentiert. Dreitausend? So viele folgten ihm doch gar nicht. Wie konnte das sein? Er sah weg, sah wieder hin, sah wieder weg, sah noch mal hin. Ja, es war so, die verrückte Zahl 3281 stand bei den Kommentaren, es gab fast genauso viele Retweets und fast gar keine Herzchen. „Deutschlands Jugend bildet sich weiter.“ Oh Gott! Wirklich? Ja, leider. Genau das hatte er Idiot selbst unters Foto von dem Jungen geschrieben, und jetzt schrieben die anderen: „Du Drecksrassist wurdest von den Leuten aus der Wannsee-Villa vergessen!“ Oder: „Zionismus ist Rassismus.“ Oder einfach nur: „Black Lives Matter.“ Czerkowski machte das Telefon aus – ganz aus – und steckte es langsam und vorsichtig in die Tasche seines festen, grünen, alten Militärparkas, den er sich vor fast fünfzehn Jahren als Schüler für sehr viel Geld auf dem Mauerpark-Flohmarkt gekauft hatte, weil er sich darin immer so unverwundbar fühlte. Dann zog er den halb offenen Reißverschluss hoch, obwohl es immer noch sehr sonnig und warm war, er schob beide Hände tief in die Jackentaschen – und schloss, noch müder und erschöpfter als sonst, die Augen. 3. Gleich die erste Nachricht, die Leo am übernächsten Tag morgens um sechs auf seinem iPhone entdeckte – so lange hatte er das Telefon seit dem Wannsee nicht mehr angemacht –, war vom alten Melamed. Der Schriftsteller schrieb ihm, dass es ihm leid tue,
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© Maxim Biller, Berlin (Juli 2020)
was in den letzten 72 Stunden passiert war, der Sturm im Internet, die Artikel und Kommentare im Deutschlandfunk, im SWR, in der Süddeutschen, die grauenhafte Presseerklärung seines Verlags, der jetzt also nicht mehr sein Verlag war. „Aber, mein armer Leo“, fuhr Melamed fort, „wir müssen uns immer konzentrieren und die richtigen Fragen stellen. Wer sind unsere Gegner? Was hätten sie früher mit uns gemacht? Und was müssen wir ihnen antworten, wenn wir ihnen in Friedenszeiten auf der Straße begegnen? Nichts natürlich! Ich bin ja erst mit fünfzehn nach Deutschland gekommen, das weißt du, und als ich Abitur gemacht habe, sagte mein Deutschlehrer in der mündlichen Prüfung zu mir, es wäre erstaunlich, dass jemand wie ich so klug und gefühlvoll und fast ohne Akzent über Hölderlins Gedicht An die Parzen sprechen kann. Was habe ich darauf geantwortet? Nichts, kein Wort – aber zwanzig Jahre später habe ich für Geschwister Bronfman ein paar Szenen und Dialoge geschrieben, die ich ohne meinen ewigen Hölderlin-Ekel, den ich seitdem habe, nicht hätte schreiben können. Verstehst du? Ich kann es auch anders sagen: Unsere Sprache ist eine Geheimsprache, Leo, sie ist ein Schweigen in Worten, und das lernst du jetzt gerade. Masel tov, Lieber! Dein Robert Melamed. PS: In Berlin gibt es einen neuen, sehr guten ungarischen Mohel, habe ich gehört. Wenn du dich traust und zu ihm gehst, werden die Internet-Kosaken wenigstens nicht mehr behaupten können, dass du kein richtiger Jude bist. Aber ich würde mich an deiner Stelle doch nicht beschneiden lassen, du zorniges Halbblut, haha.“ Czerkowski – der immer so schrecklich erschöpfte und niedergeschlagene Leo Czerkowski, der seit seiner Kindheit ein Schriftsteller werden wollte und die Verwirklichung seines Traums jetzt also noch einmal um viele Jahre verschieben musste – schaltete sein Telefon auf Flugmodus, er legte es auf den Boden und sah an die Decke. Er lag in der Christinenstraße in seiner kleinen Küche auf dem alten Biedermeiersofa mit dem zerfetzten Rückenpolster, das er damals aus Mimis Wohnung gerettet hatte, er hatte noch immer die unverwüstliche, schwere M-65 an, und die Schuhe hatte er seit vorgestern auch nicht ausgezogen. Seit er vom Wannsee nach Hause gekommen war, lag er hier. Er hatte nichts gegessen, fast gar nichts getrunken – nur manchmal beugte er sich im Bad übers Waschbecken und trank wie ein Hund aus dem Wasserhahn –, und geschlafen hatte er auch fast keine einzige Minute. Eine Weile hatte er versucht, die Gespräche der unten vorbeigehenden Passanten zu belauschen, um an etwas anderes als an den Jungen mit den Dreadlocks und dem Reclam-Buch zu denken, aber leider verstand er fast nie, was sie sagten. Dann dachte er an sein altes Kinderzimmer, an die Depeche-Mode- und Herzl-Plakate, die dort hingen, an das Foto von Ernst Thälmann über dem Schreibtisch, dem er einen kleinen Hitlerbart angemalt hatte, und für ein paar Augenblicke erinnerte er sich daran, wie seine Mutter roch – frisch, süß, aber auch immer noch ganz leicht nach Schweiß –, wenn sie morgens nach dem Duschen aus dem Bad rauskam. Aber dann sah er ihr fast weißes, breites deutsches Provinzgesicht mit den durchsichtigen Augenbrauen und dem ewig verschüchterten, nach innen gewendeten Blick und bekam noch schlechtere Laune. Es war ja noch viel schlimmer gekommen, als er befürchtet hatte, dachte er jetzt ganz ruhig und müde. Er starrte inzwischen wieder, wie schon seit Stunden und Tagen, diesen kleinen Wasserfleck an der Decke an, der manchmal wie das Gesicht eines alten Indianers mit einer übertrieben großen Nase und wildem Federschmuck aussah und manchmal nur wie ein Fleck. Gleichzeitig versuchte er, sich zu erinnern, wann er das nächste Mal im Museum Dienst hatte und ob ihre alte Ostberliner Telefonnummer mit 48 oder 49 anfing, und an die große, dicke, braune Honecker-Brille seines Vaters, der sie oft abnahm und irgendwo in der Wohnung liegen ließ und später lachend suchte, dachte er auch. Und dann endlich schlief Leo ein und träumte, dass er in der Christinenstraße im Arbeitszimmer an einem riesigen altmodischen Computer saß und die Mimi-im-KriegGeschichte schrieb – und dass jedes Wort, jeder Satz, jede Zeile, die er tippte, von dem kleinen, giftgrünen, flackernden Bildschirm sofort wieder verschwand. Mehr über den Autor auf S. 8
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Spielplan 23.10. 2020 29.01. 2021 Aufgrund der aktuellen Situation kann es immer wieder zu Abweichungen im Spielplan kommen. Unter www.staatsoper.de halten wir Sie über mögliche Änderungen auf dem Laufenden.
Oper Giuseppe Verdi MACBETH Musikalische Leitung Giampaolo Bisanti Regie Martin Kušej Željko Lučić, Callum Thorpe / Alex Esposito, Liudmyla Monastyrska, Mirjam Mesak, Saimir Pirgu, Dean Power, Martin Snell, Christian Rieger, Andrew Hamilton, Sarah Gilford, Solist des Tölzer Knabenchors Sa 24.10.20 19.00 Uhr Do 29.10.20 19.00 Uhr So 01.11.20 19.00 Uhr
Alban Berg WOZZECK Musikalische Leitung Vladimir Jurowski Inszenierung Andreas Kriegenburg Simon Keenlyside, John Daszak, Tansel Akzeybek, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Clive Bayley, Tobias Schabel, Boris Prýgl, Ulrich Reß, Anja Kampe, Ursula Hesse von den Steinen, Solist des Kinderchors So 25.10.20 18.00 Uhr
Hinweise zu Ihrem Besuch finden Sie unter www.staatsoper.de/besuch.
Walter Braunfels DIE VÖGEL Musikalische Leitung Ingo Metzmacher Inszenierung Frank Castorf
Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt. 64
Wolfgang Koch, Günter Papendell, Caroline Wettergreen, Emily Pogorelc, Yajie Zhang, Eliza Boom, Bálint Szabó, Theodore Platt, George Vîrban, Charles Workman, Michael Nagy Sa 31.10.20 18.00 Uhr Do 05.11.20 19.00 Uhr So 08.11.20 19.00 Uhr Do 12.11.20 19.00 Uhr So 15.11.20 16.00 Uhr
Premiere A uch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv 1
Giacomo Puccini LA BOHÈME
Engelbert Humperdinck HÄNSEL UND GRETEL
Musikalische Leitung Bertrand de Billy / Eun Sun Kim Inszenierung Otto Schenk
Musikalische Leitung Friedrich Haider Inszenierung Richard Jones
Rachel Willis-Sørensen / Ailyn Pérez, Mirjam Mesak, Jonas Kaufmann / Benjamin Bernheim, Andrei Zhilikhovsky / Davide Luciano, Sean Michael Plumb, Tareq Nazmi / Callum Thorpe, Andres Agudelo / Caspar Singh / James Leigh, Christian Rieger, Karel Martin Ludvik / Martin Snell, Milan Siljanov / Christian Valle, Oğulcan Yilmaz / Theodore Platt
Milan Siljanov, Rosie Aldridge, Tara Erraught / Corinna Scheurle, Maureen McKay / Emily Pogorelc, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke / Kevin Conners, Daria Proszek, Sarah Gilford
So Fr Mi Mi Sa Mo
22.11.20 27.11.20 09.12.20 16.12.20 19.12.20 21.12.20
18.00 19.00 19.00 20.00 18.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Fr 11.12.20 18.00 Uhr So 13.12.20 11.00 Uhr So 13.12.20 18.00 Uhr In Kooperation mit der Welsh National Opera, Cardiff
Wolfgang Amadeus Mozart DIE ZAUBERFLÖTE Giacomo Puccini TOSCA
Musikalische Leitung Antonello Manacorda Inszenierung August Everding
Musikalische Leitung Marco Armiliato Inszenierung Luc Bondy
Georg Zeppenfeld, Martin Mitterrutzner, Bo Skovhus / Milan Siljanov, Nina Minasyan, Christiane Karg, Jacquelyn Stucker, Samantha Hankey, Okka von der Damerau, Andrè Schuen, Juliana Zara, Kevin Conners, Scott MacAllister, Peter Lobert, Wolfgang Grabow, Bernd Schmidt, Solisten des Tölzer Knabenchors
Anna Netrebko / Kristine Opolais, Yusif Eyvazov, Ambrogio Maestri, Bálint Szabó, Martin Snell, Kevin Conners, Christian Rieger, Christian Valle, Solist des Tölzer Knabenchors Mi Sa Di Fr
25.11.20 28.11.20 01.12.20 04.12.20
19.00 19.00 19.30 19.30
Mi Fr So Mi Fr
Uhr Uhr Uhr Uhr
23.12.20 25.12.20 27.12.20 30.12.20 01.01.21
18.00 17.00 16.00 19.00 18.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
gefördert durch Johann Strauß DIE FLEDERMAUS Musikalische Leitung Friedrich Haider Nach einer Inszenierung von Leander Haußmann Johannes Martin Kränzle, Rachel Willis-Sørensen, Franz Hawlata, Okka von der Damerau, Galeano Salas, Michael Nagy, Ulrich Reß, Sofia Fomina, Gerhard Polt, Eva Patricia Klosowski, Wellbrüder aus'm Biermoos, Jurij Diez
Giuseppe Verdi FALSTAFF Musikalische Leitung Michele Mariotti Inszenierung Mateja Koležnik Wolfgang Koch, Boris Pinkhasovich, Galeano Salas, Kevin Conners, Callum Thorpe, Ailyn Pérez, Dorottya Láng, Timothy Oliver, Mélissa Petit, Judit Kutasi Do So Mi Sa
26.11.20 29.11.20 02.12.20 05.12.20
19.00 18.00 19.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr
Sa 12.12.20 19.00 Uhr
Do So Di Do
31.12.20 03.01.21 05.01.21 07.01.21
17.00 18.00 19.00 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr
Premiere
Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv 1
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Giuseppe Verdi UN BALLO IN MASCHERA Musikalische Leitung Paolo Carignani Inszenierung Johannes Erath Joseph Calleja, Vladislav Sulimski, Sondra Radvanovsky, Okka von der Damerau, Emily Pogorelc, Boris Prýgl, Anatoli Sivko, Bálint Szabó, Ulrich Reß, George Vîrban So 10.01.21 19.00 Uhr Mi 13.01.21 19.00 Uhr So 17.01.21 18.00 Uhr sponsored by
Giacomo Puccini MANON LESCAUT Musikalische Leitung Marco Armiliato Inszenierung Hans Neuenfels Sonya Yoncheva, Davide Luciano, Stefano La Colla, Martin Snell, Caspar Singh, Christian Rieger, Ulrich Reß, Daria Proszek, Peter Lobert, George Vîrban, Andrew Hamilton Sa Di Fr Mo
16.01.21 19.01.21 22.01.21 25.01.21
19.00 19.00 19.30 19.00
Uhr Uhr Uhr Uhr
sponsored by
Ballett Ray Barra, Marius Petipa, Lew Iwanow SCHWANENSEE Musik Peter I. Tschaikowsky Musikalische Leitung Tom Seligman Di Fr Mo Do So So Sa Mo Mi Mi
27.10.20 30.10.20 30.11.20 03.12.20 06.12.20 06.12.20 02.01.21 04.01.21 06.01.21 06.01.21
19.30 19.30 19.30 19.30 15.00 19.30 19.00 19.00 15.00 19.30
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
MATINEE DER HEINZ-BOSL-STIFTUNG So 01.11.20 11.00 Uhr So 08.11.20 11.00 Uhr
PARADIGMA Sunyata (Choreographie Wayne McGregor) Bedroom Folk (Choreographie Sharon Eyal) With a Chance of Rain (Choreographie Liam Scarlett) Musik Kaija Saariaho / Ori Lichtik / Sergej W. Rachmaninow
Ludwig van Beethoven FIDELIO Musikalische Leitung Markus Stenz Inszenierung Calixto Bieito
Di Sa Mi Sa Sa Mo
03.11.20 07.11.20 11.11.20 14.11.20 21.11.20 23.11.20
19.30 19.30 19.30 19.30 19.30 19.30
Uhr Premiere Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
supported by
Tareq Nazmi, John Lundgren, Klaus Florian Vogt, Anja Kampe, Franz-Josef Selig, Emily Pogorelc, Dean Power, Caspar Singh, Christian Valle Di 26.01.21 19.30 Uhr Fr 29.01.21 19.00 Uhr
PASSAGEN To get to become (Choreographie Philippe Kratz) Uraufführung Broken Fall (Choreographie Russell Maliphant) N. N. Musik Milo u. a. / Erik Satie / N. N. So Di Sa Do Fr Mo
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20.12.20 22.12.20 09.01.21 14.01.21 15.01.21 18.01.21
19.00 19.30 19.30 19.30 19.30 19.30
Uhr Premiere Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa GISELLE Musik Adolphe Adam Musikalische Leitung Valery Ovsyanikov, Robertas Šervenikas Sa Sa Mo Di Sa So
26.12.20 26.12.20 28.12.20 29.12.20 23.01.21 24.01.21
15.00 19.30 19.00 19.00 19.30 18.00
Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Konzert 2. KAMMERKONZERT: VIELSTIMMIGES VOM KONTRABASS Mi 11.11.20 20.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche So 15.11.20 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche
VORSTELLUNG DES BAYERISCHEN STAATSBALLETTS Mi 27.01.21 19.30 Uhr Prinzregententheater Do 28.01.21 19.30 Uhr Prinzregententheater Fr 29.01.21 19.30 Uhr Prinzregententheater
Lied
SONDERKONZERT RICHARD STRAUSS Musikalische Leitung N. N. Solisten Diana Damrau, Klaus Florian Vogt Do 19.11.20 20.00 Uhr
BALLO BAROCCO PORTRÄTKONZERT DES OPERNSTUDIOS
Do 26.11.20 17.30 Uhr Allerheiligen Hofkirche Do 26.11.20 20.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche
Sarah Gilford / Christian Valle Fr 06.11.20 19.30 Uhr Künstlerhaus Daria Proszek / Andrew Hamilton So 06.12.20 18.00 Uhr Künstlerhaus Eliza Boom / Andres Agudelo Fr 22.01.21 19.30 Uhr Künstlerhaus
2. AKADEMIEKONZERT Musikalische Leitung Krzysztof Urbański Bariton Thomas Hampson Mo 07.12.20 20.00 Uhr Di 08.12.20 20.00 Uhr
ARIENABEND Das neue Opernstudio stellt sich vor
WEIHNACHTEN MIT OPERABRASS
Fr 27.11.20 19.30 Uhr Cuvilliés-Theater
Sa 12.12.20 20.00 Uhr St. Michael
3. AKADEMIEKONZERT Musikalische Leitung Zubin Mehta Sopran Anja Harteros Mo 11.01.21 20.00 Uhr Di 12.01.21 20.00 Uhr
3. KAMMERKONZERT: AUS MEINEM LEBEN So 17.01.21 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche
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Campus
Extra PREMIERENMATINEE
Gordon Kampe SPRING DOCH Fr Sa So So Fr
04.12.20 05.12.20 06.12.20 06.12.20 11.12.20
17.00 16.00 14.00 17.00 17.00
FALSTAFF So 22.11.20 11.00 Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
Rennert-Saal Uraufführung Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal
OPERNDIALOG DIE VÖGEL So 08.11.20 10.00 Uhr Capriccio-Saal Mo 09.11.20 15.30 Uhr Capriccio-Saal
SPIELOPER/SPIELBALLETT
FALSTAFF Sa 05.12.20 10.00 Uhr Capriccio-Saal So 06.12.20 10.00 Uhr Capriccio-Saal
HÄNSEL UND GRETEL Sa 05.12.20 10.00 Uhr Große Probebühne So 06.12.20 11.00 Uhr Große Probebühne MONTAGSRUNDE DIE ZAUBERFLÖTE Sa 12.12.20 10.00 Uhr Wernicke-Saal Sa 19.12.20 10.00 Uhr Wernicke-Saal
DIE VÖGEL Mo 16.11.20 20.00 Uhr Capriccio-Saal
GISELLE So 17.01.21 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal, Nationaltheater
FALSTAFF Mo 14.12.20 20.00 Uhr Capriccio-Saal
SITZKISSENKONZERT Mit freundlicher Unterstützung des Inner Circle der Bayerischen Staatsoper DIE GESCHICHTE VON BABAR, DEM KLEINEN ELEFANTEN Sa 14.11.20 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater Sa 21.11.20 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater
MOMO, DER KLEINE ZIRKUSJUNGE Sa 12.12.20 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater Sa 19.12.20 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater
DIE SPIELZEUGSCHACHTEL Sa 16.01.21 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater Sa 23.01.21 14.30 Uhr Parkettgarderobe, Nationaltheater Mit freundlicher Unterstützung der Freunde des Nationaltheaters e.V.
OPER.ÜBER.LEBEN: LA BOHÈME Mo 21.12.20 18.15 Uhr Königssaal im Nationaltheater
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DER SCHWUNG DER FIGUR Bildende Künstlerinnen und Künstler interpretieren Rainer Maria Rilkes geheimnisvollen „Schwung der Figur“. Diesmal: PHYLLIDA BARLOW
Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow (*1944 in Newcastle upon Tyne) ist für ihre raumgreifenden Installationen aus Alltagsmaterialien bekannt, die sie mit Farbe und anderen Schichten überzieht und so in ein neues Verhältnis zueinander bringt. Im Sommer 2021 wird sie an der Bayerischen Staatsoper das Bühnenbild von Mozarts Idomeneo gestalten. Barlows Papierarbeit Dark Lighthouse zeigt einen Leuchtturm, der Schatten wirft anstelle von Licht. Die Dunkelheit des nächtlichen Meeres wird nicht erleuchtet, sondern in Schwärze getaucht. Sie bezieht die symbolische Umkehrung von Licht und Dunkelheit sowohl auf Rilkes Gedanken über die Notwendigkeit von „Wandlung“ und „wendendem Punkt“ innerhalb des künstlerischen Schaffensprozesses als auch auf das Geschehen in Idomeneo, wo Unheil und Verzweiflung aus dem umgebenden Meer drohen und die Ambivalenzen von Liebe, Verzweiflung, Betrug, Realität und Fantasie die Handlung vorantreiben.
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Freude am Fahren