MAX JOSEPH 2019/20 | No. 3 „Loslassen“

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A   Joseph

KILL KILL YOUR YOUR DARLINGS DARLINGS № № 1: 3: Festhalten Loslassen

Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

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A   M Joseph X

KILL YOUR DARLINGS № 3: Loslassen

Das Magazin der Bayerischen Staatsoper


Š Ferdinando Scianna / Magnum Photos / Agentur Focus


Editorial Keiner will jemals gehen Nachts, Hinterm Rücken der Wächter, Kommen sie, stehen vorm Fenster Warten dass man sie ruft Keiner lässt je irgendwen gehen Nachts, Wenn die Kinder schlafen, Stellen sie ihren Leuten Ein Glas Wodka vors Haus, einen Happen zu essen Und stehen dann lange Hinterm verriegelten Fenster Weder sterben kann man vernünftig Noch auferstehen Die Unvergessenen und die Un-Vergesslichen Kriegen sich einfach nicht tot Grenze von Maria Stepanova Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Als wir die russische Lyrikerin Maria Stepanova baten, uns ein Gedicht zum Thema „Loslassen“ für diese Ausgabe von Max Joseph zu schreiben, schickte sie uns die nebenstehenden Zeilen mit dem Titel Grenze. Grenzen gibt es dieser Tage viele. Solche, an denen immer wieder die Frage von Humanität neu verhandelt wird, wie derzeit an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Es gibt ideologische Grenzen, wie sie im thüringischen Landtag übertreten wurden, was die Erschütterung der gesamten Bundesrepublik zur Folge hatte. Auf der Bühne stoßen wir an künstlerische Grenzen – machen sie zum Thema, überwinden sie, halten sie aus. Und natürlich gibt es noch die universale Grenze, die zwischen Leben und Tod, von der auch Stepanova schreibt. Die Frage ist: Was lassen wir los, wenn wir eine Grenze überschreiten? Und wie notwendig oder unmöglich ist das? Vor dem Hintergrund unseres Spielzeitthemas KILL YOUR DARLINGS markiert das Loslassen den letzten Schritt. Wir haben festgehalten, gekämpft und nun machen wir uns frei, treten über die Schwelle, dem Unbekannten entgegen. Wie schwierig das in äußerster Konsequenz sein kann, erklärt der Autor Timo Stein in seinem Essay, der dieses Heft eröffnet. Richtung Jenseits wankt auch die Performancekünstlerin Marina Abramović, die in 7 Deaths of Maria Callas den großen Bühnentoden der Callas nachspürt. Dass, wo losgelassen wird, auch Platz für Neues entsteht, stellt die Kulturwissenschaftlerin Petra Ahne anhand ihrer Phänomenologie des Feuers heraus, anlässlich der Opernstudio-Produktion von Mignon. Und welche wunderbare Rolle das Loslassen im Tanz spielt, lässt sich in den choreographischen Arbeiten von Alexei Ratmansky und Sharon Eyal sehen. „Keiner will jemals gehen.“ Oft braucht es auch große Überwindung. Der Regisseur David Bösch und der Komponist Gordon Kampe haben für die Bayerische Staatsoper eine Oper für Kinder kreiert. Sie heißt Spring doch. Vielleicht ist das der schönste Rat, den wir Ihnen an dieser Stelle geben können.

Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper

Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe lag der Bayerischen Staatsoper die Weisung der Staatsregierung vor, alle Vorstellungen bis einschließlich 19. April abzusagen. Die Beiträge dieses Heftes zu lesen, lohnt sich dennoch. Aktuelle Informationen finden Sie unter www.staatsoper.de sowie bei der Besucherkommunikation: besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25


A M Joseph X Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

Inhalt S. 2

Editorial Von Nikolaus Bachler

S. 8

Contributors / Impressum

S. 10

KILL YOUR DARLINGS: Folge 3 Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper erzählen, wovon sie loslassen

S. 18

Alte Welt gegen Wagnis Etwas oder jemanden loszulassen, kann befreien – oder quälen. Über eine trügerische Chance. Ein Essay von Timo Stein

S. 26

Die Verletzliche ⁂ Sterben, immer und immer wieder: Marina Abramović inszeniert 7 Deaths of Maria Callas – und zeigt den Tod. Anna Heyward traf die Performancekünstlerin in New York

S. 32

Calling Maria ⁂ Florian Heurich war am Telefon der Callas auf der Spur: Gespräche mit Bewunderern, Bühnenpartnern und Analytikern

PREMIEREN

Spielzeit 2019 / 20 KILL YOUR DARLINGS

№ 3: Loslassen

Das Covermotiv mit dem Titel Mouth aus der Serie Maternal Sheet (2019) stammt von Lindley Warren Mickunas, Fotografin, Journalistin und Kuratorin aus Chicago. Sie ist Gründerin verschiedener Publikationen wie The Ones We Love oder The Reservoire, einem kollektiven Magazinprojekt über die Politik des Bildermachens.

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S. 36

„Ein gebrochenes Herz ist nichts anderes als der Tod“ ⁂ Der serbische Komponist Marko Nikodijević spricht im Interview mit C. Bernd Sucher über Frauen, die sich singend opfern

S. 42

ende januar Eine lyrische Annäherung an das Loslassen – von Nadja Küchenmeister

S. 44

In Flammen ⁂ Ein Brand zerstört, schafft aber auch Neues. Eine Phänomenologie des Feuers von Petra Ahne, anlässlich der Premiere von Mignon

Zu den Bildrechten siehe die jeweiligen Angaben im Innenteil.

S. 50

Im Land, wo die Zitronen blühen ⁂ Eine Gedankenreise an Orte, die glücklich machen. Mit den Musikerinnen und Musikern des Opernstudios

S. 68

Im Abseits Eine Reportage über Homophobie im deutschen Spitzensport und eindimensionale Heldenbilder. Von Jörg Böckem

S. 76

„Schummeln ist erlaubt“ ⁂ Ein Herz für Zweitplatzierte: Der Regisseur David Bösch und der Komponist Gordon Kampe über ihre Kinderoper Spring doch, Mobbing und Mut, im Gespräch mit Tobias Haberl

S. 84

Durch Liebe erlöst Ein Satz aus Goethes Faust II durchzieht Mahlers achte Symphonie motivisch. Barbara Vinken geht ihm auf den Grund

S. 90

„Loslassen ist herzloser Blödsinn“ Soll man die Toten gehen lassen? Der Moral­ theologe Rupert M. Scheule spricht mit Gabriela Herpell über Verstorbene als Lebensbegleiter

S. 96

Springen, fallen, fliegen ⁂ Welche Rolle spielt das Loslassen im Tanz? Beobachtungen zu den Kreationen von Alexei Ratmansky und Sharon Eyal

Agenda

S. 66

Frisch gestrichen Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben uns Sätze geschickt, die sie aus ihren Büchern getilgt haben – wir drucken sie endlich

S. 102

Spielplan

S. 110

Rützel rät Die Ratgeberkolumne für geplagte Opernfiguren von Anja Rützel. Folge 3: die Anhängliche

S. 112

Vorschau

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Erleben Sie Stickstoff. In einer brillanten Inszenierung von Linde. Welches Aussehen hätten Gase, wenn sie sichtbar wären? Und wie würden sie klingen? Wir wollten es wissen und haben typische physikalische Eigenschaften wie Elektronenzahl oder Siedepunkt in Töne und Farben gekleidet. Mehr unter www.fascinating-gases.com. Wir begleiten die Bayerische Staatsoper im Rahmen unseres Kulturengagements als Spielzeitpartner.

Spielzeitpartner 2019/2020


N Stickstoff


Timo Stein S. 18 Loslassen liegt ihm eigentlich nicht. Trotzdem oder genau deshalb hat sich der Autor Timo Stein in seinem Essay damit befasst. Er studierte Politik, Literatur und Geschichte in Kiel und Paris und schreibt als politischer Journalist in Berlin kritische Reportagen aus dem AfD-Milieu, Porträts über Menschen, die mit einer Idee durch die Welt gehen, oder führt Interviews, in denen er sich von Robert Habeck das Leben und von Michel Houellebecq den Tod erklären lässt.

Impressum Max Joseph Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.)

Foto Matti Hillig

Contributors

Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert Keiko Kimoto S. 18 Chef vom Dienst Christoph Koch Ein Gefühl für den schwebenden und ungesicherten Zustand des Loslassens und Losgelassenwerdens vermitteln die Aquarelle von Keiko Kimoto. So unterstreichen sie visuell das Thema des Essays von Timo Stein in diesem Heft. Die in Kyōto geborene Künstlerin hat Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin studiert. Ihre Arbeiten zeigte sie in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen u. a. in Tokio, Luxemburg oder zuletzt im französischen Sète. Sie lebt in Berlin.

Redaktion Lukas Leipfinger, Rainer Karlitschek, Carmen Kovacs, Malte Krasting, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer, Sabine Voß Bildredaktion Katrin Dillkofer Schlussredaktion Katja Strube

Petra Ahne S. 44 Mit dem widersprüchlichen und komplizierten Verhältnis von Mensch und Natur beschäftigt sich die Journalistin und Autorin Petra Ahne am liebsten. Ihre Bücher sind stets ein Stück Kulturpsychologie und halten dem modernen Menschen einen Spiegel vor. So auch ihre kleine Kulturgeschichte des Feuers für Max Joseph über dessen gute und böse Macht. Ahne ist Redakteurin im Wochenendmagazin der Berliner Zeitung. Zuletzt erschien von ihr das Buch Hütten. Obdach und Sehnsucht (Matthes & Seitz, 2019).

Rinko Kawauchi S. 44 „Yakihata“ – so nennt man die traditionelle bäuerliche Technik kontrollierter Brände in Japan. Die Tokioter Fotografin Rinko Kawauchi zeigt sie in ihrer Serie Ametsuchi (2013) rund um den japanischen Vulkan Aso und widmet sich so der reinigenden Kraft des Feuers. Ihre Bilder, die Kawauchi mit einer 4x5-cm-Mittelformatkamera umgesetzt hat, begleiten den Artikel von Petra Ahne. Sie hat u. a. in der Fondation Cartier, Paris, der Photographers’ Gallery, London, und im Tokyo Metropolitan Museum of Photography ausgestellt.

Markus Burke S. 50 Menschen in ihrer Individualität zu zeigen ist das besondere Talent des Münchner Fotografen Markus Burke. So konnte er die jungen Künstlerinnen und Künstler des Opernstudios sowohl als eingeschworene Gruppe präsentieren als auch jeder Persönlichkeit einzeln nahekommen. Burke arbeitet u. a. für Vogue, Stern sowie das SZ Magazin und hat Stars wie John Malkovich, Ulrich Tukur oder die Spieler des FC Bayern porträtiert. Er studierte Fotografie an der Fachhochschule München.

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Autorinnen und Autoren Petra Ahne, Jörg Böckem, Tobias Haberl, Gabriela Herpell, Florian Heurich, Anna Heyward, Nadja Küchenmeister, Anja Rützel, Timo Stein, Maria Stepanova, C. Bernd Sucher, Barbara Vinken Bildkünstlerinnen und -künstler Rosa Viktoria Ahlers, Marco Anelli, Markus Burke, Yvonne Gebauer, Dr Julian Gravy, Rinko Kawauchi, Keiko Kimoto, Constantin Mirbach, Rolf Sachs, Wolfgang Stahr, Waldemar Strempler, Grace Weaver Marketing Eva Bergmann T 089 – 21 85 10 27, besucher@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch T 089 – 21 85 10 39, karla.hirsch@staatsoper.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Max Joseph wird auf Bio Top Naturpapier gedruckt. Das Inhaltspapier von Max Joseph ist zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial. Es ist FSC®zertifiziert und erfüllt sowohl die Kriterien des Blauen Engels als auch des EU Ecolabels. Zudem wird das Heft mit mineralölfreien Farben gedruckt.

Foto Max Lautenschläger

Anna Heyward traf sich in New York zum Gespräch mit Marina Abramović. In der Küche der Performancekünstlerin sprach sie mit ihr darüber, was es heißt, für die Liebe zu sterben, und warum sich der Tod im Genre Oper am besten darstellen lässt. Heyward arbeitet als Redakteurin beim New Yorker. Darüber hinaus schreibt sie für Publikationen wie New York Times, Vogue, T Magazine, Bookforum und The Paris Review Daily über Kunst, Literatur und kulturelles Leben.

Gestaltung Bureau Borsche Moritz Fuhrmann, Robert Gutmann, Leon Wahlefeld

Foto Arnoldas Kubilius

Anna Heyward S. 26




KILL YOUR DARLINGS

Der Aufforderung des dies­ jährigen Spielzeitthemas folgt man demütig oder nur mit Überwindung – manchmal auch gar nicht. Die Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper erzählen in dieser Reihe von den Dingen in ihrem Leben. Für die dritte Folge hat Max Joseph gefragt: Welchen Darling möchten Sie loslassen?

Protokolle Sarah-Maria Deckert, Sabine Voß

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Ich würde gern meinen Computer loswerden. Er gibt mir ständig die Illusion, produktiv zu sein und eine gewisse Macht zu haben, aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Geht es nicht vielmehr darum, wie wir uns Informationen beschaffen? Wie man an einer Sache arbeitet? Mir gefällt nicht, welchen Einfluss das Leben im Internet auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen hat. Die Menschen wissen nicht mehr, wie man miteinander, mit der Energie des jeweils anderen umgehen sollte. Sie verlernen, wie man einander richtig zuhört. Und dabei geht es in meinem Beruf doch genau darum: sich wahrzunehmen. Jeder wird im Netz zum Zentrum seiner eigenen Welt. Hier kann man sich sein eigenes Universum erschaffen – und das finde ich gefährlich. Es ist zwar nicht sehr realistisch, meinen Computer völlig aufzugeben, vermutlich bleibt es ein Traum. Aber das ist meine Art, mich romantisch darüber zu beschweren.

Willem Dafoe, Schauspieler

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Ich hänge an den Mitschriften, die ich während der letzten Proben eines Stücks mache. Es sind Notizen und Satzfetzen, im Dunkel des Zuschauer­ raums mit fliegender Hand aufs Papier geworfen. Die Intensität vor der Premiere spiegelt sich darin wider. Die verwendeten Bilder und Abkürzungen folgen einer eigenen Sprache, die sich während der Pro­ ben entwickelt hat und die zeigt, wie tief wir in der Welt des Stücks leben, wie nah wir uns als Ensemble sind. Es ist der Moment, bevor das Publikum dazukommt, wenn wir noch unter uns sind. Zu diesem Zeitpunkt bin ich diejenige, die sagt: Dies und jenes ist schön, wahr, traurig. Danach beurteilen das andere. Ich hebe die Notizen zusammen mit den Klavierauszügen auf. Eigentlich ist es Unsinn. Ich brauche diese Blöcke und Zettel ja nicht mehr. Sie wegzuwerfen ist allerdings schwer, weil ich mich dann auch von diesem Gefühl verabschiede, das mich un­ mittelbar mit dem Stück verbunden hat und das ich beim Wiederlesen spüre. Es sind Briefe an mich selbst. Und sehr persönliche Briefe wirft man ja auch nicht einfach weg. Trotzdem werde ich mich davon tren­ nen. Ich denke, es kommt darauf an, den Dingen einen Platz in der Er­ innerung zu geben, dann hat sich ihr Sinn wahrscheinlich schon erfüllt.

Christiane Lutz, Regisseurin

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Eine spezielle Rolle loszulassen, kann für Tänzerinnen und Tänzer zum Problem werden, selbst wenn man ihr technisch nicht mehr gewachsen ist. Bei mir war es hingegen so, dass ich gerade am Höhepunkt meiner Karriere loslassen konnte. Ich wollte nicht irgendwann aus Altersgründen aufhören müssen. Es war die Rolle der Tatjana in John Crankos Onegin. Im letzten Bild schickt sie Onegin, ihre unerfüllte Liebe, weg, weil sie ein anderes Leben lebt. Sie zerknüllt seinen Brief, trifft eine Entscheidung. Ich fühlte in dem Moment mit ihr. Und ich konnte bewusst loslassen, denn ich hatte erreicht, wofür ich mein ganzes Leben lang gearbeitet hatte. Ich war frei, konnte den nächsten Schritt wagen, beruflich und privat, ohne meiner Zeit als Erster Solistin nachtrauern zu müssen. Ich habe ein Kind bekommen und zurzeit arbeite ich als Ballettmeisterin an der Staatsoper. Auch hier brauche ich meine volle Energie. Nur wenn man eine Lebensphase gut abgeschlossen hat, kann man sich ganz auf etwas Neues einlassen.

Ivy Amista, Tänzerin

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Alte Welt gegen Wagnis

Der Versuch, sich von etwas oder jemandem zu lösen, kann befreien – er kann aber auch unendlich quälen. Das macht das Lösen so furchtbar kompliziert. Ein Essay über eine verdammte, vielversprechende Chance.

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Text Timo Stein


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fisch, 2017


Dem Verstand um Meilen voraus Was wir bei Roth sehen: Der Versuch, sich von etwas zu lösen, kann viele Formen annehmen. Es gibt weder Rezept noch Königsweg. Loslassen wird idealerweise zu etwas Befreien­ dem, Entladendem, Kathartischem. Nicht selten quält es aber auch. Man scheint darüber verrückt zu werden, weil der Pro­ zess des Loslassens oft dem Verstand, der Vernunft um Mei­ len voraus ist. Dem Willen sowieso. Man bricht mit sich, mit einem anderen Menschen, der Arbeit, den Gewohnheiten, den Süchten oder – das soll vorkommen – den Vorurteilen. Immer dann, wenn etwas oder jemand einem an die Substanz oder gar an die Existenz geht. Das macht das Lösen so furchtbar kompliziert, zu allen Zei­ ten, in allen Kulturen. Es fällt schwer, weil das, was am Anfang der Gleichung „Kill your Darlings“ in Form des Festhaltens steht, nötig ist oder war. Es gibt oder gab Gründe, festzuhal­ ten. Mitunter sinn­ und identitätsstiftende. Auf vielen Spiel­ plätzen hängen Ringe in einer Reihe an einem Balken befes­ tigt, ein gutes Stück über dem Boden. Man muss sich an ihnen entlanghangeln, um auf die andere Seite zu gelangen. Fest­ halten muss man sich auch, um nicht zu fallen. Aber wer bei diesem Koordinationsspiel nicht auch immer wieder loslässt, kommt nicht voran. Im Alltag gibt es Routinen oder Partner, an die man sich gewöhnt hat. So banal und einsilbig sie auch sind, sie sind greifbar, sie geben Halt. Wer dennoch mit alten

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ame / regen, 2019

Eine Nacht im Frühling. Ein abgelegener Landfriedhof, 600 Meter über dem Meeresspiegel, gewaltige Ahornbäume säu­ men ihn ein. Seit Drenka tot ist, sind Sabbaths Besuche an ihrem Grab zur Regel geworden. Geahnt hatte er das anfangs selbst nicht. Sabbath erinnert sich an seine langjährige Geliebte, für die er sich zu ihren Lebzeiten nie ganz entschei­ den konnte, in wirren Bildern. Er betrauert seinen Verlust. Deshalb onaniert er. „Indem er seinen Samen auf Drenkas längliches Fleckchen von Mutter Erde verstreute“, vollendet er seine Trauer, wie Philip Roth in seinem Roman Sabbaths Theater aus dem Jahr 1995 schreibt. Eine irritierende Szene, die noch irritierender wird, als Sabbath gestört wird, durch einen weiteren Mann, der es ihm gleichtut. Das ist erst der Beginn einer ganzen merkwürdi­ gen Serie, für die der Autor nach und nach die vielen Lieb­ haber Drenkas im Verlauf der Geschichte auftreten und an ihrer Grabstelle masturbieren, zum Orgasmus kommen lässt. Orgasmus, im Französischen so tiefgründig als „la petite morte“ umschrieben: der kleine Tod. Nun ließe sich dieser Akt als wunderliche Perversion ver­ stehen. Aber wie immer ist es bei Roth mehr als das. Der Autor beschreibt einen Akt des Loslassens. In der Wiederholung desselben, in seinem repetitiven Gestus, entsteht ein grotes­ kes, fast schon zwanghaftes Abschieds­ und Ablösungsritual trauernder, einsamer Männer, denen die Onanie zur alle einen­ den Gemeinsamkeit wird. Zu einer in ihrer verzweifelten Aus­ führung seltsam tröstenden Handlung.


Wer mit alten Gründen bricht, braucht dringend neue. Wer sich löst, weiß in der Regel nicht genau, was kommt. Man tauscht eine Gewissheit gegen eine bloße Idee, gegen eine Ahnung davon, was sein könnte.

Bilder Keiko Kimoto

Gründen bricht, braucht dringend neue. Und die Fähigkeit, diese dann auch besser aussehen zu lassen als jene, auf denen das alte Leben gebaut ist. Das setzt Risikobereitschaft und Ausdauer voraus. Und eine unerhört große Portion Abstrak­ tion. Denn wer sich löst, weiß in der Regel zumindest nicht genau, was kommt. Man tauscht eine Gewissheit gegen eine bloße Idee, gegen eine Ahnung davon, was sein könnte. Man tauscht die alte Welt gegen ein Wagnis. Das Lösen und der Erkenntnisgewinn Mühsam ist das Loslassen deshalb, weil man sich immer auch ein bisschen gegen die eigene Natur stellt. Denn eigentlich hat die Evolution etwas dagegen. Bindungen – geistige, kör­ perliche, emotionale – sind für das Wohlbefinden des Men­ schen essenziell. Der Mensch kommt auf die Welt, um fest­ zuhalten: die Mutter, den Vater, die Geschwister, die Freunde. Er wird konditioniert, Bindungen einzugehen und sie aufrecht­ zuerhalten, um nicht weniger als zu überleben. Gleichzeitig lehrt die Forschung, dass gesunde Bindungserfahrungen in der frühkindlichen Phase dazu führen, sich später leichter aus ungesunden Verbindungen lösen zu können. In Platons Symposion beschreibt Aristophanes die sich Lösenden ursprünglich als Einheit. Mann und Frau (oder Mann und Mann oder Frau und Frau) waren Kugelwesen mit vier Armen und Beinen. Weil sie in ihrer Vollkommenheit die Götter stürzen wollten, spaltete sie Zeus. Die Folge: Hilflose Halbwesen trottelten fortan durch die Welt und aufeinander zu und umarmten sich auf der Suche nach alter Ganzheit rei­ henweise zu Tode. Unendliche Hilflosigkeit oder Tod? Zeus erbarmte sich und versetzte ihre Geschlechtsteile auf die Vorderseite, damit sie sich zumindest auf Zeit vollkommen fühlen konnten. Nach dieser Lesart ist dem Menschen der Mangel inhärent. Um ein Zuviel an Perfektion, an Macht, an Größenwahn zu verhindern, darf er bis heute nur Kugel auf Zeit werden. Umgekehrt heißt das aber auch: Erst das Sich­ lösen führt zur größtmöglichen Abwesenheit von Perfektion, der Individualität. Menschen binden sich, um den unvoll­ kommenen Status der Individualität zumindest punktuell zu verlassen. Das Verlangen, die Sehnsucht nach Einheit aber bleibt. Wem die Vorstellung der von Sehnsucht getriebenen Halb­ kugel zu unbefriedigend ist, dem hilft Erich Fromm. Der Phi­ losoph und Sozialpsychologe schiebt den Fokus weg von einem kurzsichtigen und egoistischen Bindungsdrang, der aber langfristig keine echte Befriedigung erfahren kann, hin auf den erkenntnisgewinnenden Vorgang des Sichlösens. Allein der unreife Charakter brauche das andere, um Ängste zu kompensieren. Der reife, selbstlose Charakter könne aus sich selbst heraus glücklich sein. Er brauche kein Gegenüber, um seine Existenz zu rechtfertigen. Weil wir das, was wir zwanghaft verlangen, niemals echt und wahrhaftig lieben kön­ nen. Mehr noch: Der Sichlösende lässt von etwas Altem los, um für etwas Neues frei zu werden. Fromm führt 1956 in

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22 wind, 2019


Sich zu lösen, passt in die Zeit. Die belohnt neuerdings Flexibilität. Bedacht werden die, die sich schnellstmöglich und kompromisslos anpassen – an den Markt, nicht an Menschen.

seiner Kunst des Liebens das Lösen weg von einem bloßen Impuls hin zu einem selbstlosen Akt der Erkenntnis. Weil zur Kunst und Fertigkeit des echten Liebens immer auch das Loslassen gehört. Doch nirgends ist die Versuchung, unreif zu sein, größer als in der Liebe. Der Losgelassene, der Liebende, er ist dann eher bei Friedrich Nietzsche und möchte Fromm zum Teufel schicken. Weil sich der Liebende zum Geliebten wie der Drache zu seinem Goldschatz verhält, wie es Nietzsche einmal formulierte. Weil er nicht nur lieben, sondern besitzen will. Festhalten um des Festhaltens Willen. Weil nicht nur in der Liebe das Individuum selbst zum Irrtum wird. Er will Kugel sein, Übermensch in Sachen Liebe. Loslassen als modernes Heilsversprechen Spätestens seit auch Eiskönigin Elsa in verfrorener Einsamkeit „Let it go“ (2013) schmetterte, als Disney-kompatible Neuinterpretation dessen, was die Beatles wohl einmal mit „Let it be“ (1968) meinten, passt es in die Zeit, sich zu lösen. Die belohnt neuerdings Flexibilität. Bedacht werden die, die sich schnellstmöglich und kompromisslos anpassen – an den Markt, nicht an Menschen. In Zeiten von klingenden Begriffen wie „Business Process Reengineering“, „Shareholder Value“, Tinder und der damit einhergehenden Paarmüdigkeit zählt fluides Lavieren, getarnt als Abenteuerlust. Dass es Bindungen heute ungleich schwerer haben, weil auch sie Marktgesetzen unterliegen, permanent verhandelt werden, skizziert die israelische Soziologin Eva Illouz. Der Kapitalismus macht vor der Liebe nicht halt. Bei Illouz verkommt Bindungskultur zur Konsumkultur. Verbindlichkeit tritt heute an gegen eine permanente Verfügbarkeit. „Beziehungen zu verlassen, unfähig oder unwillig zu sein, Beziehungen einzugehen, von einer Beziehung in die nächste zu springen, all das ist ein fester Bestandteil dieser neuen Marktförmigkeit der sexuellen Beziehungen“, schreibt Illouz 2018 in Warum Liebe endet. Reichte es früher aus, sich zu binden, hat der Beziehungskonsument in Zeiten maximaler Wahlfreiheit die Pflicht, das Bestmögliche dann aber auch zu finden. Bei Illouz ist die neue Freiheit, die Beziehung und Bindung erschwert, eine dem Individuum überantwortete Freiheit. Eine Freiheit, die dann zu einer „buchstäblichen Lieblosigkeit“ führt. Sie ist für Illouz „das Signum einer neuen Form von Subjektivität“. Vielleicht sind diese Erklärungsansätze, die dem Kapitalismus Schuld an der Bindungslosigkeit des Einzelnen geben, aber auch Teil des Problems. Weil sie die Unfähigkeit, Verbindlichkeiten und Bindungen einzugehen, nicht nur soziologisch grundieren, sondern all jenen, die unverbindlich durch die Liebe und das Leben gehen, das perfekte Alibi an die Hand geben, warum er oder sie im Grunde nur scheitern kann. Dem Markt ist das egal. Der hat längst auf die Nachfrage lösungswilliger Teilnehmerinnen und Teilnehmer reagiert. Eine überwältigende Loslassindustrie ist entstanden. Unzäh-

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Wenn das Loslassen vor dem Halten kommt Das neue Loslassmantra richtet sich am unvollendeten Indi­ viduum aus und gibt ihm die Möglichkeit, im Scheitern einen Sinn zu sehen. Es suggeriert dem Einzelnen, dass er sich selbst genügt. Aber ist das nicht nur retrospektives Verklä­ ren? Schönfärberei des Scheiterns? Welchen Sinn hätte das? Und was passiert, wenn man das Glück, das man fortan bei sich selbst sucht, nicht findet? Dann fehlte den zeitgeist­ optimierten Loslassoptimisten das, was bei Fromm am Ende der Gleichung steht: der Erkenntnisgewinn. Weil sich das Lösen ausschließlich am Ich abarbeitet. Und vielleicht auch, weil viel zu oft das Loslösen noch vor dem Halten kommt. Wer immer gleich loslassen will, hat womöglich nie wirklich etwas festgehalten. Sich zu lösen, wird zum Selbstzweck. Wir lösen uns nicht, um uns selbst zu erkennen, sondern im Zweifel, um uns nicht erkennen und ertragen zu müssen. Lieber lösen als dem anderen Spiegel zu sein. Ein trügerischer Frieden. Wenn sich Liebe erst gegen das Mantra des Loslassens etablieren muss, hat sie tatsächlich ein Problem. Und schließlich: Was ist mit jenen, die loslassen müssen, was sie selbst losgelassen hat? Philip Roths Sabbath wird schlussendlich durch den Tod gezwungen, zurückzubleiben. Wer loslässt, ist aktiv, handelt. Wer losgelassen wird, lässt geschehen oder muss geschehen lassen. Trauer und Hilf­ losigkeit sind immer auch Symptome der Passivität, die Sabbath einen einzigen Ausweg aufzeigen: selbst aktiv zu werden. Dass Roth Sabbaths Aktionismus darin münden lässt, sich letztlich selbst loslassen zu wollen, ist natürlich deprimierend. Aber es zeigt, wenn auch ex negativo: Wir haben unser Leben in der Hand – im Zweifel bis in den Tod. Am Ende gilt es, in erratischer Unbeholfenheit etwas zu wagen. Ob Mut und Mühe belohnt werden, bleibt ungewiss. Zumindest sollte man sich vor dem Prozess des Lösens verdammt sicher sein, dass man das, was man loslässt, vor­ her auch wirklich zugelassen hat. Mehr über den Autor und die Künstlerin auf S. 8

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kohl, 2016

lige Behandlungszimmer sind vollgestopft mit Menschen, die sich lösen wollen, von ihren Psychosen und Neurosen. Lösungsbereite werden wie am Fließband von ihren Lastern und Partnern losgecoacht. Influencer posten und youtuben über die neue, minimalistische Achtsamkeit, leeren ihre Wohnräume und Seelenlandschaften wie die Entrümpelungs­ ikone Marie Kondō von allem Unnützen. Weil es eine Chance ist. Weil Altlasten nun mal weg müssen. Akzeptiere! Löse! Finde Frieden! Loslassen ist zum modernen Heilsversprechen geworden. Gleichzeitig wird es dem, der sich nun lösen will, unendlich schwer gemacht. Denn in Zeiten von Social Media kann man das, wovon man sich lösen möchte, in Echtzeit ver­ folgen. Die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen, wird ad absur­ dum geführt, die permanente Simulation von Nähe wird zum Problem.


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Die Verletzliche Seit 50 Jahren setzt sich Marina Abramović in ihrer Performancekunst mit dem Topos der Sterblichkeit auseinander. In 7 Deaths of Maria Callas widmet sie sich nun sieben Bühnentoden der Opernikone. Ein Treffen in New York.

„Wenn ich die Kunstformen in eine Hierarchie bringen müsste“, sagte Marina Abramović 2010 anlässlich ihrer großen Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art, „würde ich die Musik immer an erste Stelle setzen, weil sie körperlos ist. Danach käme die Performance, dann alle anderen Künste.“ Diese Hierarchie, in der eine immaterielle noch vor der körperlichsten aller Kunstformen rangiert, mag die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung damals überrascht haben. Denn kaum eine andere Künstlerin nutzt ihren Körper so exzessiv als Motiv und Material wie Marina Abramović. Ein Performancestück ist bei ihr ein Mensch aus Fleisch und Blut. Es ist Anfang Februar, als Marina Abramović am Küchentisch ihres Apartments in Downtown Manhattan sitzt. Alles an ihr ist groß, sie ist ungeschminkt und beeindruckend schön. Ihre Wohnung ist eher spärlich eingerichtet, viel freier Raum, wenige Bilder, und auch sonst springt einem hier nichts ablenkend ins Auge. Wenn man sie persönlich trifft, wirkt die gebürtige Serbin sehr bodenständig, präsent, mit einer unerwartet warmen Ausstrahlung, die es einem schwer macht, sich vorzustellen, dass sich dieselbe Frau einen Stern ins Fleisch ritzt und sich blutend vor einen Heizstrahler stellt, wie sie es 1975 für ihre Performance Thomas Lips tat. Sie kommt gerade aus Indien, von einer kleinen Reise, und serviert englischen Tee. Abramović ist 73 und wirkt, als wäre sie in den vergangenen 15 Jahren kaum gealtert. Nicht, dass es für Künstlerinnen ein Rentendatum gäbe, vielleicht aber doch ein Alter, in dem man beginnt, zurückzuschauen, sein Lebenswerk zu betrachten und sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Abramović tut das schon seit über 50 Jahren. Man kann ihr gesamtes Werk, das weltweit gefeiert wird und ebenso verwirrend wie stilbildend ist, als Meditation über den Tod lesen, ihren eigenen und unser aller.

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Marina Abramović stirbt in 7 Deaths of Maria Callas die großen Bühnentode der Maria Callas. Hier: als Carmen. Die Fotos sind bei Dreharbeiten zum Projekt entstanden.

Marina Abramovićs Performances wirken wie Zeichen gegen das Verschwinden ihres physischen Daseins. Wie Kerben in der Wand, die prüfen, wie nah sie ihrem eigenen Ableben schon gekommen ist. Und was gibt es Besseres, um sich zu vergewissern, ob man noch immer lebendig ist, als wenn man sich bewusst in Todesgefahr begibt und an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit geht? Abramovićs Arbeiten suchen zudem häufig eine deutliche Verbindung zum Publikum – in Form eines Schocks, der einen erkennen lässt, dass man ein lebendiger Organismus ist. Soziale Schutzvorrichtungen und Konventionen, innerhalb derer wir miteinander in Kontakt treten, lösen sich auf. Ihre Performances lassen nie die Möglichkeit, sich bequem und passiv im Zuschauerraum zurückzulehnen, höflich Distanz wahrend. Diese Prozesse bei gleichzeitig forcierter Nähe erleben wir ganz ähnlich, wenn wir mit dem Tod eines Menschen konfrontiert werden, im plötzlichen Bewusstwerden der Sterblichkeit, und weil wir gezwungen sind, die Beziehung zu diesem Menschen notwendigerweise neu zu bestimmen. Das reizt Abramović. In ihrer New Yorker Küche erzählt Marina Abramović sehr konzentriert von ihrem neuen Opernprojekt, 7 Deaths of Maria Callas, das in diesem Frühjahr an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt wird. Es ist ihre szenischste Arbeit bisher. In ihr taucht der Tod wieder und wieder auf, heraufbeschworen durch die Künstlerin und die Geister, die sie umgeben. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet Abramović schon an der Idee des Projekts. 1989 lebte sie in Paris, arbeitete und lehrte ab 1990 an der Académie des Beaux-Arts. In dieser Zeit beschäftigte sie sich eingehend mit der brasilianischen SerraPelada-Mine, in der 1979 große Goldmengen entdeckt wurden, und die im Zuge dessen zu einer der gefährlichsten Freiluftminen überhaupt wurde. Hunderttausende Glückssucher gruben dort damals wie ein chaotischer

Uraufführung 7 Deaths of Maria Callas

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Der Körper ist ihr Werkzeug, Zeit ihr Medium. Mit ihren jüngsten Arbeiten bewegt sich Abramović in eine neue Welt – zwischen virtueller Simulation und tatsächlichem Erleiden.

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Schwarm, in der Hoffnung, auf das begehrte Edelmetall zu stoßen. Abramović sah Bilder des Fotografen Sebastião Salgado und hörte von der hohen Sterberate unter den Goldsuchern. Salgados Fotos zeigen ein dichtes Gewimmel von schlammbedeckten Menschen, die wie Ameisen steile Hänge hinauf- und hinunterkriechen. Sie sehen aus, als hätte er die Hölle festgehalten, als würden sie Dantes Inferno zeigen, einen Ort, wo der Tod die Dinge lenkt. Die Künstlerin begann darüber nachzudenken, wie sich der Tod bildlich darstellen lässt. Die Oper mit ihrer Tendenz zur großen Tragödie schien ihr dafür die geeignete Form zu sein. Laut einer Statistik, die Abramović zitiert, stirbt auf der ganzen Welt alle drei Minuten ein Mensch. Deshalb dachte sie an kurze Drei-Minuten-Sequenzen, vielleicht eine Arie für jeden Tod, der sich in Echtzeit ereignet. Sie wollte untersuchen, wie unterschiedlich wir auf den Tod reagieren, je nachdem, auf welche Weise wir ihn präsentiert bekommen: „Wenn wir den Tod für uns wunderbar aufbereitet sehen, auf der Bühne oder im Film, dann weinen wir und zeigen Gefühle. Sehen wir aber den wirklichen, den echten Tod, dann ist das der pure Schrecken und wir können nicht damit umgehen.“ Als Jahre später ihre Ehe scheiterte, wurde Marina Abramović krank und schwach und fühlte sich auf seltsame Weise von der Wirklichkeit abgespalten. Wenn sie heute über ihre Verletzungen und Gefühlserfahrungen aus dieser Zeit spricht, klingt das wie eine klinische Diagnose: „Es ist ein sehr gefährlicher Zustand.“ Sie fragte sich, was es bedeutet, für die Liebe zu sterben. In Opern sterben Frauen immer für die Liebe. Sie sterben an der Liebe. In dieser Phase traf ihr Konzept einer Oper über den Tod auf eine weitere ihrer lebenslangen Obsessionen: Maria Callas, die in so vielen ihrer Rollen einen spektakulären Bühnentod starb. 1959, während ihrer Zeit an der Mailänder


„Wenn wir den Tod für uns wunderbar auf der Bühne aufbereitet sehen, weinen wir und zeigen Gefühle. Sehen wir aber den wirklichen, den echten Tod, ist das der pure Schrecken und wir können nicht damit umgehen.“

Scala, begegnete Maria Callas Aristoteles Onassis, einem Geschäftsmann von zweifelhaftem Ruf. In dem Moment, in dem sie sich verliebte, erlitt ihre Arbeit einen Bruch, sie verlor das Interesse und vernachlässigte ihr großes Talent. Und als dann ihr Stern zu sinken begann, wurde sie von Onassis verlassen. Als er 1968 Jackie Kennedy heiratete, die ehemalige First Lady und Witwe des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, fragte ihn ein Fernseh­ reporter vor laufender Kamera einmal nach Maria Callas. „Callas?“, antwor­ tete Onassis, „Warum soll ich um etwas kämpfen, das ich schon habe?“ Als die Callas ein paar Jahre später in ihrem Bett starb, nach einer Zeit voller Depressionen und Einsamkeit, war sich alle Welt sicher, dass es ihr gebro­ chenes Herz war, dem sie erlegen war. Marina Abramović wird als Nächstes nach Los Angeles aufbrechen, um dort an einem weiteren Projekt zu arbeiten; einer Kollaboration mit Micro­ soft, in der eine KI­generierte Mixed­Reality­Abramović auftaucht, sobald der User eine Virtual­Reality­Brille aufsetzt. Damit wird sie eine neue Richtung einschlagen. Denn eigentlich ist ihr Körper ja ihr Werkzeug, Zeit ihr Medium. Mit ihren jüngsten Arbeiten bewegt sich Abramović nun aber in eine andere Welt, oder, wie sie sagt, in ein „Jenseits“. Auf die Frage nach dem Verhältnis von virtueller Simulation und tatsächlichem, physischem Erleiden spricht sie von einer Wende: „Zu Beginn meiner Karriere“, sagt sie, „hasste ich das Theater und die Oper. Ich musste meine eigenen Regeln für die Performance­ kunst aufstellen, bei der ja alles ganz echt ist. Als ich meine Regeln für mich bestimmt hatte, war ich viel flexibler und freier. Die Medien sind heute nicht mehr so strikt voneinander abgegrenzt wie noch in den frühen 1970er Jahren. Man kann alles mischen. Und man muss dem Publikum zutrauen, der Narra­ tion zu folgen, sie in Einklang bringen zu können.“ Während der Arbeit an

Text Anna Heyward

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MARINA ABRAMOVIĆ – Marina Abramović wurde 1946 in Belgrad geboren. Seit den 1970er Jahren ist sie eine der bedeutendsten Performancekünst-

lerinnen der Welt. In ihren Werken ist ihr Körper sowohl Gegenstand als auch Medium. Sie zeigte Arbeiten u. a. im Centre Georges Pompidou in Paris, in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, im Museum of Modern Art und im Guggenheim Museum in New York sowie bei der Documenta. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Goldenen Löwen der 47. Biennale di Venezia für ihr Werk Balkan Baroque. Ihre Retrospektive The Cleaner war von 2017 bis Anfang 2020 in zahlreichen europäischen Metropolen zu sehen. Am Opera Ballet Vlaanderen in Antwerpen gestaltete sie die Bühne und das Konzept für Pelléas et Mélisande. Beim Opernprojekt 7 Deaths of Maria Callas zeichnet sie für Konzeption, Inszenierung und Bühne verantwortlich und wirkt als Performerin mit. 7 DEATHS OF MARIA CALLAS – Sieben verschiedene Arien, in denen Maria Callas als Interpretin glänzte, werden von sieben Sängerinnen konzertant vorgetragen. Gleichzeitig sind Filmbilder zu sehen, in denen Marina Abramović den Tod der jeweiligen Opernheldin spielt. An ihrer Seite: der vielfach ausgezeichnete Schauspieler Willem Dafoe. Marko Nikodijević komponierte die verbindende Musik zwischen den sieben Arien („Addio del passato“ aus La traviata, „Vissi d’arte“ aus Tosca, „Ave Maria“ aus Otello, „Un bel dì vedremo“ aus Madama Butterfly, „Habanera“ aus Carmen, „Il dolce suono“ aus Lucia di Lammermoor und „Casta Diva“ aus Norma). Am Höhepunkt des Abends wird Marina Abramović selbst auf der Bühne stehen und zu einer Neukomposition Nikodijevićs als Maria Callas auftreten.

7 Deaths of Maria Callas verflüchtigten sich ihre Zweifel an der Unmittelbarkeit des Theaters. „Von Bob Wilson und Willem Dafoe habe ich gelernt, dass man sehr tief eintauchen kann, dass man sich tatsächlich in eine bestimmte Person verwandeln kann. Ich spürte, wie ich wirklich zu diesem Charakter, wie ich zur Callas wurde. Ich verstand es plötzlich, auf einer tieferen Ebene.“ Mit dem US-Schauspieler Dafoe drehte Abramović sieben Kurzfilme für ihr Opernprojekt, sieben Filme für die sieben Tode, die Marina alias Maria Callas in der Inszenierung stirbt. Sie benutzt zwei Smartphones, die auf dem Tisch liegen, und ein paar Fruchtgummis, um zu erklären, wie sie die Bühnensituation dafür gestalten möchte. Während Abramović die entstandenen Clips auf ihrem Laptop zeigt, hat man das Gefühl, dass der Tod durch seine Wiederholung immer irrealer wird, dass er etwas Fantastisches entwickelt durch das Theatrale der Inszenierung – und dennoch wirkt es nicht weniger traumatisch. Der tote Körper vervielfältigt sich, wird wieder lebendig, wird gezwungen, einen weiteren Tod zu sterben, die Qual noch einmal zu durchleben. Fast alle ihrer Arbeiten erzählen vom Schmerz, vom Unbehagen, vom Leiden. In 7 Deaths aber ist alles psychologisch aufgeladen. Fragt man sie zur Rolle des Leidens und Aushaltens in ihrem Werk, sagt sie: „In einer Performance verwandle ich mich auf gewisse Weise in jemanden, der nicht sterblich ist.“ Theater bedeutet Illusion. Auf der Bühne ist Blut nur rote Farbe, und es ist an den Schauspielern, an ihrem Talent, so zu tun als ob, als wäre die Farbe Blut. In einer Performance ist Blut echtes Blut. Eine Performance hat nichts mit Plausibilität zu tun, sie stellt nichts dar, porträtiert nichts, sondern ist diese Sache selbst. Aber vielleicht ist es ja gerade das, was Abramović zum Theater geführt hat, dem Tod auf der Spur: Auf der Bühne kann sie den Tod zeigen – in der Performance ist er unmöglich, eben weil er real ist.

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Wenn Marina Abramović performt, zeigt sie den Menschen etwas: dass wir alle verletzlich sind. „Das haben wir alle gemeinsam.“

7 DEATHS OF MARIA CALLAS Von Marina Abramović (2020) Auf Weisung der Bayerischen Staatsregierung sind bei Redaktionsschluss von Max Joseph sämtliche Vorstellungen bis einschließlich 19.04.20 abgesagt. Die Bayerische Staatsoper ist bemüht, die Uraufführung von 7 Deaths of Maria Callas zu realisieren. Aktuelle Informationen: www.staatsoper.de, besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25

Fotos Marco Anelli

Im Verlauf der sieben Clips sieht man Callas respektive Abramović auf unterschiedliche Arten. In Bewegung, ruhig, würgend, fallend. Man sieht das verzerrte Gesicht in Nahaufnahme, die Struktur der Haut, feinste Augenbewegungen, Hände, Füße, Knöpfe – Dinge, die ein Opernpublikum normalerweise nicht sieht, weil es zu weit vom Geschehen auf der Bühne entfernt ist. Marina und Maria scheinen beinahe wie verzerrte Spiegelbilder voneinander. Es ist auffallend, wie sehr sie einander auch äußerlich ähneln. An Maria Callas fasziniert Marina Abramović, dass sie „Stärke und Zerbrechlichkeit zugleich in sich vereinte. Wenn sie auf der Bühne war, dann beherrschte sie die ganze Bühne. Absolutes Charisma. Aber sobald sie aufhörte zu singen, wurde sie zu einem ängstlichen, verunsicherten kleinen Mädchen“. Wenn Abramović performt, dann zeigt sie den Menschen etwas: dass wir alle verletzlich sind. Wenn man etwas zurückbekommen möchte, muss man bereit sein, etwas anderes dafür loszulassen. „Das haben wir alle gemeinsam.“ Beide hatten eine schwierige Kindheit, erklärt Abramović. Und beide mussten eine Entscheidung treffen, sagt sie: „Frauen wollen eine Familie, Gefühle, Liebe und eine Karriere. Aber etwas muss man opfern. Du kannst nicht alles davon haben.“ Was Marina Abramović geopfert hat? Die Antwort kommt schnell und ohne Zögern: „Kinder, Familie.“ Sie würde diese Entscheidung immer wieder so treffen, würde ihr Leben, ihren Körper immer wieder für die Kunst hingeben. Callas scheiterte hier. „Sie wählte die Liebe. Sie wollte Liebe. Das ist der Unterschied. Sie starb. Ich lebe.“ Aus dem Englischen von Sabine Voß Mehr über die Autorin auf S. 8

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Calling Maria Am Telefon der Callas auff der Spur. Gespräche mit Bewunderern, Bühnenpartnern und Analytikern.

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Zwischen Erde und Himmel Zürich. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen schrieb das Buch Diva. Eine Geschichte der Bewunderung (Schirmer/Mosel, 2002). d Für mich ist die Callas das quintessenzielle Beispiel B für das, was mich an der Diva inte interessiert hat: die Versehrtheit. Sie war nicht nich nur eine begnadete, absolut innovative Opernsängerin, sondern ndern eine Figur, die zw zwischen der Erde e und dem Himmel, zwisch zwischen den Lebenden enden und den Toten hin- und herpendelte. h te. Bei der Callas hat man imme immer das Gefühl, dass sie bis an die Grenze ging g und bereit war, alles aufs Spiel zu setzen. se en. Sie hat nicht strategisch geplant, gepla um möglichst lange singen zu k ndern können, sondern immer auf die absolute abso Perfektion on im Moment gesetzt. gesetz Bezeichnend dafür finde ich ein Foto mit Christa Ludwig udwig während der Norma-Aufnahmen: Auf dem B Boden sind Quadrate eingezeichnet net, in denen sich die Sänger vorm Mikrofon positionieren sollen, und Christa Ludwig steht ohne Schuhe ganz fest in der Mitte dieses Quadrats. Die Callas hingegen steht in Stöckelschuhen genau auf der Grenze des Quadrats. Das zeigt für mich, wie sie auch in ihrer Kunst immer an Grenzen gegangen ist, und sie hat alle ihre Bühnenrollen genutzt, um etwas über sich selbst zu sagen.

In der Fleischerei Klosterneuburg. Die Mezzosopranistin Christa Ludwig nahm 1960 zusammen mit der Callas Norma auf. Das war das einzige Mal, dass ich mit Maria Callas zusammenarbeitete. Ich hatte damals noch nie Belcanto gesungen und überhaupt keine Ahnung von diesem Stil. Als ich das der Callas erzählte, sagte sie: „Sie müssen mich nur nachmachen!“ Ich habe sie als eine sehr nette und professionelle Kollegin kennengelernt. Da ich kein Italienisch konnte, ist sie sogar einmal mit mir einkaufen gegangen und hat mir in einer Fleischerei geholfen, die beste Wurst zu kaufen. Sie hat mit den Verkäufern geredet, damit ich das Richtige bekomme. Sie war die Pünktlichste und die Fleißigste von uns allen. Damals hatte sie ja schon diesen Wobble in der Stimme, und manche Stellen hat sie bestimmt zehn Mal aufgenommen, bis es so war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte ja nicht das, was man eine schöne Stimme nennt. Aber das, was sie in die Stimme hineingelegt hat, war ganz besonders. Wenn die Callas anfängt, ein Bellini-Rezitativ zu singen, fange ich heute noch an zu weinen, denn im Ausdruck der Stimme lag ihr ganzes Leben.


Die Frau, die sich wehrt Hamburg. Der Journalist Jürgen Kesting schrieb die Biographie Maria Callas (Claassen, 1990). Die Begegnung mit Maria Callas war für mich die Entdeckung der Belcanto-Oper. 1955 habe ich, krank im Bett liegend, eine Radioübertragung aus Berlin von Lucia di Lammermoor gehört, dirigiert von Herbert von Karajan. Durch die Callas habe ich begriffen, worum es in dieser Oper eigentlich geht. Zuvor war ich eher ein Bewunderer Renata Tebaldis mit ihren wunderbaren Pianissimi gewesen, aber dann kam die Callas, die mir einen völlig neuen Blick auf die Frauenfiguren der Romantik gegeben hat. Natürlich war ich, noch ganz jung, gefesselt von der Virtuosität der Callas. Der ursprüngliche romantische Belcantour Gesang war ja in der Zeit vor der Callas G weitgehend verloren gegangen, war w zum Zwitschergesang verkleinert worzu den. Und die meisten Sängerinnen ihrer de Zeit waren mit der Musik des späten Ze Verdi und der Veristen aufgewachsen. Ve Die Stimme der Callas war für die meisten D wegen ihrer drei Register fremd und irriw tierend. Aber wenn man bei Stendhal die tie Beschreibung der Stimme von Giuditta B Pasta liest, dann könnte man den EinPa druck haben, als wäre es eine Beschreidr bu bung der Stimme von Maria Callas. Sie w war also so etwas wie die Wiedergeburt der Pasta, gerade in der Partie, die von de Giuditta Pasta in der Uraufführung G gesungen wurde: Norma. Die Callas hat ge diese Rolle, aber auch Donizettis Anna di Bolena, Bellinis Imogene in Il pirata oder B Amina in La sonnambula neu definiert. A S Sie hat die Problematik der Emanzipation der Frau, die in solchen Figuren tio liegt, zurück ins Bewusstsein gebracht: lie die leidende Frau; die in den Wahnsinn di getriebene Frau, die aus der Gesellge schaft herausgedrängt wird. Die Callas sc w war die Stimme der unterdrückten und si sich wehrenden Frau.

Protokolle Florian Heurich

Die vier Qualitäten der Diva Florida. Der Stimmenspezialist, Sänger und selbsternannte „Opera Fanatic“ Stefan Zucker. Von den unzähligen, wunderbaren Aufnahmen der Callas mag ich ganz besonders den Mitschnitt der Medea von 1953 aus Florenz und den Norma-Mitschnitt der RAI von 1955 mit Mario del Monaco und Ebe Stignani unter Tullio Serafin. Von allen Sängerinnen dieser Zeit ist die Callas sicher meine Lieblingsdiva. Was sie besonders macht und von anderen Sängerinnen unterschiedet, sind für mich vier Dinge: ihr Temperament, ihre schnelle Attacke, ihre Fähigkeit, den Gesangstext hervorzuheben und zu gestalten, sowie ihr Gespür für den harmonischen Fluss. Sie hat bei Weitem nicht so viele Verzierungen und Koloraturen gemacht wie andere Sängerinnen, sie hatte aber ein intuitives Gefühl für dynamische Strukturen. Beispielsweise machte sie in bestimmten Phrasen ein Crescendo oder Accelerando vor Dissonanzen, und danach wurde sie wieder weicher und weniger emphatisch. Das hat in einer Koloratur die Dissonanz als Klimax der Phrase betont. Live erlebt habe ich die Callas nur ein einziges Mal Anfang der 1970er Jahre in der Carnegie Hall zusammen mit Giuseppe di Stefano. Das war am Ende ihrer Karriere. Ihr stimmlicher Verfall wird meiner Meinung nach aber immer etwas übertrieben. Ich fand, dass sie auch da noch sehr viel zu geben hatte.

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Die gestorbene Stimme Modena. In der einzigen Operninszenierung der Callas sang die Sopranistin Raina Kabaivanska und erhielt 2019 den Premio Internazionale Maria Callas. Wegen Maria Callas bin ich im Jahr 1958 von Bulgarien nach Italien gekommen. Ich hatte ihre Stimme im Radio gehört, von ganz weit her, heimlich, denn damals zu Zeiten des Kommunismus waren Westsender in Bulgarien verboten. Ich wusste noch nicht einmal, wen ich da hörte, aber ich wollte unbedingt in dieses Land, wo man so sang. Von Italien bin ich sofort nach Paris gefahren, um die Callas als Norma zu erleben. Das war mein erster direkter Kontakt mit ihr. Persönlich habe ich sie dann 1973 kennengelernt, als sie zusammen mit Giuseppe di Stefano zur Eröffnung des neuen Teatro Regio in Turin I vespri siciliani inszenierte. Da sang ich die Elena, und das war wirklich ein magisches Erlebnis, da die Callas auf den Proben die Rolle immer mit mir mitgesungen hat. Sie lud mich dann auf ihr Hotelzimmer ein und zeigte mir, wie sie sang. Da sagte ich: „Signora, so kann ich nicht singen, das ist viel zu anstrengend.“ Darauf antwortete sie etwas, das mich immer noch sehr bewegt: „Genau deshalb singe ich nicht mehr!“ Das war die Tragödie dieser Frau. Ich glaube, sie ist gestorben, weil ihre Stimme gestorben ist. Die Callas und ich hatten einen sehr ähnlichen Charakter, wir waren beide Sternzeichen Schütze. Wir sagten immer, was wir dachten. Und beim Singen fühlten wir uns frei. Sie bat mich um meine Freundschaft, lud mich nach Paris ein, um mit mir die Violetta zu erarbeiten. Ich habe das damals nichtt angenommen. Das bedauere ich immer er noch sehr.

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Die Tigerin Les Avants, Schweiz. Der Dirigentt Richard Bonynge führte gemeinsam mit seiner Frau Joan Sutherland die von der er Callas begonnene Belcanto-Renaissance ce weiter. Wir sind Maria Callas zum ersten sten Mal begegnet, als Joan 1952 in ihrer er ersten Saison am Royal Opera House e Covent Garden neben ihr die ganz kleine ine Rolle der Clotilde in Norma sang. Es heißt, die Callas sei eine Tigerin gewesen, n, zu Joan war sie aber immer freundlich. ch. Auch men und später. Sie schickte ihr Blumen Glückwünsche. Nach einer von on Joans Lucia-Vorstellungen in London n kam sie sogar hinter die Bühne und war sehr herzlich. Mit der Callas hat die e Renaissance des Belcanto-Gesangs begonnen, egonnen, und das hat Joan und mich inspiriert. nspiriert. Wir wollten in diese Richtung weitergehen, machten einige Opern, die auch die Callas gesungen hat. Ich selbst bst habe zwar nie mit der Callas gearbeitet, eitet, sie aber viele Male gehört, und sie hat mich immer sehr berührt. Ihre Gesangstechnik war perfekt, aber sie machte eben manchmal auch hässliche Töne. Ich hörte sie ganz kurz nach ihrer großen Diät, als sie sehr viel Gewicht verloren hatte. In den Zeitungen hieß es, dass dies keinen Einfluss auf ihre Stimme gehabt hätte. Ich finde aber schon. Sie wollte dieselben Klänge erzeugen, die vorher ganz leicht, natürlich gekommen sind – es gelang ihr nun aber nicht mehr auf dieselbe Art und Weise. Ich denke, das ist auch ein Grund, warum ihre Karriere so kurz war. Dennoch hat sie uns so viel geben.


Abschied nehmen Linz. Die Schauspielerin Elisabeth Rath gab die Callas in der deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks Meisterklasse von Terrence McNally 1996 am Bayerischen Staatsschauspiel. Die Beschäftigung mit der Figur der Maria Callas war für mich ein Highlight. Ich wollte sie ernsthaft begleiten, wie sie an der Juilliard School ihre Meisterklassen gab, und sie keinesfalls verraten. Durch die Ehrlichkeit, mit der sie sich in ihre Arbeit stürzte, habe ich sofort einen direkten Zugang zu dieser Figur gehabt. Die Art und Weise der Callas, sich auf die Rollen vorzubereiten, hat mich sehr fasziniert. Sie hatte ja nicht nur eine sehr spezielle Art zu singen, auch ihre Spielweise war extrem und neu für die damalige Zeit. Genau das versuchte sie in ihren Meisterklassen an ihre Schüler weiterzugeben. Wenn sie die Schüler dabei zum Teil total fertigmachte, zeigte das nur ihren eigenen Frust. Abschied zu nehmen fiel ihr unglaublich schwer, und das wollte sie kompensieren. Aber ihre Schüler waren dann doch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Dennoch finde ich überhaupt nicht, dass die Callas, wie sie in diesem Theaterstück gezeigt wird, unsympathisch wirkt. Sie hat eben um ihren Beruf gekämpft.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik über Themen im Bereich Oper, Gesang, Literatur und Weltmusik und gestaltet die Onlineformate Videomagazin und Opernsteckbrief der Bayerischen Staatsoper.

Illustrationen Rosa Viktoria Ahlers

Die ewig wig Fremde Fre de Münc n. Die Schriftstellerin Gunna München. Wendt ist Wend st Callas-Biographin und Ausstellungskuratorin. stellu skuratorin. Maria Callas Mari allas war immer die Fremde, diejenige, die von außen kam. In Amerika dieje war ssie die Griechin, in Griechenland die Amerikanerin und an der Scala war sie Ame vor allem a die Nichtitalienerin. Sie hat einmal gesagt: „Ich bin eigentlich zwei einm Personen. Ich bin Maria und die Callas.“ Perso Das finde ich einen interessanten Geda Gedanken: das Mädchen Maria, das plötz plötzlich entdeckt, dass es eine tolle Stimme hat; und andererseits die Callas, Stim die zur z Bühnenfigur wird. Besonders spannend finde ich die Momente, wenn span Maria und die Callas eins werden. Das spüre ich vor allem in den großen Todesszenen, ganz stark in Norma, La traviata szene und Carmen, obwohl die Callas diese Rolle selbst gar nicht besonders gemocht hat. Da gibt es Momente, die gemo absolut real sind. Man hat das Gefühl, abso dass das, was auf der Bühne passiert, wirklicher ist als das, was draußen paswirkl siert. Diese ganz große Wahrheit der siert Kunst, die Maria Callas schaffen konnte. Kuns Gerade bei Violetta hat man ihr manchGera mal sogar vorgeworfen, dass sie so erschöpft wirke. Aber genau so muss die ersch Figur sein, um authentisch zu sein. Figu Innerhalb sehr kurzer Zeit hat Maria Callas mehrere wichtige Bezugspersonen und Weggefährten verloren: ihren Vater, Onassis, Visconti und Pasolini. Zu dieser Zeit merkte sie auch, dass die ganz großen Rollen nicht mehr richtig funktionierten. Von vielem in ihrem Leben musste sie sich verabschieden. Sie war an einem Punkt, an dem sie nicht mehr richtig wusste, was sie noch machen sollte. Ich denke, mit all diesen Umständen hängt auch ihr früher Tod zusammen. Ich wage die These, dass sie viel länger hätte leben können, wenn sie all das hätte überwinden können.

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„Ein gebrochenes Herz ist nichts anderes als der Tod“

Der serbische Komponist Marko Nikodijević hat das musikalische Konzept für 7 Deaths of Maria Callas von Marina Abramović entwickelt und Teile dafür neu komponiert. Ein Gespräch über den Sinn für das Groteske und Frauen, die sich singend opfern.

Herr Nikodijević, das Opernprojekt 7 Deaths of Maria Callas ist Ihre erste künst­ lerische Zusammenarbeit mit Marina Abramović. Was ist die Basis dieser Kooperation? MARKO NIKODIJEVIĆ Zwischen Marina und mir gibt es eine Grundsympathie, und die ist wichtig. Jeder ist auf seinem Gebiet spezialisiert, aber gemeinsam bauen wir eine Welt auf. Das heißt: Wir müssen einander vertrauen, dass die gemeinsame Vision gelingt. Ich vertraue auf Marinas Vision – und sie traut mir zu, dass ich die richtige Musik dafür finde. MJ Hat bei dieser Grundsympathie Ihre serbische Herkunft eine Rolle gespielt? MN Wir haben beide einen ähnlichen Sinn für das Gro­ teske. Wir lieben das Dunkle. Das ist eine Art Men­ talität. Ich weiß nicht direkt, ob man das „serbisch“ nennen kann, aber sie ist uns beiden zu eigen. Wahr­ scheinlich entstanden durch unsere Sozialisierung. Dabei gehören wir verschiedenen Generationen an. Trotzdem ist unser Humor sehr ähnlich, was ver­ wunderlich ist, bei diesem Altersunterschied. Und es gibt universelle Bezugspunkte. MJ Was sind das für universelle Bezugspunkte? MN Uns interessiert das Metaphysische. Wir schätzen beispielsweise Franz Kafka, den Dichter der Nacht. Er hat die groteske Literatur erfunden, bevor sie MAX JOSEPH

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Uraufführung 7 Deaths of Maria Callas

Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich kam und die Absurden, die Dadaisten und Surrealisten, auch hier zu schreiben begannen. Marina und ich mögen dieses Schwarze, Absurde. Wir haben auch große Freude an der Idee des Zerfalls. Marina und ich haben beide Verlust erlebt. Wahrscheinlich ist dieses Denken auch eine Art Nachklang des Unter­ gangs der Habsburgischen Monarchie, die in Serbien noch lange zu spüren war, die selbst heute noch zu spüren ist. Mein Geburtsort Subotica liegt an der ungarischen Grenze, innerhalb dieses einst großen Reichs, Österreich­Ungarn. Meine Mutter ist Unga­ rin. Die Kultur, die in diesem ständigen politischen, sozialen und künstlerischen Spannungsverhältnis entstanden ist, prägt mich bis heute. Und Marina, die in Belgrad aufgewachsen ist, auch. MJ Kannten Sie ihre Performances denn, bevor Sie beschlossen, zusammenzuarbeiten? Ja, selbstverständlich! Sie ist, was künstlerische Avantgarde in Serbien betrifft, für viele der Leit­ stern überhaupt. Sie arbeitete schon sehr früh gegen den üblichen Akademismus und Traditionalismus. Sie bewies Mut zu ganz Neuem. Ich war bereits als junger Mann von ihren Arbeiten fasziniert und habe sie nie aus den Augen verloren. Zunächst kannte ich ihre Texte, Zeichnungen, ihre konzeptuellen

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Arbeiten. Später sah ich auch ihre Performances. Ihre Videoinstallation Balkan Baroque beispielsweise, für die sie 1997 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig erhielt, hat sich mir besonders eingebrannt. Ich war auch deshalb so von ihrer Kunst fasziniert, weil sie zu den Grenzbereichen des Körpers vordringt. Sie spielt mit dem Risiko und zeigt alles schonungslos. Sie reizt die Gefahr bis zum Äußersten – und ich mag Menschen, die Wagnisse eingehen. MJ Bei 7 Deaths of Maria Callas werden sieben Arien im Zentrum stehen. Marina Abramović spricht von „sieben Leveln“. Wie ist das gemeint? Wir werden sieben Bühnentode, die Maria Callas gestorben ist, inszenieren. Und da ist ein Tod fürchterlicher als der andere. Die Tode steigern sich – das sind die sieben Level. Dazu werden sieben Kurzfilme gezeigt, in denen Marina zusammen mit dem amerikanischen Schauspieler Willem Dafoe Szenen entwirft, die den Bühnentoden gegenüberstehen – als Kontrapunkt sozusagen. Wir haben also die Schauspielperformances als Filmsequenzen auf der einen Seite und die gesungenen Arien auf der anderen. Und dann gibt es noch einen weiteren Tod, den achten, den echten Tod der Maria Callas, da capo. MJ Die sieben Arien stammen aus Opern von Georges Bizet, Gaetano Donizetti, Giacomo Puccini, Vincenzo Bellini und Giuseppe Verdi. Wie sollen wir uns Ihre Komposition zu diesen sehr einzigartigen, ja ikonischen Stücken vorstellen? Als musikalischen roten Faden? Sozusagen. Die Arien werden durch meine Musik miteinander verbunden. Da geht dann zum Beispiel Traviata in Tosca über. Eine Arie schleicht hinaus – und die nächste schleicht hinein, sehr subtil. Auch die Filmarbeiten spannen einen Bogen. Neben den Filmen von Marina und Willem gibt es noch weiteres Bildmaterial, das den schwebenden Eindruck des Abends verstärkt, das ihn musikalisch und visuell verknüpft, wie ein einziger langer Film, eine lange Komposition. Wir erleben also sieben Arien, sieben Intermezzi und das große Finale, für das ich komplett originäre Musik komponiert habe. Mehr kann ich noch nicht sagen, weil Marina und ich sehr abergläubisch sind. Wir fragen uns immer, was man verraten darf, ohne himmlische Strafen fürchten zu müssen. MJ Sie schreiben für traditionelle Ensembles wie Orchester oder Kammerorchester, arbeiten aber zugleich wie ein DJ im Technozeitalter, nehmen zuweilen auch Computerprogramme zu Hilfe. In Kompositionen wie ketamin/ schwarz, K-hole/schwarzer Horizont und Music Box spielen Sie mit orchestralen sowie elek-

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tronischen Klängen, manchmal auch mit Gesang. Ihre Partituren sind übersichtlich, sparsam, sehr bewusst gestaltet. Man hört, wie sehr Sie bereits Fertiges wieder verbessern, ändern. Und Sie beziehen sich oft auf andere Komponisten, zum Beispiel auf György Ligeti. Was werden wir in München hören? Orchester, Elektronik, einen Damenchor im Graben. Auch Maria Callas selbst, aber nicht im Original, sondern verfremdet. Ich werde die Aufnahmen bearbeiten. Ihre Stimme wird auseinandergezogen, wie eine Ziehharmonika. Ich dehne sie, zerschneide sie, teile sie auf. Und dann überlagere ich sie wieder, als würde ich die Fragmente stapeln. MJ Sie sampeln also wie ein DJ? Genau. Ich spiele mit dem Originalmaterial. Und damit spiele ich auch mit Erinnerung und Zeit. Am Ende wird es eine wahrhaftige Maria Callas geben, die sich aus dem Nebel der Kompositionscluster herausschält – bis sie allein auf der Bühne steht, in Gestalt von Marina. MJ Beim Lesen der Sterbeszenen in den Libretti fällt auf, dass in jeder Gott erwähnt oder angerufen wird. Welche Rolle spielt im Tod der Glaube, die Religion? Darüber habe ich viel nachgedacht. Marina und mich fasziniert das Sterben – und das Übertreten dieser Schwelle. Das ist die ultimative Grenze. Philosophisch, physisch, metaphysisch. Es geht um höhere Mächte, die uns steuern, um das Ende und die Frage: Was wird danach sein? Wird es überhaupt ein Danach geben? Das bleibt das große Mysterium. MJ Die Oper inszeniert die Frau gern als Opfer – in diesem Werk gleich in sieben Variationen. Passt ein solches Frauenbild denn noch in den gegenwärtigen feministischen Diskurs? Es stimmt, die großen Meisterwerke der Operngeschichte sind Frauen gegenüber schon immer brutal und herzlos gewesen. Dieses Gesellschafts- und Frauenbild scheint vollkommen veraltet und aus der Zeit gefallen – gleichzeitig hat es eine paradoxe Aktualität. Es hat sich immer noch nicht genug geändert, deshalb können wir dieses Frauenbild auch noch immer nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Es existiert leider in unserer Wirklichkeit. Noch viel zu oft. MJ War Maria Callas verliebt in den Tod? Das kann ich nicht sagen. Aber sie hat auf der Bühne ihren eigenen Tod so oft vorweggenommen … Hinzu kommt ein weiterer Tod: der der Liebe. Maria Callas litt im echten Leben bis zum Schluss an ihrem gebrochenen Herzen – und das ist letztlich nichts anderes als zu sterben. Eine verlassene Frau, die allein durch die Welt geht. Ich denke da an den


„Die großen Meisterwerke der Operngeschichte sind Frauen gegenüber schon immer brutal und herzlos gewesen. Dieses Gesellschaftsund Frauenbild scheint vollkommen aus der Zeit gefallen – gleichzeitig hat es eine paradoxe Aktualität.“

Interview C. Bernd Sucher

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Schriftsteller Emil Cioran, der geschrieben hat: „Der organischste Tod ist der aus Einsamkeit.“ Auch so ein serbischer Gedanke. Osteuropäer, so glaube ich, haben weit häufiger als Italiener, Franzosen oder Deutsche eine Sehnsucht nach Einsamkeit; durchaus eine Todessehnsucht. Die Callas, deren Eltern aus Griechenland in die USA ausgewandert waren, besaß diese tragische Aura wie keine andere Sängerin des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie klang selbst dann nach Tod, wenn sie von Liebe oder Freude sang. Und ihr Pathos erst! Es war ein kurzes Bühnenleben, aber mit maximaler Intensität. Sie war regelrecht besessen, hat sich und ihren Körper malträtiert, um eine Singmaschine zu werden. Sie brachte ihre eigene Stimme an die Grenzen. Sie war vollkommen – und unfertig zugleich. Sie besaß diese geniale Mozart-Aura. Was hätte da noch alles kommen können … MJ Haben sich ihre Entbehrungen denn gelohnt, Ihrer Meinung nach? Maria Callas opferte ihr Leben der Kunst. Ob es sich gelohnt hat für sie – ich weiß es nicht. Aus heutiger Sicht ist ihr früher Abschied von der Bühne nur schwer verständlich. MJ Ingeborg Bachmann hat eine Hommage auf Maria Callas geschrieben. Darin heißt es: „Sie war, wenn ich an das Märchen erinnern darf, die natürliche Nachtigall dieser Jahre, dieses Jahrhunderts, und die Tränen, die ich geweint habe – ich brauche mich ihrer nicht zu schämen. Es werden soviele unsinnig geweint, aber die Tränen, die der Callas gegolten – sie waren so sinnlos nicht. Sie war das letzte Märchen, die letzte Wirklichkeit, deren ein Zuhörer hofft, teilhaftig zu werden.“ Hören Sie diese Nachtigall, wenn Sie an Maria Callas denken? Ich höre eher einen zerbrechlichen Vogel als eine virtuose Zwitschermaschine. Ich denke bei dieser Nachtigall an das Kunstmärchen von Oscar Wilde, Die Nachtigall und die Rose, in dem sich eine Nachtigall singend für die Liebe opfert. Das hat Maria Callas getan: Mit all den tragischen Rollen, die sie verkörpert hat, hat sie sich singend geopfert, um ein bisschen Schönheit in die Welt zu bringen.

MARKO NIKODIJEVIĆ – Marko Nikodijević wurde 1980 im serbischen

Subotica geboren und studierte Komposition an der Universität der Künste in Belgrad. Es folgte ein Aufbaustudium in Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Stipendien und Meisterkurse führten ihn u. a. nach Apeldoorn, Visby, Weimar, Amsterdam und Baden-Baden. Ausgezeichnet wurden seine Arbeiten u. a. vom International Young Composers Meeting in Apeldoorn, der Gaudeamus Muziekweek in Amsterdam und der 3. Brandenburger Biennale. 2013 erhielt er einen Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung und ein Jahr später wurde er mit dem Deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie Nachwuchsförderung ausgezeichnet. Seine Kammeroper Vivier. Ein Nachtprotokoll wurde 2014 bei der Münchner Biennale uraufgeführt. Für 7 Deaths of Maria Callas entwickelte Nikodijević das musikalische Konzept und komponierte auch ein eigenes Werk.

7 DEATHS OF MARIA CALLAS Von Marina Abramović (2020) Auf Weisung der Bayerischen Staatsregierung sind bei Redaktionsschluss von Max Joseph sämtliche Vorstellungen bis einschließlich 19.04.20 abgesagt. Die Bayerische Staatsoper ist bemüht, die Uraufführung von 7 Deaths of Maria Callas zu realisieren. Aktuelle Informationen: www.staatsoper.de, besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25

C. Bernd Sucher ist Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet in Kooperation mit der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Der langjährige Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung ist PEN-Mitglied sowie Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und hat zahlreiche Bücher verfasst, zuletzt Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung (Piper, 2019).

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Fotos Wolfgang Stahr


EA-B in Vorbereitung · Abbildung aus Sicht des Illustrators (solid-visual.de)

MITTEN IN MÜNCHEN!

W W W.BAVA R I A PE N T HO U S E S . D E TE L. 08 9/ 710 4 09 112 B era t u n g : C it y Lou n g e, WWW. QUARTIE R -N E UHAUSE N . DE R eic h en ba c h s t ra s s e 4 3 , M ü n c h e n TE L . 089 / 710 409 111 Beratu n g: C ity Lou n ge, E in Pro j e kt der C on ce pt B a u Reic he n b ach strasse 43, M ü n ch en Ein P r oj ek t der C on cept Bau P r ojekt N eu h au sen Gm b H

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Foto Rolf Sachs

26.06.2013-09:08:43, 2013 Camera In Motion Series, © Rolf Sachs


ende januar wir fuhren durch das land, den mund entlang ein sorgsames betasten, die zungenspitze am gaumendach, schwach aufgespannt, stille überm zungenblatt, etwas gab nach, wir rollten durch die felder, hinter wolken eine sonne, fast kahle bäume, winterhände, wir lagen ineinander hatten arme füreinander, haare, der rote koffer im gepäckfach, dein mantel über den beinen ein hirtenhund, und unser schlaf wurde langsam durch das land getragen, ich spürte schon ein ziehen aus dem zahnschacht, wurde wach während wir sprachen, leise, unser atem war die fensterscheibe, im gang ein treiben von füßen, waden, jemand schob einen wagen mit getränken, und wir saßen, wie wir waren zwei körper mit vier beinen und vier armen nahmen blatt um blatt vom stapel, lasen der zug kam pünktlich ohne uns am bahnhof an.

Nadja Küchenmeister, Jahrgang 1981, studierte Germanisitik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lehrte u. a. am Deutschen Literaturinstitut und an der Kunsthochschule für Medien in Köln und gestaltete Hörspiele und Features für den Rundfunk. Die Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Mondseer Lyrikpreis, dem Ulla-Hahn-Autorenpreis sowie dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises. Gerade erschien ihr dritter Gedichtband Im Glasberg (Schöffling). Max Joseph hat Küchenmeister gebeten, ein Gedicht über das Loslassen zu schreiben.

Gedicht Nadja Küchenmeister

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Ein Brand zerstört – schafft aber auch Platz für Neues. Über die vielschichtige Beziehung von Mensch und Feuer.

Untitled, from the series of Ametsuchi, 2013

In Flammen


Im April vergangenen Jahres bog ich in Paris aus einer Gasse ans Seine-Ufer und sah eine Rauchwolke am Himmel, darunter Flammen. Sie waren gelb mit einem orangeroten Schein, exakt die Farben der Sonne, die ein Stück entfernt gerade dabei war, unterzugehen. Zwischen den Flammen und der Sonne ragten die zwei Türme von Notre-Dame auf. Es war ein unwirkliches Bild. Auch andere Menschen blieben stehen, sie schienen genauso irritiert wie ich. Ich machte ein Foto und schickte es meinem Mann in Deutschland. „Ich glaube, Notre-Dame brennt“, schrieb ich dazu. Ein paar Minuten später waren die Sirenen der ersten Feuerwehrautos zu hören und auf meinem Mobiltelefon erschien das, was ich gerade sah, als Nachricht, die sich sekundenschnell auf der Welt verbreitete: Notre-Dame, die 700 Jahre alte Kathedrale, stand in Flammen. Ich blieb für die nächsten Stunden an der Stelle. Das Feuer wurde immer größer, und die Wasserstrahlen der Löschfahrzeuge, die man von meinem Standort aus sehen konnte, wirkten

immer kleiner und lächerlicher. Sie waren steil nach oben gerichtet und erreichten doch nicht die Flammen auf dem Dach. Ich starrte auf das Feuer, das sich weiterfraß, ungerührt davon, was es sich hier einverleibte. Ich fühlte mich aus der Zeit gehoben. Mit diesem Gefühl der Ohnmacht mussten die Menschen auch vor Jahrhunderten zugesehen haben, wenn mal wieder ein Feuer in ihrer Stadt ausgebrochen war. Viel später las ich nach, was vom Brand einer anderen Kirche überlie fert war, die auch Notre-Dame heißt. 1194 ging die Kathedrale von Chartres, 90 Kilometer südwestlich von Paris, in Flammen auf. Auch hier brannte zuerst das Holz, das den Dachstuhl hielt, dann stürzten die Steinmauern ein. Der Ort hatte sein Herz verloren, und auch eine Einnahmequelle: Die der Jungfrau Maria geweihte Kirche war eine beliebte Pilgerstätte. Es dauerte nicht lange, bis die entsetzte Bevölkerung eine Erklärung für die Katastrophe angeboten bekam, die die Ordnung wieder herstellte. Maria habe erlaubt, „dass die alte unzurei-

chende Kirche ein Raub der Flammen wurde“, so formulierte es der Zeitgenosse Guillaume le Breton. Das Feuer war also nicht zufällig und sinnlos, sondern im Gegenteil geradezu nötig gewesen. Der Blick auf die Leerstelle, die es hinterlassen hatte, änderte sich: Sie bedeutete nicht länger nur Verlust, sondern auch Möglichkeiten. Eine neue Kirche entstand, eine, „die nicht ihresgleichen in der Welt hat“, wie le Breton schrieb. Er übertrieb nicht, so ein Gotteshaus, so licht, so weit, hatte es tatsächlich noch nicht gegeben. Der unbekannte Architekt hatte die noch junge Technik, stabilere Spitzbogen statt Rundbogen zu nutzen, zu neuer Perfektion getrieben. Die Kathedrale von Chartres gilt als einer der Gründungsbauten der Hochgotik. Liest man Beschreibungen und Augenzeugenberichte früherer Brände in Städten, fällt auf, dass meist eine Umdeutung wie in Chartres passierte – von der Katastrophe zur Zäsur, zur Wegbereitung einer Erneuerung. Der Große Brand von London 1666 wurde nach

Das Feuer war nicht zufällig und sinnlos, sondern im Gegenteil nötig gewesen. Der Blick auf die Leerstelle änderte sich: Sie bedeutete nicht länger nur Verlust, sondern auch Möglichkeiten.

Premiere Mignon

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seinem verheerenden Wüten als Chance gesehen, der größten Stadt der Welt ein Gesicht zu geben, das mit den viel moderneren Städten in den Niederlan­ den oder Frankreich konkurrieren konnte. Und nach dem Feuer, das 1871 einen Teil Chicagos zerstörte, schrieb etwa der Pfarrer E. J. Goodspeed, die Stadt am Lake Michigan scheine nun „geläutert, bereit für ein neues und schöneres Leben“. Tatsächlich entstand auf den Trümmern eine neue Idee von Stadt, mit imposanten Stahlskelett­ bauten, die für die Architektur der Zeit richtungsweisend wurden. Verlustgefühlen den Blick nach vorn folgen zu lassen, ist sehr menschlich – war aber vielleicht auch ein Weg, mit der Ambivalenz umzugehen, die dem Feuer eigen ist: Seit der Vorfahre des Men­ schen es zu nutzen gelernt hat, vor etwa zwei Millionen Jahren, hat es die Ent­ wicklung der Gattung Homo nachhaltig beeinflusst und vorangetrieben. Es ist jedoch ein gezähmtes Stück Natur geblieben. Als Quelle von Licht oder Wärme muss es unter Kontrolle gehal­

ten werden, sonst wird es schnell zur zerstörerischen Kraft: ungerichtet, un­ umkehrbar und sich selbst erneuernd, solange Sauerstoff vorhanden ist und Material, das brennt. „Es ist ein schüt­ zender und ein strafender Gott, es ist gut und böse“, schrieb der Philosoph Gaston Bachelard über Feuer. Über Jahrtausende wurde das den Menschen immer wieder vor Augen geführt, vor allem, solange Holz das am meisten verwendete Baumaterial war. Sie lebten mit Bränden. Samuel Pepys, der Londoner Bürger, dessen Tagebuch wir ungewöhnliche Einblicke in den All­ tag des 17. Jahrhunderts verdanken, notierte am 2. September 1666, dass er nachts aufwachte, durchs Fenster weit hinten Flammen sah und sich wieder schlafen legte. Das Feuer, das ihm so wenig bemerkenswert schien, wurde zum Großen Brand von London, der einen Großteil der Häuser vernichtete. Als 2019 Notre­Dame brannte, war die Fassungslosigkeit über das Feuer ebenso groß wie darüber, dass es bis zum nächsten Morgen brauchte, um es

zu löschen. Über Stunden war nicht klar, ob die Kirche würde gerettet werden können. Ein solches Gefühl der Hilflo­ sigkeit ist zu Beginn des 21. Jahrhun­ derts schwer zu akzeptieren. Der Mensch schickt Roboter auf den Mars und kann nicht eines Feuers im Dach­ stuhl einer Kirche Herr werden? Schließ­ lich gelang es, obwohl es schwer war, vom Boden die Flammen im hohen Dachstuhl zu erreichen. Wasser aus Löschhubschraubern hätte wegen des­ sen Wucht womöglich die Steinmauern zum Einsturz gebracht. Das Feuer von Paris macht auch bewusst, wie abwesend dieses Element sonst im Alltag ist. Sehen wir eine Flamme, kann das eigentlich nur zwei­ erlei bedeuten: entweder eine Katastro­ phe wie im Fall von Notre­Dame oder auch zuletzt der Brände in Südamerika und Australien. Oder die Absicht, Behaglichkeit herzustellen. Im Kamin lodernd oder als Kerze liefert Feuer ein Gefühl des Wohlbehagens – vielleicht eine evolutionäre Erinnerung an die Zeit, als der Frühmensch begriff, dass Nah­

In der Natur bedeutet ein Feuer nur für den Moment Zerstörung. Pflanzen und Tiere kehren zurück und oft tut das dem Ökosystem gut, die Flora, die sich neu ansiedelt, hat mehr Platz und mehr Licht.

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Text Petra Ahne, Fotos Rinko Kawauchi


Untitled, from the series of Ametsuchi, 2012

rung, die Feuer erhitzt hatte, bekömmlicher ist, und die Feuerstelle zum Zentrum eines neuen sozialen Miteinanders wurde. Die Idee, Feuer auch als erneuernde Kraft zu sehen, ist uns fremd geworden und begegnet uns nur noch als Mythos wie dem vom Vogel Phoenix, der aus Asche neu entsteht, oder in religiösen Ritualen: Christen etwa lassen sich am Aschermittwoch, dem Beginn der Zeit des Fastens und des Verzichts, ein Kreuz auf die Stirn malen. Sechs Wochen später brennen die Osterfeuer. Asche – das, was bleibt, wenn das Feuer erloschen ist – steht in vielen Religionen für Vergänglichkeit, aber auch für Läuterung. Möglich, dass solche Symbole einst auch aus der Beobachtung der Natur entstanden sind. Da ist Asche tatsächlich ein effektiver Dünger und wie Feuer an sich ein Katalysator der Erneuerung. Im vergangenen Sommer stand ich in einem Wald, in dem es kurz zuvor gebrannt hatte. Die Stämme der Bäume waren fast schwarz, der Boden auch, in

der Luft lag der Geruch von verkohltem Holz. Es war still, aber es war nicht die wohltuende Ruhe eines Waldspaziergangs. Es war die Stille eines Ortes, aus dem das Leben gewichen war. Der Förster, der mich herumführte, zeigte auf eine Stelle ein Stück entfernt. Auf dem dunkelgrauen Boden leuchtete es hellgrün. Die Blätter von Farnen schoben sich durch die Ascheschicht. Ein Neuanfang, beschleunigt durch das in der Asche enthaltene Kalium und den Kalk. In der Natur bedeutet ein Feuer nur für den Moment Zerstörung. Pflanzen und Tiere kehren zurück und oft tut das dem Ökosystem gut, die Flora, die sich neu ansiedelt, hat mehr Platz und mehr Licht. Die Mammutbäume in Kalifornien etwa konnten sich über hunderte, tausende Jahre nur deshalb zu solchen Giganten entwickeln, weil es hin und wieder brannte. So verschwanden jüngere, konkurrierende Bäume, die größeren waren durch ihre bis zu einem halben Meter dicke Rinde geschützt. Es gibt sogar Pflanzen, die gewissermaßen darauf warten, dass ein Feuer den Wald-

boden bereinigt. Sie keimen erst, wenn es gebrannt hat. Die Samen einiger Bäume und Sträucher liegen in Zapfen oder Kapseln, die sich erst nach einem Feuer öffnen. Bei Banksien beispielsweise können die Samen bis zu 17 Jahre darauf warten, dass die Hitze die Kapseln, die sie umgeben, platzen lässt und der Wind sie auf die verbrannten Flächen trägt. Auch einige Grasbaumarten in Australien bilden nur Blüten, wenn es gebrannt hat. Vor allem sind kleinere Feuer nötig, um größere zu verhindern. Brennt es gelegentlich, ist der Boden wieder frei von Biomasse, Zweigen und Totholz. Sammelt sich davon zu viel an, erreicht ein entstehendes Feuer eine ungleich größere Intensität. Dass Brände überall auf der Welt verheerender werden, hat, neben extremen Wetterbedingungen wie Dürren und starken Winden, genau damit zu tun: Natürliche Feuer werden über Jahre unterdrückt und die, die sich schließlich entzünden, sind viel heftiger als die, an die Ökosysteme angepasst sind. Viele traditionelle


lichkeiten am Laufen hält. In Automotoren verbrennt Benzin, in Kraftwerken wird Erdgas oder Kohle entzündet. Inzwischen hat der Mensch begriffen, dass das nicht ohne fatale Folgen bleibt. Es sind Verbrennungsvorgänge, die das Klima verändern – und es sind daraus resultierende Dürren, die wiederum die unkontrollierbaren Feuer möglich machen, die weltweit zunehmen. „Wir haben eine Welt geschaffen, in der es die falsche Art Feuer zu oft und die richtige Art Feuer zu selten gibt“, so fasst es Stephen J. Pyne zusammen, Umwelthistoriker und ein Pionier der Feuerforschung. Die Regierung in Australien hält auch nach den Bränden der vergangenen Monate an der Kohleförderung fest. Viele Menschen dort sagen aber, dass die Brände sie verändert zurückgelassen haben. Weil sie nun verstanden hätten, was Klimawandel heißt und was sich ändern muss. Eine Katharsis, ausgelöst durch Feuer: Sie war nie nötiger. Mehr über die Autorin und die Fotografin auf S. 8

MIGNON – Nachdem sowohl Giacomo Meyerbeer als auch Charles Gounod die Komposition einer Oper nach Johann Wolfgang von Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre abgelehnt hatten, machte sich Ambroise Thomas an die Arbeit und vollendete Mignon 1866. Das Werk war vor allem im 19. Jahrhundert erfolgreich und erfuhr bis 1955 allein an der Opéra-Comique in Paris 2.000 Aufführungen. Die junge Mignon, die als Kind entführt wurde und sich seitdem zurücksehnt nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“, wird von Wilhelm Meister aus der Knechtschaft befreit und verliebt sich in ihren Retter. Dieser kann die Zuneigung zu Mignon allerdings erst erkennen, als ihr Leben auf dem Spiel steht. In diesem aufreibenden Sehnsuchtsdrama spielt das Feuer in einem Schloss eine wichtige Nebenrolle. Mignon betritt es, Flammen beginnen, wild um sie zu schlagen, und Wilhelm Meister stürzt sich wagemutig hinein, um sie zu retten. Das hat ein entscheidendes Umdenken bei ihm zur Folge.

MIGNON

Oper in drei Akten (1866) Von Ambroise Thomas Auf Weisung der Bayerischen Staatsregierung sind bei Redaktionsschluss sämtliche Vorstellungen bis einschließlich 19.04.20 abgesagt. Die Bayerische Staatsoper ist bemüht, die Premiere von Mignon zu realisieren. Aktuelle Informationen: www.staatsoper.de, besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25

RK_023 Untitled, from the series of Ametsuchi, 2013

Kulturen haben Feuer nach dem Vorbild der Natur eingesetzt. Die Aborigines in Australien zum Beispiel legten über Jahrtausende im Frühjahr Feuer, um das Gras vom Jahr zuvor zu verbrennen und zu verhindern, dass es im Sommer, trocken geworden, ein zu starkes Feuer auslöst. In der modernen westlichen Welt ist die Geschichte von Mensch und Feuer allerdings die von dessen Unsichtbarwerden. Die Europäer, die nach Amerika oder nach Australien kamen, brachten kein Verständnis für die reinigende Kraft eines Feuers in der Natur mit: Ein Feuer gehörte gelöscht oder in Behältnisse gepackt, wo es seinen Dienst tat – Herd, Lampe und Kamin. Mit der Industrialisierung wurden diese Behältnisse größer, Feuer loderten in Dampfmaschinen und Stahlöfen, im 18. und 19. Jahrhundert sah man Rauch aus riesigen Schloten in die Luft steigen – und später auch den kaum mehr. Lange Zeit konnte man glatt vergessen, dass es weiterhin Feuer ist, das die moderne Welt mit ihren Annehm-


Marlene Dumas, The Accident, 1986, Foto: Johannes Haslinger © Marlene Dumas; Gestaltung: Schmid / Widmaier

FEELINGS KUNST UND EMOTION

BIS 04.10.2020

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Premiere Mignon


Im Land, wo die Zitronen blühen

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? Im dunklen Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? Kennst du es wohl? Dahin, dahin Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.“

Diese sehnsüchtigen Zeilen singt Titelheldin Mignon in der gleichnamigen Oper nach einem Text von Johann Wolfgang von Goethe. Eine Gedankenreise mit den Musikerinnen und Musikern des Opernstudios an Orte, die sie glücklich machen. Opernstudio

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Markus Suihkonen, Bass, 25 Jahre, Finnland

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Seltsamerweise gibt es für mich keinen Ort auf der Welt, den ich „Heimat“ nennen würde. Ich habe schon an so vielen Orten gelebt, und mit keinem davon fühle ich mich wirklich verbunden. Zumindest nicht so, dass ich immer wieder dorthin zurückkehren würde. Am Ende des Tages zählen für mich wohl einfach die Menschen. Mein Vater hat mich gerade in München besucht, meine Wohnung hier ist für mich eher fremd. Aber in dem Moment, in dem mein Vater in meiner Küche steht, fühlt es sich nach zu Hause an. Was mir jedoch immer ein gutes Gefühl gibt, ist zu saunen. In meiner Heimat Finnland gibt es mehr Saunas als Einwohner. Wenn wir ein bisschen Freizeit haben, fahren wir in unsere Sommerhäuser, kleine Cottages auf dem Land, in der Nähe des Meers oder eines Sees – und gehen in die Sauna. Heiß muss sie sein, dann trinkt man ein, zwei Bier, der Blutdruck wird angeregt. Danach hat alles Schlechte den Körper verlassen.

Protokolle Sarah-Maria Deckert


Juliana Zara, Sopran, 27 Jahre, USA

Ich habe eine ältere Freundin, eine Art Mentorin, die sagte mir einmal: „Dein Zuhause trägst du in deinen Schuhen.“ Dieser Satz bedeutet mir viel, vor allem in Bezug auf meine Arbeit im Opernstudio. Wir sind hier für zwei Jahre – wer weiß, wohin es uns danach verschlägt? Das bringt dieser Beruf mit sich. Wir lieben, was wir tun. Und deshalb wird uns der liebste Ort auf Erden auch immer der sein, an dem wir gerade arbeiten. Man muss sich manchmal zu einer gewissen Form von Pragmatismus zwingen und darf nicht zu nostalgisch werden. Ich bin am Strand von Kalifornien aufgewachsen. Mein Vater war Fischer, er hat mich immer mit dem Boot mit rausgenommen. Der Ozean symbolisiert für mich das Unbekannte. Er kann einem Angst machen, weil er so weit und rau ist. Gleichzeitig ist er meine größte Konstante: Er ist immer da, Ebbe und Flut kommen zweimal am Tag. Dieser natürliche Rhythmus gibt mir die Ruhe, die ich für meinen Job brauche.

Fotos Markus Burke

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Oğulcan Yılmaz, Bariton, 28 Jahre, Türkei

Es gibt ein kleines Dorf am Schwarzen Meer in der Türkei, nahe der Grenze zu Georgien. Meine Mutter ist dort aufgewachsen. Jeden Sommer haben wir in diesem Dorf Urlaub gemacht, und da habe ich meine Kindheit verbracht. Dieser Ort fehlt mir jeden Tag. Das Elternhaus meiner Mutter stand in einer Straße, in der auch andere Kinder aufwuchsen. Viele von ihnen leben heute noch da. Wenn ich zu Besuch bin, treffen wir uns alle zusammen, wir sind dann zu zwanzigst, zu dreißigst, spielen Fußball und trinken Rakı. Das ist Tradition. Rakı ist ein Getränk, dass man nur mit seinen allerbesten Freunden trinken kann. Das geht nicht mit lauter Musik, wie bei Wodka zum Beispiel. Wenn ich Rakı in München trinke, ist es nicht dasselbe. Er soll nach Anis, Rosinen und Trauben schmecken – nach dem Boden meiner Heimat. Das ist meine Komfortzone.

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Cardiff ist die Hauptstadt von Wales. Meine Eltern leben nördlich der Stadt, fast schon ein wenig ländlich. Wenn man von dort ein paar Schritte geht, kommt man in eine alte, verwachsene Waldlandschaft, den „Wenallt Wood“. Das ganze Jahr über kann man darin spa­ zieren, und ich mag es sehr, der Vegetation dabei zuzuse­ hen, wie sie sich mit den Jahreszeiten verändert. Was aber so besonders an diesem Wald ist, sind die Hasen­ glöckchen, die dort im Früh­ ling blühen. Der englische Begriff trifft es besser: „Bluebells“. Man muss ein bisschen nach ihnen suchen, aber wenn man weiß, wo sie zu finden sind, dann erstreckt sich vor einem ein Meer aus Blau. Sie bedecken den ganzen Boden, felderweise. Das ist märchenhaft schön. Dieses Bild hat sich so tief in mir eingeprägt, ich freue mich jedes Jahr darauf.

Sarah Gilford, Sopran, 28 Jahre, Groß­ britannien 55


George Vîrban, Tenor, 25 Jahre, Rumänien

Die Bühne ist mein happy place. Hier fühle ich mich wohl. Ganz anders, als wenn ich zum Beispiel im Proberaum singe. Da ist alles klein und eng; das stresst mich ungemein. Ich bin in meiner Arbeit sehr präzise, habe gerne die volle Kontrolle über meinen Körper und meine Stimme. Das gelingt mir auf der Bühne besser als im Proberaum – bilde ich mir zumindest ein. Auf der Bühne ist es wie Magie, da passiert etwas mit mir, auch wenn ich nicht genau erklären kann, was. Mein Kopf wird klar, etwas löst sich. Das kommt von hier unten, aus der Magengegend. Und das fühlt sich gut an. Vor drei Jahren hatte ich mein Debüt am Opernhaus in Bukarest als Nemorino in L’elisir d’amore. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, als der Vorhang zum ersten Mal aufging: Alle Augen des Publikums lagen auf mir. Das hat mir sehr viel Energie gegeben. Und in diesem Moment habe ich verstanden, dass ich genau hier hingehöre.


Für mich ist das Land, wo die Zitronen blühen, das Land, in dem der Kaffee wächst: Kolumbien. Ich stamme aus einer Region im Zentrum mit vielen Kaffeeplantagen. Die Möglichkeiten sind hier begrenzt, im Gegensatz zum Angebot der europäischen Großstädte. Das Land hat mit vielen Problemen zu kämpfen, mit einem maroden Bildungssystem, mit der schlechten Wirtschaft, mit Armut. Trotzdem sind die Menschen glücklich und zufrieden. Vielleicht liegt es an der Sonne. Oder daran, dass wir viel Wert auf Familie und Gemeinschaft legen. Es wird immer gefeiert. Wir brauchen nicht mal einen Anlass dafür. Diese Mentalität verbindet uns. Wir haben keine Berührungsängste. Wenn du einen Kolumbianer im Bus triffst, kennst du nach einer halben Stunde seine ganze Lebensgeschichte. Auf Facebook gibt es Gruppen wie „Kolumbianer in München“ oder „Kolumbianer in Paris“, die vereinbaren regelmäßige Treffen in Restaurants oder Bars. Zu denen gehe ich, wenn ich Heimweh habe. Denn auch wenn ich dort niemanden kenne, fühle ich mich wie zu Hause.

Andres Agudelo, Tenor, 27 Jahre, Kolumbien

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Noa Beinart, Mezzosopran, 28 Jahre, Israel

Mit 20 Jahren ging ich von Tel Aviv nach Berlin. Dort bin ich erwachsen geworden – auch als Sängerin. Dieser Eindruck hat sich noch einmal verstärkt, als ich den Job im Opernstudio bekam. Das hat mir gezeigt, dass es das wert war: ein Land zu verlassen, eine neue Sprache zu lernen, Veränderung in Kauf zu nehmen, alles mir Mögliche zu tun, um heute hier zu stehen. An Berlin mag ich die Anonymität. Ich laufe durch die Straßen und kann ich selbst sein, ohne darüber nachzudenken. Es ist ein sehr freier Ort, auch wenn die Stadt selbst nicht einfach ist. Ich brauchte zwei Jahre, um dort anzukommen. Viele Menschen sind in dieser Stadt, um eine Krise zu bewältigen oder weil sie auf der Suche nach sich selbst sind. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich mich dort gefunden habe. Heute weiß ich, wer ich bin, was ich will. Das Wichtigste, das ich über mich selbst gelernt habe: Ich bin zu so vielem fähig. Ich kann alles schaffen.

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Michael Pandya, Pianist, 25 Jahre, Großbritannien

Das Pub gehört in Großbritannien zur Kultur, wie die Biergärten zu München. Wir gehen ins Pub, immer, egal wann. Das Bier schmeckt in Bayern zwar um Welten besser, aber darum geht es nicht. Es muss noch nicht mal ein besonders schönes Pub sein. Es geht um das Gefühl, das man dort hat: Man spricht über Gott und die Welt, spielt Karten, schaut Fußball. Man kommt um halb drei am Nachmittag und wenn man das nächste Mal auf die Uhr schaut, ist es bereits elf. Keine Ahnung, was in der Zwischenzeit passiert ist. Zeit existiert nicht im Pub. Ein gutes Gefühl. Ich habe mal in einer Wohnung in London gelebt, und gegen Mitternacht kam ich mit meinen Mitbewohnern aus dem Pub nach Hause, doch der Boiler war explodiert. Alles stand unter Wasser. Also sind wir zurück ins Pub gegangen – es löst so gut wie alle Probleme.


Caspar Singh, Tenor, 24 Jahre, Groß­ britannien

An meinem Geburtstag gab es früher eine Tradition: Jedes Jahr sind wir in den Botani­ schen Garten in London gegangen, bestimmt 17, 18 Jahre hintereinander. Meine Großeltern, meine Eltern, meine Schwester und ich. Bis heute liebe ich es, die botanischen Gärten einer Stadt zu besuchen. Die Ruhe und die Luft in den Gewächshäusern, die Natur, das be­ ruhigt mich irgendwie. Auch sonst bin ich gern draußen, wenn ich zu viel nachdenke, mein Kopf zu voll ist. Dann mache ich einen Spaziergang und fotografiere ein bisschen auf dem Weg. Ich bin nördlich von London aufgewachsen, meine Eltern besitzen dort viel Land. Diese weiten Hügel, das mag ich, besonders im Herbst, mit all seinen Farben. England fehlt mir nicht unbedingt, bis auf die Supermärkte. Dass man überall, zu jeder Uhrzeit frischen Fisch bekommt – davon kann man in München nur träumen.

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Daria Proszek, Mezzosopran, 25 Jahre, Polen

Für mich ist das Theater der Ort, an dem ich am meisten entspanne. In Krakau bin ich früher einmal pro Woche ins Theater gegangen. Ich fühlte mich mit der Atmosphäre dort verbunden, mit den Menschen, den Schauspielern. Es war wie ein zweites Zuhause. Die erste Inszenierung, die ich dort vor etwa sieben Jahren gesehen habe, war von Jan Klata, meinem Lieblingsregisseur – das hat mein Leben verändert. Es hat mir eine Lektion in Sachen Menschlichkeit erteilt, danach habe ich meine eigene Gefühlswelt viel besser verstanden. Ein Bühnenstück sehe ich mir manchmal drei, vier Mal an und immer ist es anders, weil die Energie der Darsteller anders ist, das Publikum auch. Der große Vorteil gegenüber dem Kino. Nach einer Aufführung laufe ich durch die Gegend und denke darüber nach, was ich gesehen habe. Ich bin dann immer ein bisschen aufgekratzt, spüre die Luft. Krakau, das ist wie ein kleines Wien, mit seiner Architektur und der Magie der alten Straßen. Das genieße ich.

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Christian Valle, Bass, 28 Jahre, Norwegen

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Ich sehne mich nach einem Haus in den Bergen. Eine Woche lang ausruhen, wandern, langlaufen. Meine Eltern haben so eines, eineinhalb Autostunden von Trondheim entfernt, in Norwegen, an der schwedischen Grenze. Es liegt auf einem kleinen Hügel, und von dort hat man einen guten Blick auf das Friedliche dieser Region. Bevor meine Eltern dieses kleine Häuschen gebaut haben, lebten meine Tante und mein Onkel dort. Wir haben sie immer in den Ferien besucht. Wenn ich da bin, spüre ich keinen Druck. Niemand klopft an der Tür und sagt mir, was ich tun soll. Ich war bestimmt schon vier oder fünf Jahre nicht mehr dort. Dann ist es gut, etwas im Kühlschrank zu haben, was einen ein bisschen tröstet. Meine Eltern haben mich vor einigen Wochen in München besucht und „Brunost“ mitgebracht, „braunen Käse“. Er schmeckt süß, nach Karamell. Jeden Morgen schneide ich mir davon eine kleine Scheibe ab. Das hilft.


Mirjam Mesak, Sopran, 29 Jahre, Estland

Meine Heimat Estland ist erst seit gut 28 Jahren unabhängig. Damit ist das Land sogar noch jünger als ich. Es ist klein, aber sehr besonders. Unsere Unabhängigkeit ist uns wichtig. Wir kämpfen für unsere Traditionen. Dazu gehört die Volksmusik und das Singen. Alle fünf Jahre feiern wir das Liederfest in Tallinn. Mittlerweile kommen hunderttausende Menschen aus aller Welt dort zusammen, um gemeinsam zu singen. Aber begonnen hat es, damit wir Estländer uns als Gemeinschaft spüren. Das erste Mal war ich wahrscheinlich schon im Bauch meiner Mutter da. Später besuchte ich es mit meinem Chor. Und auch heute reise ich noch dorthin. Das Tolle daran, in einer Gruppe zu singen, ist das Gefühl, nie allein zu sein, das Gefühl, sich gegenseitig zu stützen. Man spürt die Sicherheit der Gruppe. In der Oper ist das ganz ähnlich. Wir stehen zwar nicht zu Hunderten auf der Bühne, aber man hat das Piano oder ein Orchester – und ist nie ganz allein.

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Ewa Danilewska, Pianistin, 29 Jahre, Polen

Meine Eltern sind Pianisten, wie ich. Unsere Sommer haben wir immer in der Schweiz verbracht, dort haben sie Konzerte gespielt. Wir hatten ein ruhiges Haus in den Alpen, im schweizerischen Engadin. Das kommt mir als Erstes in den Sinn, wenn ich an einen friedvollen Ort denke. Andererseits bin ich in Polen aufgewachsen, ich kenne das Land, die Sprache. Wenn man umzieht, muss man auch die ganzen kulturellen Unterschiede bedenken, mit denen man neu konfrontiert wird. Das ist nicht immer einfach. Im eigenen Land hat man das nicht. Ich mag die Offenheit der Polen. Wenn du jemanden nach seiner Meinung fragst, bekommst du eine ehrliche Antwort. Und egal, was für ein Problem du hast, man kann es immer lösen. Gerade in meinem Beruf ist das eine große Hilfe – wir Künstler sind manchmal doch recht chaotisch. Mehr über den Fotografen auf S. 8

MIGNON

Oper in drei Akten (1866) Von Ambroise Thomas Auf Weisung der Bayerischen Staatsregierung sind bei Redaktionsschluss von Max Joseph sämtliche Vorstellungen bis einschließlich 19.04.20 abgesagt. Die Bayerische Staatsoper ist bemüht, die Premiere von Mignon zu realisieren. Aktuelle Informationen: www.staatsoper.de, besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25

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Mit der Waffe, die Stephanie anschließend zückte, hatte sie selbst nicht gerechnet. Sie rottete tief verborgen vor sich Dumm nur, dass sie nun in Form einer E-Mail losgegangen war und man E-Mails nicht zurückrufen konnte. Dafür konnte man sie weiterleiten und herumzeigen, eine Horrorvorstellung, die jedoch voraussetzte, dass Chris sein Schamgefühl und sein Ego dezimierte, beziehungsweise eliminierte. Stephanie trug die Weinflasche in die Küche. Der Frühling ließ auf sich warten, trotzdem hatte sie Heuschnupfen und auch die Obstfliegen hatten die Saison mit einem schwebenden Tänzchen über dem Flaschenhals bereits eröffnet. Wie ungerecht das Leben sein konnte. Jackie Thomae, gestrichen aus Brüder, Hanser Berlin, 2019

Man hätte sie für seine Geliebte halten können, aber das war sie nicht, im Gegenteil – er fühlte sich ihr lediglich verbunden, auf eine spirituelle Weise, jenseits aller Gedanken an den Körper und seine Funktionen. Sie tat ihm natürlich auch leid, und in gewisser Weise fühlte er sich sogar ein wenig schuldig, wie jedes Mal, wenn er einen jungen Menschen mit schmutzigen Füßen und Stirnband auf dem Straßenpflaster lümmeln sah, der um Kleingeld bettelte oder eine Gitarre zupfte und dazu erbärmlich falsch irgendeine Rock-’n’-Roll-Nummer vor sich hin brummte. Ihm drängte sich dann immer der Gedanke auf, dass dieser Mensch in seinen dreckigen Lumpen nicht hier herumsitzen würde, sondern ganz woanders wäre – an der Universität, in einer Anwaltskanzlei, einem Buchladen, einer Konditorei, oder gar in einer Fabrik oder in irgendeiner Werkstatt –, gäbe es nur kein Lysergsäurediethylamid. Nachdem er sie also an jenem ersten Tag (Gott sei Dank ein Freitag, sodass am nächsten Morgen niemand im Gebäude war und etwas mitbekommen konnte) bei sich im Büro hatte übernachten lassen, fuhr er mit ihr rüber nach Iselin, wo er eine gewisse Frau Scherzinger kannte, die Pensionsgäste aufnahm – sehr seriös und ganz diskret. Er kannte sie als Herbergsmutter für Sandoz-Lehrlinge und hatte sie in dieser Funktion ein, zwei Mal getroffen. Er konnte sie nicht gut zu sich mit nach Bottingen nehmen, deswegen fiel ihm als Ausweg Frau Scherzinger ein – nur bis sie sich ein wenig eingelebt, einen Job gefunden und die Wogen in ihrer Seele sich geglättet haben würden, die, so sagte er sich, wie alles andere auch, wahrscheinlich das Ergebnis der Reisestrapazen waren. T.C. Boyle, gestrichen aus Das Licht, Hanser, 2019

Und jetzt sollte die Handlung endlich ernsthaft beginnen. Christian Kracht, gestrichen aus Imperium, KiWi, 2012

hin, nicht dafür vorgesehen jemals hervorgeholt zu werden.

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Im Abseits

Carl Alt ist bis heute der einzige aktive HockeyBundesliga-Spieler, der sich als homosexuell geoutet hat. Eine Reportage über Homophobie im deutschen Spitzensport und eindimensionale Heldenbilder.

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Text Jörg Böckem


Collagen Yvonne Gebauer

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Es beginnt am 16. Oktober 2019, mit vier Sätzen im Twitter-Account eines Unbekannten: „Ich bin ein schwuler Spieler der 2. Bundesliga. Ich möchte mich bald outen, um das Versteckspiel zu beenden. Ich teste hier ob ich den Druck aushalten kann... Ask me anything!“, schreibt gay_Bundesligaspieler. Innerhalb kürzester Zeit hat der Account mehr als zehntausend Follower, BundesligaVereine wie der BVB und der 1. FC Nürnberg solidarisieren sich mit ihm, ebenso der Grünen-Politiker Volker Beck und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld; die Bild berichtet, die TZ, die Münchner Abendzeitung und viele mehr. Seitdem twittert gay_Bundesligaspieler regelmäßig, er fordert Unterstützung vom Deutschen Fußball-Bund, berichtet über schwulenfeindliche Witze beim Training und Beschimpfungen im Netz, von psychischem Druck und Ängsten. Dafür bekommt er viel Zuspruch von seinen Followern – und von einem weiteren anonymen Twitterer, der angibt, ein homosexueller Fußballprofi aus der ersten Liga zu sein, der ebenfalls über ein öffentliches Comingout nachdenke. Ob es sich um authentische Profile handelt, ist unklar. Daran, dass die anonymen Tweets die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema lenken, gibt es jedoch keinen

los sei, aber damals konnte ich das nicht beantworten.“ Eine Reaktion auf den psychischen Druck und die Selbstzweifel, sagt er. Möglich, dass er unbewusst mit besonderer Härte in den Zweikämpfen versucht habe, den Klischees über Schwule keine Nahrung zu geben und keinen Verdacht zu erregen: „Viele halten Homosexualität und Leistungssport ja immer noch für einen Widerspruch.“ Eine Annahme, von der sich auch Carl Alt erst lösen musste. Ebenso wie von den Idealbildern, mit denen seine Vorstellung von diesem Teil seines Selbstbildes gepflastert war, und von der Angst davor, was ein mögliches neues Selbstbild in den Köpfen der anderen anrichten würde. Dem tradierten Fremdbild ein neues Selbstbild gegenüberzustellen, würde Mut von ihm erfordern, und den muss man erst einmal aufbringen, auch wenn die Voraussetzungen dafür da waren. Mit 16 spürte Alt, dass er anders war als seine Freunde in der Schule und im Verein. Dieses Anderssein, sagt er, habe ihm keine große Angst gemacht, er sei schnell mit sich und seiner Sexualität im Reinen gewesen. Nicht zuletzt, da ein Onkel offen homosexuell lebe, Alt also damit aufgewachsen ist. Angst habe er vor den Reaktionen der anderen gehabt, vor allem im Sport, seinem Lebensmit-

„Möglich, dass ich mit besonderer Härte in den Zweikämpfen versucht habe, den Klischees über Schwule keine Nahrung zu geben und keinen Verdacht zu erregen.“ Carl Alt

Zweifel: Denn Homophobie, schwulen- und lesbenfeindliche Sprüche und Beleidigungen gehören in deutschen Stadien leider immer noch zum Alltag. Eine Altbauwohnung in Hamburg-Winterhude, vor der Haustür ein Dutzend Sneaker. „Im Umgang mit Homosexualität ist König Fußball leider eine Randsportart. Ich würde mich freuen, wenn es sich bei gay_Bundesligaspieler um eine reale Person handeln und er den Schritt tatsächlich wagen würde“, sagt Carl Alt. Er ist 27 Jahre alt und arbeitet in einer Werbeagentur; gerade kommt er aus dem Büro, in einer Stunde beginnt sein Training. Alt spielt in der Eishockey-Bundesliga, beim Club an der Alster. Im vergangenen Jahr hat er mit seiner Mannschaft die Hallenmeisterschaft gewonnen, er träumt vom Champions-League-Titel. Alt ist schwul, er war der erste Bundesliga-Spieler in seiner Sportart, der sich geoutet hat. Das war vor acht Jahren. Bis heute ist er der einzige. Die Jahre vor seinem Outing, sagt er, seien sehr schwierig gewesen. Alt spielte damals für den Uhlenhorster Hockey-Club, einer der profiliertesten Feldhockeyvereine in Deutschland. „Ich habe mich orientierungslos gefühlt, war extrem angespannt. Auf dem Platz war ich sehr aggressiv, meine Mitspieler haben mich gefragt, was mit mir

telpunkt seit der Teenagerzeit. Würden seine Mitspieler in ihm danach immer noch den selben Carl sehen wie vorher? 2011, ein halbes Jahr vor seinem Outing, posiert er noch mit einer jungen Frau im Arm auf der Webseite des UHC und antwortet auf die Frage nach „der heißesten Person Hollywoods“ mit „Jennifer Aniston“. Verstellen, Versteck spielen, Interesse an Flirts heucheln, das ist sein Alltag, immer wieder muss der gut aussehende, sportliche junge Mann Ausreden finden, wenn irritierte Mannschaftskameraden fragen, warum ihn die zahlreichen Avancen hübscher, junger Frauen so kalt lassen. „Ich habe gespürt: Das muss raus“, sagt Alt. „Für mich war klar, ich wollte das nicht für mich behalten.“ Drei Jahre habe es gedauert, bis er bereit gewesen sei, offen zu seiner Homosexualität zu stehen, zuerst vor seinen engen Freunden, dann gegenüber seiner Familie und schlussendlich auch im Verein. „Mit jedem Schritt ging es mir besser, ich wurde entspannter. Die Mannschaft war der letzte wichtige Schritt. Auch für meine sportliche Karriere – mir war klar, dass ich nur dann auf dem Feld volle Leistung bringen kann, wenn ich mit mir im Reinen und unbelastet bin.“ Bereut hat er diesen Schritt nie. Er habe immer Rückendeckung von seinen Mitspielern bekommen, sagt er, vor allem sein damaliger Mentor,

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Moritz Fürste, einer der erfolgreichsten Hockeyspieler Deutschlands, habe ihn unterstützt. „Anfangs habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob es für meine Mitspieler merkwürdig ist, mit einem Schwulen zu duschen oder bei Auswärtsspielen das Zimmer zu teilen“, sagt er. Aber auch diese Sorge hat sich als unbegründet erwiesen. Dass er irgendwann seinen Partner mit zur Weihnachtsfeier gebracht habe, sei ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Normalität für ihn gewesen. Für Carl Alt war die Entscheidung, offen zu seiner Homosexualität zu stehen, auch im Mannschaftsleistungssport, nicht nur eine persönliche. Er will Haltung zeigen, ein Vorbild für andere schwule Sportler sein, ihnen mit seinem Beispiel Mut machen. „Es gibt 80.000 aktive Hockeyspieler in Deutschland“, sagt er. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, das ich der einzige Schwule bin?“ Nachdem sein Outing in Hockey-Kreisen die Runde gemacht hat, sagt er, hätten ihn schon rund ein Dutzend ebenfalls schwuler Spieler aus unterklassigen Ligen kontaktiert und ihn nach seinen Erfahrungen befragt. Öffentlich zur eigenen Homosexualität bekennen wollte sich bisher keiner von ihnen. „Das ist eine sehr persönliche Entscheidung, die ich respektiere“, sagt Alt. Es sei trotz-

„Dazu kommt, dass der Körper im Zentrum steht und es eine große körperliche Nähe gibt, bei Zweikämpfen, dem Torjubel oder in der Umkleidekabine. In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich sind diese Elemente so relevant. Das schafft Barrieren und Unsicherheit im Umgang mit homosexuellen Personen.“ Der schwule Mann, sagt Martin Schweer, der an der Universität Vechta die Abteilung Pädagogische Psychologie sowie das Zentrum für Vertrauensforschung und die sportpsychologische Beratungsstelle leitet, werde in dieser männlich dominierten Welt auch deshalb als Bedrohung empfunden, weil es ihn im Fußball nicht gäbe, er nicht sichtbar sei: „Alles Unbekannte ist erst mal bedrohlich.“ Diese Nicht-Sichtbarkeit ist eine Form der Diskriminierung, die großes Leid verursacht: Homosexuelle Leistungssportler werden zu einem Doppelleben gezwungen, geprägt von Selbstverleugnung, Versteckspiel und Angst vor Entlarvung. In anonymen Gesprächen berichten viele von Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken, manchen ist die Belastung zu groß und sie beenden ihre Karrieren. Im Frauenfußball sieht es etwas anders aus: In der erfolgreichsten Zeit der Nationalmannschaft hatte ein halbes Dutzend der deutsche Spielerinnen offen gleich-

„Für Frauen ist es im Hochleistungssport einfacher, ihre sexuelle Orientierung zu zeigen. Aber das ist kein Zeichen von Fortschritt, sondern nur eine andere Form von Diskriminierung.“ Martin Schweer

dem schön, andere an seinen Erfahrungen teilhaben lassen zu können und sie zu ermutigen. Carl Alts Geschichte ist die Ausnahme. Auch wenn Mannschaftssportarten, allen voran der Fußball, immer wieder gebetsmühlenartig für ihre integrative Kraft gelobt werden – in kaum einem anderen Bereich des öffentlichen Lebens sind Sexismus und Homophobie so tief verwurzelt. Schwule Profis existieren scheinbar nicht, nicht im Handball, nicht im Eishockey, erst recht nicht im Fußball, sechs Jahre nach dem medial viel beachteten Coming-out des ehemaligen Nationalspielers Thomas Hitzlsperger 2014. Warum ist das so? Warum ist gerade der Fußball die letzte Bastion einer Männerwelt voller Ressentiments, Sexismus und Machtstrukturen, die aus dem vorigen Jahrtausend zu stammen scheint? Fußball, ein Spiegelbild der Gesellschaft? Hoffentlich nicht! „Homophobie“, sagt Birgit Braumüller, die am Institut für Soziologie und Genderforschung der Deutschen Sporthochschule Köln zu Diskriminierung im Sport aufgrund der sexuellen Orientierung und Genderidentität forscht, „ist ein generelles Problem des Leistungssports, insbesondere des Fußballs.“ Zum einen, weil der Sport so stark männlich dominiert und von männlichen Stereotypen wie Kraft, Stärke und Durchsetzungsvermögen geprägt sei.

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geschlechtliche Beziehungen, die Torhüterin Nadine Angerer beispielsweise, Inka Grings, die spätere Nationaltrainerin Steffi Jones oder die aktuelle Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, die heute mit einem Mann verheiratet ist. Sind die Fußballfrauen den Männern in der Hinsicht also ein paar Schritte voraus? Nur bedingt, sagt Schweer. Die Marginalisierung der Frauen im Leistungssport, resultierend aus der Annahme, Frauen gehörten nicht zum Fußball, sei ein zentraler Baustein der Diskriminierung. Ein weiterer Grund für den größeren Spielraum, den Frauen in dieser Frage genießen, sei die geringere öffentliche Aufmerksamkeit für den Frauenfußball und damit ein niedrigerer Druck von außen; die positive Seite der Marginalisierung sozusagen: „Für Frauen ist es im Hochleistungssport tatsächlich einfacher, ihre sexuelle Orientierung öffentlich zu zeigen, obwohl auch sie sehr wohl unter Ressentiments leiden.“ Aber das sei kein Zeichen von gesellschaftlichem Fortschritt oder gar Liberalisierung, sondern nur eine andere Form von Diskriminierung: „Wenn man Homophobie und Sexismus zusammen denkt, wird der schwule Mann immer noch eher mit weiblichen Merkmalen belegt, die nicht in den männlich konnotierten Leistungssport passen. Einer les bischen Frau werden hingegen eher männliche Attribute


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zugesprochen. Die Vorstellung, dass eine lesbische Frau gut Fußball spielt, ist mit unseren Klischees und Vorurteilen im Grunde sogar besser zu vereinbaren, als es bei einer heterosexuellen Frau der Fall ist, der eher weibliche Eigenschaften zugesprochen werden.“ Aktuell gibt es in Deutschland keine offen lesbische oder bisexuelle Nationalspielerin. Das sei Privatsache, jede Spielerin müsse selbst entscheiden, was sie von ihrem Privatleben preisgebe, heißt es in öffentlichen Stellungnahmen; die sexuelle Orientierung der Mitspielerinnen sei völlig irrelevant in Interviews. Linda Bresonik, zweifache Welt- und Europameisterin, die nach der aktiven Karriere ins Gleichstellungsbüro der Düsseldorfer Stadtverwaltung gewechselt ist und dort heute für das Olympia-Büro arbeitet, kann diese Haltung gut nachvollziehen. In ihrer aktiven Zeit gehörte sie zu den Nationalspielerinnen, deren sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit thematisiert wurde. „Ich hätte mein Privatleben gern aus der Presse herausgehalten, wurde aber damals geoutet“, sagt sie. „Für mich war das furchtbar, eine sehr schwierige Zeit.“ Sie könne verstehen, dass die Spielerinnen von der Frage genervt seien. In der Mannschaft spiele die sexuelle Orientierung keine Rolle, damals wie heute, Homophobie habe sie unter den Spielerinnen nicht erlebt. Warum also darüber reden? Und wer möchte schon auf einen Aspekt seiner Persönlichkeit reduziert werden und sich in den Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Debatte katapultieren? Im Gegenteil, es sei ein Fortschritt, dass sich das alte Klischee von den lesbischen Mannweibern im Frauenfußball gewandelt habe; dass nicht mehr ständig die sexuelle Orientierung, sondern eher strukturelle Probleme, Diskriminierung und Ressentiments thematisiert würden. „In erster Linie geht es uns Frauen im Leistungssport um Wertschätzung, da gibt es noch reichlich Luft nach oben. Es sollte für die Gesellschaft und die Medien selbstverständlich sein, dass in einem Team Spielerinnen und Spieler mit unterschiedlichen sexuellen Vorlieben zusammenspielen“, sagt sie. Sicher, es ist nachvollziehbar, dass die Spielerinnen lieber über Fußball und Gleichbehandlung reden als über ihre sexuelle Orientierung. Natürlich hat es niemanden zu interessieren, wer mit wem ins Bett geht; einerseits. Andererseits kann der alte Sponti-Spruch, das Private sei politisch, möglicherweise auch im Sport gelten: In einer aktuellen Studie der Sporthochschule Köln gaben 70 Prozent der Befragten an, es brauche dringend positive Vorbilder, die zu ihrer diversen Sexualität stehen und ihre sexuelle Orientierung thematisieren. Vorbilder wie Carl Alt, der seinerseits sagt, dass die Hockey-Frauen, von denen einige offen in Beziehungen mit anderen Frauen oder mit Männern und Frauen im Wechsel lebten, ihm Mut gemacht hätten. Auch Martin Schweer äußert Verständnis dafür, dass Sportler nicht über komplexe Themen jenseits ihres Sports reden wollen und eine Mannschaft

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sich dafür entscheidet, das Thema sexuelle Orientierung nicht öffentlich zu diskutieren – in der Hoffnung, dass es irgendwann niemanden mehr interessiert. „Es wäre schön, wenn das Thema im Fußball dermaßen selbstverständlich wäre, dass wir nicht mehr darüber reden müssten“, sagt er. „Aber nicht nur im Männerfußball sind wir davon noch weit entfernt.“ „Ich hoffe sehr, dass die Zeit reif ist für einen schwulen Fußballer“, sagt Birgit Braumüller. Den Twitter-Account von gay_Bundesligaspieler könne sie nicht beurteilen, da ja keine Hintergründe bekannt seien und die Vermutung im Raum stehe, der Account sei ein Fake. „Es hat sich viel getan“, sagt sie, „Intoleranz ist in der Gesellschaft längst nicht mehr so weit verbreitet, auch nicht unter den Fußballfans. Trotzdem gibt es noch immer viel Homophobie im Stadion. Fußballer haben Angst um ihre Karriere, Angst vor den Reaktionen der gegnerischen Fans. Dass in vielen Stadien rassistische Beleidigungen teils drastisch sanktioniert werden, sexistische oder homophobe aber nur in deutlich geringerem Maß, verstärkt diese Angst. Ebenso das große Medieninteresse; alle warten auf den ersten aktiven Profi, der sich outet. All das erzeugt großen Druck, jeder, der darüber nachdenkt, sich zu outen, steht vor immensen Herausforderungen.“ Eine schwierige Gemengelage – für die Gesellschaft wäre ein offen schwuler, aktiver Bundesliga-Profi ein bedeutender Gewinn, für den einzelnen Spieler wäre ein Outing eine ungeheure Belastung. Wahrscheinlich sind wir alle gefordert, die Fußballfans, die Journalisten, die Vereine. Wir alle müssen loslassen: unsere eindimensionalen Heldenbilder, unsere Ängste vor dem Anderssein, die nicht nur uns, sondern auch die Menschen, die wir idealisieren, einengen und belasten. Diese Aufgabe kann uns kein einzelner Sportler abnehmen: „Ich setze meine Hoffnung nicht darauf, dass sich ein Spieler outet, und danach ist die Welt in Ordnung“, sagt Schweer. „Wir müssen Schritt für Schritt die Denkstrukturen der Menschen verändern, in den Vereinen, im Publikum, in der Öffentlichkeit. Darauf hinweisen, wenn Dinge falsch laufen, im Training oder im Stadion, im Sprachgebrauch oder in der medialen Darstellung. Nur dann kann ein Klima entstehen, dass es Spielern ermöglicht, sich ungezwungen und ohne große Aufregung zu outen. Aber dafür braucht der Fußball wohl noch Zeit.“ Der Journalist und Autor Jörg Böckem arbeitet u. a. für Die Zeit, das Zeit Magazin und den Spiegel. Für Max Joseph schreibt er seit vielen Jahren eindrucksvolle Reportagen. In seinem autobiographischen Buch Lass mich die Nacht überleben (2004) berichtet er von seinem Doppelleben als Journalist und Junkie. Zuletzt erschien in Zusammenarbeit mit weiteren Autoren High Sein (2015).


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Als Mitglied des Classic Circle unterstützt PSP seit 2005 die Bayerische Staatsoper.


„Schummeln ist erlaubt“

Im freien Flug: Regisseur David Bösch.

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Der Regisseur David Bösch und der Komponist Gordon Kampe bringen mit Spring doch eine Oper für Kinder auf die Bühne. Ein Gespräch über Mobbing, Mut und Überwindung – auf der Bühne und im Fitnessstudio. Schönes Schweben: Komponist Gordon Kampe.

Uraufführung Spring doch

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MAX JOSEPH Herr Kampe, Sie haben die Musik für die Kinderoper Spring doch geschrieben, Herr Bösch, Sie haben das Stück für die Bayerische Staatsoper inszeniert. In einem Satz: Worum geht es? GORDON KAMPE Um die Selbstermutigung eines jungen Mädchens. DAVID BÖSCH Selbstermutigung ist ein schönes Wort. Ja, Lena überwindet sich, geht durch etwas hindurch und wird dadurch zu einem anderen Menschen.

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MJ „Ich springe heute Nachmittag vom Dreimeter“, kündigt sie trotzig an, nachdem sie beim Sport mal wieder als Letzte in die Mannschaft gewählt worden ist. Ob sie am Ende springt, wissen wir nicht, aber sie ist bereit, sich mit der Möglichkeit des Springens auseinanderzusetzen, und das macht sie zur Gewinnerin.

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Wann haben Sie zuletzt etwas gewagt, vor dem Sie eigentlich Angst haben? Wissen Sie, als Komponist bewege ich mich notwendigerweise in verschiedenen Szenen, mal in der Welt der Stadttheater, dann wieder in einem großen Haus wie der Staatsoper in München oder der Avantgarde-Szene. Früher haben mich die unterschiedlichen Codes und Konventionen gestresst. Seit einiger Zeit kriege ich es ganz gut hin, keine Rücksicht mehr auf die Gepflogenheiten des Milieus zu nehmen, in dem ich mich gerade befinde, sondern mich zu benehmen, wie ich möchte, und die Musik zu schreiben, die ich hören will. MJ

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Haben Sie ein konkretes Beispiel? Ich ziehe mich gern schick an, ich liebe zum Beispiel Fliegen. Und jetzt habe ich keinen Bock mehr drauf, meine Fliege nur dann herauszuholen, wenn ich damit nicht auffalle. Ich ziehe sie an, wenn ich Lust habe. Es klingt banal, aber für mich ist das wie ein Sprung vom Dreimeterbrett, es kostet mich Überwindung und klappt ehrlich gesagt auch nicht immer. Neulich habe ich in einer ziemlich intellektuellen Podiumsdiskussion gesagt, dass es für mich in der Musik eigentlich nur noch um Liebe und Tod geht. Die gefühlte Raumtemperatur sank sofort in den Keller, weil man so etwas eigentlich nicht sagen darf, aber es ist die Wahrheit. Ich kann alles, was du sagt, hundertprozentig unterschreiben – bis auf die Fliege. MJ

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Vielleicht wäre Ihr Sprung vom Dreimeterbrett, einen Anzug mit Krawatte zu tragen? Keine Sorge, ich ziehe mich auch schick an, wenn es etwas zu feiern gibt. Abgesehen davon habe auch ich immer weniger Lust auf ideologische Kämpfe und Eitelkeiten. Ich bin jenseits der 40, habe viele Meinungen gehört und ausgehalten, viele Kompromisse gemacht, viel Kritik eingesteckt. Es klingt doof, aber MJ

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mein Ziel ist es, mich weiterzuentwickeln und mir gleichzeitig treu zu bleiben. Genau. Vorauseilender Gehorsam ist wirklich schlimm, weil er dazu führt, dass die Szenen unter sich bleiben und erstarren. Es gibt tatsächlich Leute, die denken, an einem kleineren Haus müsse man als Musiker eine Dissonanz auflösen, weil die Leute sonst verstört seien. Was für ein Unsinn. Man sollte dem Publikum mehr zutrauen. MJ „Ganz und gar man selbst zu sein, kann schon einiges an Mut erfordern“, hat Sophia Loren gesagt. Wann haben Sie sich zuletzt durchgerungen, ganz Sie selbst zu sein? Vor ein paar Wochen bin ich im Fitnessstudio zum ersten Mal in einen dieser Kurse gegangen, ich glaube, er hieß „Powercore“. Sonst stelle ich mich immer auf den Stepper, stecke mir Ohrstöpsel rein und schaue den ARD-Presseclub. Diese Kurse wirken ja auch etwas albern, mit den Spiegeln und dem Instructor mit Headset auf dem Kopf. Trotzdem war ich ein bisschen neidisch auf die Leute, und an diesem Tag dachte ich: Das machst du jetzt einfach. Der Anfang war ein wenig peinlich – als der Instructor fragte, wer noch nie beim Powercore gewesen sei, traute ich mich nicht zu melden, bis mein Nachbar laut meinte: „Hey, du warst doch noch nie hier.“ Aber danach war es richtig gut. MJ Sollte man sein ganzes Leben lang von Brettern springen, die einem Furcht einflößen? Klar, alles andere wäre langweilig. Lenas Lage ist altersunabhängig, jeder von uns kennt diese Situationen. Bei der ersten Konzeptionsprobe von Spring doch habe ich in die Runde gefragt, wer schon mal vom Dreimeterbrett gesprungen ist: Die Eltern der Kinder haben sich schüchtern beäugt und zögerlich gemeldet, die Kinder haben einfach aufgezeigt, die waren viel ehrlicher und unbefangener. Ach, mir fällt gerade noch ein Beispiel ein, wo ich mich überwunden habe: Im vergangenen Jahr habe ich in Düsseldorf Heinrich VI. inszeniert. Als der Hauptdarsteller kurz vor der Aufführung krank wurde, bin ich eingesprungen.

MJ Nicht Ihr Ernst!? Sie haben in einem Drei-StundenStück die Hauptrolle übernommen, ohne sie vorher jemals geprobt zu haben? Ja, wir fanden keinen Ersatz, sonst hätten wir die Vorstellung absagen müssen. Und ich kannte das Stück in- und auswendig und naja, dann hab ich es eben gemacht. Klar kostet das Überwindung, aber als ich auf der Bühne stand, war alles easy. Ich war angstfrei, eine tolle Erfahrung, auch künstlerisch, weil ich meine eigene Regiearbeit aus der anderen Perspektive sehen konnte. Es wäre schade gewesen, wenn ich mir diese Erfahrung aus Angst oder Bequemlichkeit genommen hätte.


Interview Tobias Haberl

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MJ Mussten Sie in der Jugend eine Mutprobe bewältigen? Ich musste tatsächlich springen, nicht vom Dreimeterbrett, aber in einen düsteren Kellerabgang im Treppenhaus der Schule. Ich hatte das Gefühl, es ginge 150 Meter in die Tiefe, dabei war es ein Meter 50, aber hey, ich ging in die vierte Klasse und war nicht besonders sportlich. Damals habe ich mir vor lauter Angst in die Lippe gebissen. Ich musste wirklich vom Dreimeterbrett springen, überhaupt war jeder Freibadbesuch eine kleine Mutprobe, diese komplizierte Mischung aus Pubertät, Körperlichkeit, Schüchternheit und erster Liebe hatte es schon in sich. Mein größter Sieg war, als ich mit dreizehn Antje fragte, ob sie mit mir ins Kino geht. Ich hatte mir vorher ein Motivationsbuch aus der Bücherei ausgeliehen, Titel: Ich kann, wenn ich will. Am Ende sind wir nicht mal gegangen, aber ich hatte sie gefragt, und darauf kam es an.

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In Spring doch gerät Lena auch außerhalb des Sportunterrichts in heikle Situationen: Sie fährt schwarz mit dem Bus und schleicht sich durch ein Loch im Zaun ins Freibad. Interessant, dass es ganz klassische Sze-

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nen sind, die seit Jahrzehnten mit der Pubertät assoziiert werden. Sind heute nicht die sozialen Netzwerke der Ort, wo sich Jugendliche beweisen müssen? Gute Frage. Man müsste den Autor des Stücks fragen, warum er darauf nicht eingegangen ist. MJ Vielleicht lässt sich die digitale Welt theatralisch nicht so gut darstellen? Das glaube ich gar nicht. Ehrlich, mir hat diese digitale Perspektive nicht gefehlt, weil es in dem Stück um grundsätzlichere Dinge geht.

MJ Was meinen Sie? Vielleicht gibt es die sozialen Netzwerke in der heutigen Form in zehn Jahren nicht mehr, aber ich bin sicher, dass Jugendliche immer noch ins Freibad gehen werden. Das Stück ist nicht zeitgeistig, sondern überzeitlich. Mir haben die Handys auch nicht gefehlt. Die geschilderten Situationen sind wahnsinnig gut ausgewählt, weil mit jeder sofort ein körperliches Gefühl verbunden ist: Man sitzt in der Bahn, hat keine Fahrkarte und der Kontrolleur steigt zu. Jeder weiß, wie sich das anfühlt, deswegen funktioniert die Oper auch für Erwachsene. Im Netz sind die Menschen zwar in Kontakt, aber allein. Echte soziale Situationen sind komplexer, das fängt schon damit an, wenn beim Schulsport der Typ neben dir Haare auf den Beinen hat und deine glatt sind wie eine Wand. Als Zeitungsleser kenne ich die Geschichten von dem sozialen Druck, dem Kinder heute ausgesetzt sind; bei uns zu Hause ist das Gott sei Dank noch kein Problem. Mir ist schon klar, dass Bibis Schminktipps und Heidi Klum unsere Kinder unter Stress setzen, aber es wäre mir zu stammtischig, dem Internet die Schuld für alles unterzuschieben. Ja, das Netz ist gut und böse zugleich, es kann Glück und Unglück hervorrufen. Ich mache mich auf Facebook alle paar Wochen selbst zur Nase. Es ist wichtig, dass man auch mal ein verunglücktes Selfie postet und nicht nur den ganzen Tag glänzen will. Das ist eine Frage des Stils. Man muss es geschmackvoll hinkriegen, wie man das ganze Leben geschmackvoll hinkriegen sollte. Als ich die Komposition fertig hatte, habe ich Lenas Klavierstimme aus der Szene im Sportunterricht bei Facebook gepostet und meinem früheren Sportlehrer gewidmet. Der war richtig bösartig, viel schlimmer als die Lehrerin im Stück. Ich dachte, okay, kriegst du halt ein paar Likes, aber auf einmal rauschten Dutzende Kommentare von vielen tollen Komponistinnen und Komponisten rein. Alle teilten diese Erfahrung, als Kinder im Sport gedemütigt worden zu sein. Ich kenne auch nicht viele Erwachsene, die mit sich und ihrem Körper im Reinen sind. Im Grunde sind wir alle


wirkt und auf etwas verweist. Der Orchesterschluss ist turbulent. Das können die Wellen sein, die über Lena hereinbrechen, vielleicht ist es aber auch nur ihre Fantasie.

ein bisschen Lena. Wir alle bestehen aus unlösbaren Widersprüchen. Nehmen Sie nur diesen PowercoreKurs: Ich finde den lächerlich und bin gleichzeitig neidisch auf die Selbstverständlichkeit, mit der andere da hineingehen. Fernandel hat mal gesagt: „Wer zugibt, dass er feige ist, hat Mut.“ Lena könnte doch auch sagen: „Mir doch egal, was ihr denkt. Wenn ich keinen Bock hab, spring ich eben nicht.“ Auf jeden Fall, deswegen finde ich auch gut, dass der Schluss offen ist. Wäre Lena mein Kind, ich würde ihr sagen: „Wenn du nicht springen willst, musst du nicht springen.“ Das ist auch eine Art von Selbstermächtigung. Klar kann es mutig sein, etwas nicht zu tun. Für mich ist dieser Sprung vom Dreimeterbrett aber gar nicht das Thema der Oper, sondern die Dinge, die vorher passieren, Lenas Reise, ihre Begegnungen. Wenn mein Sohn mich um Rat fragen würde, würde ich sagen: „Lass uns zusammen üben, dann schauen wir weiter.“ Ich habe versucht, den Schluss auch musikalisch offenzulassen. Lenas letzter Text geht nach oben, nicht nach unten, am Ende steht eine Septime, die unvollendet MJ

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Fotos Constantin Mirbach

MJ Kennen Sie Versagensängste? Permanent. Ununterbrochen.

MJ Wie gehen Sie damit um? Ich weiß inzwischen, dass mir früher oder später immer etwas einfällt und wie viel Zeit ich für welche Komposition ungefähr brauche, aber eines steht fest: Ich bin keiner, der auf den Musenkuss wartet. Ich bringe meine Tochter zur Schule, dann geht es ans Klavier: Steine klopfen. Ich bin ein Arbeiter, kein Spinner.

MJ Darf man schummeln, Herr Bösch, wenn einem zu einer Szene partout nichts einfällt? Klar, Schummeln ist erlaubt. Peter Zadek hat einmal gesagt, jede Inszenierung brauche einen halbstündigen Durchhänger, weil nur dann echte Glanzmomente möglich seien. Da ist was dran. Zu viele Ideen töten eine Inszenierung. Das Tolle am Theater ist: Man ist nicht allein. Manchmal machen die Schauspieler Dinge, die genial sind, mit denen ich aber nie gerechnet hätte, das kann einen richtig erlösen.

MJ Gehen Sie an eine Kinderoper anders heran als an ein Musik- oder Theaterstück für Erwachsene? Die Haltung, die Ernsthaftigkeit ist die gleiche, handwerklich muss man ein bisschen was anders machen.

MJ Was denn? Die Musik darf auf keinen Fall kindgerecht sein.

MJ Was meinen Sie damit? Genau wie ich zu einem zwölfjährigen Kind nicht „dutzidutzi“ sage, sondern mich ganz normal mit ihm unterhalte, darf auch die Musik nicht kindlich oder gar kindisch sein. Trotzdem spricht man mit Kindern anders als mit Erwachsenen: weniger verschnörkelt, konsequent, nicht abgehoben, das Adorno-Zitat lässt man eher weg. Und so muss auch die Musik sein: mit klarer Geste und auf den Punkt. Kinder sind ein ehrliches Publikum. Sie zeigen einem sofort, wenn sie gelangweilt sind, deswegen muss man kreativ sein, mit Musik, Tanz, Video, allen Mitteln des Theaters arbeiten. Das Resultat ist eine andere Ästhetik als im klassischen Theater, aber eben keine kindliche, sondern eine, die besonders fantasievoll und vielfältig ist. Ich bin überzeugt, dass Kinder aus so einem Opernabend enorm viel mitnehmen, was sie gegenüber Erwachsenen nicht verbalisieren können oder wollen.

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Welches persönliche Ziel verfolgen Sie in Ihrer Arbeit mit Kindern und für Kinder? Mir geht es nicht darum, die Abonnenten der Zukunft heranzuziehen, auch wenn ich mich natürlich freue, wenn der eine oder andere später zum Operngänger wird. Ganz ehrlich, ich sehe keinen großen Unterschied zwischen Kunst für Kinder und Erwachsene. Da wie dort geht es darum, dass man etwas mit nach Hause nimmt. Fragen wie: Gibt es bei uns auch eine Lena in der Klasse? Bin ich am Ende vielleicht Lena? Das Wort „pädagogisch“ fühlt sich zu sehr nach Zeigefinger an, aber es geht darum, eine Haltung zu vermitteln, dass man als Zuschauer anders rausgeht, als man reinge­ kommen ist. Mein Sohn ist zwei und verschlingt gerade ein Kinder­ buch nach dem anderen. Dieses Genre ist fantastisch, ich spüre, was diese Bücher in ihm auslösen, wie sie ihn bewegen, und ganz ehrlich, nicht nur ihn, sondern auch mich. Mit der Oper ist es ähnlich: eine Bewegung als Ziel, das würde mir schon reichen, eine Veränderung, egal wie geringfügig. Dass man am Ende mit einem anderen Blick in die Welt und auf sein Leben schaut. Dass man sich verstanden fühlt, oder wenigstens nicht allein. Vielleicht ist dieses Gefühl für Kinder sogar noch wichtiger als für Erwachsene. Das Wort Herzens­ bildung klingt blöd, aber es geht schon in die Richtung.

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Haben Sie etwas, einen Film oder einen Song, auf jeden Fall ein Stück Kunst, das Sie mit sich durchs Leben tragen und das Sie immer wieder daran erinnert, ein guter Mensch zu sein? Ja, bei mir sind das ein paar Bach­Kantaten und die Missa solemnis von Beethoven. Wenn ich die höre, gibt es nichts mehr zu sagen, das geht direkt in die DNA. Bei mir sind es verschiedene Sachen, je nach Lebens­ phase. Mit 14 war es der Film Leon der Profi. Diese Mischung aus Einsamkeit und Hoffnung hat viel in mir ausgelöst. Oder kennen Sie die Schlussszene der Serie Six Feet Under? Sie ist ein bisschen kitschig, aber genial, ich muss jedes Mal weinen. Eine der Haupt­ figuren, Claire Fisher, bricht auf nach New York, ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Kapitel beginnt, und auf einmal setzt dieser unglaublich schöne Song ein und man sieht, wie alle anderen Protagonisten und am Ende auch sie selbst sterben werden: Der eine fällt ein­ fach um, die andere stirbt bei einem Unfall und so wei­ ter. Dieser Schluss ist große Kunst. Damit hat der Regisseur seine Mission auf Erden erfüllt, ich würde sagen, das kommt fast an eine Bach­Kantate heran.

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Menschen interessanter, die sonst übersehen werden, Menschen, die keine Protagonisten im Leben sind, viel­ leicht nicht mal ihres eigenen Lebens. Ich bin auch eher beim Friseur als beim König. Ich habe ein Herz für die Zweitplatzierten. Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat in Würzburg und Großbritannien Germanistik und Anglistik studiert. Der Journalist be­ suchte die Henri­Nannen­Schule und ist seit 2005 Redakteur im Magazin der Süddeutschen Zeitung. 2016 erhielt er den Theodor­Wolff­Preis. Zuletzt legte er die Streitschrift Die große Entzauberung. Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen vor (Blessing, 2019).

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MJ Glauben Sie, dass sich Greta Thunberg als Heldin für eine Oper eignen würde? Ich bin mir sicher, es wird gerade fieberhaft über die Filmrechte verhandelt. Auf der Theaterbühne finde ich

SPRING DOCH – Wenn Lena im Turnunterricht nicht wieder als Letzte ins Team gewählt worden wäre, hätte sie sich nie zu diesem Satz hinreißen lassen: „Ich springe heute Nachmittag vom Dreimeter!“ Die Herausforde­ rungen nehmen ihren Lauf: sich heimlich von zu Hause wegschleichen, ohne Ticket Bus fahren, ins Schwimmbad einbrechen, die Leiter zum Sprungbrett hochklettern. Mit Kannst du pfeifen, Johanna hat der Komponist Gordon Kampe 2013 die erfolgreichste Kinderoper der vergangenen Jahre geschaffen. An der Bayerischen Staatsoper war das Stück bei den Opern­ festspielen 2017 sowie in der Spielzeit 2018 / 19 zu sehen. Die Idee, Kampe mit einer Neukomposition zu beauftragen, war darum nur folgerichtig. Und die Konstellation könnte nicht besser sein: Der erfolgreiche Schweizer Kinder­ und Jugendtheaterautor Andri Beyeler ist bekannt für seine Alltags­ beobachtungen und seit Studienzeiten mit dem Regisseur David Bösch befreundet. Alle drei – Autor, Komponist und Regisseur – in dieser Produk­ tion zusammenzubringen, verspricht eine fantasievolle Aufführung zu einem Thema, das nicht nur die Kleinen betrifft, sondern auch bei den Erwachse­ nen Erinnerungen wachrufen dürfte. Eine Kinderoper über das Alleinsein und das Überwinden von Ängsten für alle ab sechs Jahren.

SPRING DOCH

Kinderoper ab 6 Jahren Von Gordon Kampe Uraufführung am Sonntag, 17. Mai 2020 Rennert­Saal Weitere Termine im Spielplan ab S. 102


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Durch Liebe erlöst

Gustav Mahler beginnt die achte, seiner Frau Alma gewidmete Symphonie mit der Vertonung eines Hymnus des Geistlichen und Gelehrten Rhabanus Maurus: Veni creator spiritus, „Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein“. Der Heilige Geist wird als die Kraft angerufen, die alles lebendig macht. Uns zu erleuchten und zu entzünden, die Liebe in unsere Herzen zu gießen, soll er kommen: Accende lumen sensibus, infunde amorem cordibus. Der zweite Teil von Mahlers Symphonie widmet sich dem letzten Akt von Johann Wolfgang von Goethes Faust II, in dem der gestorbene Faust von den Fesseln seines Teufelspaktes durch die Vermittlung der Büßerinnen und der Gottesmutter erlöst wird. „Ewiger Wonnebrand, / Glühendes Liebesband, / Siedender Schmerz der Brust, / Schäumende Gotteslust. / Pfeile, durchdringet mich, / Lanzen, bezwinget mich, / Keulen, zerschmettert mich, / Blitze, durchwettert mich! / Daß ja das Nichtige / Alles verflüchtige, / Glänze der Dauerstern / Ewiger Liebe Kern“ (Faust II, V, 11.853– 11.865). Von der subjektvernichtenden Gewalt der Liebe singt der Pater ecstaticus hier. Die Erlösung zur Liebe und aus der Liebe, diese Wiedergeburt, das Neuwerden in der Liebe, bildet in Mahlers Symphonie die Brücke zwischen dem Hymnus Veni creator und der Vertonung des Faust II. Am Ende von Goethes Spätwerk aus dem Jahr 1832 schließt der Chorus Mysticus mit den Worten: „Das EwigWeibliche / Zieht uns hinan“, eine der meistzitierten Sentenzen der deutschen Sprache, mit der sich Goethe auf eine lange Tradition bezieht. Das „Ewig-Weibliche“ meint

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hier nicht das Wesen des Weiblichen schlechthin, sondern die Kraft der Liebe, die sich rein in der Gottesmutter zeigt. In Maria kehrte sich der Fall der Eva im Ave des Engels zum Heil. Durch sie wird die gefallene Menschheit in und durch Liebe erlöst, die vorherige Trübung geklärt. „Die ewige Liebe nur / Vermag’s zu scheiden“ (11.964/5), singen Die vollendeteren Engel. Die „Zwienatur“ (11.962) des Menschen als einer sowohl himmlischen als auch irdischen Kreatur gilt es im Liebesgewitter zu trennen, zu läutern, zu klären. Ewige Liebe ist die Kraft, die von „der Erde Druck“ befreit, die Larve in einen Schmetterling verwandelt. In ihr wird der Mensch zu einem neuen Leben geboren: „Sieh, wie er jedem Erdenbande / Der alten Hülle sich entrafft / Und aus ätherischem Gewande / Hervortritt erste Jugendkraft“ (12.088–12.093). Der Topos von der erlösenden Liebe der Gottesmutter zieht sich durch die Schriften der abendländischen Geschichte. Im letzten Gesang des Paradiso von Dantes Divina Commedia, seiner Göttlichen Komödie, lobpreist der heilige Bernhard von Clairvaux die jungfräuliche Mutter als Hoffnungsquell, Liebesflamme. Für Dante, den Wanderer, bittet er sie, sein Verlangen nach dem „sommo piacer“, der höchsten Lust, zu erfüllen: die allschöpfende Liebe zu begreifen und durch sie zum Guten verkehrt zu werden. „L’amor che move il sole e l’altre stelle“, ist der letzte Vers. Die Liebe, die Erde und Gestirne bewegt, hat auch ihn, den Wanderer, in seinem Willen und Begehren revolutioniert. Zu Füßen der Jungfrau findet sich Dante, weil ihn Beatrice liebend dorthin geleitet und seine Revolution begonnen hat. Auch der Dichter Francesco

6. Akademiekonzert

Grace Weaver, 5:30 P.M., 2019, Courtesy Soy Capitán, Berlin Photographer: Nick Ash

„Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“: Oft zitiert und doch ein ewiges Rätsel ist dieser Satz aus Goethes Faust II, der als Motiv Mahlers achte Symphonie durchzieht. Wie sich in ihm ihr revolutionärer Liebesbegriff ausdrückt.


Text Lorem Ipsum

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Premiere Lorem Ipsum StĂźck


Grace Weaver, Promenade, 2019, Courtesy Soy Capitán, Berlin Photographer: Nick Ash Die Monographie Grace Weaver ist im Kerber Verlag erschienen

Dem patriarchal-bürgerlichen Paradigma der gefallenen Frau stellt Goethe Maria entgegen, in Vereinigung mit der alten Kirche und in deren Sinne. Wie Christus liest er Maria nicht als ein leichtes Mädchen.

Petrarca fleht in der großen Marien-Canzone, welche seine Rime sparse beschließt, die schöne Himmelskönigin – von Licht gekleidet, von Sternen gekrönt – um Rat und Mitleid, um die von aller Erdenschwere erlösende Liebe an. Das „Ewig-Weibliche“, das in der Schlussszene des Faust II hinanzieht, ist Minneherrin und Mediatrix. Eine verkehrte irdische Liebe, die in schnöder Lust rücksichtslos nur eigene Erfüllung suchte und Verderben und Tod brachte, wird in eine himmlische, allrettende Liebe aufgehoben und verklärt. Der Teufel selbst wird von den englischen Chören zu einer diabolisch invertierten Liebe entflammt: „Gemein Gelüst, absurde Liebschaft wandelt / Den ausgepichten Teufel an“ (11.838/9). Die Knaben begehrend, spricht er: „Sieh mich doch ein wenig lüstern an! / Auch könntet ihr anständig-nackter gehen (...) Sie wenden sich – von hinten anzusehen! – Die Racker sind doch gar zu appetitlich!“ (11.796–80). So wird er abgelenkt, dass man ihm die Seele des Faust als Liebenden entführen und den Teufelspakt brechen kann. Die „Rosen aus den Händen / Liebend-heiliger Büßerinnen“ (11.942/3), die um die Himmelskönigin geschart sind, tun das Ihre. Verwundert hat viele, dass Goethe sein Welttheater, seinen Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und dem Teufel, seinen Kampf um die Seele des Faust mit einem Marienhymnus beendet. Es ist die Gottesmutter, die Mater Gloriosa, nicht umgeben von unberührbaren, unbefleckten Heiligen ohne Fehl und Tadel, sondern von „leicht Verführbaren“ (12.022), Büßerinnen wie Maria Magdalena, der Ägyptischen Maria, der Samariterin und Gretchen, das den von der Sünde verdunkelten Faust nicht zur Hölle sinken lässt, sondern läutert, um ihn nach oben in die himmlischen Sphären hinaufzuziehen. Goethe, aus einem protestantischen, bürgerlichen Elternhaus, schließt sein Spätwerk marianisch: auf den Spuren der großen katholischen Dichter, wie deren größte, Dante und Petrarca. Maria erhört die Nöte der Sterblichen und rettet Faust im Namen der Liebe, die er für Gretchen empfunden hat. Und auf die Fürbitte Gretchens hin. So sagt die Mater Gloriosa zu Gretchen, nun „Una Poenitentium“

Text Barbara Vinken

und „Die eine Büßerin“ genannt: „Komm! hebe dich zu höhern Sphären! / Wenn er dich ahnet, folgt er nach“ (12.094/5). Wie Dantes Beatrice hat Gretchen Faust etwas beizubringen: „Vergönne mir, ihn zu belehren“ (12.092), bittet sie als Büßerin die Gottesmutter. Vom Bruder im Zeichen des Schwertes, unter dem er und sie fallen sollten, als Hure beschimpft, wird sie von der Gottesmutter gerettet. Petrarca stellte der falschen Liebe zu Laura, die ihn wie Medusa zu Stein hatte erstarren lassen – „medusa e l’error mio han fatto un sasso d’umor vano stillante“ – die wahre Liebe zu Maria als „vera Beatrice“ entgegen. Von Laura wendet er sich ab, um sich Maria zuzuwenden. Dante hingegen wird, vor Petrarca, von Beatrice, der Frau, die er geliebt hat, durch das Purgatorio zu Maria ins Paradiso geführt. Wie Dante durch Beatrice, die im Gefolge der Gottesmutter steht, so wird Faust durch die Liebe der Erlösungsgestalten Mariae in einen neuen Menschen verwandelt. Dem patriarchal-bürgerlichen Paradigma der gefallenen Frau stellt Goethe Maria entgegen, in Vereinigung mit der alten Kirche und in deren Sinne. Wie Christus liest er Maria nicht als ein leichtes Mädchen. Denn in dieser Gefahr, als verführte und schwangere Frau vor der Ehe verworfen und ausgestoßen zu werden, stand auch sie. Joseph, ihr Beschützer und Bräutigam, wird von einem Engel beruhigt, dass sie ihn nicht mit einem anderen Mann betrogen habe, sondern sie die Gottesgeliebte sei, die den Erlöser durch erlösende Liebe in die Welt bringen werde. Joseph soll den patriarchalen Stolz aufgeben und Maria heiraten, statt sie der Infamie der außerehelich schwanger Gewordenen preiszugeben, wie das Faust Gretchen antut. Denn nie bricht das Neue Testament im Gegensatz zu der weltlich-patriarchalen Moral den Stab über die Huren, über die Verführten, über die Ehebrecherinnen. Jesus lässt die Ehebrecherin nicht von Ehebrechern steinigen: Wer von ihnen ohne Schuld sei, werfe den ersten Stein. Er erlöst die Frau von der blutigen Rache, die auch

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Goethe schrieb nicht nur gegen eine Gegenwart, sondern fast prophetisch gegen eine Zukunft, die ihren ganzen Schrecken in Theodor Fontanes Effi Briest entfalten wird.

Gretchens Bruder fordert und die bis heute nicht erstickt ist, und schickt die gewalt- und steinigungsbereiten Männer als Mitschuldige nach Hause. In der Liebesmoral predigt er Gleichheit der Geschlechter. Jesu Lieblingsschülerin ist die vielliebende Maria Magdalena. Er sitzt mit den Prostituierten an einem Tisch. Als die verrufene Frau ihn berührt, schüttelt es die Pharisäer; und die, die sich für aufgeklärt halten, machen Magdalena schnurstracks, Protestantismus oblige, zu seiner geheimen Ehefrau. Dort wird patriarchale Moral durchzusetzen zur Aufgabe der Ehefrau und Mutter, und der Eros gilt als rasende Seuche, die in der Ehe wie in einem Krankenhaus geheilt wird. Alles Erkenntnispotenzial hat die Frau verloren, wenig später wird sie zur Hysterikerin abgestempelt werden. Bestraft wird sie durch die Schmerzen der Geburt und die harte Arbeit der Kindererziehung. Keine Gnade mehr werden Mätressen, gefallene Mädchen, verführte Ehefrauen, Vielliebende finden – des bürgerlichen Klassikers Zweiter Teil ist ungehört verhallt: gelesen als Freibrief für siegesgewisse faustische, nicht zuletzt deutsche Mannsbilder. Goethe schrieb, denkt man an das 19. Jahrhundert, nicht nur gegen eine Gegenwart, sondern fast prophetisch gegen eine Zukunft, die ihren ganzen Schrecken in Theodor Fontanes Effi Briest entfalten wird, wo die Konventionen der Zeit die Liebenden töten und alle Beteiligten verzweifelt zurücklassen. Mit Faust und seiner Hinwendung zur Gottesmutter sowie dem transzendierenden Potenzial der Liebe als Himmelsmacht, das am stärksten in Maria brennt, ist Goethe Lichtjahre von der bürgerlich-patriarchalen Moral entfernt und in seiner Marienverehrung im umfassenden Sinne katholisch-romantisch. Zynisch und verfehlt ist hier Bertolt Brechts Diktum von Faust als Intellektuellem, der sich in eine Kleinbürgerliche verliebt. Der Teufel ist Agent der patriarchalen Ehemoral und ihrer brutalen Durchsetzung: Die Verführte, die sich außerhalb der erlaubten Schranken Hingebende, ist an allem selber schuld und gehört aufs Schafott. Sie wird, vom Teufel hinters Licht geführt, aus Liebe zur Beihelferin an Muttermord und Brudermord und selbst zur Kindsmörderin. Von Gott

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und der Welt, vor allen Dingen aber von ihrem Geliebten verlassen, bleibt sie allein in ihrer Schwangerschaft, allein in ihrer Geburt, allein mit dem Kind, ihrem Schandfleck und ihrem Todesurteil. Als Kindsmörderin wird sie, die darüber längst ihren Verstand verloren hat, hingerichtet. Schon am Ende des ersten Faust nehmen die Menschen Rache: Sie ist „gerichtet“; der Himmel antwortet in seiner Widerrede „gerettet“, während sie nach den gnadenlosen Standards des selbstgerechten Patriarchats als unrettbar verloren gilt. „Das Ewig–Weibliche zieht uns hinan“ ist Goethes und nach ihm Mahlers, der Dichtung wie der Musik Abkehr vom protestantisch-patriarchalen Moralismus: Bekenntnis zu einer allschöpfenden Liebe, zu der die vom Engel gegrüßte Maria und auf ihre Weise auch ein Gretchen – das ist Goethes unschätzbare Ergänzung – Ja sagen konnte. Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der LMU München und Autorin. Zuletzt erschien von ihr Bel Ami. In diesem Babylon leben wir noch immer (Merve Verlag, 2020). Zurzeit arbeitet sie an einem Buch über die Oper.

6. AKADEMIEKONZERT

Bayerisches Staatsorchester Musikalische Leitung Kirill Petrenko Gustav Mahler Symphonie Nr. 8 Es-Dur Symphonie der Tausend Montag, 8. Juni, Dienstag, 9. Juni, Donnerstag, 11. Juni 2020 Nationaltheater

Bilder Grace Weaver


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„Loslassen ist herzloser Blödsinn“

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Ist der Tod das Ende? Ein neuer Studiengang nimmt Sterbe- und Trauerprozesse neu in den Blick. Der Moraltheologe Rupert M. Scheule über Verstorbene als Lebensbegleiter, Suizidhilfe und die Macht des Vaterunser.

Herr Scheule, Sie führen im Herbst an der Universität Regensburg einen neuen Studiengang ein: Perimortale Wissenschaften. Was bedeutet der Begriff „perimortal“? RUPERT SCHEULE  Das ist ein Kunstwort, abgeschaut vom Begriff „perinatal“, der all das meint, was um die Geburt herum passiert. Wir haben Perinatalzentren an unseren Kliniken, weil die Geburt nichts Punktuelles ist, sondern ein dynamisches Geschehen, es gibt eine vorgeburtliche, eine geburtliche und eine nachgeburtliche Phase. So ähnlich ist es auch am anderen Ende des Lebens, beim Sterben. Die Abschiedsprozesse beginnen weit vor dem physischen Ende. Und das Thema ist auch nicht mit der Beerdigung erledigt. Wir müssen den ganzen Prozess von Sterben, Tod und Trauer in den Blick nehmen: Abschiedsprozesse im palliativen Bereich, im Hospiz, bis dahin, was auf dem Friedhof läuft und darüber hinaus. Vielleicht fallen uns in dieser perimortalen Zusammenschau ein paar neue Fragen ein wie: Wieso gibt es für Hospizmitarbeiter Supervisionsangebote, nicht aber für Friedhofsmitarbeiter? MJ Wie arbeitet man etwas so Emotionales wie Trauer und Abschied akademisch auf? RS Wir sehen uns Trauerprozesse an, die real ablaufen, und ziehen daraus Schlüsse: Wann sind es gute Prozesse und wann nicht? Die Trauerforschung in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren hat sehr gute empirische Ergebnisse geliefert. Wir kommen an dieser Forschung nicht vorbei, wenn wir Menschen ausbilden, die in Trauerprozessen als Begleiter zur Verfügung stehen. Denn gerade weil der Trauerprozess emotional, manchmal existenziell ist, hat es eine positive Wirkung, wenn Menschen in der Nähe sind, die nicht auf die gleiche Weise betroffen sind. Dazu braucht man systematische Kompetenz. Die vermittelt Wissenschaft. MJ Wie stark wird Ihr Studiengang vom christlichen Glauben geprägt sein? MAX JOSEPH

Interview Gabriela Herpell

Die Interessenten kommen nicht nur aus der Seelsorge, es sind Sozialarbeiter, Pädagogen, Mediziner. Wir werden ihnen nicht Theologie ins Knie schrauben, aber wir schämen uns auch nicht dafür. Mit unserer Ritenkompetenz, unserem praktischen Trostwissen können auch Menschen etwas anfangen, die nicht die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod teilen. Außerdem arbeiten wir mit Palliativmedizinern zusammen, mit Juristen, Soziologen, Kunsthistorikern und nicht zuletzt mit Betriebswirten, denn der Tod hat auch etwas Ökonomisches. Wenn man Menschen in dieser schwierigen Zeit begleiten möchte, muss man auch da Bescheid wissen. MJ Meinen Sie die Kosten einer Bestattung? RS Zum Beispiel. Welchen Sarg nehme ich, welches Grabkreuz? Aber auch Erbschaftsfragen. Wir stellen freilich auch fest: Bestatter, die von Haus aus eher betriebswirtschaftlich ticken müssen, wünschen sich mitunter eine philosophische und theologische Perspektive. MJ Was heißt das, einen Trauerprozess bewerten? RS Früher hat man in Trauerphasen gedacht: Als Erstes kommt die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens, dann der Ausbruch der Emotionen, das Sichtrennen und schließlich ein neuer Selbstbezug. Doch in der Praxis hat sich erwiesen, dass das Trauernde unter Druck setzt. Da heißt es zum Beispiel: „Oh, du warst doch schon weiter.“ Solche Modelle bewerte ich als schlecht. Weil sie Trauernde unter Umständen dazu verleiten, sich selbst als schlecht zu bewerten. Das müssen wir abstellen. Ich bin neben meinem Uni-Job als Diakon und Seelsorger tätig, und ich habe oft erlebt, wie gut es ist, die Trauernden nicht auch noch unter Trauerfortschrittsdruck zu bringen. MJ Im Tibetischen Totenbuch heißt es, die Tränen der Zurückgebliebenen ließen den Toten nicht gehen. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören? RS Ich denke: Das klingt ganz schön autoritär. Deswegen habe ich auch ein Problem mit dem Wort „Loslassen“. RS

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Es wird einem ständig gesagt: „Du musst loslassen.“ Ich halte das für herzlosen Blödsinn. Wir müssen Menschen, die verstorben sind, nicht loslassen. Aus Sicht meines Glaubens existieren sie noch. Und selbst wenn ich nicht gläubig bin, spielen die Verstorbenen eine Rolle, sie gehören mitten in mein Leben. Und meine Aufgabe ist es, einen neuen Platz in meinem Leben für sie zu suchen. Das ist anspruchsvoll genug. Aber es ist nicht „Loslassen“. MJ Wie kann so ein neuer Platz im Leben aussehen? RS Unsere Toten müssen nicht Lebensverhinderer sein, die uns in einer „Nur als du lebtest, war’s schön“-Retrospektive gefangen halten. Sie können Lebens- und Zukunftsbegleiter sein, innere Dialogpartner für all die Themen, die uns das Leben als Hinterbliebenen bietet. MJ Manchmal schlafen verwitwete Ehepartner noch jahrzehntelang im gemeinsamen Bett. Oder Eltern ändern nichts an den Zimmern verstorbener Kinder. Würde da loszulassen nicht helfen? RS Zumindest stellt sich die Frage, ob das – im einen wie im anderen Fall – der „neue Platz“ ist, von dem aus die Toten das Leben auf gute Weise begleiten können. Ich habe ein Gegenbeispiel im Kopf: Eine alte Dame, die ich kenne, redet mit ihrem verstorbenen Gatten über alles, was gerade so läuft, wann immer sie an seinem Bild vorbeigeht. Das hängt im Wohnzimmer unterm Kreuz. Sie geht aber auch wieder weg, sieht nach den Enkeln oder kümmert sich um den Haushalt. Das ist in meinen Augen ein guter „neuer Platz“ für den Mann, mit dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat. MJ Die Schriftstellerin Connie Palmen hat ihren Mann verloren, danach schrieb sie, sie wolle sich die Trauer nicht nehmen lassen, diese sei alles, was sie noch habe. RS Das klingt erst einmal resignativ, aber das ist es nicht. Sie sucht einen anderen Platz für ihn, und das ist etwas Positives, etwas Lebensbejahendes. Diesen Gedanken verdanken wir übrigens dem großen William Worden,

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einem amerikanischen Trauerforscher: die Verbindung zur verstorbenen Person bestehen zu lassen, während man in ein Leben ohne ihn oder sie aufbricht. MJ Heute fürchten wir den Tod, er ist uns fremd, weil er uns im Alltag so selten begegnet. Waren die Menschen früher, als der Tod durch Krieg oder Krankheit präsenter war, besser im Umgang damit? RS Die Antwort ist kompliziert. Unsere Geschichte des Auslagerns von Tod und Trauer beginnt sehr früh, beim großen Sterben während der Pest im Mittelalter. Die Menschen wurden vom massenhaften Ableben überwältigt. Damals legten sie auch die Pestfriedhöfe an – es gab so viele Tote, dass man sie außerhalb der Siedlungen begraben musste. Diese Friedhöfe wurden zu Regelfriedhöfen. Im 19. Jahrhundert kam die Bürokratisierung dazu: Der Leichnam durfte nicht mehr einfach aus den Wohnräumen auf den Friedhof gebracht werden, sondern musste in die Leichenhalle, damit festgestellt werden konnte, ob er wirklich tot ist oder Seuchengefahr besteht. Und ja, die Menschen sehen heute mit Anfang 40 vielleicht ihren ersten Toten, das war früher anders, es gab alltäglichere Begegnungen mit dem Tod. Aber das bedeutet nicht, dass man sich existenziell mit dem Thema beschäftigt hätte. MJ Ist es ein menschlicher Reflex, den Tod zu verdrängen? RS Unser Alltagskonzept ist, dass wir irgendwie immer da sind. Und das stimmt natürlich nicht. Wir haben alle ein Ablaufdatum, das müssten wir stärker in den Blick nehmen, um zu uns zu kommen. Sich mit dem Tod zu beschäftigen ist gerade deshalb etwas Positives, weil es uns mit uns selbst konfrontiert. MJ Der Philosoph Michel de Montaigne hat geschrieben: „Der Tod hat den Vorteil, dass er uns überfällt. Nehmen wir ihm das Fremde, machen wir mit ihm Bekanntschaft.“ RS Der Tod, der uns überfällt, ist aber der, den die meisten Zeitgenossen bevorzugen. Ein schnelles Ende


„Wir müssen Verstorbene nicht loslassen. Sie gehören in mein Leben. Und meine Aufgabe ist es, einen neuen Platz für sie darin zu suchen.“

mitten im Leben, ein Tod, der nicht mit Siechtum verbunden ist. Lange Zeit hat dieser als der böse Tod gegolten, für Martin Luther etwa. Der gute Tod, für den die christlichen Konfessionen auch beten, zum Beispiel im Ave Maria, „bitt’ für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes“, ist, vorbereitet zu sterben. Ich denke, darin liegt eine tiefe Weisheit. Der überfallartige Tod könnte uns um wichtige letzte Erkenntnisse bringen. Ich nehme übrigens wahr, dass junge Menschen das oft auch so sehen. Vielleicht haben wir die ganz großen Zeiten der Todesverdrängung ja hinter uns. MJ Empfehlen Sie, die Toten zum Abschied zu sehen, sie anzufassen, ihre Nähe zu suchen? RS Ja. In aller Regel ist es gut, die Sinne für das Herz zu öffnen. Das ist auch etwas, das mich wissenschaftlich interessiert: Wie nähern wir uns Leichnamen? Müsste es nicht eine ausgearbeitete Ethik des Umgangs mit Toten geben? Eine Theologie oder Philosophie des Leichnams, auch als Ernstfall der Frage, was unsere Körperlichkeit überhaupt bedeutet? MJ Glauben Sie an die Seele? RS Als Theologe bin ich gespalten. Das Reden von der Seele hat natürlich Tradition im Christentum. Und doch ist es mir lieber, einfach vom ganzen Menschen zu sprechen. Wenn Sie nach der Seele fragen, kommen Sie früher oder später zu Platon. Die jüdisch-christliche Bibel ist da nicht die erste Adresse. Auch ich glaube daran, dass der Mensch mehr ist, als am Ende in einem Sarg oder in einer Urne Platz hat. Und manche brauchen genau für dieses Mehr das Wort „Seele“. Mir fehlt da aber die Leiblichkeit. Wir sind ja nicht im Eigentlichen Seele und der Leib ist eine Zutat oder ein Gefängnis. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt und wenn es ein gutes Leben ist, wird in irgendeiner Form die Leiblichkeit eine Rolle spielen. MJ Haben Sie eine Vorstellung vom Tod? RS Ich habe ein Hoffnungsbild: dass der Tod nicht das

Collagen Waldemar Strempler

Ende ist. Habe ich eine Vorstellung vom Tod als Tod? Nein. Und ehrlich gesagt habe ich wenig Anlass, anderen zu glauben, die mir mit klaren Vorstellungen vom Tod kommen, zum Beispiel Menschen mit Nahtoderfahrungen. Denn der Nahtod ist eben nicht der Tod. MJ Wenn Sie sagen, der gute Tod ist einer, auf den man sich vorbereitet hat, gilt das auch für die Sterbehilfe? RS Das Wort Sterbehilfe finde ich zu unpräzise. Sterbehilfe kann bedeuten, jemandem beim Sterben einfach nah zu sein. Es kann auch für Therapien am Lebensende stehen oder für den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen. Oder eben für Tötung auf Verlangen und assistierten Suizid. Das meinen Sie, oder? MJ Ja. RS Als Moraltheologe glaube ich, wir sollten uns bestimmte Urteile nicht zumuten, zum Beispiel das Urteil, wann Leben lebenswert ist oder nicht. Leben ist eine große Sache. Der Theologe Karl Rahner sagte einmal, der Mensch sei die Frage, die unausweichlich vor ihm selbst „aufsteht und die von ihm nie überholt, nie adäquat beantwortet werden kann.“ Das heißt: Wir sind stets mehr, als wir von uns sehen. Auch dann, wenn wir vor lauter Lebensüberdruss, Angst oder Schmerz sterben wollen. Ich halte es für besser, wenn wir auf den Schmerz und die Verzweiflung von Sterbenden nicht durch Tötung reagieren, sondern daran arbeiten, dass Schmerz und Verzweiflung weniger werden. MJ Wenn ein Mensch sehr dringend sterben will, muss ich mir das Urteil ja gar nicht zumuten, es ist sein Wunsch. Und muss man den Todeswunsch eines Menschen nicht ernst nehmen? Was sagt man einem Menschen, der sterben will, weil er unheilbar krank ist und es nicht mehr aushält? RS Darf ich zurückfragen: Können Sie wirklich einem Mitmenschen bei der Selbsttötung helfen, ohne sein vernichtendes Urteil über das eigene Leben zu teilen? Sie

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„Soll ich einen, der auf dem Dach steht, um sich in die Tiefe zu stürzen, lieber mal machen lassen, weil das Ausdruck seiner Würde ist?“

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RUPERT M. SCHEULE – Rupert M. Scheule war Leiter des KatholischTheologischen Seminars an der Philipps-Universität Marburg, beratendes Mitglied der Kommission Ehe und Familie der Deutschen Bischofskonferenz und ist seit 2017 Professor für Moraltheologie an der Universität Regensburg. Er beschäftigt sich auch mit Fragen der Sexual-, Bio- und Medizinethik. 2015 erschien sein Buch Wir Freiheitsmüden. Warum Entscheiden immer mehr zur Last wird (Kösel-Verlag).

anerkennen dabei doch nicht nur seine Freiheit, Sie folgen ihm in seine eigene Festlegung. Und was wiederum be­ deutet es für unsere Gesellschaft, wenn so etwas passiert? Wenn jemand über das Leben eines Mitmenschen sagen darf: „Genau, ich finde auch, dein Leben sollte enden.“ Ist es eine gute, humane Gesellschaft, in der solche Le­ bensunwertsurteile vom einen zum anderen gehen? Ich bin skeptisch. Aber Sie fragten konkret, was man einem Menschen mit festem Sterbewunsch sagt. Mein Vorschlag: „Ich nehme deinen Wunsch sehr ernst. Lass uns alles tun, damit er verschwindet und du gut leben kannst bis zuletzt.“ MJ Wie stehen Sie zum aktuellen Urteil des Bundes­ verfassungsgerichts zur Suizidhilfe? RS Ich habe meine Probleme damit. Das Urteil ist für die Bundesrepublik eine ziemlich harte Zäsur. Und damit meine ich gar nicht, dass ein Paragraph, der tatsächlich einige Mängel hatte, kassiert wurde. Hart finde ich, dass hier die Spitze unserer judikativen Staatsgewalt mit dem Gestus der Endgültigkeit feststellt: Der frei verfügte Suizid ist Ausdruck von Würde. Die bisherige Rechtspre­ chung legte nahe, dass wir bei Suiziden von Unglücks­ fällen auszugehen haben, vor denen wir als Rechtsgemein­ schaft die Gefährdeten nach Möglichkeit schützen müssen. Gilt das noch? Oder soll ich einen, der auf dem Dach steht, um sich in die Tiefe zu stürzen, lieber mal machen lassen, weil das Ausdruck seiner Würde ist? Für mich besteht die moralische Aufgabe nicht in erster Linie darin, Ach­ tung vor dem Entschluss zur Selbsttötung aufzubauen, sondern die Zwangslagen, die zu diesem Entschluss füh­ ren, abzubauen. Da ist der Verfassungsrichterspruch we­ nig hilfreich. MJ Sie haben vorhin von Riten gesprochen. Wenn Sie in ein Trauerhaus gehen, was sagen Sie den Men­ schen dort? RS Da sage ich zunächst gar nichts. Ich bin einfach nur da und halte den Schmerz aus. Das ist schwieriger, als

mit Psychoweisheiten zu kommen oder putzmuntere Auf­ erstehungsbotschaften auszupacken. Die möchten die Menschen, die trauern, nicht hören. Es gibt genau eine Sache, die sie wirklich trösten würde: dass der Verstor­ bene zurückkehrt. Und das kann man nicht bieten. Aber den meisten Menschen geben Rituale Halt. Wenn man den Segen über den Verstorbenen spricht, ihm oder ihr ein Kreuz auf die Stirn, auf den Mund und auf den Brust­ korb zeichnet. Dass man das Vaterunser betet. Das müs­ sen Religionen vor allem können: Sie brauchen gute Riten für die wirklich harten Momente des Lebens. MJ Hat die Religion für Menschen, die damit nichts anfangen können, auch etwas im Angebot? Anders gefragt: Welche nicht­religiösen Riten helfen auch? RS Ich fürchte, da fragen Sie den Falschen. Aber mir fällt auf, dass Kreuzzeichen und Segen auf eine bestimmte Weise auch Nichtreligiöse erreichen und berühren kön­ nen – vorausgesetzt, diese Zeichenhandlungen werden authentisch vollzogen. Was das Vaterunser angeht, habe ich die Erfahrung gemacht, auch reichlich säkulare Typen in Trauerhäusern und auf Friedhöfen fragen, ob man es nicht zusammen beten könne. Ich glaube, sie sehen, was Beten immer auch ist: gemeinsames Sprechen, das in die Gemeinschaft die mit hineinnimmt, die seit Jahrtausen­ den beten, und die, die es in Zukunft tun werden. Schon diese Gemeinschaft tut gut angesichts des Todes – auch wenn für den Gläubigen die Gemeinschaft mit dem, der im Vaterunser angesprochen wird, noch entscheidender ist. Gemeinschaft, Zusammenhalten, Solidarität. Besseres ist uns Menschen bislang nicht eingefallen angesichts des Todes. Aber vielleicht gibt es auch nichts Besseres. Gabriela Herpell ist freie Journalistin und Buchautorin. Für das Magazin der Süddeutschen Zeitung schreibt sie über Menschen und Tiere im Allgemeinen und über Literatur, Filme und Reisen im Besonderen. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Reporterpreis 2019.

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S P R I N G EN F A L L E N F L I E G EN Welche Rolle spielt das Loslassen im Tanz?

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Premiere Ratmansky / Dawson / Eyal


Beobachtungen und Überlegungen zu den Kreationen von Alexei Ratmansky und Sharon Eyal.

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Das Fünfte Element, Frankreich 1997, Regie Luc Besson © Gaumont, Tobis Film GmbH & Co. KG (Tobis Filmkunst)


Das Fünfte Element, Frankreich 1997, Regie Luc Besson © Gaumont, Tobis Film GmbH & Co. KG (Tobis Filmkunst)

Loslassen heißt im Tanz in seiner schönsten Konsequenz auch: fallen lassen. Da denkt man an schwebende Körper und fliegende Haare in Slow Motion, an waghalsige Sprünge wie den von Milla Jovovich in Luc Bessons Science-FictionMeisterwerk Das fünfte Element oder an Spiderman, der sich an so filigranen wie robusten Spinnweben durch die Großstadt schaukelt. Ein bisschen denkt man wahrscheinlich auch an den Cirque du Soleil. Die Choreographie Bilder einer Ausstellung hat Alexei Ratmansky 2014 für das New York City Ballet kreiert – eine Compagnie, die in der Tradition des neoklassischen Balletts George Balanchines steht, der aus dem Verhältnis von Musik und Tanz eine gut funktionierende Ehe gemacht hat. Auch die Arbeiten des russisch-amerikanischen Choreographen entstehen aus der Musik heraus, sie wickeln einen um den Finger, weil sie klug und frech sind, höchst anspruchsvoll und virtuos, aber immer tänzerfreundlich. Das heißt, dass sie die Tänzer herausfordern, an ihre Grenzen bringen – schließlich wollen Tänzer tanzen! –, aber nicht Absurdes von ihnen verlangen. Die Schönheit der klassischen Formensprache wird gewahrt. Die Sprache, die Ratmansky spricht, schöpft aus einem neoklassischen Vokabular, das die akademische Technik voraussetzt. Allerdings findet er immer wieder überraschende Wege, um eine

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scheinbar altbekannte Bewegungsabfolge zu variieren, auf den Kopf zu stellen. Aus der Distanz betrachtet, ist die Referenz klar – schaut man mit wachem Auge hin, erkennt man die Eigenartigkeit. Das ist charmant. Erfolg zieht sich durch seine Biographie: 1968 in Leningrad geboren, Ausbildung in Moskau, erster Solist in der Ukraine, erste choreographische Arbeiten, und dann gleich überall gefragt, in London, Paris, New York. 2004 übernimmt er für vier Jahre die Leitung des Bolschoi-Balletts. Seit 2009 ist er quasi Hauschoreograph beim American Ballet Theatre in New York, eine große Nummer. Parallel dazu rekonstruiert er die Klassiker des 19. Jahrhunderts wie Giselle, Schwanensee, Dornröschen oder La Bayadère; 2014 choreographiert er für das Bayerische Staatsballett Paquita nach Marius Petipa. Von zahlreichen Auszeichnungen seien hier nur die märchenhaftesten genannt: Königin Margrethe II. von Dänemark schlägt ihn 2001 zum „Ritter von Dannebrog“, 2013 bekommt er von der MacArthur Foundation den sogenannten Genie-Preis verliehen. Und wenn man Rolex Mentor wird, wie Ratmansky 2014 (ein Programm, das renommierte Künstler mit jungen Talenten zusammenbringt), ist das ein untrügliches Zeichen für die Kategorie „Angekommen“. Wer mit ihm arbeitet, spürt die Hingabe für seine Profession. Wenn er spricht, erzählt er mit großen,

Text Carmen Kovacs


Kalkuliertes Loslassen, inszeniertes Fallen: Es ist der Versuch, den Körper, der sich in einem Zustand absoluter Kon­ trolle befindet, zu überwinden.

staunenden Augen, die ihm scheinbar das bewahrt haben, was viele mit dem Erwachsenwerden verlieren: die Fähig­ keit, von den eigenen Ideen überrascht zu werden. In Bilder einer Ausstellung ist das Fallen eines der wieder­ kehrenden choreographischen Motive. Das zweite Bild res­ pektive der zweite Satz von Modest Mussorgskys berühmter Komposition für Klavier ist als Pas de deux choreographiert, das mit einer weichen Vertrauensübung beginnt: Während Tänzer und Tänzerin die Bühne betreten, nimmt er ihre Hand, führt sie hinter seinen Nacken, hält sie fest, legt seinen ande­ ren Arm um ihre Taille und lässt sie in einen angedeuteten Spagat fallen, bei dem die Spitzen ihrer Schuhe zart den Boden streifen, während er sie zirkelhaft kreisend über die Bühne schiebt. Dann lassen sie einander los, damit sie – seine vorsichtig stützenden Hände im Rücken spürend – ohne Sorge und ganz sanft in ihn hineinfallen kann. Wenig später stehen sie einander gegenüber, sie hält mit beiden Händen seine aus­ gestreckte rechte Hand, steht dabei mit links auf Spitze und führt das rechte Bein mit einem Développé so hoch in die Luft, dass es auf seine Brust zielt. Dann geht alles ganz schnell: Er führt ihre Arme mit einem Ruck nach oben, lässt los, sie wirft Arme und sich selbst schwungvoll nach hinten, beugt ihren Rücken in ein leichtes Cambré, während er um sie herum­ läuft, um sie mit dem Arm wieder aufzufangen.

In diesen ersten 30 Sekunden offenbart sich eine der schöns­ ten Eigenschaften des klassischen Balletts: die Sichtbarkeit von höchster Kontrolle bei einem nur hintergründig spürba­ ren Risiko. Während die Fallhöhe im Zirkus ausdrücklich zur Schau getragen, die Gefahr durch den Drahtseilakt sichtbar performt wird und dadurch Selbstzweck bleibt, ist die Fas­ zination des Fallens im Ballett von einer anderen Art. Natür­ lich gibt es Hebungen und Sprünge, die darauf abzielen, an die Grenzen und darüber hinaus zu gehen. Aber das hat weni­ ger damit zu tun, sich wegen des Nervenkitzels bewusst in Lebensgefahr zu bringen. Es ist vielmehr der Versuch, den Körper, der sich in einem Zustand absoluter Kontrolle befin­ det, zu überwinden. Im schlimmsten Fall ist das rührend naiv, im besten Fall wird das Publikum Zeuge eines göttlichen Moments. Das oben beschriebene Motiv, das im Laufe der Choreographie noch ein paar Mal wiederkehrt, ist nicht spek­ takulär genug, um diesen transzendierenden Funken freizu­ setzen, und dennoch hält man kurz den Atem an, wenn man die Tänzerin auf einem Bein – noch dazu auf Spitze – balan­ cieren und zurückfallen sieht. Es handelt sich um kalkulier­ tes Loslassen, inszeniertes Fallen, das ein scheinbar unbere­ chenbares Moment in das sonst so durchchoreographierte Ballett bringt, bei dem jede einzelne Kopfbewegung genaues­ tens fixiert ist. Aber das Publikum spürt, dass es in diesem Fall

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„Du musst dein Bewusstsein verlieren, bevor du fällst. Du musst einen Weg finden, um loszulassen.“ Ohad Naharin

nicht um Kontrollverlust geht, sondern um Kontrolle auf nächsthöherer Ebene: das präzis gerahmte, vorbereitete Loslassen. Der Körper der Tänzerin liegt zusammengefaltet auf dem Boden. Sie steht wieder auf, geht in die Bewegung hinein, ein Beben, Zucken und Zittern durchfährt sie, die Arme von sich gestreckt, die Finger verkrampft, der ganze Körper unter Hochspannung. Sie legt den Kopf nach hinten, der Rücken folgt – und sie fällt. Mit dieser Probesequenz beginnt Mr. Gaga, ein Film über Ohad Naharin, Choreograph und langjähriger künstlerischer Leiter der israelischen Batsheva Dance Company. „Zu viel Kontrolle. Du musst dein Bewusstsein verlieren, bevor du fällst. Du musst einen Weg finden, um loszulassen“, sagt Naharin. Er entwickelte Gaga als Bewegungssprache und Lehrmethode, die sich über mehr als 20 Jahre hinweg etablierte. Es geht dabei ums Spüren, um eine erweiterte Körperwahrnehmung und vor allem ums Loslassen. Bilder und Impulse kommen von innen heraus, der Körper ist in ständiger Bewegung und lässt Improvisation und Abweichung zu, kommuniziert instinktiv. Die Balance aus bewussten und unbewussten Bewegungen wird von der Trainingsleitung austariert. Spiegel sind verboten. Gaga ist Selbsterfahrung – und darauf aufbauend ergibt sich die intuitive Verbindung zur Umwelt.

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Das ist die Schule, quasi die Religion, aus der Sharon Eyal kommt. Die Israelin war zunächst selbst Tänzerin in der Batsheva Company, 18 Jahre lang, und fing bereits während dieser Zeit an, für das Ensemble zu choreographieren, bis sie 2005 Hauschoreographin wurde. Erst 2013, mit Anfang 40, gründete sie gemeinsam mit ihrem langjährigen künstlerischen Partner Gai Behar ihre Compagnie L-E-V, was auf Hebräisch „Herz“ bedeutet. Nicht unbedingt der erste Eindruck, den ihre Arbeiten hinterlassen. Jedenfalls nicht, wenn man in Richtung herzig, warm und wohlig assoziiert. Es ist der Puls aus den Tiefen des Innersten, roh, fragil und gleichzeitig unaufhaltsam stark, der ihre Choreographien durchblutet. Bedroom Folk, 2015 für das Nederlands Dans Theater entstanden, ist so eine rauschhaft pulsierende Arbeit. Eyal hat einen Kosmos geschaffen, der die Tänzer und das Publikum gleichermaßen in einen trancehaften Zustand versetzt, die Zeit vergessen lässt. Als eine Gruppe von Verschworenen erscheint das Ensemble, nach vorn hin ausgerichtet und doch ganz in sich gekehrt, von den Beats geführt, im Gleichschritt auf halber Spitze, vielleicht einem geheimnisvollen Ruf folgend. Etwas Unerklärliches, fast Unheimliches haftet dieser Gruppe an und so auch ihrer Sprache: verquere Verrenkungen der Arme, zerstückelt scharfe Bewegungsmuster, schlängelnde, aber auch katzenhafte Loops. Der Ausdruck ist kühl


Das Fünfte Element, Frankreich 1997, Regie Luc Besson © Gaumont, Tobis Film GmbH & Co. KG (Tobis Filmkunst)

und anmutig, es gibt fast kein Partnering, nur die Dynamiken der Gruppe als zusammengehöriger Schwarm, aneinandergeschmiegt, auseinanderdriftend, sich einzeln herauslösend, sich individuell charakterisiert zeigend. Eyal zitiert und verarbeitet, sampelt quasi klassisches Schrittmaterial und volkstanzähnliche Elemente. Immer wieder verfangen sich die Körper in den geloopten Musiksequenzen, werden zum Anfang der Bewegung zurückgeworfen – in der Wiederholung entstehen Momente von betörender Banalität. Pausen, Stillstand und gedehnte Augenblicke sind rar und deshalb umso wirkungsvoller. Die verstörend schöne Merkwürdigkeit gipfelt in ritualhaft aufgeladene Szenen, die mit Club- und Raveverausgabung vor orange-rot leuchtender Lichtwand kontrastiert werden. Dieser Strudel ist ein Rausch, dem das Publikum misstraut und ihn auf seine Echtheit hin befragt. Was es spürt, ist die unauflösbare Spannung aus völliger Hingabe und absoluter Kontrolle – und die radikale Freiheit der Körper. Für Balletttänzer einer klassisch ausgerichteten Compagnie eine durch und durch neue Erfahrung. Deshalb bekommt der Bedroom-Folk-Cast des Bayerischen Staatsballetts in der Zeit des Einstudierens auch zusätzlich Gaga-Training – was sich bemerkbar macht. So baut sich Schritt für Schritt ein Gerüst auf, innerhalb dessen man sich freier bewegen, gewohnte Achsen und Schwerpunkte verschieben kann. Wer

allerdings in den tatsächlichen Proben zu sehr loslässt, hat ein Problem. Alles ist strengstens durchgetaktet, die Tänzer müssen mitzählen, um sich nicht zu verlieren. Das ist im Ballett nicht anders, aber die Bewegungssequenzen folgen dabei meist einer balletttypischen Logik und die Musik dient ebenfalls zur Orientierung. In Eyals Choreographien wird eine Bewegung auch mal endlos zum monotonen Beat wiederholt, sodass einem nichts bleibt als das nackte „… Fünf, sechs, sieben, acht“. Das macht einen verrückt, im besten Sinne, und man versteht, woher die Trance kommt – ein Zustand, der die Tänzer zum entscheidenden Punkt führt, an dem es heißt: Drei, zwei, eins. Springen, fallen, fliegen. RATMANSKY / DAWSON / EYAL

Bilder einer Ausstellung – Alexei Ratmansky Affairs of the Heart – David Dawson Bedroom Folk – Sharon Eyal Premiere am Samstag, 23. Mai 2020 Nationaltheater STAATSOPER.TV Live-Stream der Vorstellung am 23. Mai 2020 1 24 Stunden Video-on-Demand www.staatsoper.tv Weitere Termine im Spielplan ab S. 102

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Spielplan

25.03. 2020 20.06. 2020

Auf Weisung der Bayerischen Staatsregierung sind bei Redaktionsschluss von Max Joseph sämtliche Vorstellungen bis einschließlich 19.04.20 abgesagt. Die Bayerische Staatsoper ist bemüht, die Premieren von 7 Deaths of Maria Callas und Mignon zu realisieren. Aktuelle Informationen finden Sie unter www.staatsoper.de sowie bei der Besucherkommunikation: besucher@staatsoper.de, T 089 – 21 85 10 25 STAATSOPER.TV – Alternativer Online-Spielplan mit Live-Streams und Video-on-Demand: www.staatsoper.de/stream

Karten Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089  –  21  85  19  20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de 102

Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.


Oper Modest Mussorgsky BORIS GODUNOW Musikalische Leitung Michail Jurowski Inszenierung Calixto Bieito Dmitry Ulyanov, Ekaterina Vorontsova, Mirjam Mesak, Heike Grötzinger, Burkhard Ulrich, Andrzej Filonczyk, Brindley Sherratt, Giorgi Sturua, Vladimir Matorin, Ulrich Reß, Helena Zubanovich, Kevin Conners, Igor Tsarkov, Joshua Owen Mills, Oleg Davydov, Christian Rieger Fr 20.03.20 20.00 Uhr Mo 23.03.20 19.00 Uhr Fr 27.03.20 19.00 Uhr sponsored by

Ambroise Thomas MIGNON Musikalische Leitung Pierre Dumoussaud Inszenierung Christiane Lutz Mirjam Mesak / Sarah Gilford, Caspar Singh / Andres Agudelo, Juliana Zara, Oğulcan Yılmaz, Daria Proszek, Christian Valle, George Vîrban Mi Fr So Di Do

01.04.20 03.04.20 05.04.20 07.04.20 09.04.20

19.00 19.00 19.00 19.00 19.00

Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr

Cuvilliés-Theater Premiere Cuvilliés-Theater Cuvilliés-Theater Cuvilliés-Theater Cuvilliés-Theater

Marina Abramović 7 DEATHS OF MARIA CALLAS Musikalische Leitung Yoel Gamzou Regie und Bühne Marina Abramović Musik Marko Nikodijević Marina Abramović, Willem Dafoe, Nadezhda Karyazina, Whitney Morrison, Leah Hawkins, Adela Zaharia, Selene Zanetti, Gabriella Reyes, Hera Hyesang Park

Giuseppe Verdi I MASNADIERI

Sa 11.04.20 19.00 Uhr

Musikalische Leitung Michele Mariotti Inszenierung Johannes Erath

Mo 13.04.20 15.00 Uhr Mo 13.04.20 19.00 Uhr Di 14.04.20 19.00 Uhr

Mika Kares, Charles Castronovo, Igor Golovatenko, Diana Damrau / Carmen Giannattasio, Kevin Conners, Callum Thorpe, Dean Power

Uraufführung Auch als Live-Stream auf www.staatsoper.tv 1

gefördert von Bernhard und Julia Frohwitter

Do 26.03.20 19.00 Uhr So 29.03.20 18.00 Uhr sponsored by

Richard Wagner PARSIFAL Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Pierre Audi

Gaetano Donizetti LUCIA DI LAMMERMOOR Musikalische Leitung Antonino Fogliani Inszenierung Barbara Wysocka Vladislav Sulimsky, Lisette Oropesa, Piero Pretti, Galeano Salas, Bálint Szabó, Corinna Scheurle, Sergiu Saplacan

Simon Keenlyside, Bálint Szabó, Georg Zeppenfeld, Simon O'Neill, Johannes Martin Kränzle, Anja Kampe, Kevin Conners, Callum Thorpe, Anna Lapkovskaja, Elsa Benoit, Daria Proszek, Manuel Günther, Dean Power, Selene Zanetti, Vuvu Mpofu, Corinna Scheurle So 12.04.20 16.00 Uhr Do 16.04.20 17.00 Uhr So 19.04.20 16.00 Uhr gefördert durch

Sa 28.03.20 19.00 Uhr Di 31.03.20 19.00 Uhr Fr 03.04.20 19.00 Uhr sponsored by

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Gioachino Rossini IL BARBIERE DI SIVIGLIA

Gaetano Donizetti L’ELISIR D’AMORE

Musikalische Leitung Diego Matheuz Inszenierung Ferruccio Soleri

Musikalische Leitung Francesco Lanzillotta Inszenierung David Bösch

Levy Sekgapane, Donato Di Stefano, Annalisa Stroppa, Sean Michael Plumb, Roberto Tagliavini, Karel Martin Ludvik, Oğulcan Yılmaz, Alexandra Hutton, George Vîrban

Aida Garifullina, Pavol Breslik, André Schuen, Ambrogio Maestri, Mirjam Mesak

Mi Sa Di Fr

15.04.20 18.04.20 21.04.20 24.04.20

19.00 19.00 19.00 10.30

Uhr Uhr Uhr Uhr (Schulvorstellung)

Fr 08.05.20 19.30 Uhr Di 12.05.20 19.30 Uhr Fr 15.05.20 19.30 Uhr sponsored by

Richard Strauss DIE SCHWEIGSAME FRAU Musikalische Leitung Pedro Halffter Inszenierung Barrie Kosky

Giacomo Puccini LA FANCIULLA DEL WEST

Franz Hawlata, Susanne Resmark, Nikolay Borchev, Evan LeRoy Johnson, Brenda Rae, Juliana Zara, Corinna Scheurle, Christian Rieger, Peter Lobert, Christian Valle

Musikalische Leitung Paolo Carignani Inszenierung Andreas Dresen

Mo 20.04.20 19.00 Uhr Fr 24.04.20 19.00 Uhr Di 28.04.20 19.00 Uhr

Wolfgang Amadeus Mozart DON GIOVANNI Musikalische Leitung Antonino Fogliani Inszenierung Stephan Kimmig

Anja Kampe, John Lundgren, Brandon Jovanovich, Kevin Conners, Bálint Szabó, Tim Kuypers, Manuel Günther, Markus Suihkonen, Justin Austin, Galeano Salas, Andres Agudelo, Christian Rieger, Derrick Parker, Christian Valle, Daria Proszek, Sean Michael Plumb, Oğulcan Yılmaz, Ulrich Reß Sa Mi Sa Di

09.05.20 13.05.20 16.05.20 19.05.20

19.00 19.00 19.00 19.00

Uhr Uhr Uhr Uhr

sponsored by

Erwin Schrott, Callum Thorpe, Rachel Willis-Sørensen, Oleksiy Palchykov, Carmen Giannattasio, Luca Pisaroni, Elsa Benoit, Milan Siljanov Mi 29.04.20 19.00 Uhr Sa 02.05.20 18.00 Uhr Di 05.05.20 19.00 Uhr

Gioachino Rossini GUILLAUME TELL Musikalische Leitung Antonino Fogliani Inszenierung Antú Romero Nunes

Giuseppe Verdi DON CARLO Musikalische Leitung Andrea Battistoni Inszenierung Jürgen Rose Ildar Abdrazakov, Charles Castronovo, Ludovic Tézier, Günther Groissböck, Bálint Szabó, Anja Harteros, Elīna Garanča, Corinna Scheurle, Francesco Petrozzi, Selene Zanetti, Milan Siljanov, Boris Prýgl, Sean Michael Plumb, Oğulcan Yılmaz, Markus Suihkonen, Christian Valle Do So Mi So

30.04.20 03.05.20 06.05.20 10.05.20

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18.00 17.00 18.00 16.00

Uhr Uhr Uhr Uhr

Gerald Finley, Michael Spyres, Bálint Szabó, Kristian Paul, Evgeniya Sotnikova, Luca Tittoto, Kevin Conners, Petr Nekoranec, Christian Rieger, Salome Jicia, Jennifer Johnston So 17.05.20 18.00 Uhr Do 21.05.20 19.00 Uhr So 24.05.20 19.00 Uhr gefördert durch


Christoph Willibald Gluck ALCESTE Musikalische Leitung Antonello Manacorda Regie, Choreographie Sidi Larbi Cherkaoui Stanislas de Barbeyrac, Tara Erraught / Dorothea Röschmann, Michael Nagy, Manuel Günther, Sean Michael Plumb, Noa Beinart, Sarah Gilford, Markus Suihkonen, George Vîrban, Callum Thorpe, Tänzer der Compagnie Eastman, Antwerpen Mo Do So Mi

01.06.20 04.06.20 07.06.20 10.06.20

19.00 19.00 19.00 19.00

Uhr Uhr Uhr Uhr

Ballett BALLETTFESTWOCHE vom 23. bis 31. Mai 2020 Nationaltheater Partner der Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts supported by

Wolfgang Amadeus Mozart COSÌ FAN TUTTE Musikalische Leitung Constantin Trinks Inszenierung Dieter Dorn

Ray Barra, Marius Petipa, Lew Iwanow SCHWANENSEE

Christiane Karg, Samantha Hankey, André Schuen, Ioan Hotea, Tara Erraught, Michael Nagy

Musikalische Leitung Tom Seligman Musik Peter I. Tschaikowsky

Sa Mo Do So

Mi Mo Sa So Fr

13.06.20 15.06.20 18.06.20 21.06.20

19.00 19.00 19.00 17.00

Uhr Uhr Uhr Uhr

25.03.20 30.03.20 04.04.20 05.04.20 29.05.20

19.30 19.30 19.30 18.00 19.30

Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr

Richard Wagner DER FLIEGENDE HOLLÄNDER Musikalische Leitung Pinchas Steinberg Inszenierung Peter Konwitschny Hans-Peter König, Camilla Nylund, Wookyung Kim, Heike Grötzinger, Manuel Günther, Michael Volle Mi 17.06.20 19.00 Uhr Sa 20.06.20 19.30 Uhr Di 23.06.20 19.00 Uhr

Roland Petit COPPÉLIA Musikalische Leitung Anton Grishanin Musik Léo Delibes Mi 08.04.20 19.30 Uhr Fr 17.04.20 19.00 Uhr Mi 27.05.20 19.30 Uhr

George Balanchine JEWELS Musikalische Leitung Robert Reimer Musik Gabriel Fauré, Igor Strawinsky, Peter I. Tschaikowsky Sa So Do Do

25.04.20 26.04.20 07.05.20 28.05.20

19.30 18.00 19.30 19.30

Uhr Uhr Uhr Uhr

Jewels, Choreography by George Balanchine © The George Balanchine Trust supported by

MATINEE DER HEINZ-BOSL-STIFTUNG Musikalische Leitung Allan Bergius Do 21.05.20 11.00 Uhr So 24.05.20 11.00 Uhr

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RATMANSKY / DAWSON / EYAL BILDER EINER AUSSTELLUNG Choreographie Alexei Ratmansky Musik Modest Mussorgsky

Konzert

AFFAIRS OF THE HEART Choreographie David Dawson Musik Marjan Mozetich BEDROOM FOLK Choreographie Sharon Eyal Musik Ori Lichtik 5. KAMMERKONZERT: STRINGS MEET PERCUSSION Musikalische Leitung Robertas Šervenikas So 29.03.20 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche Sa 23.05.20 19.30 Uhr

Premiere Auch im Live-Stream auf www.staatsoper.tv 1

Mo 25.05.20 19.30 Uhr Sa 06.06.20 19.30 Uhr Fr 19.06.20 19.30 Uhr

6. KAMMERKONZERT: BEETHOVEN SYMPHONIEN So 17.05.20 11.00 Uhr Allerheiligen Hofkirche

2. KAMMERKONZERT DER ORCHESTERAKADEMIE: UN:ERHÖRT IV Mo 25.05.20 19.30 Uhr Alte Pinakothek Christopher Wheeldon ALICE IM WUNDERLAND

Hauptsponsor der Orchesterakademie

Musikalische Leitung Myron Romanul Musik Joby Talbot, Nicholas Wright Di 26.05.20 19.30 Uhr

6. AKADEMIEKONZERT: KIRILL PETRENKO

Koproduktion mit dem National Ballet of Canada beim Royal Ballet im Royal Opera House, London

Musikalische Leitung Kirill Petrenko Mo 08.06.20 20.00 Uhr Di 09.06.20 20.00 Uhr Do 11.06.20 18.00 Uhr

Yuri Grigorovich SPARTACUS Musikalische Leitung Karen Durgaryan Musik Aram Chatschaturjan Sa 30.05.20 19.30 Uhr Fr 12.06.20 19.00 Uhr So 14.06.20 18.00 Uhr

John Neumeier DIE KAMELIENDAME Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff Musik Frédéric Chopin So 31.05.20 19.30 Uhr

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Lied

Campus

PORTRÄTKONZERT DES OPERNSTUDIOS

Gordon Kampe SPRING DOCH

Sarah Gilford / George Vîrban Fr 08.05.20 19.30 Uhr Künstlerhaus Mirjam Mesak / Christian Valle Fr 05.06.20 19.30 Uhr Künstlerhaus

Musikalische Leitung Andreas Fellner Inszenierung David Bösch So Do Do Fr Sa

17.05.20 21.05.20 21.05.20 22.05.20 23.05.20

16.00 11.00 16.00 18.00 16.00

Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr

Rennert-Saal Uraufführung Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal

ENSEMBLE-LIEDERABENDE Manuel Günther Mi 22.04.20 19.00 Uhr Wernicke-Saal

SPIELOPER / SPIELBALLETT

Selene Zanetti

L'ELISIR D'AMORE

Mo 18.05.20 19.00 Uhr Wernicke-Saal

Sa 09.05.20 10.00 Uhr Gr. Probebühne, Nationaltheater SCHWANENSEE So 22.03.20 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal, Nationaltheater So 17.05.20 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal, Nationaltheater SPARTACUS So 26.04.20 14.00 Uhr Ballett-Probenhaus Platzl 7 So 03.05.20 14.00 Uhr Gr. Ballettsaal, Nationaltheater

OPER.ÜBER.LEBEN Fr 15.05.20 18.45 Uhr Königssaal im Nationaltheater

SITZKISSENKONZERTE Mit freundlicher Unterstützung des Inner Circle der Bayerischen Staatsoper MOMO, DER KLEINE ZIRKUSJUNGE Mi 25.03.20 11.00 Uhr Parkett, Garderobe Sa 28.03.20 14.30 Uhr Parkett, Garderobe OSKAR UND DER SEHR HUNGRIGE DRACHE Sa 13.06.20 14.30 Uhr Parkett, Garderobe Sa 20.06.20 14.30 Uhr Parkett, Garderobe

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Extra PREMIERENMATINEE 7 DEATHS OF MARIA CALLAS So 05.04.20 11.00 Uhr

DIE UNMÖGLICHE ENZYKLOPÄDIE Nr. 52 Do 23.04.20 20.00 Uhr Große Probebühne Nr. 53 Mo 11.05.20 20.00 Uhr Vorderhaus

MONTAGSRUNDE I MASNADIERI Mo 06.04.20 20.00 Uhr Capriccio-Saal 7 DEATHS OF MARIA CALLAS Mo 20.04.20 20.00 Uhr Capriccio-Saal

OPERNDIALOG I MASNADIERI So 29.03.20 10.00 Uhr Capriccio-Saal Mo 30.03.20 18.00 Uhr Capriccio-Saal MIGNON So 05.04.20 12.00 Uhr Capriccio-Saal Mo 06.04.20 15.00 Uhr Capriccio-Saal 7 DEATHS OF MARIA CALLAS So 12.04.20 10.00 Uhr Capriccio-Saal Di 14.04.20 14.30 Uhr Capriccio-Saal

BALLETT EXTRA: COPPÉLIA Mi 01.04.20 20.00 Uhr Ballett-Probenhaus Platzl 7

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Rßtzel rät Das Leben ist bekanntlich leichter, wenn einem ein Ratgeber sagt, was man tun soll. Deshalb schickt Max Joseph in dieser Spielzeit vom Schicksal geplagte Opernfiguren mit ihren Fragen zum Coach.

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Illustration Dr Julian Gravy


Folge 3: die Anhängliche Ich habe eine Frau namens Mignon aus einer unangenehmen Situation be­ freit. Jetzt sagt sie, dass sie in mich verliebt sei. Sie ist nett, aber ich will nichts von ihr. Wie bringe ich ihr schonend bei, von mir abzulassen? Wilhelm Meister Edler Ritter, bis jetzt kenne ich das von Ihnen be­ schriebene Verknallungsdilemma nur aus dem Kitschkosmos. Genauer: aus dem medizinischen Verarztungskon­ text, wenn beim Verbinden zarte Bande geknüpft werden. In Schmalzwestern verschenken löchrige Cowboys ihr knapp verfehltes Herz nach dem Erwa­ chen aus dem Schmerzschock gern an das mildtätige Saloonfräulein, das ihnen die Kugel mit spitzen Fingern aus der Brust popelt. Auch in der Schwarzwaldklinik mussten schon Götter in Weiß lie­ bestolle Patientinnen prophylaktisch narkotisieren, um schlimmere Herz­ rhythmusstörungen zu verhindern. Die Mechanismen ähneln dem, was Sie gerade erleben: Ein Mensch wird aus einem schlimmen Schlamassel geret­ tet, erfährt Linderung und projiziert das Glück darüber auf denjenigen, der ihm dabei behilflich war – logisch. Weil sich das schöner anfühlt, als nur abstrakt froh zu sein. Man reicht jemandem den kleinen Finger, und schon klicken die gefühlsmäßigen Handschellen um das Gelenk. Blöd natürlich, wenn der Retter, wie in Ihrem Fall, gar kein angehimmelter Held sein will. Prinzipiell sehe ich zwei Lösungswege, die beide ihre Nachteile haben: Der erste ist grob, der zweite wahnsinnig aufwendig. Erste Möglichkeit: Gleichen Sie die Ritterlichkeit durch Gemeinheiten aus, um Ihrer Verehrerin am Ende idealer­ weise komplett egal zu sein. Die genaue Dosierung erfordert ein wenig soziales Tröpfelmaß­Know­how, wie beim Be­ füllen eines randvollen Gefäßes. Anre­

Text Anja Rützel

gungen, wie Sie sich effektiv unbeliebt machen, können Sie aus dem Lehrfilm Wie werde ich ihn los – in 10 Tagen? zie­ hen: Seien Sie anhänglicher als Fuß­ pilz, verhalten Sie sich bei ihren Freun­ dinnen unmöglich, indem Sie jeder schöne Augen machen, und basteln Sie ein scheußliches Poesiealbum mit Kalendersprüchen, vor denen sogar Rosamunde Pilcher davonlaufen würde. Sollten derlei absichtsvolle Abscheu­ lichkeiten gegen Ihr Gemüt gehen, emp­ fehle ich, trotz der Umständlichkeit, Methode zwei: Dazu müssen Sie sich ein Beispiel an Lassie nehmen. Alle Welt glaubt ja, die hilfreiche Hündin (die in Wahrheit gleich von einer ganzen Reihe Rüden gespielt wurde) sei das selbstlo­ seste, edelste Tier auf Gottes grüner Erde. Ich glaube: Sie hat all die Gruben, aus denen sie ihr tumbes Kinderherr­ chen Timmy rettet, eigens gegraben, die losen Steine in der Brunnenumrandung selbst gelockert, das Feuer im Kinder­ heim, aus dem sie die verschreckten Kleinen trägt, selbst gelegt. Von Lassie können Sie lernen! Sie benötigen nur einen Heldenersatz, der – ähnlich wie bei Lachsersatz – gar kein echter Held sein muss, nur prinzipiell interessiert an einer Liaison mit Mignon. Dann können Sie anfangen, kleine Malheurs zu in­ szenieren: Richten Sie Bienen ab, die Mignon beim Spaziergang überzeugend anstacheln. Sägen Sie den Absatz ihrer Pumps an, damit Mignon ins Straucheln gerät. Bezahlen Sie einen Taxifahrer dafür, bei strömendem Regen derart rabaukig neben ihr durch eine Pfütze zu rasen, dass sie nur so im Gossenwasser schwimmt. Nach jedem dieser Manöver taucht dann überraschend Ihre persön­

liche Lassie auf, das Liebesdouble, das zufällig einen Strauß Wiesenblumen, Hackenschuhe in der passenden Größe und einen Satz Wechselgarderobe dabeihat. Wenn Sie über ausreichend Basteltalent verfügen, könnten Sie auch mit bunter Pappe, einer Nebelmaschine und Knisterpapier einen Großbrand simulieren, aus dem Ihr Ersatzgalan Mignon überaus selbstlos rettet. Dann hoffen Sie, dass die Verliebtheit von Ihnen auf den Heldenersatz überspringt wie eine Kolonie wanderlustiger Flöhe. So stünden Ihre Chancen gut. Ein Wort der Warnung möchte ich Ihnen allerdings noch mitgeben: Besin­ nen Sie sich zuvor ausführlich, ob Sie Mignons Liebe wirklich nicht erwidern – oder ob Sie vielleicht nur von ihrer Über­ schwänglichkeit überfordert sind. Wenn sie sich nämlich erst einmal entliebt hat, könnte Ihnen wahrscheinlich nicht ein­ mal mehr Flipper helfen.

Wenn Anja Rützel nicht gerade lebensverwirrten Opernfiguren hilft, hält sich die Autorin meist lieber an Tiere als an Menschen. Gerade ist ihr Buch Schlafende Hunde (KiWi) erschienen, in dem sie erzählt, was die Liebe zu ihren Haustieren über berühmte Menschen wie Wagner, Schopenhauer und Guggenheim verrät.

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Hinter der Abbildung verbirgt sich ein Video! Mit ARTIVIVE kostenlos anschauen: itunes.apple.com/de/app und play.google.com/store/apps

Vorschau

KILL YOUR DARLINGS

Max-Joseph-Festspielausgabe Münchner Opernfestspiele 2020 Festspielpremieren

Hans Neuenfels im Gespräch über Castor et Pollux Falstaff-Regisseurin Mateja Koležnik im Porträt

Festspiel-Werkstatt Utopia

Die jungen Regisseurinnen und Regisseure der Festspiel-Werkstatt inszenieren Hans Werner Henzes Das Wundertheater, Philip Venables’ Out of the Box und Michael Tippetts The Knot Garden

Die Max-Joseph-Festspielausgabe 2020 erscheint am 17. Juni 2020.


THE 8

Partner der Bayerischen Staatsoper

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Abbildung zeigt Sonderausstattungen.


© AHert, Wikimedia Commons

© Andreas Fränzel, Wikimedia Commons

HERRLICHE AUSSICHTEN 2020

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