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\u201EDie Mauer gibt es noch \u2013 und sie ist dicker geworden\u201C

Axel Ranischs Wohnung in Berlin-Lichtenberg. Plattenbau. Das Wohnzimmer ist warm erleuchtet und vollgestellt mit DVD- und Weinregalen. Wir sitzen am Küchentisch und bekommen Tee serviert, den starken schwarzen. Alevtina Ioffe und Axel Ranisch lachen viel und schlagen Funken aneinander. Es wird Englisch gesprochen; wenn’s gedanklich kompliziert wird, fallen Ioffe und Ranisch in ihre Muttersprachen Russisch und Deutsch zurück. Anderthalb Stunden sitzen wir zusammen, bis es über Berlin zu dämmern beginnt.

MAX JOSEPH Alevtina Ioffe, Axel Ranisch, zusammen ge stalten Sie den Doppelabend Mavra/Iolanta. Wie funk tioniert die Verknüpfung von Strawinskys und Tschaikowskys Oper für Sie?

ALEVTINA IOFFE Es ist eine perfekte Kombination. Strawinsky hat Tschaikowsky verehrt und ihm Mavra sogar gewidmet. Er hat angefangen, daran zu arbeiten, nachdem er 1921 in London an Diaghilews Choreographie von Tschaikowskys Dornröschen beteiligt war, für die er zusätzliche Musik komponiert hat. Mavra enthält Motive aus Tschaikowskys Eugen Onegin. Iolanta und Mavra sind einander musikalisch sehr nah.

AXEL RANISCH Wobei Strawinskys Musik mehr vorwärts drängt, und das finde ich gut, um diesen romantischen Ton von Tschaikowsky ein bisschen zu brechen.

MJ Die beiden Opern werden in Ihrer Produktion nicht hintereinander gespielt, sondern ihre Geschichten werden miteinander verschränkt.

AR Iolanta ist ein romantisches Märchen. Eigentlich ziemlich kitschig. Aber ich liebe Kitsch! Es ist die traurige Geschichte einer Prinzessin, die nicht weiß, dass sie blind ist. Ihr Vater sperrt sie ein, weil er Angst um sie hat. Iolanta ist eine fantastische Oper. Nur das Finale finde ich schrecklich in seiner seltsamen Religiosität: Iolanta wird von ihrer Blindheit geheilt, und alle loben den Herrn.

AI Es ist ja nicht wirklich ein Happy End. Die Handlung basiert auf historischen Figuren, König René I. von Anjou und seiner Tochter Jolande, aber dann biegt sie ab ins Mystische. Die Figur des Arztes Ibn-Hakia hat Tschaikowsky zusammen mit seinem Bruder Modest erfunden, der das Libretto verfasst hat. Ibn-Hakias Arie ist voller Spinoza, mit dessen Lehren Tschaikowsky sich zu der Zeit beschäftigte. Für mich geht es am Ende nicht mehr um Iolantas Geschichte, sondern um philosophische Ideen.

AR Als ich mir die Oper angehörte, dachte ich: Nein, ich glaube einfach nicht, dass sie am Ende sehen kann. Sie tut nur so! Ihr ganzes Leben lang wurde sie von ihrem Vater belogen, jetzt hat sie’s herausgefunden und beschließt, ein eigenes Geheimnis zu haben. In unserer Inszenierung spielt Iolanta mit Puppen und erfindet dabei die Geschichte von Mavra – so kommt Strawinskys Kurzoper ins Spiel. In einem Prolog, einem Intermezzo und einem Epilog wird der Schwank erzählt, in dem Parascha ihren Geliebten, den sie als Köchin Mavra verkleidet, ins Haus einschleust. Zum Schluss fliegen sie auf und fliehen zusammen durchs Fenster. Das ist auch unser Ende: Iolanta stellt sich mit ihren Puppen vor, wie sie zusammen mit ihrem Geliebten Vaudémont in die Freiheit entkommt.

AI Für mich geht es in Iolanta sowieso nicht um die echte Welt oder eine reale Liebesgeschichte. Wenn Vaudémont bei uns am Ende ebenfalls blind wird, bedeutet das vor allem, dass er sich von den Vorurteilen und Verblendungen der sehenden Menschen mit ihrem Schubladendenken über Männer und Frauen befreit.

AR Ich bin überzeugt, dass das die richtige Deutung ist. Ich glaube nicht, dass Tschaikowsky das Finale ernst gemeint hat. Sonst hätte er eine andere Musik komponiert.

AI Es gibt musikalisch einen großen Kontrast zwischen dem Anfang und dem Ende der Oper. Die Ouvertüre wird von tiefen Bläsern dominiert, im Finale gibt es zwei Harfen und opulente Streicher. Vielleicht bin ich selbst mystisch veranlagt, aber ich glaube nicht, dass die materielle Welt wichtig für die Seele ist. Und so verstehe ich auch Iolantas Wunsch, aus dieser Welt zu fliehen.

AR Ja, sie hat eine beinahe hysterische Sehnsucht nach Erlösung.

MJ Bieten Kunst, Theater und Musik Erlösung?

AI Ja. Immer.

„Als Jugendlicher war ich sehr unglücklich mit mir und meinem Leben. Ich hatte keine Freunde, nur Tschaikowsky und Prokofjew und Schostakowitsch.“ – Axel Ranisch

© Stephanie Steinkopf

AR Das ist der Grund, warum wir uns dahin wenden, wenn wir traurig sind. Wenn du glücklich bist, brauchst du keine Erlösung. Als Jugendlicher war ich sehr unglücklich mit mir und meinem Leben. Ich hatte keine Freunde, nur Tschaikowsky und Prokofjew und Schostakowitsch. Ich bin vor der Wirklichkeit geflohen, in die Musik.

AI Ich habe mich auch nur mit Musik beschäftigt. Aber ich habe das nie als Flucht verstanden! Es war meine Wahl, mein Schicksal.

AR Der Unterschied zwischen uns ist, dass du Musik gemacht hast. Ich habe Musik konsumiert.

MJ Wenn Sie an Ihr Publikum denken: Laden Sie es ein, irgendwohin zu fliehen, oder wollen Sie etwas von der Welt erzählen?

AR Ich will vor allem, dass die Leute die Musik und die Geschichte lieben.

AI Wenn wir nicht an unsere Geschichte glauben, wird niemand dran glauben. Die Grundideen, auf denen alle Erzählungen basieren, verändern sich nicht. Aber wie wir sie verstehen, ist verschieden – je nachdem, in was für einer Gesellschaft wir leben. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, wenn wir uns für unser Publikum interessieren.

MJ Was haben die Umstände, in denen Sie leben,für Sie mit Ihrer Sprache als Künstler zu tun?

AR Ich frage mich, wie politisch meine Geschichte sein kann, ohne opportunistisch zu werden. Und lande bei der Antwort: Es geht gar nicht anders, als dass alles, was ich tue, von Herzen passiert. Entscheidend ist, wie Menschen miteinander umgehen. Wie die Figuren untereinander sind, aber auch, wie ich zu ihnen stehe und wie ich zu den Leuten bin, mit denen ich den Film mache oder die Oper inszeniere. In der Oper arbeite ich mit einer Geschichte, die schon da ist. Trotzdem muss ich zu jeder Figur eine Beziehung aufbauen, in der ich sie lieben und verstehen kann. Erst dann kann sie auch dem Zuschauer ans Herz wachsen. Ich finde es banal, immer irgendeinen aktuellen Bezug einzubauen. Die Leute sind klug, sie haben ihre eigenen Assoziationen, die muss ich nicht aufpfropfen. Für mich sind innere Vorgänge viel interessanter: Was bedeutet es für Iolanta, wenn sie erfährt, dass sie ein Leben lang belogen wurde?

AI Mein soziales Umfeld ist gar nicht so einfach. Ich gebe in einer Vorstellung alles, was in mir ist, und bin danach komplett leer. Ich arbeite ständig mit neuen Menschen. Außerdem gibt es viele Vorurteile. Dirigieren ist nach wie vor eine männliche Domäne. Ich habe schon viele Orchester geleitet, und jedes Mal merke ich wieder, dass es etwas Besonderes ist, dort als Frau zu stehen. Das ist mir unbegreiflich. Mir ist doch nur das gemeinsame Musizieren wichtig. Ich gebe Energie und bekomme Energie zurück. Aber ich habe den Eindruck, das gesellschaftliche Geflecht, die Vorurteile – das lässt sich nicht ändern.

„Vielleicht bin ich selbst mystisch veranlagt, aber ich glaube nicht, dass die materielle Welt wichtig für die Seele ist. Und so verstehe ich auch Iolantas Wunsch, aus dieser Welt zu fliehen.“ – Alevtina Ioffe

AR Ich glaube schon. Man muss es eben zur Normalität erklären, dass Frauen am Pult stehen.

AI Das versuche ich seit 25 Jahren.

AR Das ist vielleicht das Politische an meiner Kunst. Ichversuche, solche Normalitäten zu zeigen.

AI Deshalb mag ich auch dein Ende für unsere Inszenierung so gern. Vaudémont wird aus Liebe zu Iolanta blind und sieht in ihr vor allem eine verwandte Seele.

MJ Alevtina Ioffe, Sie leben in Moskau und sind dort seit 2011 Chefdirigentin und Musikdirektorin des Natalya-Sats-Musiktheaters für junges Publikum. Wie ist es für Sie, in Russland zu arbeiten, wo Kreative zum Teil politischen Repressalien ausgesetzt sind?

AI Es gibt einflussreiche Menschen in der Kunst, die der Regierung nah sind. Wenn du dich anbiederst, gehst du deinen Weg. Wenn nicht, dann wird dir der Weg verschlossen. In unserem Land gibt es eine Zensur der Kunst, was man am Beispiel von Kirill Serebrennikow sehen kann. Ich bin kein Fan von Serebrennikow, aber der Prozess gegen ihn richtet sich gegen die Kunstfreiheit. In unserem „demokratischen“ Land gibt es momentan keine Redefreiheit. Dabei spielt der wachsende Einfluss der Kirche eine Rolle, das Argument der Beleidigung religiöser Gefühle wird inzwischen oft herangezogen, um Zensur zu rechtfertigen.

MJ Welche Rolle hat die Kunst in der russischen Gesellschaft?

AI In Russland sind die Leute arm. Die meisten sind mit Überleben beschäftigt. Ich habe Glück, dass ich ein anderes Leben führen, dass ich reisen kann. 70 Prozent der Russen sind noch nie im Ausland gewesen. Aber es gibt einen großen Enthusiasmus für die Kunst. Neulich habe ich in Jakutsk bei minus 52 Grad Aida gemacht, eine Oper, die im alten Ägypten spielt! Man kann sich kaum etwas vorstellen, das der Lebenswelt der Menschen dort noch ferner ist. Aber sie waren so begeistert! Dahinter steckt die Sehnsucht, mehr von der Welt zu sehen. Doch das ist für viele unmöglich.

MJ Trotz Ihrer Kritik an den Umständen und dem Umgang mit kritischen Künstler*innen wollen Sie selbst aber weiter in Russland leben und arbeiten?

AI Ich will da arbeiten, wo es interessante Arbeit gibt. Solange das der Fall ist, bleibe ich. Schließlich ist es auch mein Zuhause.

MJ Axel Ranisch, Sie sind in Berlin zu Hause. Dieses Jahr feiern wir 30 Jahre Mauerfall.

AI Die Mauer gibt’s doch gar nicht mehr. Warum sollen wir dann darüber sprechen?

AR Am liebsten würde ich dem nichts hinzufügen. Aber es stimmt nicht. Die Mauer gibt es noch, und in den letzten Jahren ist sie dicker geworden. Es bekommt eine immer größere Bedeutung, wie man im Westen oder Osten übereinander spricht. In den Neunzigern war es total wurscht, dass ich aus dem Osten kam. Jetzt erlebe ich immer wieder Situationen, in denen ich meine, mich verteidigen zu müssen. Es wird schlecht über Sachsen geredet, und ich entwickle plötzlich patriotische Gefühle. Es trifft mich, wenn hier in meinem Block 19 Prozent der Leute AfD wählen! Das ist jeder Fünfte im Haus. Und trotzdem weiß ich, das sind alles gute Leute. Ich glaube, dass man im Osten einfach 30 Jahre lang immer das Gefühl hatte, man sei der schlechte Teil von Deutschland. Das Sorgenkind. Und jetzt schlägt der kleine dumme Bruder, den du 30 Jahre lang gedisst hast, zurück.

AI Ich verstehe noch nicht so ganz, warum das Problem auf einmal so groß ist.

AR Ich bin Jahrgang 1983 und war bis zu meinem sechstenLebensjahr DDR-Bürger. Ich bin Ossi und weiß trotzdem nicht, was es bedeutet, ein Künstler in der DDR gewesen zu sein. Ich weiß nicht, ob meine Biographie dort möglich gewesen wäre. Das ist schwer herauszufinden, weil es immer sofort politisch wird, wenn man sich in Deutschland über die DDR unterhält. Die Lebenswirklichkeit der Leute wird ausgeklammert. Ich glaube, das rächt sich jetzt. Es ging immer nur um die Stasi und die böse Diktatur. Und jetzt bedient die AfD diesen furchtbar einfachen menschlichen Reflex, den Frust abzulassen: sich jemanden zu suchen, der unter einem steht und den man genauso schlecht behandeln kann, wie man sich selbst behandelt fühlt.

AI Vielleicht ist es wie zwischen Russland und der Ukraine? Gerade habe ich in Berlin einen Nachhilfelehrer für meinen Sohn gesucht und bin auf einen Ukrainer gestoßen. Hier können wir uns normal unterhalten. Wären wir in unseren Heimatländern, wäre das schwieriger. Die Atmosphäre ist vergiftet. Ich glaube aber, dass die Feindseligkeit nicht aus den Menschen selbst kommt, sondern von Regierungen und Politikern, die diese Fronten in ihrem eigenen Interesse aufrechterhalten.

AR Ja. Wir müssen aufpassen, wie wir übereinander reden. In der direkten Begegnung können viele Probleme gar nicht erst entstehen.

AI Ich bin es leid, auf Veränderung zu hoffen! Seit Jahrtausenden glaubt die Menschheit an Fortschritt und produziert das Gegenteil.

AR Aber wir arbeiten doch jetzt zusammen an einem künstlerischen Umbruch!

AI Ja, wir haben ein blindes Happy End. Und dann ab in den Weltraum!

AR Ich bin optimistisch.

Interview: Sophie Diesselhorst

Sophie Diesselhorstwurde 1982 in Berlin geboren. Sie studierte Philosophie in London und Journalismus in Berlin und ist seit 2011 Redakteurin des Theaterfeuilletons nachtkritik.de.

Mavra / Iolanta

Komische Oper in einem Akt / Lyrische Oper in einem Akt Von Igor Strawinsky / Peter I. Tschaikowsky

Premiere am Montag, 15. April 2019, Cuvilliés-Theater

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