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M\u00E4nner und Frauen waren schon immer ebenb\u00FCrtig
Der Tenor Charles Castronovo singt den Admète in der Neuproduktion von Christoph Willibald Glucks Alceste. Im Interview spricht er über männliche Wut, weibliches Heldentum und die Wiedergeburt Berlins.
MAX JOSEPH In der Neuinszenierung von Alceste singen Sie zum ersten Mal eine Partie in einer Oper von Christoph Willibald Gluck. Wie haben Sie sich der Rolle des Admète genähert?
CHARLES CASTRONOVO Admète ist ein König, er hat diese edle, erhabene Seite. Andererseits scheut er sich nicht, Gefühle zu zeigen. Das ähnelt dem italienischen Repertoire, in dem die Charaktere ihr Herz auf der Zunge tragen. Die Musik spricht für sich, denn obwohl sie sehr nuancenreich ist, ist das Dramatische eher leicht, speziell im Rezitativ. Das erfordert mehr Eleganz, gleichzeitig ist es voll inniger Empfindung. Ich versuche, einer Rolle immer direkt zu begegnen. Oft hängt es vom Regisseur ab, aber ich fühle mich als Teil des Teams und möchte helfen, eine Vision zu verwirklichen. Deswegen versuche ich, meine Persönlichkeit mit den Ideen des Regisseurs oder der Regisseurin in Einklang zu bringen.
MJ Als Admète herausfindet, dass Alceste sich für ihn opfern will, macht ihn das wütend. Warum?
CC Ich frage mich immer, wie ich mich verhalten würde. Und ich verstehe die Reaktionen der meisten Charaktere sehr gut. Wenn ich mich in die Denkweise hineinversetze, kommt es mir vor, als ob Alceste dem König durch ihr Opfer die Gelegenheit nimmt, ihr selbst diese Ehre zu erweisen. Natürlich liebt Admète seine Frau, und er will nicht, dass so etwas geschieht, aber ganz ehrlich: In dieser Zeit war es den Männern vorbehalten, sich zu opfern, nicht den Frauen. Ich sage nicht, dass das richtig ist! Aber es gehört zur Figurenzeichnung. Am Ende schätzt Admète ihre heroische Tat, und ihm wird klar, dass Alceste eine starke Frau ist – so werden sie gewissermaßen ebenbürtig.
MJ In welcher Ihrer bisherigen Rollen haben Sie sich in einer ähnlichen Gefühlswelt wie der des Admète bewegt?
CC Alfredo ahnt in La traviata auch nichts von Violettas Opfer, davon, dass sie ihn verlässt, um die Ehre der Familie zu retten und damit seiner Schwester zu ermöglichen, einen Mann aus gutem Hause zu heiraten. Er wird aber aus einem anderen Grund wütend: Er ist eifersüchtig, weil sie ihn verlässt und in ihr früheres Leben zurückkehrt – und reagiert wie ein Macho. In Lucia di Lammermoor bekommt Edgardo mit, dass Lucia den Ehevertrag mit Arturounterschrieben hat, merkt aber nicht, dass sie dazu gezwungen wurde, und verflucht sie vorschnell. Es gibt also Parallelen: Die Männer handeln kopflos und jähzornig. Aber ich glaube, dass Admète so reagiert, weil er Alceste liebt und respektiert.
MJ Am Ende schafft er es nicht, die Heldenrolle auszufüllen – denn Hercule rettet Alceste aus dem Hades.
CC Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich glaube, es liegt daran, dass er als König noch Mitstreiter hat. Er muss sich nicht selbst die Hände schmutzig machen. Und das ist auch keine Schande für ihn. Jemand wie Hercule kann Alceste retten, und es gibt ein Happy End.
MJ Diese Geschichte unterscheidet sich von Luigi Cherubinis Médée, in der Sie die Partie des Jason in dieser Spielzeit an der Staatsoper Berlin gesungen haben. Die Titelfigur tötet ihre Kinder, um sich zu rächen.
CC Ja, das ist ein großer Unterschied. Jason ist ein Bösewicht, überehrgeizig und unfreundlich. Er bekommt, was er will, bis Medea alles umstürzt. Aber am Ende erkennt man, dass er seine Kinder wirklich liebt und ihnen eine sichere Zukunft bieten will. Obwohl er böse ist, dreht er nicht vollkommen durch wie Medea. In Alceste möchte ich jedenfalls die positiven Seiten von Beziehungen hervorheben. Alceste ist eine selbstlose Frau, und das ist für mich das Heldenhafte an ihr. Ihrer Familie zuliebe kann sie dem drohenden Tod entgegentreten. Am Ende begreift Admète das und erweist ihr dafür seine Ehre.
MJ Macht ihn das zu einem modernen Mann?
CC Ich glaube, Männer und Frauen waren schon immer ebenbürtig, doch in einer männlich dominierten Welt wurden die heroischen Taten von Frauen kaum beachtet. Heute schenkt man dem weiblichen Handeln eine größere Aufmerksamkeit. Und gleichzeitig achtet man mehr auf männliches Fehlverhalten. Ich würde sagen, dass es früher schlimmer war, denn egal was Männer getan haben – es blieb meist folgenlos. Ich habe gerade den neuen Maria-Stuart-Film von Josei Rourkes gesehen. Obwohl sie Königin war, wurde sie von Männern kontrolliert, die ihr auch vorschrieben, wen sie zu heiraten hatte. Heute sind wir uns solcher Dynamiken viel mehr bewusst.
MJ Die Rollenbilder von Frauen und Männern haben sich in der gesellschaft lichen Wahrnehmung massiv verändert. Spüren Sie das auch auf der Bühne?
CC Ja. Grundsätzlich glaube ich, dass sich unsere Gesellschaft um die Gleichheit der Geschlechter bemüht, auch wenn es immer noch nicht ganz ausgeglichen ist. Aber das überträgt sich auf die Bühne. Die Bühne ist ein guter Ort, um die Gleichberechtigung zu stärken. Wenn jemand hier steht und singt, dann ist er oder sie allein. Es spielt keine Rolle, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Du versuchst einfach nur, dich mit all deinen Gedanken, Gefühlen und Dämonen auszudrücken. Dabei kann dir niemand helfen, nur du selbst. Diese mentale und emotionale Herausforderung kennt kein Geschlecht. Die Bühne macht uns zu Gleichen.
MJ Spielen Sie Ihre Männerrollen heute anders als früher?
CC Nein. Ich spiele sie, wie ich sie schon immer gespielt habe. Und das wird sich auch nicht ändern. Wenn eine Figur ein chauvinistischer Mist kerl ist, dann ist er genau das, und ich versuche, das darzustellen. Wenn er ein Romantiker ist und seiner Angebeteten zu Füßen liegt, dann spiele ich eben das. Es geht darum, die Figuren mit all ihren Eigenheiten zu zeigen – dazu gehören vor allem auch ihre Fehler. Perfektion ist furchtbar langweilig.
MJ Sie sind mit der russischen Sopranistin Ekaterina Siurina verheiratet und vor Kurzem nach Berlin gezogen. Wie hat sich die Stadt in Ihren Augen verändert?
CC Als ich 2003 zum ersten Mal nach Berlin kam, wohnte ich in der Nähe der Friedrichstraße. Es gab zwar die Mauer nicht mehr, aber die Atmosphäre war trotzdem eigenartig: kaum Geschäfte und Restaurants, dafür überall Kräne. Für mich als Amerikaner war das wie ein Sprung zurück in der Zeit. Es war, als wäre die Stadt wiedergeboren worden. Und diese großartige Mischung von Alt und Neu gibt es heute noch. Außerdem haben meine Frau und ich uns hier kennengelernt, schon deswegen ist es eine Glücksstadt. Es ist viel kälter als in L.A., aber wenigstens sehen wir uns jetzt öfter.
MJ Bedeutet das Leben in Europa eine Umstellung für Sie?
CC Das Einzige, was sich durch den Umzug geändert hat, ist, dass ich jetzt nicht mehr zwischen den USA und Europa pendeln muss. Das war anstrengend. Es ist toll, in Kalifornien zu singen, weil meine Eltern nicht viel reisen und mich so auf der Bühne erleben können. Aber ehrlich gesagt, arbeite ich lieber in Europa. Ich habe schon früher hier gesungen, und irgendwie gehöre ich hierher. Wegen meines Vaters habe ich auch einen italienischen Pass.
MJ Haben Sie zu Hause Italienisch gesprochen?
CC Nicht häufig. Mein Vater war 17, als er in die USA immigrierte. Meine Mutter kam mit 16 aus Ecuador. Diese Generation von Einwanderern wollte sich integrieren und zu Amerikanern werden. Deshalb vermied es mein Vater, mit mir Italienisch zu sprechen, weil er fürchtete, dass ich einen Akzent haben und damit vielleicht später Probleme bekommen würde. Heute weiß ich, dass das Quatsch ist. Meine Frau spricht mit unseren Söhnen ausschließlich Russisch – und sie beherrschen die Sprache, ebenso wie das Englische, perfekt.
MJ Fühlen Sie sich als Europäer?
CC Ja, auf ganz unterschiedliche Weise. Der Großteil meiner Karriere hat sich bisher in Europa abgespielt. Mein Vater ist Italiener. Außerdem ist es toll, dass es hier völlig normal ist, in einer Stadt ein, zwei, manchmal sogar drei Opernhäuser oder Spielstätten zu haben. Das schätze ich.
MJ Was an Ihnen ist amerikanisch?
CC Lassen Sie mich überlegen … vielleicht mein unbändiger Optimismus. Ich versuche, bei jeder Gelegenheit das Positive zu sehen, egal wie klein oder groß die Sache ist. Natürlich gibt es auf der ganzen Welt optimistische Menschen, aber wenn ich meine europäischen Freunde frage, wie sie die Amerikaner sehen – und sie was Nettes sagen sollen –, dann sind sich meistens alle über die positive Einstellung zum Leben einig.
MJ Wann wussten Sie eigentlich, dass Sie Opernsänger werden möchten?
CC Mit 16. Eigentlich wollte ich Rockstar werden. Ich habe in drei verschiedenen Bands Gitarre gespielt. Aber dann hat der Leiter des Schulchors gehört, wie ich Lieder der Beatles gesungen habe, und er fragte mich, ob ich im Chor mitmachen will. Er sagte, dass es da viele Mädchen gäbe – und fast keine Jungs. Das war ziemlich schlau von ihm. Und dann habe ich mich verliebt. Auf einem Album mit Tenorarien habe ich zum ersten Mal eine Oper gehört. Es war der Anfang von Otello, Plácido Domingo hat gesungen, und ich dachte nur: Wahnsinn! Oper war für mich der Rock ’n’ Roll der klassischen Musik, genauso dramatisch und sexy und ausdrucksstark. Damals wusste ich noch nicht, wie schwierig es ist, die Tenorstimme zu singen. Aber ich war infiziert.
MJ Wie hat sich Ihre Stimme seitdem verändert?
CC In den letzten drei, vier Jahren ist sie voller und tiefer geworden ist. Am Anfang meiner Laufbahn habe ich viel Mozart gesungen und leichteres Belcanto- Repertoire. Dann kamen immer mehr lyrische Rollen dazu wie Faust und Romeo. Aber ich habe mir immer Zeit gelassen. Vieles aus dem französischen Repertoire passt gut, weil ich nicht nur Dramatisches oder sehr Leichtes singen möchte. Gluck ist sehr wichtig, weil er mich an Mozart erinnert: Es gibt keinen Exzess – nichts, hinter dem man sich verstecken könnte.
MJ Also lieber keinen Exzess?
CC (lacht) Doch, wir sollten es alle ab und zu übertreiben. Ich komme zum Glück oft genug dazu, mit dem Repertoire, das ich spiele. In manchen Produktionen kann man sich richtig austoben. Ich meine, wir Künstler verdienen unser Geld damit, dass wir singen und uns verkleiden! Das ist sehr befriedigend.
Das Gespräch führte Rebecca Schmid
Aus dem Englischen von Sabine Voß
Rebecca Schmid ist freie Musikkritikerin und Journalistin, u. a.für die Financial Times und International New York Times.Daneben promoviert sie an der Humboldt-Universität zu Berlinüber die kompositorische Rezeption von Kurt Weill.