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Die Liebe ist die einzige Waffe, die wir gegen den Tod haben.
Ein Dirigent, der nicht dirigiert? Antonello Manacorda steht bei seiner ersten Premiere an der Bayerischen Staatsoper vor einer besonderen Heraus - for derung. Im Interview spricht er über die Liebe als Projekt, Alceste als Wende im Musiktheater und Gluck unter der Dusche.
MAX JOSEPH: Herr Manacorda, glauben Sie an Götter?
Antonello Manacorda: Nein. Aber ich glaube an eine spirituelle Welt, wie sie uns auch in Glucks Alceste begegnet, an eine symbolische Welt, die aber nicht von den Menschen kreiert wurde, um sich die Erscheinungen dieser Welt zu erklären. Darin spielt die Religion die Rolle der Ordnungshüterin. Sie reguliert die Dinge. Sie ist das zentrale Symbol für Moral. Und so ist es auch in Alceste.
MJ Aber fehlt womöglich unserer säkularisierten und singularisierten Gesellschaft diese Fülle? Und war nicht jener Umbruch, der mit Nietzsches Diktum, Gott sei tot, und mit Max Webers Begriff von der „Entzauberung“ stattfand, womöglich äußerst nachteilig für den Menschen?
AM Das ist, mit oder ohne Gott, gewiss ein Problem, auch für uns Künstler. Wenn wir die Sache jedoch philosophisch betrachten, dann sitzen wir noch in zwei Tagen hier, weil es auf diese Fragen keine abschließenden Antworten geben kann. Aber ich glaube, das Spirituelle ist die Fülle, von der Sie sprechen. Man kann es definieren als eine Art Rekreation, als Paradies oder Hölle. Aber ein jeder Mensch hat in dieser Welt eine Mission und ist damit ein kleiner Teil von etwas viel Größerem. Und dieses Größere ist die Natur und nicht Gottes Wille. Es ist etwas (An-) Fassbares, zugleich etwas Heiliges, und wir sind gerade dabei, es zu zerstören. Allerdings schaffen wir nur die materielle Seite der Natur ab. Die Natur als Ganzes besitzt eine größere Kraft.
MJ In welcher Verfassung ist der Mensch innerhalb dieser Natur? Kann er noch bestehen?
AM Der Mensch ist ein hochgradig egoistisches Wesen. Und das Problem ist, dass der Kapitalismus diesen Egoismus geradezu herausfordert, diese Lust, immer mehr haben zu wollen. Man könnte diese Lust, die es schon bei Odysseus gab und sich aktuell in einem Politiker wie Donald Trump widerspiegelt, kanalisieren. Doch wenn es nur um materielle Dinge geht, haben wir ein großes Problem.
MJ Glucks Oper Alceste erzählt eine Geschichte, die komplett immateriell erscheint; die Geschichte einer Liebe, die so gar nicht aus dem Heute zu kommen scheint.
AM Ich finde diese Geschichte sehr modern. Eine liebende Person opfert sich für das Leben eines anderen Menschen. Ich kann mir das absolut vorstellen. Denn das ist die unbedingte, ultimative Liebe.
MJ Gibt es die tatsächlich?
AM Ich glaube schon. Ich wünsche es mir zumindest. Die Liebe zwischen zwei Menschen ist die einzige Waffe, die wir gegen den Tod haben. Das ist eine Kraft, die stärker ist als alles andere. Man stirbt und wird wiedergeboren. Man widmet sein Dasein einem anderen Menschen, und das ist für mich keine Romantisierung, das ist eine praktische Sache: Sie repräsentiert eine spirituelle Vision von der Liebe.
MJ Ein sehr hoher Anspruch. Einigen wir uns also darauf, dass Alceste die Geschichte einer idealen Liebe erzählt?
AM Ja, das tun wir. Liebe ist ein Ideal, ein Projekt, das man hat, nein: haben muss. Und es ist fast ein bisschen so wie Musikmachen: Man weiß um den Rätselcharakter eines Werks und muss es trotzdem schlüssig interpretieren. Bei Alceste ist das Projekt dieses zarte Licht im Hintergrund, jene absolute Liebe, die uns in der Szene am Ende des ersten Aktes begegnet, in einer unglaublich langen Theaterszene. Alceste opfert sich allein, niemand weiß von ihrem Entschluss, ist das Projekt dieses zarte Licht im nur die Götter, und das macht ihre Liebe noch größer. Es ist keine Geste, es ist eine einsam hohe Entscheidung, die eben dadurch noch stärker wird.
MJ Wenn man die Musik hört, vor allem in der Pariser Fassung von 1776, gewinnt man den Eindruck, das sei weit mehr als nur ein Umbruch oder eine Reform – nämlich eine musikgeschichtliche Revolution. Stimmen Sie mit mir darin überein?
AM Absolut. Mozart war in diesem historischen Moment bei Köchelverzeichnis 250 angelangt; er hatte bereits seine Violinkonzerte komponiert, die Finta giardiniera, aber noch nicht die Entführung und die großen italienischen Opern. Was Gluck bereits mit der Wiener Fassung gelang – wozu es ja diesen berühmten Begleitbrief gibt, eine Art musiktheatrales Manifest –, ist wirklich bedeutend. Das ist geniales musikalisches Theater. Und vor allem markiert es nach dem Barocktheater eine wirkliche Wende, weil es dem Schauspiel wieder zu seinem Recht verhilft. Man vergisst ja in der Opernwelt sehr oft und allzu leichtfertig, dass eine Oper zunächst mal ein Theaterstück ist – und die Musik sich dazugesellt.
MJ Wie sagte Wolfgang Rihm einmal so schön: Musik ist selbst schon Theater.
AM Und er hat recht damit. Für Gluck gilt diese Sentenz noch mehr als für andere Komponisten; er wollte den Umbruch mit aller Macht. Ihn nervte die Barockoper mit ihren Verzierungen, Ausschmückungen, mit all den Lyrismen und Fermaten, und es nervten ihn auch die Kastraten, die sich eine Extra-Arie schreiben ließen, nur um mehr Geld und Ruhm einzustreichen. Das alles tilgte er, um zur eigentlichen Bestimmung der Oper zurückzukehren.
MJ Sind Glucks Opern generell und ist insbesondere seine Alceste kathartische Musik für Sie?
AM Glucks Musik in toto ist eine Musik der Vertiefung. Das Verblüffende dabei ist, dass die wahren Gefühle der Menschen, dass ihr Leiden mit der größten Einfachheit beschrieben werden. Nichts ist übertrieben; ja selbst ein Stück wie die berühmte C-Dur-Arie des Orfeo aus Orfeo ed Euridice würden wir vielleicht singen, wenn wir unter der Dusche stehen oder einkaufen gehen. Das ist das Tolle: dass Gluck alles wegnimmt, was Pathos ist und überflüssige Rhetorik. Er strebt zur reinen Essenz, und dafür benötigt er nicht unbedingt eine Tonart wie d-Moll.
MJ Gluck versucht in seinen Opern, die italienische seria zu überwinden. Würden Sie sagen, dass er eine typisch deutsche Musik komponiert?
AM Es ist eine europäische Musik.Und Gluck ist ebenfalls ein Europäer, vielleicht der erste Komponist überhaupt, für den dieser Begriff gelten darf – darin übrigens dem auf ihn folgenden Meyerbeer nicht ganz unähnlich.Gluck nutzt die alte italienische Kirchenmusik, aber auch die italienische Instrumentalmusik mit ihrer klaren Deklamation als Basis,um seine pure Musik zu schreiben. Eine Nationalität aber gibt es in seiner Musik nicht. Überhaupt glaube ich, dass die Musik dieser Epoche ganz grundsätzlich europäisch war, weil ihre Schöpfer ständig gereist sind. Nicht nur Gluck, sondern auch Mozart und andere.
MJ Im Fall von Glucks Alceste präferieren Sie die Pariser Fassung, die stark von der Wiener Fassung abweicht und einen echten Umbruch markiert, der sich nicht zuletzt den Einflüsterungen Jean-Jacques Rousseaus1774 verdankt. Was ist Ihrer Ansicht nach besser in dieser Fassung?
AM Gluck geht darin einen entscheidenden Schritt weiter, was für mich ein weiterer Beweis dafür ist, wie wichtig ihm der Theatertext ist, die Tragödie. Und er lässt nicht nur den ursprünglichen Text Calzabigis übersetzen, er lässt ihn von Le BlancBailli du Roullet ja beinahe neu überschreiben. Die Sprache ist ganz anders, weil sie anders klingt. Gluck entdeckt hier neue Wege; der reichhaltige Briefwechsel zwischen Le Blanc und ihm dokumentiert dies eindrücklich. Und besonders, was die Ballette angeht, kommt es beinahe zu einer Revolution: Gluck war empört über diese vielen Tänze als intermittierende Momente; selbst das berühmte Ballett am Ende der Oper wollte er nicht mehr haben, nur mehr die Chaconne. Und hierin bin ich absolut mit ihm einer Meinung. Generell ist die Pariser Fassung interessanter, weil sie Dinge verdichtet, musikgeschichtlich gesehen voranschreitet und musikalisch wie dramaturgisch eine deutliche Verbesserung darstellt.
MJ Was lernen Sie als Dirigent von Gluck?
AM Ich lerne von ihm, nicht zu dirigieren, und ich lerne von ihm, wie seine Alceste klingen sollte. Der Dirigent ist gerade in diesem Stück in erster Linie dazu da, den Sängern und dem Orchester zu helfen, damit sie zueinanderfinden, und erst in zweiter Linie, um zu gestalten. Bei Gluck ist das möglich, weil die Partitur dirigiertechnisch nicht besonders anspruchsvoll ist. Man kann – und darf – sein Dirigenten-Ego nicht verbreiten.Gluck ist zu groß. In seinen Opern sollte der Dirigent als Botschafter seiner Musik agieren. Und seine Musik verkörpern.
MJ Ist Alceste nicht eigentlich mehr ein Oratorium als eine Oper?
AM Ja, natürlich. Aber wo ist bitteschön der Unterschied?
MJ Man bräuchte keine Szene.Es wäre billiger.
AM Das stimmt. Aber es gibt viele Opern, bei denen man das machen könnte.
MJ Aber ist Gluck nicht spezieller hierin?
AM Ja. Aber wir haben mit Sidi Larbi Cherkaoui einen herausragenden Regisseur und Choreographen. Ich bin sicher, er hat eine wunderbare szenische Lösung parat, die sowohl der Tragödie als auch der Musik zu ihrem Recht verhilft.
Das Gespräch führte Jürgen Otten.
Der Journalist, Dramaturg und Publizist Jürgen Otten arbeitet seit 2016 als Redakteur der Opernwelt. Seit 2017 ist er Dozent für Dramaturgie an der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“.