MAX JOSEPH 3/2019 | Umbrüche

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„Die Liebe ist die einzige Waffe, die wir gegen den Tod haben“ Ein Dirigent, der nicht dirigiert? Antonello Manacorda steht bei seiner ersten Premiere an der Bayerischen Staatsoper vor einer besonderen Heraus­for­derung. Im Interview spricht er über die Liebe als Projekt, Alceste als Wende im Musiktheater und Gluck unter der Dusche.

MAX JOSEPH

Herr Manacorda, glauben Sie an Götter? ANTONELLO MANACORDA  Nein. Aber ich glaube an eine spirituelle Welt, wie sie uns auch in Glucks Alceste begegnet, an eine symbolische Welt, die aber nicht von den Menschen kreiert wurde, um sich die Erscheinungen dieser Welt zu erklären. Darin spielt die Religion die Rolle der Ordnungshüterin. Sie reguliert die Dinge. Sie ist das zentrale Symbol für Moral. Und so ist es auch in Alceste. MJ  Aber fehlt womöglich unserer säkularisierten und singularisierten Gesellschaft diese Fülle? Und war nicht jener Umbruch, der mit Nietzsches Diktum, Gott sei tot, und mit Max Webers Begriff von der „Entzauberung“ stattfand, womöglich äußerst nachteilig für den Menschen?

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AM

Das ist, mit oder ohne Gott, gewiss ein Problem, auch für uns Künstler. Wenn wir die Sache jedoch philosophisch betrachten, dann sitzen wir noch in zwei Tagen hier, weil es auf diese Fragen keine abschließenden Antworten geben kann. Aber ich glaube, das Spirituelle ist die Fülle, von der Sie sprechen. Man kann es definieren als eine Art Rekreation, als Paradies oder Hölle. Aber ein jeder Mensch hat in dieser Welt eine Mission und ist damit ein kleiner Teil von etwas viel Größerem. Und dieses Größere ist die Natur und nicht Gottes Wille. Es ist etwas (An-) Fassbares, zugleich etwas Heiliges, und wir sind gerade dabei, es zu zerstören. Allerdings schaffen wir nur die materielle Seite der Natur ab. Die Natur als Ganzes besitzt eine größere Kraft. MJ  In welcher Verfassung ist der Mensch innerhalb dieser Natur? Kann er noch bestehen?

AM

Der Mensch ist ein hochgradig egoistisches Wesen. Und das Problem ist, dass der Kapitalismus diesen Egoismus geradezu herausfordert, diese Lust, immer mehr haben zu wollen. Man könnte diese Lust, die es schon bei Odysseus gab und sich aktuell in einem Politiker wie Donald Trump widerspiegelt, kanalisieren. Doch wenn es nur um materielle Dinge geht, haben wir ein großes Problem. MJ  Glucks Oper Alceste erzählt eine Geschichte, die komplett immateriell erscheint; die Geschichte einer Liebe, die so gar nicht aus dem Heute zu kommen scheint. AM Ich finde diese Geschichte sehr modern. Eine liebende Person opfert sich für das Leben eines anderen Menschen. Ich kann mir das absolut vorstellen. Denn das ist die unbedingte, ultimative Liebe.

Antonello Manacorda


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